Eine skandalöse Saison

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Ist ihr geliebter Vater gar nicht ihr leiblicher Vater? Ein Skandal schlägt über Chloe zusammen! Der Mann, den sie zu heiraten gedachte, ignoriert sie, die Gesellschaft begegnet ihr mit Skepsis. Verzweifelt flieht sie aus London aufs Land zu einer Freundin, überzeugt, dass sie für immer einsam sein wird - bis der Earl of Berwick in ihr Leben tritt. Er sucht dringend eine Frau, und als Chloe das Funkeln der Leidenschaft in seinen Augen sieht, nimmt sie allen Mut zusammen. Sie macht Ralph einen Antrag! Doch kaum hat er sie mit den Freuden des Ehelebens betört, besteht er darauf, mit ihr nach London zu reisen. Zurück ins Zentrum der Verachtung …


  • Erscheinungstag 27.03.2018
  • Bandnummer 325
  • ISBN / Artikelnummer 9783733734060
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Als Frau geboren zu werden, ist das Schlimmste, was einem passieren kann, dachte Chloe Muirhead ungeniert wehleidig, während sie sich einen Blutstropfen von der Fingerspitze lutschte. Sie prüfte, ob weiteres Blut nachquoll und den Streifen zarter Spitze zu ruinieren drohte, der sich von einer der besten Nachmittagshauben der Duchess of Worthingham gelöst hatte und den sie gerade wieder annähte. Außer vielleicht, man hat das Glück, eine Duchess zu sein, führte sie ihren Gedanken fort, oder eine ledige Dame, die über vierzigtausend Pfund im Jahr verfügt und damit die Freiheit, sich allein niederzulassen.

Leider war sie keine Duchess und verfügte nicht mal über vierzig Pence pro Jahr, abgesehen von dem Betrag, den ihr Vater ihr zugestand. Außerdem wollte sie sich nicht allein irgendwo niederlassen, denn das klang verdächtig nach Einsamkeit. Und einsam zu sein, das zumindest konnte sie derzeit nicht von sich behaupten. Die Duchess war freundlich zu ihr, ebenso wie der Duke, auf die ihm eigene schroffe Art. Und wann immer ihre Gnaden nachmittags Gäste empfing oder jemanden besuchte, lud sie Chloe ein, sie zu begleiten.

Es war nicht der Duchess anzulasten, dass sie bereits zweiundachtzig Jahre alt war und Chloe gerade einmal siebenundzwanzig. Oder dass die Nachbarn, mit denen sie vorwiegend verkehrte, allesamt jenseits der sechzig sein mussten, in einigen Fällen weit darüber. Mrs. Booth beispielsweise, die stets ein riesiges Hörrohr bei sich trug und ein lautes, quengeliges „Hä?“ vernehmen ließ, kaum, dass irgendwer auch nur den Mund aufmachte, war dreiundneunzig.

Sie rieb sich mit dem Daumen über die Zeigefingerkuppe, um sich zu vergewissern, dass diese nicht länger blutete und sie wieder zur Nadel greifen konnte. Wäre ich als Mann zur Welt gekommen, dachte sie, dann hätte ich allerlei interessante, abenteuerliche Dinge tun können, sobald ich es für an der Zeit befunden hätte, mein Elternhaus zu verlassen. Unter den gegebenen Umständen war ihr indes nichts Besseres eingefallen, als der Duchess of Worthingham zu schreiben, der Patentante ihrer Mutter und Busenfreundin ihrer verstorbenen Großmutter, und ihre Dienste als Gesellschafterin anzubieten. Als unentgeltliche Gesellschafterin, hatte sie sicherheitshalber hinzugefügt.

Innerhalb weniger Tage war ein warmherziges, liebenswürdiges Antwortschreiben zurückgekommen, dem eine versiegelte Notiz an Chloes Vater beigelegen hatte. Die Duchess wäre hocherfreut, die liebe Chloe auf Manville Court begrüßen zu dürfen, allerdings als Gast und nicht als Angestellte – das „nicht“ war in Großbuchstaben geschrieben und dick unterstrichen worden. Und Chloe möge so lange bleiben, wie sie wünsche – für immer, wenn es nach der Duchess ginge. Sie könne sich nichts Wundervolleres vorstellen, als junges Leben im Haus zu haben, das ihr die Tage erhelle, auf dass sie sich noch einmal jung fühlen könne. Sie hoffe nur, Sir Kevin Muirhead könne seine Tochter für einen längeren Aufenthalt entbehren. Mit dieser Ergänzung bewies sie ihr ausgeprägtes Taktgefühl, wie auch dadurch, dass sie ihm separat schrieb. Denn Chloe hatte in ihrem Brief dargelegt, weshalb es für sie – wenigstens vorübergehend – ausgeschlossen war, zu Hause zu verweilen, so sehr sie ihren Vater auch liebe und es ihr missfalle, ihm Kummer zu bereiten.

Also war sie hergekommen. Sie würde der Duchess ewig dafür dankbar sein, dass diese sie eher wie eine wohlgelittene Enkelin behandelte statt wie die buchstäblich Fremde, die sie war und die sich praktisch selbst eingeladen hatte. Aber ach, trotz alledem fühlte sie sich einsam. Es war durchaus möglich, einsam und unglücklich und dennoch dankbar zu sein, oder nicht?

Ach ja. Unglücklich war sie nämlich auch noch.

Gleich zweimal in den vergangenen sechs Jahren war ihre Welt komplett auf den Kopf gestellt worden, wodurch sie – verliefe das Leben logisch, was es eindeutig nicht tat – nach dem zweiten Mal eigentlich wieder aufrecht hätte stehen müssen. Zuerst hatte Chloe alles eingebüßt, was einer jungen Frau etwas bedeutete – Hoffnungen und Träume sowie die Aussicht auf Liebe, Ehe und dauerhaftes Glück, ein abgesichertes Dasein und einen Platz in der Gesellschaft. Voriges Jahr waren diese Verheißungen dann neuerlich aufgeflammt, wenn auch verhaltener und bescheidener. Doch auch dieses Hoffnungsflämmchen war erstickt worden, woran Chloe beinahe zerbrochen wäre. In den vier Jahren, die zwischen den beiden verheerenden Ereignissen gelegen hatten, war zudem ihre Mutter gestorben. War es da verwunderlich, dass sie unglücklich war?

Abermals richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die filigrane Handarbeit. Wenn sie sich weiter erlaubte, in Selbstmitleid zu versinken, würde sie noch zu einer dieser notorischen sauertöpfischen Nörglerinnen verkommen, die von aller Welt wie die Pest gemieden wurden.

Es war erst Anfang Mai. Dicke Wolken verbargen die Sonne und erweckten nicht den Anschein, als wollten sie sich bald verziehen. Eine kräftige Brise fegte an der Ostflanke des Hauses entlang und quer über die Terrasse vor dem Morgensalon, auf der Chloe saß. Es war keine gute Idee gewesen, sich nach draußen zu setzen. Aber in den vergangenen drei Tagen hatte es fast unablässig geregnet, und sie hatte unbedingt der Enge des Hauses entfliehen und frische Luft schnappen wollen.

Ich hätte ein Schultertuch oder gar Umhang und Handschuhe mitnehmen sollen, dachte sie. Doch damit hätte sie nicht nähen können, und sie hatte versprochen, die Haube ausgebessert zu haben, wenn die Duchess von ihrem Mittagsschlaf erwachte. Verflixte Haube und verflixte Spitze. Ein ziemlich ungerechter Gedanke, denn sie hatte sich schließlich freiwillig erboten, den Schaden zu beheben, obwohl die Duchess halbherzig protestiert hatte.

„Bist du sicher, dass es dir keine Umstände bereitet, Liebes?“, hatte die Dame gefragt. „Bunker kann hervorragend mit der Nadel umgehen.“

Miss Bunker war ihr persönliches Dienstmädchen.

„Natürlich bin ich mir sicher“, hatte Chloe beteuert. „Ich tue es gern.“

Die Duchess löste ständig diese Beflissenheit in ihr aus. Obwohl ihre Herzlichkeit und Güte aufrichtig waren, fühlte sich Chloe bemüßigt, sich nützlich zu machen, wann immer sie konnte, wenn sie schon nicht für ihren Lebensunterhalt arbeiten musste.

Als sie endlich fertig war, bibberte sie und kappte den Faden mit vor Kälte steifen Fingern. Sie stülpte sich die Haube über die rechte Faust, um ihr Werk zu begutachten. Die Stiche waren unsichtbar. Niemand würde erkennen, dass die Kopfbedeckung geflickt worden war.

Trotz der Kälte zog es sie nicht zurück ins Haus. Vermutlich war die Duchess inzwischen aufgestanden und harrte im Salon freudig der Ankunft ihres Enkels, der sich für heute angekündigt hatte. Die alte Dame würde es kaum erwarten können, wieder einmal all seine Vorzüge zu preisen, obgleich er sich seit Weihnachten nicht mehr auf Manville hatte blicken lassen. Chloe bezweifelte, dass er tatsächlich irgendwelche Vorzüge besaß.

Zugegeben, sie hatte ihn nie persönlich kennengelernt, um sich selbst ein Bild zu machen. Aber sein Ruf war ihr bekannt. Ihr Bruder Graham war mit ihm zur Schule gegangen, wo Ralph Stockwood, der von seinem Vater den Ehrentitel des Earls of Berwick geerbt hatte, ein charismatischer Anführer gewesen war. So gut wie alle Jungen hatten ihn gemocht und bewundert und ihm nachgeeifert, obwohl er einer eingeschworenen Gruppe von vier athletisch gebauten, gut aussehenden, aufgeweckten Burschen angehört hatte. Graham hatte sich damals oft kritisch und abfällig über Ralph Stockwood geäußert, wobei Chloe jedoch argwöhnte, dass er in Wahrheit jenen elitären inneren Zirkel beneidet hatte.

Nach der Schule waren die vier Freunde dann demselben namhaften Kavallerieregiment beigetreten und hatten sich auf der Iberischen Halbinsel den Truppen Napoleon Bonapartes entgegengestellt. Graham hingegen war nach Oxford gegangen und hatte Theologie studiert, um Geistlicher zu werden. Als er am Ende des letzten Schuljahrs nach Hause kam, war er verstimmt über Ralph Stockwood gewesen, weil dieser ihn als verweichlichten Schnösel und Hasenfuß bezeichnet hatte. Chloe wusste nicht, in welchem Zusammenhang diese Beleidigungen gefallen waren, doch seitdem war sie Grahams einstigem Schulfreund nicht eben wohlgesinnt. Auch, was ihr sonst noch über ihn zu Ohren gekommen war, hatte ihr nicht gefallen. Sie verabscheute Jungen – oder Männer –, die andere herablassend behandelten und es als selbstverständlich erachteten, umschwärmt zu werden.

Wenige Monate nach ihrem Aufbruch zur Iberischen Halbinsel waren Lieutenant Stockwoods drei Freunde in derselben Schlacht gefallen. Er selbst war so schwer verwundet vom Schlachtfeld und zurück nach England geholt worden, dass niemand mit seiner Genesung gerechnet hatte.

Damals hatte er Chloe leidgetan, doch ihr Mitgefühl war rasch erloschen. Ein, zwei Tage nach seiner Rückkehr aus Portugal hatte Graham ihn in seiner Funktion als Geistlicher in London aufgesucht. Als er ins Krankenzimmer eingelassen worden war, hatte der Verletzte ihn aufs Lästerlichste verflucht und aus dem Raum gejagt, ihm gar gedroht, er möge sich ja nie wieder blicken lassen.

Daher erwartete Chloe nicht, den Earl of Berwick zu mögen, auch wenn er der Erbe des Dukes of Worthingham und der heißgeliebte einzige Enkel der Duchess war. Chloe hatte ihm nie verziehen, dass er ihren Bruder einen Hasenfuß geschimpft hatte. Graham war ein Kriegsgegner. Das machte ihn noch lange nicht zum Feigling. Im Gegenteil, es bedurfte einer Menge Mut, kriegsverliebten Männern die Stirn zu bieten und sich für den Frieden einzusetzen. Und sie hatte dem Earl nicht verziehen, dass er, verletzt darniederliegend, Graham verflucht hatte, ohne ihn auch nur zu Wort kommen zu lassen. Zweifellos hatte er zu jener Zeit große Schmerzen gelitten, aber das entschuldigte kein solch unflätiges Gebaren gegenüber einem alten Schulkameraden. Sie war vor Langem zu der Überzeugung gelangt, dass der Earl ein impertinenter, überheblicher, selbstherrlicher, ganz und gar herzloser Kerl sein müsse.

Und nun war er auf dem Weg nach Manville Court. Er kam auf die ausdrückliche Bitte der Duchess hin, wie der Vollständigkeit halber erwähnt werden sollte, und besuchte die ihn vergötternden Großeltern nicht etwa freiwillig. Chloe mutmaßte, dass der dringende Wunsch der Duchess etwas mit dem Befinden des Dukes zu tun hatte, denn dieses bereitete ihrer Gnaden seit Monaten Sorge. Chloe war aufgefallen, dass er öfter als sonst hustete, und dass er sich dabei mit einer Hand ans Herz fasste, war gewiss kein gutes Zeichen. Er beklagte sich nie – jedenfalls nicht in ihrer Gegenwart –, und ließ den Arzt allenfalls auf Geheiß der Duchess holen. Hinterher pflegte er ihn einen alten Quacksalber zu nennen, der nichts weiter ausrichten könne, als ihm Pillen und Tränke zu verordnen, von denen es ihm umso schlechter gehe.

Chloe wusste nicht, wie es um die Gesundheit des Dukes wirklich stand. Was sie wusste, war, dass er vergangenen Herbst seinen fünfundachtzigsten Geburtstag gefeiert hatte, und fünfundachtzig war ein ungemein stolzes Alter.

Wie auch immer, der Earl of Berwick war herbeizitiert worden und würde heute eintreffen. Chloe wollte ihn nicht kennenlernen. Sie wusste, dass sie ihn nicht mögen würde. Aber noch weit mehr drückte ihr aufs Gemüt, wie sie sich zähneknirschend eingestand, wie sie ihm vorkommen musste: ein Gast seiner Großmutter, aus Barmherzigkeit aufgenommen, eine alternde siebenundzwanzigjährige Jungfer mit anrüchigem Leumund und keinerlei Perspektiven. Ein bemitleidenswertes Geschöpf im Grunde.

Dieser Gedanke brachte sie zum Lachen – über sich selbst. Es war ihr gelungen, sich in eine durch und durch unleidliche, missmutige Stimmung hineinzusteigern, und das war schlicht nicht hinnehmbar. Entschlossen stand sie auf. Sie würde jetzt gleich hinauf auf ihr Zimmer gehen, sich umkleiden und sicherstellen, dass ihre Frisur saß. Zwar mochte sie eine mittellose, alternde Jungfer ohne Perspektiven sein, aber es brachte nichts, dem noch ein erbärmliches Äußeres hinzuzufügen und sich dadurch Spott oder Verachtung einzuhandeln. Das wäre allzu demütigend.

Sie eilte nach oben und verdrängte das Selbstmitleid, in dem sie sich zu lange gesuhlt hatte. Herrje, wenn sie ihr Leben so sehr verabscheute, wurde es höchste Zeit, etwas zu unternehmen. Die Frage war nur, was? Gab es etwas, das sie tun konnte? Einer Frau standen nur wenige Möglichkeiten offen. Manchmal kam es Chloe gar vor, als hätte eine Frau überhaupt keine Möglichkeiten, vor allem dann nicht, wenn sie eine Vergangenheit hatte, mochte sie an dieser auch nicht die geringste Schuld tragen.

Ralph Stockwood, Earl of Berwick, war erst kürzlich von einem dreiwöchigen Aufenthalt auf dem Lande nach London zurückgekehrt, als er eines Morgens unter einigen Einladungen, die neben seinem Frühstücksteller lagen, einen Brief seiner Großmutter fand.

Er war in die Stadt gekommen, weil diese ein wenig Ablenkung für Körper und Geist verhieß, auch wenn er nicht erwartete, sich großartig zu amüsieren. Für die Dauer der Frühjahrssaison würde er sich an den gewohnten Orten herumtreiben, auf die ihm eigene ziellose Art. Die gesamte beau monde war nach London geströmt, angezogen von der Parlamentssaison und dem Trubel der gesellschaftlichen Lustbarkeiten, in die sich während dieser wenigen Monate alle Welt begeistert stürzte. Ralph hatte keinen Sitz im Oberhaus, da sein Titel ein reiner Ehrentitel war, und es hatte ihn nie ernsthaft gereizt, sich einen Sitz im Unterhaus zu erwerben. Dennoch kam er regelmäßig her und nahm an so vielen Festen, Bällen, Konzerten und dergleichen teil, wie nötig war, um die abendliche Langeweile zu verscheuchen. So vertrieb er sich die Zeit im White’s Club und schaute bei Tattersall’s vorbei, um die Pferde zu begutachten. Er besuchte Jacksons Box-Etablissement, um seinen Leib zu stählen, und Mantons Schießstand, um sich ein scharfes Auge und eine ruhige Hand zu bewahren. Er verbrachte genügend Stunden bei seinem Schneider, seinem Stiefelmacher und seinem Hutmacher, um sich gut gekleidet präsentieren zu können, wenngleich er es nie auf einen Ruf als Dandy angelegt hatte. Er tat, was immer er tun musste, um sich abzulenken.

Dabei sehnte er sich ständig nach …

Nun, genau da lag das Problem. Er empfand Sehnsucht, ohne zu wissen, wonach. Er besaß ein Haus in Wiltshire, Elmwood Manor, wo er aufgewachsen war. Er hatte es, zusammen mit dem Titel, von seinem Vater geerbt, ebenso wie einen äußerst fähigen Verwalter, der seit Ewigkeiten zum Anwesen gehörte. Aus diesem Grund musste Ralph nicht übermäßig viel Zeit zu Hause verbringen. Über das luxuriöse Stadthaus seines Großvaters konnte er so gut wie allein verfügen, da seine Großeltern nur noch selten nach London kamen und seine Mutter lieber ihren eigenen Haushalt führte. Er hatte Verwandte, mit denen er sich gut verstand – Großeltern väterlicherseits, eine Großmutter mütterlicherseits, seine Mutter, drei verheiratete Schwestern mitsamt Nachwuchs sowie etliche Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, allesamt auf mütterlicher Seite. Er besaß mehr Geld, als er mit Anstand im Rahmen eines Lebens ausgeben konnte. Er hatte … Was hatte er sonst noch?

Nun, er hatte sein Leben. Viele andere hatten ihres eingebüßt. Viele, die heute in seinem Alter oder jünger gewesen wären. Er war sechsundzwanzig und fühlte sich manchmal, als wäre er siebzig. Er war bei guter Gesundheit, trotz der zahlreichen Narben, die der Krieg ihm beigebracht hatte und die ihn bis ins Grab begleiten würden, darunter eine, die quer über sein Gesicht verlief. Er hatte Freunde, obwohl das genau genommen nicht stimmte: Er hatte viele gute Bekannte, vermied es aber bewusst, enge Freundschaften zu knüpfen.

Seltsamerweise betrachtete er die übrigen Angehörigen des „Survivors’ Club“, des Clubs der Überlebenden, dem er angehörte, gemeinhin nicht als Freunde. Der Club umfasste sieben Mitglieder, sechs Männer und eine Frau. Sie alle waren auf mannigfache Weise in den Napoleonischen Kriegen verwundet worden und hatten drei Jahre zusammen auf Penderris Hall in Cornwall verbracht, dem Landsitz von George, dem Duke of Stanbrook, der ebenfalls einer von ihnen war. George selbst war nicht im Krieg gewesen, hatte jedoch seinen einzigen Sohn in Portugal verloren. Wenige Monate später war seine Gattin, die Mutter des Jungen, gestorben. Die Duchess hatte sich von den hohen Klippen am Rande des Anwesens gestürzt. George, ebenso versehrt wie der Rest von ihnen, hatte aus seinem Haus ein Spital und später ein Genesungsheim für einige Offiziere gemacht. Ralph und die übrigen Mitglieder des Survivors’ Club waren länger geblieben als alle anderen. Zwischen ihnen waren Bande entstanden, die inniger waren als familiäre oder gar freundschaftliche.

Doch ausgerechnet seine Kameraden vom Survivors’ Club waren für die Rastlosigkeit verantwortlich, die ihn in diesem Frühjahr schlimmer als sonst befallen hatte und die schon an Schwermut grenzte. Daher war er beinahe froh über den Brief seiner Großmutter. Sie legte ihm darin auf die ihr eigene Weise, mit der sie einen Befehl wie eine Bitte klingen lassen konnte, nahe, sich umgehend auf Manville Court einzufinden. Er war seit Weihnachten nicht mehr dort gewesen, wenngleich er ihr, wie auch seiner anderen Großmutter, pflichtschuldig alle zwei Wochen schrieb. Über die Weihnachtsfeiertage hatte sein Großvater keinen siechen Eindruck gemacht, doch es war Ralph nicht verborgen geblieben, dass er die unsichtbare Linie zwischen Betagtheit und Altersgebrechlichkeit überschritten hatte.

Natürlich konnte er sich denken, worum es bei der Vorladung ging, auch wenn sein Großvater nicht im eigentlichen Sinne krank war. Der Duke hatte keine Brüder, sein einziger Sohn war tot, und es gab nur einen einzigen Enkel. Sofern man nicht einige Generationen zurückging und auf einen anderen, ergiebigeren Zweig des Stammbaums auswich, herrschte ein bemerkenswerter Mangel an Erben für das Herzogtum. Im Grunde war Ralph der einzige Nachkomme. Und auch er hatte keine Söhne. Oder Töchter.

Oder eine Gattin.

Zweifellos zitierte seine Großmutter ihn zu sich, um ihm letzteren Umstand vor Augen zu führen. Er konnte keine Söhne bekommen – zumindest keine legitimen Erben –, solange er sich nicht eine junge, gebährfähige Ehefrau zulegte und mit ihr gemeinsam seine Pflicht erfüllte. Ihre Gnaden hatte ihm schon Weihnachten damit in den Ohren gelegen, und er hatte ihr versprochen, sich nach einer geeigneten Kandidatin umzusehen.

Noch hatte er dieses Versprechen nicht eingelöst. Freilich könnte er als Ausrede geltend machen, dass die Saison gerade erst in Fahrt kam und sich ihm noch keine rechte Gelegenheit geboten hatte, die diesjährige Auswahl an heiratsfähigen jungen Damen zu sichten. Einen Ball hatte er allerdings bereits besucht, da die Gastgeberin eine Freundin seiner Mutter war. Er hatte mit zwei Damen getanzt, die eine vermählt, die andere nicht, wobei Letztere so gut wie verlobt war, mit einem Gentleman aus Ralphs Bekanntenkreis. Die Verkündung mochte jeden Tag erfolgen. Sobald der Anstand es erlaubte, hatte er sich für den restlichen Abend ins Kartenzimmer zurückgezogen.

Die Duchess würde wissen wollen, welche Fortschritte er bei seiner Suche erzielt hatte. Sie würde erwarten, dass er inzwischen zumindest so etwas wie eine Liste vorweisen konnte. Und das, musste er zugeben, wäre ihm ein Leichtes, wenn er sich nur dazu aufraffen könnte. Denn trotz seines ruinierten Aussehens war er eine ausgesprochen gute Partie. Die Aussicht auf die anstehende Aufgabe hob seine Laune nicht eben. Doch er würde seiner Pflicht möglichst rasch nachkommen müssen, und offenbar hatte seine Großmutter beschlossen, ihn noch einmal energisch daran zu erinnern, bevor er die Saison womöglich ungenutzt verstreichen ließ.

Ralphs düstere Stimmung vertiefte sich bei dem Gedanken an die kostbaren drei Wochen, die er gemeinsam mit den übrigen Mitgliedern des Survivors’ Club auf Middlebury Park in Gloucestershire verbracht hatte, der Heimstatt von Vincent Hunt, Viscount Darleigh. Noch vor gut einem Jahr, während ihres letzten Jahrestreffens auf Penderris Hall, waren sie alle frei und ungebunden gewesen. Wie selbstverständlich war Ralph davon ausgegangen, dass dies immer so bleiben würde. Als ob je irgendetwas so blieb, wie es war. Wenn er in seinen sechsundzwanzig Jahren eines gelernt hatte, dann zweifelsohne, dass alles sich wandelte, und zwar nicht immer – ja nicht einmal meistens – zum Besseren.

Hugo, Baron Trentham, war der Erste gewesen, der eingeknickt war, noch auf Penderris, wo er Lady Muir vom Strand herauf trug, nachdem sie sich ihren ohnehin schon lädierten Knöchel verstaucht hatte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, und wenige Monate darauf hatten sie geheiratet. Danach hatte es Vincent getroffen, den Jüngsten unter ihnen, den Blinden. Er war der Braut entschlüpft, die seine Familie für ihn auserkoren hatte, und mit knapper Not den Fängen einer weiteren entronnen. Die Galanterie hatte ihn genötigt, um die Hand der jungen Frau anzuhalten, die ihn bei jener zweiten Gelegenheit durch Aufdecken der Intrige gerettet hatte, für ihre selbstlosen Bemühungen jedoch kurzerhand des Hauses verwiesen worden war. Sie lehnte zwar zunächst ab, dennoch hatten sich die beiden wenige Tage nach Hugo vermählt, in derselben Kirche in London. Derweil hatte Ben – Sir Benedict Harper – seine Schwester in Nordengland besucht, wo er eine Witwe kennengelernt hatte, die von ihrer angeheirateten Verwandtschaft schäbig behandelt worden war. Er war so ritterlich gewesen, sie auf ihrer Flucht nach Wales zu begleiten, und hatte sie zu guter Letzt geheiratet. Jetzt leitete er die walisischen Kohlebergwerke und Eisenhütten ihres Großvaters. Wie bizarr! Und bei ihrem diesjährigen Wiedersehen in Gloucestershire hatte Flavian, Viscount Ponsonby, plötzlich und unerwartet die verwitwete Schwester der Musiklehrerin des Dorfes geehelicht und mit nach London genommen, damit sie seine Familie kennenlernte.

Vier von ihnen vermählt, in kaum mehr als einem Jahr.

Ralph störte sich an keiner der Hochzeiten. Er mochte alle vier Gattinnen und hielt es für denkbar, dass sich eine jede der Ehen als glücklich erweisen würde. Wobei er sich, wenn er ehrlich war, mit einem Urteil bezüglich Flavians Ehe zurückhalten sollte, da diese erst vor Kurzem und recht überstürzt geschlossen worden war. Selbst an guten Tagen war Flave eine Spur labil, bedingt durch die im Krieg erlittenen Kopfverletzungen und den Gedächtnisverlust.

Woran Ralph sich indes störte, waren die Veränderungen – was dumm von ihm war, aber anscheinend war er machtlos dagegen. Er verübelte seinen Freunden keineswegs ihr Glück. Ganz im Gegenteil. Verübeln mochte er ihnen hingegen – wobei „verübeln“ vielleicht nicht das richtige Wort war –, dass er dabei auf der Strecke geblieben war. Dabei war es ja keineswegs so, dass er selbst heiraten wollte. Und an Glück, ob nun in ehelicher oder anderweitiger Hinsicht, glaubte er ohnehin nicht. Jedenfalls nicht, was ihn selbst anbelangte. Aber er war auf der Strecke geblieben. Seine vier Kameraden hatten ihren Weg in die Zukunft gefunden. Nun, bald würde auch er verheiratet sein – diesem Schicksal würde er sich nicht entziehen können. Es war seine Pflicht, zu heiraten und Erben zu zeugen. Doch er würde weder auf das Glück noch auch nur auf die Zufriedenheit hoffen dürfen, die seine Freunde gefunden hatten.

Und für die Liebe taugte er nicht – er konnte sie weder empfinden noch geben. Er wünschte sie sich nicht einmal.

Wann immer er dies gegenüber den anderen vom Survivors’ Club erwähnte, erinnerte einer von ihnen ihn daran, dass er doch sie liebe. Und das stimmte, so sehr er auch vor diesem Wort zurückschreckte. Und er liebte auch seine Familie. Aber das Wort „Liebe“ umfasste so viele Bedeutungen, dass es im Grunde bedeutungslos war. Mit gewissen Menschen verband ihn eine tiefe Zuneigung, aber er wusste, dass er unfähig war zu lieben, unfähig, dieses besondere Etwas zu empfinden, das eine gute und manchmal sogar glückliche Ehe ausmachte.

Auf den Brief seiner Großmutter hin war er gezwungen gewesen, einige gesellschaftliche Verpflichtungen abzusagen. Sein Bedauern darüber hielt sich in Grenzen. Er entschuldigte sich bei den betreffenden Leuten und schrieb seiner Mutter, die ebenfalls in der Stadt weilte und womöglich mit seinem Besuch rechnete, eine kurze Nachricht. Danach machte er sich auf den Weg nach Manville Court in Sussex. Er nahm sein offenes Karriol, obwohl es für Anfang Mai ein kühler Tag war und Regen dräute. Sofern es sich vermeiden ließ, reiste er nie in einem geschlossenen Wagen. Sein Gepäck folgte zusammen mit seinem Kammerdiener in einer Kutsche, obgleich er beides vermutlich kaum brauchen würde. Seine Großmutter würde erpicht darauf sein, ihn so rasch wie möglich zurück nach London zu schicken, zu all den Festlichkeiten, Bällen und potenziellen Bräuten. Sie würde ihn wohl nur so lange dabehalten, bis sie ihre Standpauke losgeworden war.

Sofern Großpapa nicht ernsthaft krank war, hieß das.

Bei diesem Gedanken verspürte Ralph ein unbehagliches Ziehen in der Magengrube. Der Duke war ein steinalter Mann, und jeder musste irgendwann sterben, aber er ertrug die Vorstellung nicht, seinen Großvater zu verlieren. Noch nicht. Er wollte nicht das Familienoberhaupt sein, ohne jemanden, der über ihm stand, und ohne jemanden, der ihm nachfolgte. Darin lag ein scheußlicher Anklang von Einsamkeit.

Als wäre das Leben nicht von Natur aus schon einsam genug.

Der Nachmittag war halb herum, als er eintraf. Gehalten hatte er nur einmal, um die Pferde zu wechseln und sich zu stärken. Zum Glück war er weder an den Mautstationen noch durch langsamere Wagen auf schmalen Straßenabschnitten aufgehalten worden. Das Portal von Manville war weit geöffnet, obwohl der Nachmittag sich kaum wärmer gestaltete, als es der Morgen gewesen war. Offenbar wurde er erwartet. In der Tür stand Weller, der betagte Butler seines Großvaters. Er verbeugte sich aus der Hüfte heraus, als Ralph zu ihm aufsah. Übermäßig echauffiert wirkte er nicht gerade – aber Weller neigte auch nicht zu Gefühlsausbrüchen. Anders sähe es wohl aus, wenn Ralphs Großvater wirklich in den letzten Zügen läge.

Und dann tauchte der Duke höchstpersönlich hinter Wellers Schultern auf, und der Butler trat flink beiseite.

„Harrumpf“, machte sein Großvater – ein für ihn typischer Laut, irgendwo zwischen einem Wort und einem Räuspern angesiedelt –, während Ralph einem Stallburschen die Zügel überließ und die Treppe zum Portal hinauflief, jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend. „Ein Pflichtbesuch, wo die Londoner Saison gerade so richtig losgeht, Berwick? Weil du es keinen Tag länger ohne das Antlitz ihrer Gnaden ausgehalten hast, schätze ich?“

„Schön, Sie zu sehen, Sir.“ Ralph grinste ihn an und ergriff seine knochige, arthritische Hand. „Wie geht es Ihnen?“

„Ich nehme an, ihre Gnaden hat dir geschrieben, ich befände mich bereits an der Himmelspforte“, erwiderte der Duke. „Vermutlich tue ich das tatsächlich, aber noch habe ich weder geklopft noch auch nur einen Zeh über die Schwelle gesetzt, Berwick. Nur ein bisschen Husten und Gicht, beides Folgen eines guten Lebens. Tja, da man nach dir geschickt hat, dürftest du oben erwartet werden. Wir sollten die Duchess nicht warten lassen.“

Er schritt Ralph voran hinauf zum Salon. Als sie dort eintrafen, hatte der Butler bereits vor der Flügeltür Aufstellung genommen und öffnete diese weit, damit sie gemeinsam eintreten konnten.

Jedes Mal, wenn Ralph die Duchess sah, glich sie ein wenig mehr einem zierlichen Vögelchen – einem resoluten zierlichen Vögelchen. Sie saß neben dem Feuer und nickte Ralph freundlich zu, als er quer durch das Zimmer zu ihr ging, sich hinabbeugte und sie auf die dargebotene Wange küsste.

„Großmutter“, sagte er. „Ich hoffe, Sie sind wohlauf?“

Flüchtig blickte sie den Duke an. „Welch angenehme Überraschung, Ralph“, entgegnete sie.

„Ganz recht“, pflichtete er ihr bei. „Ich dachte mir, ich fahre rasch für ein, zwei Tage her, um nach Ihnen zu schauen. Und nach Großvater natürlich.“

„Ich sollte das Teetablett bringen lassen“, murmelte sie und sah sich vage um, als rechnete sie damit, dass sich das Tablett einfach so materialisieren würde.

„Erlauben Sie mir, danach zu läuten, Euer Gnaden“, meldete sich eine Dame zu Wort, die ein Stück vom Kamin entfernt saß. Sie erhob sich und schritt auf den Glockenzug zu.

„Oh, vielen Dank, Liebes“, sagte die Duchess. „Wie aufmerksam du immer bist. Dies ist mein Enkel, der Earl of Berwick. Miss Muirhead, Ralph. Sie leistet mir eine Weile Gesellschaft, wofür ich ihr sehr dankbar bin.“

Das war liebenswürdig formuliert, und in der ersten Verwirrung glaubte Ralph, er sei womöglich hergelockt worden, um diesen Gast als Braut in Erwägung zu ziehen. Doch sie war kein junges Mädchen mehr, ja, sie mochte sogar älter sein als er. Auch ihre Kleidung entsprach nicht der neuesten Mode. Sie war hochgewachsen, recht schlank und hatte einen hellen Teint. Ihre Nase war mit Sommersprossen überzogen. Sie hätte einen verblühten oder zumindest verblühenden Eindruck gemacht, wäre da nicht ihr Haar gewesen, das dick und üppig und von solch sattem Rot war, wie Ralph es nie zuvor auf einem Menschenkopf gesehen hatte.

„Mylord.“ Sie knickste, ohne ihn anzusehen oder zu lächeln, und er verbeugte sich, ihren Namen murmelnd.

Seine Großmutter ließ sie zwar nicht links liegen, drängte sie Ralph jedoch auch nicht auf. Er entspannte sich. Offenbar war sie nicht weiter von Belang. Eine Art Gesellschafterin, nahm er an, eine alternde, mittellose Jungfer, die von ihrer Gnaden aus Barmherzigkeit aufgenommen worden war.

„Und nun berichte mir, Ralph“, fuhr seine Großmutter fort, wobei sie mit der flachen Hand auf den Sessel neben sich klopfte, „wer ist dieses Jahr zur Saison in die Stadt gekommen? Und gibt es neue Gesichter?“

Ralph nahm Platz und wappnete sich für das bevorstehende Verhör.

2. KAPITEL

Der Earl of Berwick war ganz anders, als Chloe erwartet hatte.

Das betraf zum einen sein Aussehen. Er war nicht der hübsche Knabe, den sie sich ausgemalt hatte, unberührt von der Zeit, arrogant, unwiderstehlich attraktiv und die Gefühle anderer mit Füßen tretend. Nun, natürlich war er nicht länger dieser Junge. Acht Jahre waren verstrichen, seit er und Graham die Schule beendet hatten. Während dieser Zeit war er im Krieg gewesen, hatte seine drei Freunde verloren, war selbst schwer verwundet worden und nur langsam wieder genesen – vielleicht. Vielleicht war er genesen, hieß das. Sie hatte nie eingehend darüber nachgedacht, was der Krieg mit einem Mann anstellte, abgesehen davon, dass er ihn umbringen oder verstümmeln konnte oder ihn hinterher wunderbarerweise unversehrt nach Hause zurückkehren ließ. Im Grunde hatte sie sich nur über die körperlichen Folgen Gedanken gemacht.

Lord Berwick fiel in die zweite Kategorie – er war verwundet worden und genesen. Damit hätte die Sache erledigt sein sollen. Doch es waren Narben zurückgeblieben. Eine davon zierte auf schauderhafte Weise sein Gesicht, ein hässlicher Schnitt, der sich von der linken Schläfe am Augenwinkel vorbei über Wange und Mundwinkel bis hinab zum Kiefer zog und Auge wie Mund leicht verzerrte. Es musste ein sehr tiefer Schnitt gewesen sein. Bis auf die Knochen. Die alte Narbe war leicht erhaben und von dunkler Farbe. Chloe zuckte innerlich zusammen bei dem Gedanken daran, wie sein Gesicht ausgesehen haben mochte, als die Wunde frisch gewesen war. Dass er dabei nicht das Auge verloren hatte, grenzte an ein Wunder. Allerdings waren die Nerven offenbar dauerhaft geschädigt worden. Die betroffene Gesichtshälfte bewegte sich beim Sprechen weniger als die andere.

Und diese eine sichtbare Narbe ließ darauf schließen, dass es unter der Kleidung weitere gab.

Es waren jedoch nicht nur das gezeichnete Gesicht und der vermutlich mit Narben übersäte Körper, die ihn so stark von ihren Erwartungen unterschieden und in ihr umso eindringlicher die Frage aufwarfen, was der Krieg mit einem Mann machte. Seine Augen und seine Haltung taten ein Übriges. Da war etwas in seinen Augen, so wunderbar blau sie auch waren in einem Gesicht, das trotz der Entstellung anziehend wirkte. Etwas … Totes. Oh, nein, das traf es nicht ganz. Sie konnte sich nicht recht erklären, was sie in den Tiefen seiner Augen sah, außer dass es eben keine Tiefe gab. Es waren kalte, leere Augen. Und sein Gebaren war zwar ausnehmend korrekt und höflich und seinen Großeltern gegenüber gar liebevoll, wirkte aber irgendwie … aufgesetzt. Als wären seine Worte und sein Auftreten nichts als eine Fassade, hinter der ein Mann lebte, der nicht das Geringste empfand.

Diesen frostigen Eindruck von Grahams einstigem Schulkameraden hatte Chloe gleich bei der ersten Begegnung gewonnen. Wie töricht es von ihr gewesen war, anzunehmen, er wäre exakt so, wie Graham ihn vor Jahren geschildert hatte. Er war kein Knabe mehr und hatte vermutlich ohnehin nie genau dem Bild entsprochen, das sie sich von ihm gemacht hatte. Immerhin hatte sie ihn nur durch die voreingenommenen Augen ihres Bruders gesehen, der ganz anders war als er und ihn immer sowohl beneidet als auch missbilligt hatte.

Chloe fand diesen Mann, diesen Fremden, verstörend. Er war ein kühler, grüblerischer, unnahbarer, beherrschter Mensch, der gewiss niemandem je sein wahres Gesicht zeigte. Hinzu kam, dass er sie nicht wahrzunehmen schien, obwohl sie einander vorgestellt worden waren. Zwar ignorierte er sie während des Dinners nicht rundheraus, doch verwickelte er sie auch nicht in ein Gespräch oder bekundete übermäßiges Interesse an dem, was sie sagte. Wobei sie, offen gestanden, kaum ein Wort äußerte. Seine Gegenwart schüchterte sie ein wenig ein.

Sie wünschte, er wäre der Mann, den sie sich ausgemalt hatte. Dann hätte sie seine anmaßende Überzeugung, er sei Gottes Geschenk an die Menschheit, mit unverhohlener Verachtung strafen können. Stattdessen ließ sie zu, dass er ihr das Gefühl gab, irgendwie … klein und nichtig zu sein. Oje, kam sie sich tatsächlich klein und nichtig vor? Wieder einmal? Wenn das so weiterginge, wäre sie eines Tages gewiss gänzlich verschwunden und selbst für diejenigen, die sie gekannt hatten, zu einer flüchtigen Erinnerung verblasst. Dieser Gedanke hätte sie beinahe kichern lassen.

Die Duchess strickte viel und gern. Sie fertigte Decken, Häubchen, Söckchen und Fäustlinge für die Säuglinge, die auf den ausgedehnten, über ganz England verstreuten herzoglichen Ländereien zur Welt kamen. Sie liebe die eigentliche Strickarbeit, hatte sie Chloe einmal anvertraut, weil diese beruhigend auf sie wirke. Lästig waren ihr hingegen die übrigen damit einhergehenden Aufgaben, wie das Wickeln der Wollknäuel und das Zusammennähen der gestrickten Einzelteile.

Natürlich hatte sich Chloe sofort erboten, beides zu übernehmen.

Nachdem sie im Anschluss an das Dinner gemeinsam im Salon den Tee eingenommen hatten, erhob sich der Duke wie gewöhnlich, um den Damen eine gute Nacht zu wünschen und sich ins Bücherzimmer, sein eigenes Reich, zurückzuziehen. Er lud seinen Enkel ein, ihn zu begleiten, doch dieser warf einen Blick auf die Duchess, deren Kopf über die Strickarbeit gebeugt war, und bekundete die Absicht, ihr noch ein Weilchen Gesellschaft zu leisten.

Als hätte sie sonst niemanden, der das tat.

Der Duke verließ das Zimmer auf seinen Gehstock gestützt, während sein Enkel ihm die Tür aufhielt. Chloe entfernte sich vom Kamin, der mit einem großen Berg Kohle bestückt worden war, um die abendliche Kälte zu vertreiben. Die Knäufe der Schubladen in der Anrichte eigneten sich hervorragend, um die hellblaue Wolle, die die Duchess derzeit verwendete, aufzuhängen, sich den Faden um die Finger zu wickeln und ihn zu einem weichen Knäuel aufzurollen. Dem Raum den Rücken zukehrend, machte sie sich an die Arbeit, froh darüber, sich beschäftigen zu können, während ihre Gnaden mit dem Earl plauderte.

„Dir wird aufgefallen sein, dass sich dein Großvater seit Weihnachten verändert hat“, bemerkte die Duchess, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war.

„Er scheint mir wohlauf zu sein“, erwiderte der Earl of Berwick.

„Weil er dir heute etwas vorgespielt hat“, beschied sie ihn, „so wie er es allen gegenüber tut, wenn er sich nicht gerade in seinem Bücherzimmer oder seinen privaten Räumlichkeiten verschanzt.“

„Und wenn er der Welt nichts vorspielt?“, fragte der Earl.

„Das Herz deines Großvaters schwächelt“, erklärte sie. „Das hat Dr. Gregg gesagt. Aber natürlich weigert er sich, auf Pfeife oder Portwein zu verzichten.“

„Es sind Genüsse, an denen er hängt“, entgegnete der Earl. „Ihnen abzuschwören, würde ihm vermutlich nur den Tag vergällen und weder seiner Gesundheit dienlich sein noch sein Leben verlängern.“

„Genau das hat auch Dr. Gregg gemeint.“ Die Duchess seufzte. „Es würde mich keineswegs überraschen, Ralph, wenn Worthingham den nächsten Winter nicht überlebte. Nach Weihnachten hatte er eine Erkältung, von der er nur langsam genesen ist, sofern er sich denn überhaupt davon erholt hat. Ich bezweifle, dass er eine weitere überstehen würde.“

„Vielleicht, Großmutter, sehen Sie das allzu pessimistisch.“

„Und vielleicht auch nicht“, konterte sie scharf. „Tatsache ist, Ralph, dass du in nicht allzu ferner Zukunft der Duke of Worthingham sein wirst, mitsamt aller Verantwortung, die der Titel mit sich bringt.“

Chloe hörte, wie der Earl bedächtig die Luft einzog. Das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims klang lauter als sonst.

„Wenn es so weit ist, werde ich bereit sein, Großmutter“, sagte er. „Aber ich will nicht, dass es je so weit ist. Ich will, dass Großvater ewig lebt.“

„Ewig zu leben, ist niemandem von uns vergönnt. Wir können uns nicht einmal sicher sein, den morgigen Tag zu erleben. Einen jeden von uns kann es jederzeit treffen.“

„Ja“, antwortete er. „Ich weiß.“

Abgrundtiefe Trostlosigkeit schwang in seinen Worten mit. Chloe hielt inne und wandte den Kopf, um den Earl anzusehen. Er stand neben dem Feuer, einen Ellbogen auf das Sims gestützt, und verströmte eine Stille, die sie frösteln ließ. Ja, gerade er dürfte wissen, wie schnell und jäh ein Leben ausgelöscht werden konnte. Sie fragte sich, weshalb ihm gestattet worden war, ein Offizierspatent zu erwerben, obwohl er der Erbe eines Herzogtums war und keine Brüder hatte, die im Falle seines Ablebens als Ersatz herhalten konnten.

Sie erschauderte leicht und wünschte, sie hätte sich ihr Schultertuch mit zur Anrichte genommen, statt es über der Armlehne des Sessels liegen zu lassen, auf dem sie vorhin gesessen hatte. Jetzt würde sie gewiss nicht aufstehen, um es zu holen und damit auf sich aufmerksam zu machen. Sie nahm die Arbeit wieder auf, zu der sie sich selbst verdonnert hatte.

„Sogar du“, fügte die Duchess überflüssigerweise hinzu.

„Ja, ich weiß.“

Schweigen folgte. Chloe wurde langsamer in ihrem Tun. Sie hatte den Wollfaden zur Hälfte aufgewickelt und wollte nicht allzu rasch fertig werden. Anschließend würde sie entweder zu ihrem Sessel zurückkehren oder untätig hier sitzen bleiben müssen, um die Schubladen der Anrichte anzustarren. So oder so würde sie riskieren, Aufmerksamkeit zu erregen. Hätte sie doch nur einen Vorwand ersonnen und das Zimmer gemeinsam mit dem Duke verlassen.

„Es wird Zeit, dass du heiratest, Ralph“, sagte die Duchess unverblümt in die Stille hinein.

„Ja, ich weiß.“

„Das wusstest du schon Weihnachten, als wir uns über eben dieses Thema unterhalten haben. Dennoch ist mir nicht zu Ohren gekommen, dass du um irgendeine Dame geworben hättest, Ralph, und ich verfüge über gute Informationsquellen. Sag mir, dass du eine bestimmte Dame im Auge hast – eine junge, geeignete Dame, die sowohl fähig als auch willens ist, ihre Pflicht zu erfüllen.“

„Ich muss gestehen, das ist nicht der Fall. Ich habe noch keine Frau kennengelernt, mit der ich mir vorstellen könnte, mein restliches Leben zu verbringen. Mir ist klar, dass ich heiraten muss, aber ehrlich gesagt verspüre ich keinerlei Verlangen danach. Ich habe nichts zu bieten. Wobei mir durchaus bewusst ist, dass die Pflicht Vorrang vor meinen Wünschen hat. Ich werde Ausschau halten, Großmutter, sobald ich wieder in London bin. Dieses Mal werde ich ernsthaft suchen, und ich werde eine Wahl treffen, bevor die Saison zu Ende ist – lange bevor sie zu Ende ist. So. Das ist ein Versprechen. Beruhigt Sie das?“

„Du hast nichts zu bieten?“, fragte sie fassungslos. „Nichts zu bieten, Ralph? Ich glaube kaum, dass sich in ganz England ein begehrterer Junggeselle findet.“

„Damit meine ich, dass ich von meinem Wesen her nichts zu bieten habe.“ Seine Stimme war leiser als zuvor, sodass Chloe abermals innehielt, um sich darauf zu konzentrieren, ihn zu verstehen. „Da ist nichts, Großmutter. Hier drinnen ist gar nichts.“

Wahrscheinlich klopfte er sich auf die Brust.

„Unsinn“, erwiderte die Duchess brüsk. „Du hast Schlimmes durchgemacht im Krieg, Ralph, so wie Tausende andere Männer, die gegen das Ungeheuer Bonaparte gekämpft haben. Aber du gehörst zu denen, die Glück gehabt haben. Du hast überlebt. Du hast noch all deine Gliedmaßen und kannst sie bewegen, hast noch beide Augen und einen gesunden Verstand. Warum du dich ganze drei Jahre in Cornwall verkriechen musstest, begreife ich nicht, aber dein ausgedehnter Aufenthalt dort scheint dir mehr geschadet als gedient zu haben. Er hat dich davon abgehalten, an deinen rechtmäßigen Platz in der Gesellschaft zurückzukehren und wieder der zu werden, der du einmal warst. Er hat dich verzagen lassen und wehleidig gestimmt, eine Haltung, die nicht zu dir passt. Es wird Zeit, dass du das hinter dir lässt. Du kannst einer jungen Dame, die sich überaus glücklich wird schätzen dürfen, alles nur Erdenkliche bieten. Suche dir eine aus, die gerade erst die Schulbank gedrückt hat, ein Mädchen, das gemäß der Rolle, die es zu spielen hat, geformt werden kann und zugleich von tadelloser Herkunft und Erziehung ist. Bitte deine Mutter um Hilfe. Die Countess hat ein helles Köpfchen auf den Schultern, auch wenn wir unsere Differenzen haben.“

Der Earl of Berwick lachte leise und so humorlos, dass es kaum als Lachen durchging.

„Sie haben recht, Großmutter“, sagte er. „Kaum eine Dame, auf die ich mein Augenmerk richte, wird mich zurückweisen, nicht wahr? Armes Ding, wen immer es treffen wird. Ich werde Mutter nicht um Hilfe bitten. Sie würde binnen eines Tages eine Liste erstellt haben, die länger ist als meine beiden Arme, und es würde keine Woche vergehen, bis mir die entsprechenden Kandidatinnen zur Begutachtung vorgeführt würden. Letzten Endes liefe es darauf hinaus, dass ich die Augen schließen und blind eine Nadel in die Liste stecken müsste. Ich würde es vorziehen, selbst zu wählen. Und ich werde eine Wahl treffen. Das habe ich versprochen. Soll ich morgen in die Stadt zurückkehren?“

„Darüber wäre seine Gnaden enttäuscht. Das war er heute Abend schon, als du dich entschieden hast, bei mir zu bleiben, anstatt ihn auf einen Portwein hinunter in sein Bücherzimmer zu begleiten.“

„Soll ich jetzt zu ihm gehen?“

„Er wird längst in seinem Sessel schnarchen. Morgen ist auch noch ein Tag. Aber kehre vor Ablauf der Woche nach London zurück, Ralph. Es ist bereits Mai, und bald werden die besten Kandidatinnen von Männern mit Beschlag belegt worden sein, die weit weniger zu bieten haben als du.“

„Ich werde es hinter mich bringen“, versicherte er. „Je früher, desto besser. Das Leben in der Stadt ödet mich allmählich an. Sobald ich eine Gattin habe, werde ich mit ihr nach Elmwood gehen und dort bleiben. Vielleicht sagt mir das Landleben mehr zu. Vielleicht werde ich schlussendlich doch noch sesshaft werden.“

Eine Spur Sehnsucht lag in seiner Stimme.

„Das wäre eine Erleichterung für alle, die dich lieben“, sagte die Duchess. „Ach, herrje, mein Wollknäuel ist aufgebraucht, und ich habe keines mehr.“

Chloe, die soeben den letzten Rest Faden aufgewickelt hatte, stand auf.

„Ich habe ein Neues für Sie, Euer Gnaden.“ Sie ging quer durchs Zimmer, das Knäuel um ihre ausgestreckten Handflächen gewickelt.

„Oh, wie überaus umsichtig von dir, meine Liebe“, rief ihre Gnaden. „Und du hast ein ganzes Stück vom Feuer entfernt gesessen, um die Wolle aufzuwickeln, habe ich recht? Komm näher und nimm dir noch eine Tasse Tee, um dich aufzuwärmen. Obwohl ich fürchte, dass der Rest in der Kanne längst kalt ist, was ich bedaure. Auch ich hätte nichts gegen eine weitere Tasse.“

„Ich werde nach einer frischen Kanne läuten“, bot Chloe an und ging zum Glockenzug, wobei sie am Earl vorbei musste.

Als sie kurz den Blick hob, um ihn anzusehen, merkte sie, dass er sie musterte. Er wirkte leicht überrascht, als ginge ihm jetzt erst auf, dass er nicht allein mit seiner Großmutter im Salon war.

So dümpelten vermutlich alle Gesellschafterinnen feiner Damen durchs Leben, ob nun bezahlt oder unbezahlt, ob offiziell engagiert oder nicht, dachte sie verzagt – unbemerkt, im Grunde unsichtbar. Doch von dieser traurigen Tatsache würde sie sich kein weiteres Mal niederdrücken lassen.

Und wenn ihr Dasein ihr so, wie es war, nicht gefiel, musste sie es eben einfach ändern. Das hatte sie schließlich heute Nachmittag erst erkannt.

Ha! Einfach.

Heute Nachmittag war es ihr letztlich doch unmöglich vorgekommen, ihr Leben zu ändern. Und das sah nun, da es Abend geworden war, nicht anders aus.

Dabei gab es gewiss nichts, was unmöglich war.

Außer all den Dingen, die es eben doch waren.

Am nächsten Morgen zog Ralphs Kammerdiener die Vorhänge des Schlafzimmerfensters auf, ehe er im Ankleidezimmer verschwand. Die Sonne trat gerade hinter einer zurückweichenden Wolkenbank hervor. Zwei schöne Tage in Folge und einer davon womöglich gar sonnig? Aber es war früh. Es konnte immer noch regnen.

Bevor der Regen eine Chance bekam und sie nutzte, rasierte Ralph sich, kleidete sich an und ging nach unten. Von seinen Großeltern war noch nichts zu sehen, aber das hatte er auch nicht erwartet. Er hatte keinen Hunger und würde auf sie warten. Einstweilen begab er sich in den Morgensalon, der nach Osten hinausging und daher in Sonnenschein gebadet dalag. Er sah, dass die Verandatüren bereits geöffnet waren. Sie waren angelehnt, ein Umstand, der ihn hätte misstrauisch machen sollen. Er zog eine der Türen auf und trat hinaus auf die Terrasse, wo er stehen blieb und den Blick über den frisch gemähten, weitläufigen Rasen östlich des Hauses schweifen ließ, der sich bis hinunter zum Fluss erstreckte. Tief atmete er die frische Luft ein und stieß sie langsam wieder aus.

Er hatte nicht gut geschlafen. Immer wieder war er aus Träumen hochgeschreckt, die nicht direkt Albträume, aber dennoch grotesk gewesen waren. Nur an einen davon, einen der nicht ganz so zusammenhangslosen, konnte er sich noch erinnern. Er hatte sich in einem ihm unbekannten Ballsaal befunden, der so lang gewesen war, dass das andere Ende vermutlich nicht einmal mit einem Fernrohr hätte erfasst werden können. Eine Reihe junger Damen zog sich an der gesamten Längsseite entlang, bis in die unendliche Ferne. Sie alle trugen ihren feinsten Ballstaat und kokettierten mit ihrem Fächer, standen ansonsten jedoch reglos da. In seiner scharlachroten, goldverbrämten Offiziersuniform hatte er die Reihe abgeschritten und die Damen in Augenschein genommen, flankiert von seiner Mutter und Graham Muirhead im Priesterornat. Der Traum war nicht besonders schwer zu deuten, doch warum ausgerechnet Muirhead darin auftauchte, war ihm schleierhaft.

Ah. Oder vielleicht doch nicht.

Plötzlich nahm er aus den Augenwinkeln rechts von sich eine Bewegung wahr und fuhr ruckartig herum. Etwas entfernt stand Miss Muirhead. Sie trug keine Schute und presste sich die Zipfel ihres Umschlagtuchs an den Busen, wohl um zu verhindern, dass der nicht vorhandene Wind es ihr entriss. Augenblicklich machte sich Gereiztheit in ihm breit. Gestern Abend hatte sie sein äußerst vertrauliches Gespräch mit seiner Großmutter belauscht, ohne den Anstand zu haben, sich durch ein Räuspern bemerkbar zu machen oder das Zimmer zu verlassen. Er hatte ihre Gegenwart völlig vergessen, so wie man dazu neigte, die Anwesenheit der Dienstboten zu vergessen. Wobei sie kein solcher war, richtig? Sie war ein Gast seiner Großmutter – einer, der den Laufburschen für sie spielte, ihr Dinge holte und ansonsten mit dem Hintergrund verschmolz, ein für einen Gast gänzlich unangemessenes Gebaren. Sie war eine Frau, die anscheinend weder Charakter noch Persönlichkeit besaß oder auch nur die Fähigkeit, Konversation zu betreiben.

Sollte sie zufällig mit Graham Muirhead verwandt sein? Es war ein ungewöhnlicher Name – Muirhead. Dass möglicherweise eine Verbindung zwischen Graham und ihr bestand, stimmte ihn umso gereizter.

„Mylord“, murmelte sie.

„Guten Morgen.“ Er nickte ihr knapp zu und verließ die Terrasse, um über den Rasen zu schlendern, wo er allein war.

Er ging zu einer alten Eiche und legte eine Hand an deren rauen, vertrauten Stamm. Dabei dachte er über sein weiteres Vorgehen nach. Er würde heute so viel Zeit wie möglich mit seinem Großvater verbringen und morgen in die Stadt zurückkehren. Als Vorwand konnte er eine dringende Verabredung anbringen, und das wäre nicht einmal gelogen. Er hatte eine unaufschiebbare Verabredung mit seinem Schicksal. Und morgen Abend gab es sicherlich mindestens einen Ball und ein halbes Dutzend weitere Festlichkeiten jedweder Couleur, unter denen er frei wählen konnte. Denn selbstverständlich war er zu allen eingeladen. Während der Saison fanden jeden Abend zahllose Amüsements statt. Er musste lediglich seine Einladungen aufstöbern, sich eine Veranstaltung aussuchen und hingehen.

Er hatte sich mehr oder weniger mit dem abgefunden, was ihm in unmittelbarer Zukunft blühte. Schließlich hatte er genügend Zeit gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Seine Großmutter hatte ihn schon Weihnachten diesbezüglich ins Gebet genommen. Seine Mutter piesackte ihn seit mindestens einem Jahr mit Anspielungen. Er hatte es auf die lange Bank geschoben. Das musste aufhören.

Er würde seinen Großvater heute dazu animieren, in Kindheits- und Jugenderinnerungen zu schwelgen. Der Duke liebte es, die alten, schon so oft erzählten Geschichten wiederzugeben, und wer wusste, ob Ralph sie nicht zum letzten Mal zu hören bekam. War sein Großvater ernsthaft krank? Oder konnte er in seinem Zustand noch weitere zehn Jahre durchhalten? Aber die Antwort auf diese Frage, die ohnehin niemand geben konnte, änderte nichts am eigentlichen Problem, oder? Der Duke hatte einen Erben, aber dieser Erbe hatte selbst keinen vorzuweisen. Und wie seine Großmutter gestern Abend ganz richtig angemerkt hatte, war das Leben eine unsichere Angelegenheit, selbst für junge Menschen. Ralph könnte jeden Moment sterben.

Es hatte Zeiten gegeben, da wollte er sterben und hatte sogar versucht, nachzuhelfen … Nein, er würde sich nicht von der Erinnerung an jene düsteren Tage übermannen lassen. Er musste jetzt an die Zukunft denken. Doch welcher vernunftbegabte Mann riss sich um die Verantwortung, ein weiteres Menschenleben in diese Welt zu setzen?

Er schüttelte den Kopf. Solchen Grübeleien durfte er nicht nachhängen.

„Wie alt ist sie, was glauben Sie?“, vernahm er eine Stimme hinter sich. Erstaunt drehte er sich um und sah, dass Miss Muirhead ihm über den Rasen gefolgt und etwas abseits von ihm stehen geblieben war. „Die Eiche, meine ich.“

Er schaute sie an, ohne zu lächeln. Hatte er etwa um Gesellschaft gebeten? Wirkte er wie jemand, der Einsamkeit und Elend anheimfiel, kaum, dass er einmal allein umherspazierte? Doch anstatt die Frage und diese Person zu ignorieren, wie er es wohl hätte tun sollen, betrachtete er den Stamm unter seiner Hand und blickte hinauf in die Äste, die sich über ihm ausbreiteten.

„Mehrere hundert Jahre“, antwortete er. „Vielleicht sogar mehr als tausend. Der zweite Duke – der, der das Haus vor über einem Jahrhundert hat errichten lassen – war so umsichtig, die Eiche stehen zu lassen und ein Stück entfernt vom Fluss zu bauen.“

„Sie sieht aus wie ein Paradies für Kinder“, bemerkte sie. „Sind Sie als Junge hinaufgeklettert?“

„Der Baum ist vom Haus aus zu gut zu sehen. Meine Großmutter hat mir den Hintern versohlen lassen, als sie mich eines Tages dort oben erwischte. Da war ich fünf oder sechs. Schon damals muss sie befürchtet haben, ich könnte hinunterfallen und mir den Hals brechen, ohne dass mein Vater weitere Söhne zeugt.“

„Und hat sie Ihnen auch die Kehrseite versohlen lassen, als Sie beschlossen, Offizier zu werden?“, wollte sie wissen. „Ich nehme an, das war Ihre eigene Entscheidung?“

Überrascht sah er sie an und musste sich einmal mehr in Erinnerung rufen, dass sie keine Dienstbotin war. Die Sonne ließ ihr Haar schimmern und das Rot noch intensiver als gestern leuchten. Mit ihrem hellen Teint und den Sommersprossen musste sie sich wahrscheinlich vor Sonnenbrand hüten. Trotzdem trug sie keine Kopfbedeckung.

Nun, da er sie eingehender musterte, stellte er verblüfft fest, dass sie recht gut aussah, ja auf ihre ganz eigene Weise sogar schön war. Sie hatte große tiefgrüne Augen. Ihre Nase war gerade und passte von der Länge her genau zu ihrem ovalen Gesicht. Ihre Wangenknochen waren ausgeprägt, ihre Lippen voll und wohlgeformt und von großzügigen Proportionen. Wenn sie das Haar offen trüge …

Aber sie hatte ihm eine Frage gestellt – eine impertinente, aufdringlich persönliche Frage. Er beantwortete sie trotzdem.

„Ich bettelte und flehte meinen Vater an, jedoch vergebens. Und meine Mutter stand unverrückbar und in Tränen aufgelöst auf seiner Seite. Meine Großmutter drohte mir damit, mich auspeitschen zu lassen – mir eine Abreibung mit der Reitgerte zu verpassen, um sie im Wortlaut wiederzugeben. Ich nehme an, sie hielt mich inzwischen für zu groß, um mir den Hintern zu versohlen. Dann überraschte mein Großvater uns alle und erzürnte jeden bis auf mich. Offenbar war es sein Kindheitstraum gewesen, beim Militär als Offizier zu dienen und nichts Geringeres als ein General zu werden. Das war ihm als Erbe eines Dukes selbstverständlich nicht erlaubt worden, da er keine Brüder hatte. Von seinem eigenen Sohn war er enttäuscht – ja, genau so äußerte er sich im Beisein meines Vaters, der doch der Inbegriff eines pflichtbewussten Erben war. Lasst dem Jungen seinen Willen, sagte er und meinte mich. Soll er ruhig seinem Traum vom Ruhm folgen. Ich war achtzehn Jahre alt und kurz davor, die Schule abzuschließen, so naiv und unwissend wie ein Neugeborenes. Doch das Wort des Dukes of Worthingham galt seiner Familie als Gesetz. Und so erstand er ein Patent für mich im ruhmreichsten Regiment und stattete mich mit dem besten Drum und Dran aus, das man für Geld bekommen kann.“

„Aber Ihr Traum wurde rasch zerstört“, sagte sie leise.

Was wusste sie darüber? Unbewegt sah er sie an, ehe er schroff den Kopf abwandte. Sollte er zum Fluss hinuntergehen und hoffen, dass sie ihm nicht nachlief, um ihm erneut ihre Gesellschaft und eine Unterhaltung aufzudrängen? Oder sollte er sich Richtung Haus wenden und darauf vertrauen, dass er sie abhängen konnte?

Er zögerte einen Moment zu lange.

„Ich konnte nicht umhin, Ihr Gespräch mit ihrer Gnaden gestern Abend mit anzuhören“, erklärte sie. „Ich habe keineswegs absichtlich gelauscht.“

Wieder schaute er sie an. Er nahm die Hand von der Rinde und lehnte sich mit einer Schulter gegen den Stamm. So unnachgiebig, wie sie die Zipfel ihres Umschlagtuchs umklammert hielt, musste sie sich inmitten eines Sturmes wähnen.

„Soweit ich verstanden habe“, fuhr sie fort, „liegt Ihnen nichts daran zu heiraten, aber Sie sind dazu gezwungen.“

Er verschränkte die Arme vor der Brust und hob eine Braue. Ihre Dreistigkeit kannte keine Grenzen. Wenngleich sie völlig richtig lag – sie hatte nicht gelauscht. Als Gast hatte sie ein Recht darauf gehabt, sich im Salon aufzuhalten.

„Ich gehe nicht davon aus, dass es allein Ihr junges Alter ist, oder?“, hakte sie nach.

Er zog auch die andere Braue hoch.

„Der Grund, warum Sie so sehr gegen eine Heirat sind, meine ich“, ergänzte sie. „Es liegt nicht nur daran, dass Sie jung sind und sich mehr Zeit wünschen, um sich die Hörner abzustoßen, ehe Sie häuslich werden. Das ist es nicht, habe ich recht?“

In ihm rangen widerstreitende Impulse um die Vorherrschaft. Einerseits wollte er lauthals losprusten, andererseits wäre er am liebsten vor Wut in die Luft gegangen.

„Ich denke“, fügte sie hinzu, als er eisern schwieg, „dass es sich ganz so verhält, wie Sie es der Duchess erklärt haben. Sie haben nichts zu bieten bis auf das, was sich alle Mädchen im Land und deren Mütter wünschen. Ich drücke mich nicht besonders klar aus, nicht wahr? Aber ich weiß, was ich sagen will, und Sie wissen, was ich meine. In Ihnen ist nichts mehr, was Sie bieten könnten, richtig? Irgendetwas hat es Ihnen geraubt. Vielleicht der Krieg. Und nun sind Sie leer.“

Eisige Kälte erfasste ihn. Natürlich war es früh am Morgen, und er stand im Schatten eines Baumes, außerhalb des wärmenden Sonnenscheins. Doch daran lag es nicht. Es war keine Kälte, die von außen kam.

„Sie maßen sich an, mich in- und auswendig zu kennen, Miss Muirhead.“ Er machte keinen Hehl aus seinen Gefühlen. „Und das nach … wie lange kennen wir uns jetzt? Achtzehn Stunden?“

„Ich kenne Sie kein bisschen“, gab sie zurück. „Ich denke, Sie achten peinlich genau darauf, dass niemand Sie durchschauen kann.“

„Aber Sie sind zu dem Schluss gelangt, ich sei leer.“ Er bedachte sie mit einem abschätzigen Blick. Sie besaß nicht einmal den Anstand, Unbehagen zu zeigen, abgesehen von ihren verkrampften Händen. „Somit müssen Sie doch davon ausgehen, alles über mich zu wissen, was es zu wissen gibt.“

„Wie unzulänglich Worte doch sind.“ Sie schüttelte leicht den Kopf. „Wie dem auch sei, Lord Berwick, Sie brauchen eine Gattin, und Ihnen graut vor dem Gedanken, nach London zurückzukehren, um in den Ballsälen und an den übrigen Tummelplätzen des ton nach einer geeigneten Kandidatin zu suchen.“

„Graut.“ Er lachte. „Wie schlimm es wäre, wenn das stimmte, Miss Muirhead. Ich kann ohne Übertreibung und Dünkel behaupten, einer der begehrtesten Männer im Land zu sein. Junge Damen – schöne, reiche junge Damen aus gutem Hause – scharen sich jetzt bereits hoffnungsfroh um mich. Sobald ich ihnen zu verstehen gebe, dass ich ernsthaft auf Brautschau bin, werde ich mich ihrer kaum erwehren können.“

Junge Damen. Damit meinen Sie vermutlich solche, die gerade die Schule hinter sich haben. Arme Mädchen – wie Sie selbst gestern Abend angemerkt haben. Diejenige, die Sie sich aussuchen werden, wird nicht lange glücklich sein, nicht wahr?“

„Wegen meines Aussehens?“ Mit einem Fingerschnippen wies er auf seine vernarbte Wange. „Oder wegen meiner verödeten Seele?“

Weshalb ließ er sich überhaupt auf diese Unterhaltung ein?

„Weil Sie nichts zu bieten haben“, entgegnete sie. „Nichts, was ein junges, hoffnungsfrohes, unschuldiges Mädchen glücklich machen könnte, wenn erst die Hochzeitseuphorie abgeflaut ist.“

„Der Titel einer Countess und die Aussicht auf den einer Duchess würde sie also nicht in dauerhafte Verzückung versetzen? Der Umstand, für den Rest ihres Lebens über so gut wie jeder anderen Dame in England zu stehen? Ein schier unermessliches Vermögen zur Verfügung zu haben? Kleider, Kutschen, Juwelen und sämtlichen nur erdenklichen Schnickschnack ihr Eigen zu nennen?“

„Aus Ihrem Tonfall schließe ich, dass Sie mir recht geben“, beschied sie ihn.

Wieder lachte er. „Glauben Sie, ich würde einen solch grausamen Gatten abgeben, Miss Muirhead?“

„Vermutlich nicht absichtlich.“

Tja, dachte er verdrießlich, wie schön, durchschaut und verstanden zu werden. Beiläufig fragte er sich, ob es irgendetwas gab, das sie in ihrer Ruhe zu erschüttern vermochte – und dazu bringen würde, das Temperament zu zeigen, das ihr rotes Haar verhieß.

„Sie täten gut daran, mich zu heiraten“, informierte sie ihn.

Was?

Er stand da wie angewurzelt, den Blick auf sie geheftet.

„Ich bin nicht mehr blutjung“, führte sie aus, „und habe die Naivität der Jugend längst hinter mir. Ich bin siebenundzwanzig, aber es liegen noch viele Jahre vor mir, in denen ich Kinder gebären könnte, und ich habe keinen Grund zu der Annahme, unfruchtbar zu sein. Mein Vater ist der sechste Baronet seiner Linie, und meine Mutter ist die Tochter eines Viscounts. Ich mache mir keine Illusionen, was eheliches Glück anbelangt, und wäre durchaus bereit, unsere Ehe als das zu akzeptieren, was sie wäre. Ich würde mich nicht in Ihr Leben einmischen, und ich würde das meine auf eine Weise führen, die Sie niemals öffentlich beschämen oder im Privaten behelligen würde. Würden Sie sich einverstanden erklären, mich zur Frau zu nehmen, würde Ihnen das die Unannehmlichkeit ersparen, sich unter den zahllosen heiratswilligen jungen Damen, an denen Sie nicht das leiseste Interesse haben, eine aussuchen zu müssen.“

Endlich fand er seine Stimme wieder.

„Ich habe auch an Ihnen kein Interesse, Miss Muirhead.“ Das war harsch, aber er wollte sie verletzen – ihm war eiskalt ums Herz.

„Natürlich nicht“, erwiderte sie ungerührt, wenn ihm auch ein Blick auf sie offenbarte, dass ihre Fingerknöchel sich weiß von ihrem Schultertuch abhoben. „Das würde ich weder erwarten noch erhoffen. Ich schlage Ihnen einen einvernehmlichen … Handel vor, Lord Berwick. Etwas, das uns beiden nützen und keinem von uns schaden würde. Sie brauchen eine Frau, obwohl Sie keine wollen. Ich will einen Mann, habe jedoch wenig Aussicht darauf, einen zu finden. Sie sind nicht auf Liebe aus, ebenso wenig wie ich. Einst hatte ich sie gefunden, aber sie erwies sich als trügerisch und geradezu absurd schmerzhaft. Ich wünsche mir eine Ehe, weil jede für eine Frau infrage kommende Alternative ungemein trostlos ist. Ich wünsche mir ein eigenes Heim und einen Platz in der Gesellschaft. Ich möchte Kinder haben – und diese würde ich über alles lieben. Mich würden Sie nicht enttäuschen. Ich würde nichts von Ihnen erwarten, bis auf das, was die Pflicht gebietet. Und ich würde Sie nicht enttäuschen, denn auch Sie würden nichts von mir erwarten, was über die Pflicht hinausginge. Und das würde ich Ihnen fraglos und ohne zu klagen zugestehen. Sie möchten sich nach Ihrer Hochzeit auf Ihren Landsitz zurückziehen. Ein solch abgeschiedenes Dasein wäre ganz in meinem Sinne. Ich würde Ihnen nicht ständig damit in den Ohren liegen, mich in die Stadt mit all ihren Lustbarkeiten zu kutschieren.“

Das Haar trügt, dachte er. Einen kälteren Fisch als sie hatte er nie kennengelernt.

Sie heiraten?

Andererseits – mit ihr verheiratet zu sein, käme fast einem Junggesellendasein gleich. Ohne dass er länger Junggeselle wäre. Und heiraten musste er. Sie war siebenundzwanzig Jahre alt, der Jugend ebenso entwachsen wie der Unschuld. Sie hatte einst geliebt. Bedeutete das …?

„Sind Sie noch Jungfrau, Miss Muirhead?“ Auch dies eine unbarmherzige Frage. Und eine unnötig zudringliche. Schließlich erwog er nicht ernsthaft, auf ihren ungeheuerlichen Vorschlag einzugehen. Oder?

„Ja“, antwortete sie, „das bin ich.“

Sie standen da und starrten einander an.

„Sind Sie mit Graham Muirhead verwandt?“, wollte er unvermittelt wissen.

„Er ist mein Bruder.“

Aha. Er ließ den Blick zu ihrem Haar und zurück zu ihren grünen Augen wandern. Zwar hatte Graham dunkles Haar und dunkle Augen, aber er war ihr Bruder. Das nahm Ralph nicht gerade für sie ein.

Sie musste seine Gedanken gelesen haben.

„Mein Vorschlag sieht vor, dass Sie mich heiraten, nicht meinen Bruder, Lord Berwick.“

3. KAPITEL

Es folgte ein unangenehm langes Schweigen. Der Earl of Berwick stand reglos da, mit einer Schulter gegen die uralte Eiche gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, die Füße, die in Stiefeln steckten, an den Knöcheln gekreuzt. Er wirkte bedrohlich groß und … finster. Letzteres war natürlich dem Schatten des Baumes zuzuschreiben. Das Zwielicht milderte die Wirkung der quer über seine Wange verlaufenden Narbe nicht etwa, sondern hob sie umso stärker hervor – und gerade diese Wange hatte er ihr zugewandt.

Weder in seinem Gesicht noch in seinen ausdruckslosen Augen zeigte sich auch nur der geringste Anflug von Humor oder einer anderen Regung.

Was hatte sie bloß zu der Annahme verleitet, dass sie ihn heiraten könnte? Dass er sie heiraten würde? In ihm war nichts als brütende, düstere Leere. Sogar gefährlich war er, obgleich ihr das erst jetzt aufging. Denn niemand wusste – und vermutlich würde niemand je erfahren –, welche Gefühle tief in ihm begraben lagen und jeden Augenblick an die Oberfläche brechen mochten.

Sie überlegte, was sie tun sollte, falls sich das Schweigen in die Länge zöge. Was, wenn er nicht vorhatte, sich zu regen oder etwas zu sagen? Sollte sie sich abwenden und gehen? Ihre letzte Chance fahren lassen? Ihre Chance worauf? Ihn zu heiraten wäre womöglich nicht erstrebenswerter als die Aussicht darauf, ihr restliches Dasein wie gehabt als alte Jungfer zu fristen, in Eintönigkeit, aber unabhängig.

Endlich ergriff er das Wort.

„Eines interessiert mich, Miss Muirhead. Wenn eine Heirat, selbst eine solch armselige wie die, die Sie mir vorschlagen, Ihnen so immens wichtig ist, warum sind Sie dann mit siebenundzwanzig immer noch unvermählt?“

Ah.

Weil niemand um mich angehalten hat? Das stimmte. Doch in Wahrheit verhielt es sich nicht ansatzweise so simpel, wie es klang.

„Ich bin keine gute Partie“, erklärte sie, das Kinn gereckt. Eine größere Untertreibung war ihr nie über die Lippen gekommen.

„Und dennoch erwarten Sie von mir, Sie zur Frau zu nehmen?“ Abermals zog er die Augenbrauen hoch und näherte sich damit dem Bild an, das sie ursprünglich von ihm gehabt hatte – dem des arroganten, herablassenden Mannes. „Inwiefern stellen Sie, bitte schön, keine gute Partie dar? Soeben haben Sie mir eröffnet, dass Ihr Vater ein Baronet von untadeliger Abstammung ist und Ihre Mutter die Tochter eines Viscounts. Die Herkunft ist auf dem Heiratsmarkt ja wohl ein gewichtiger Faktor. Und außerdem sehen Sie nicht gerade wie ein Wasserspeier aus.“

War das ein Kompliment?

Langsam holte sie Atem.

„Vor sechs Jahren ist meine Schwester mit einem verheirateten Mann davongelaufen“, begann sie. „Er hat sie ein Jahr darauf geehelicht, kaum drei Monate, nachdem seine Frau gestorben war, und einen Monat vor der Niederkunft meiner Schwester. Diese Verbindung hat, nach jenem in aller Öffentlichkeit ausgetragenen Skandal, nur ein äußerst begrenztes Maß an Ehrbarkeit erlangt. Die Snobs der feinen Gesellschaft werden sich mit meiner Schwester niemals abgeben. Uns hat man ebenfalls nicht vollständig vergeben, denn mein Vater hat sich geweigert, meine Schwester zu verstoßen, selbst als ihr Verführer sie einige Monate lang im Stich ließ, um zu seiner sterbenden Frau zurückzukehren.“

Autor

Mary Balogh
Mary Balogh wuchs als Mary Jenkins in der Nachkriegszeit in Wales auf. Ihre Kindheit war sehr idyllisch, auch, wenn ihre Heimatstadt Swansea im Krieg sehr zerbombt wurde. Sie wuchs mit einer zwei Jahre älteren Schwester auf, die sowohl ihre Seelenverwandte als auch ihre Spielgefährtin war. Als Kinder füllten beide Notizbücher...
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