Solange das Begehren brennt

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Auch wenn der Earl of Rathsmere ruchlos und lasterhaft sein soll: Minerva muss ihn unbedingt aufsuchen! Nur er kann ihr sagen, ob ihr geliebter Bruder noch lebt, der mit ihm im amerikanischen Bürgerkrieg gekämpft hat. Aber der Earl ist nicht bereit, sie zu empfangen, verschanzt sich in seinem Stadthaus wie in einer schottischen Burg. Also dringt Minerva wagemutig in seinen Privatgarten ein - und steht dem arroganten Adligen unmittelbar gegenüber. So umwerfend attraktiv ist er, dass sie alle Gerüchte über ihn sofort glaubt! Dennoch sie ist schockiert. Denn der Earl ist blind - und behauptet, es sei die Schuld ihres Bruders …


  • Erscheinungstag 27.02.2018
  • Bandnummer 324
  • ISBN / Artikelnummer 9783733734053
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

London, Juli 1862

Um vier Uhr nachmittags an einem schwülen Tag im Juli stieg Minerva Todd in ihre Kutsche, zog sich ungeduldig die Handschuhe an, band ihre Haube zu und starrte dann angestrengt nach vorn, als könne sie dadurch das Gefährt zu einer schnelleren Fahrt bewegen.

Der Tag, obwohl schon recht weit vorangeschritten, war nicht länger sonnig. Dunkelgraue Wolken zogen von Osten auf; sie brachten feuchte Luft und den Geruch nach Regen mit.

Sie schob einen Finger zwischen ihre Wange und das scheuernde Band der Haube. Alle neuen Sachen drückten oder scheuerten am Anfang, zumindest bis man sie eingetragen hatte.

Das Kleid jedoch war nicht neu; sie trug eines ihrer praktischen dunkelblauen Tageskleider. Sie hatte ein halbes Dutzend davon anfertigen lassen, damit sie den weißen Kragen und die weißen Manschetten abnehmen konnte, wenn sie arbeitete. Sonst trug sie meist ihr Lieblingskleidungsstück, einen zweigeteilten Rock, der eigentlich eher eine weite Hose war. An diesem Tag musste sie allerdings wie eine anständige Londonerin auftreten, wenigstens bis sie diesen schrecklichen Gang hinter sich gebracht hatte.

Sie wäre jetzt gern auf einer Expedition gewesen, aber das nasse Frühlings- und Frühsommerwetter hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Doch selbst wenn in Schottland die Sonne geschienen hätte, wäre sie nicht aus London abgereist. Nicht so lange sie keine Neuigkeiten über Nevilles Verbleib hatte.

Wo war ihr Bruder?

Der Earl of Rathsmere musste es wissen, aber er hatte auf ihre fünf Briefe, von denen sie den letzten erst vor drei Tagen abgeschickt hatte, nicht geantwortet. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn aufzusuchen.

Natürlich hatte sie Geschichten über Rathsmere gehört. Der Mann hatte einen lächerlichen Spitznamen – Rake of London, also Schurke von London –, und es ging das Gerücht, dass er einmal eine königliche Geliebte gehabt hatte, eine der Cousinen der Königin. Die Tatsache, dass er das Verhältnis beendet hatte, war schon skandalös genug, aber dann hatte er auch noch vertrauliche Dinge vor Männern offenbart, die keinen Deut besser waren als er selbst. Zum Beispiel, dass die betreffende Dame die Farbe Rot liebte. Um ihr eine Freude zu machen, hatte er seine gesamte Unterwäsche purpurrot eingefärbt, und er war, sich seiner schottischen Abstammung brüstend, in ihren Gemächern herumstolziert mit nichts weiter bekleidet als einem schmalen Streifen Stoff in den Farben seines Tartans, Schwarz und Rot.

Die Königin war nicht angetan gewesen, als sie von der Zügellosigkeit ihrer Cousine erfahren hatte. Die Arme war mit dem Schiff nach Australien verbannt worden, wo sie auf Schaffarmen arbeiten sollte. Bestimmt hatte man ihr mit auf den Weg gegeben, dass sie sich gefälligst bessern sollte, falls sie sich Hoffnungen machte, je wieder bei Hof erscheinen zu dürfen. Eigensinnige Frauen wurden von der Gesellschaft nicht geschätzt.

Der sogenannte Rake of London jedoch war jedermanns Liebling. Die Leute amüsierten sich über seine Eskapaden und sahen ihm all seine Exzesse nach. Sie gestatteten ihm – nein, sie bestärkten ihn sogar in seinem vollständigen Desinteresse an jeglicher Form zivilisierten Verhaltens.

Er war, kurz gesagt, ein ruchloser, lasterhafter Mensch und Freigeist. Und jetzt war er auch noch ein Earl; eine absolute Verhohnepipelung dieses ehrbaren Titels.

Als die Kutsche vor dem großen Stadthaus des Mannes anhielt, starrte Minerva durch das Fenster auf die breite Treppe vor dem Eingang, dann ließ sie den Blick an dem dreistöckigen Gebäude emporwandern. Das sah MacIain ähnlich, nicht einfach nur in einem angesagten Viertel zu wohnen, sondern auch noch in einem Haus, das sich über eine ganze Ecke des Platzes erstreckte. Das Gebäude wirkte wie eine königliche Residenz; zumindest war es das Zuhause eines Menschen, der sich seiner Bedeutung nur allzu bewusst war.

Soweit sie gehört hatte, sollte der Mann sehr attraktiv sein. Gutes Aussehen verblasste irgendwann, Intelligenz nicht. Seinem Verhalten nach zu urteilen war der Earl jedoch ein sehr dummer Mann. Was sollte sie mit einem schönen Apfel anfangen, der im Inneren verfault war?

Sie pflegte eine rege Korrespondenz mit den unterschiedlichsten, auf dem ganzen Kontinent verteilt lebenden Männern. Ihre Themen waren nicht ganz so wichtig gewesen wie der Inhalt ihrer Briefe an den Earl, aber jeder andere Mann hatte die Freundlichkeit besessen, ihr zu antworten.

Der Earl hingegen hatte es nicht für nötig gehalten, auf ihre Fragen einzugehen, dabei war er der Einzige, der über die Informationen verfügte, die sie so verzweifelt brauchte.

Ihr Kutscher stieg ab, kam herum und öffnete die Tür für sie. „Bist du ganz sicher, dass du das wirklich willst, Minerva?“

Sie unterdrückte ein Seufzen. Hugh war ein Paradebeispiel für gutes Aussehen, Intelligenz und Charakter. Leider war er aber auch viel zu neugierig, und das war ihre eigene Schuld. Durch ihr Verhalten hatte sie ihn in dem Glauben bestärkt, er hätte ein Recht darauf, so aufdringlich zu sein. „Ich sehe keine andere Möglichkeit“, erwiderte sie. „Er hat meine Briefe nicht beantwortet, daher bleibt mir wohl nichts anderes übrig.“

„Vielleicht weigert er sich, dich zu empfangen.“

Sie nickte und legte Hugh die Hand auf den Arm, um sich beim Aussteigen helfen zu lassen. „Vielleicht. Wenn er mich heute nicht empfängt, dann eben morgen. Wenn morgen nicht, dann übermorgen. So kann es von mir aus ewig weitergehen, falls nötig.“

Hugh zog eine Augenbraue hoch.

Nun gut, möglicherweise war sie in manchen Situationen ein klein wenig dickköpfig. Sie war eine Frau, die sich in einer Männerwelt abmühte. Sie konnte es sich nicht leisten, für sanft und sittsam gehalten zu werden. Das war eher etwas für Frauen, die kaum ihre Salons verließen oder gar Fächer benutzten, um Gottes willen! Sie konnte sich nicht vorstellen, einen Fächer zu Hilfe zu nehmen, um mit einem Mann zu flirten. Dabei wäre sie sich vollkommen albern vorgekommen.

Sie sah prüfend an sich hinunter und strich glättend über ihre Röcke. Natürlich sah sie nicht so aus wie die Scharen von Frauen, die sonst diese breite weiße Treppe hinaufsteigen dürften. Sie war schlicht und einfach Minerva Todd, die andere Vorzüge hatte als nur ein hübsches Gesicht und eine gute Figur.

Noch bevor sie die Tür erreichte, fielen die ersten Regentropfen, und schon Sekunden später hatte sie das Gefühl, jemand hätte einen Eimer Wasser über ihr ausgeschüttet. Oben auf der Treppe angekommen atmete sie tief durch, straffte die Schultern und starrte auf die schwarze Tür mit dem skurrilen Türklopfer aus Messing. Warum ausgerechnet ein Pilz? Sie betätigte ihn und hörte den leisen Widerhall drinnen im Foyer. Ihr Herz pochte schneller, und ihre Finger waren trotz der Handschuhe eiskalt.

Er musste sie empfangen. Er musste mit ihr reden. Selbst wenn er keine guten Nachrichten für sie hatte – sie musste einfach Bescheid wissen.

Als niemand öffnete, betätigte sie den Türklopfer gleich noch zweimal. Die Fensterscheiben waren blitzblank geputzt, die Treppe sauber gefegt, trotzdem machte das Haus einen verlassenen Eindruck. Minerva trat einen Schritt zurück und sah im Regen an der Fassade hoch. An allen Fenstern waren die Vorhänge zugezogen, niemand beobachtete sie.

Sie drehte sich zu Hugh um, der neben der Kutsche stand. „Würdest du bitte in die Stallungen gehen und nachsehen, ob dort eine Droschke steht?“ Wenn der Earl nicht zu Hause war, erklärte das, warum er ihre Briefe nicht beantwortet hatte. Ob er auch ein Haus auf dem Land hatte? Und wenn ja, wie sollte sie herausfinden, wo es sich befand?

Hugh nickte und ging um das Haus herum, während sie weiterwartete. Der Eingang war nicht überdacht, sodass Besucher ungeschützt den Elementen ausgesetzt waren, was für Minerva einem persönlichen Affront gleichkam. Wieder klopfte sie.

Der Regen roch nach Staub und den Londoner Straßen. London schien eine Stadt zu sein, die Gerüche eifersüchtig in sich einschloss, damit sie ja nicht entkommen konnten; im Moment waren es die von Geißblatt, Rosen, alten Mauern, Pferdemist und Staub, dazu der allgegenwärtige stechende Geruch der Themse.

Die Tür ging so abrupt auf, dass Minerva beinahe vornüber gefallen wäre. Ein sehr großer, sehr schlanker Mann stand ihr gegenüber. Seine Hemdsärmel waren hochgekrempelt und entblößten muskulöse Arme. Sein Haar war nach hinten gekämmt; wegen der markanten Nase und des spitzen Kinns wirkte sein Gesicht streng. Auf seiner Stirn und der Oberlippe stand Schweiß. Seine gereizte Miene war etwas entmutigend, aber Minerva wagte dennoch ein Lächeln.

„Ja?“

Sie verspürte das seltsame Bedürfnis, sich zu entschuldigen, aber nein, das kam nicht infrage. Schließlich war sie aus einem guten Grund hier. „Ich möchte bitte den Earl sprechen.“

„Ach ja?“

Was für eine merkwürdige Bemerkung von einem Majordomus! Sie zog ihre Karte aus ihrem Retikül und hielt sie ihm hin, bis er sie ihr endlich abnahm. Gott sei Dank, denn allmählich war Minerva völlig durchnässt und die Karte ebenfalls klamm. Warum bloß hatte sie keinen Schirm mitgenommen? „Würden Sie ihm bitte ausrichten, dass Minerva Todd ihn zu sprechen wünscht wegen ihres Bruders Neville.“

„Er empfängt keinen Besuch.“

Sie ignorierte das. „Bitte, sagen Sie dem Earl, dass ich nicht viel von seiner Zeit in Anspruch nehmen werde. Ich möchte ihm nur eine einzige Frage stellen.“ Ob der Majordomus einmal als Lakai angefangen hatte? Seine Größe war beeindruckend; Minerva gefiel es gar nicht, zu ihm aufsehen zu müssen. Sein versteinerter Gesichtsausdruck hätte sie vielleicht eingeschüchtert, wenn sie nicht so wild entschlossen gewesen wäre, mit dem Earl zu sprechen.

„Das wird nicht möglich sein.“

Er wich zurück und wollte schon die Tür schließen, aber Minerva schob energisch ihren Fuß in die Türöffnung. Sie war nicht so hochgewachsen wie der Majordomus, aber auch nicht gerade klein; sie und Neville waren gleich groß. „Bitte, ich muss ihn wirklich sprechen.“

Der Blick seiner braunen Augen blieb ausdruckslos. „Ich bedaure, Miss Todd, aber seine Lordschaft empfängt nicht.“

„Würden Sie ihm dann etwas ausrichten? Ich muss wissen, wo mein Bruder ist. Neville ist nicht nach London zurückgekehrt.“

„Das kann ich leider nicht.“

„Herrgott noch mal! Einem so unverschämten Majordomus bin ich auch noch nie begegnet!“ Minerva war jetzt wirklich sehr verärgert.

Der Mann verblüffte sie mit einem Lächeln, und mit ihm ging auf einmal eine solche Verwandlung vor, dass seine Züge sofort viel weicher wirkten. Die Nase war nicht mehr so markant, das Kinn nicht mehr so spitz, und seine braunen Augen funkelten jetzt sogar verschmitzt. „Ich bin der Sekretär des Earls, Miss Todd. Stanley Howington.“ Er verneigte sich leicht. „Aber wahrscheinlich fungiere ich auch als Majordomus.“

„Haben Sie denn kein anderes Personal?“

„Geht Sie das etwas an?“

„Durchaus, wenn Sie Besucher einfach draußen im Regen stehen lassen.“

„Die Haushälterin hat ihren halben freien Tag, und die Dienstmädchen haben andere Arbeiten zu erledigen, Miss Todd – aber glauben Sie nicht, dass Sie das etwas anginge.“

„Waren Sie mit dem Earl in Amerika, Mr. Howington?“

Er schüttelte den Kopf, legte die Hand auf die Klinke und wollte wieder langsam die Tür schließen.

„Werden Sie ihn wegen Neville fragen?“ Sie drückte mit der Hand gegen die Tür. Wenn er diese jetzt ganz schließen wollte, musste er Minerva wohl wegstoßen. Doch trotz seiner Unfreundlichkeit wirkte er nicht wie ein Mann, der einer Frau gegenüber handgreiflich wurde. „Würden Sie das bitte tun?“

„Seine Lordschaft spricht nicht gern über Amerika, Miss Todd.“

Sie sagte sich, ihr schlechtes Benehmen könnte deshalb verzeihlich sein, weil sie sich so große Sorgen machte. Der Versuch, vom Earl eine Antwort auf ihre Frage zu erhalten, war über alle Maßen anstrengend, und dass Mr. Howington nun sagte, der Mann würde sie nicht empfangen wollen, war geradezu eine Aufforderung, unhöflich zu werden. Sie stemmte sich gegen die Tür. „Ich spreche nicht von Amerika!“ Ihre Stimme überschlug sich fast. „Ich rede von meinem Bruder. Wo ist Neville?“ Da die Tür ihren Fuß schmerzhaft einklemmte, rechnete sie nun doch damit, vom Sekretär des Earls die Treppe hinuntergestoßen zu werden. So viel zu Handgreiflichkeiten Frauen gegenüber.

„Zwingen Sie mich nicht, zu vergessen, dass ich ein Gentleman bin, Miss Todd. Sie sind langsam durchnässt. Wäre es nicht das Beste, wenn Sie sich nun wieder in Ihre Kutsche begeben?“

„Dann sagen Sie mir wenigstens, dass Sie den Earl fragen werden.“

Er sah sie eine Weile nachdenklich an, und Minerva hatte das Gefühl, dass er sie anlügen würde, nur um sie loszuwerden.

„Also gut.“ Sie wich einen Schritt zurück.

Manchmal war es notwendig, den Rückzug anzutreten, um an einem anderen Tag weiterzukämpfen. Außerdem hatte er recht. Sie war bis auf die Haut durchnässt, Regentropfen rannen eiskalt ihren Rücken hinunter. Von ihrer Haube ging ein merkwürdiger Geruch aus, der sie irgendwie an den Hund ihrer Nachbarn erinnerte. Frederick liebte das Wasser und stürzte sich bei jeder Gelegenheit in die Fluten. Im Moment roch ihre Haube wie der nasse Frederick.

Sie drehte sich um, legte die Hand auf das schmiedeeiserne Geländer und ging die Stufen mit hart erkämpfter Würde hinunter.

Hugh trat vor sie, das Haar klebte nass an seinem Kopf. „Die Kutsche ist da, also muss der Earl wohl zu Hause sein.“

Sie nickte ihm zu, stieg in ihre eigene Kutsche und war entschlossener denn je, ihre Angelegenheit erfolgreich zu Ende zu bringen. Sie musste Neville finden, und kein Sekretär konnte sie davon abhalten, so dienstbeflissen er auch sein mochte.

Sie würde mit dem Earl of Rathsmere sprechen. Ganz sicher.

2. KAPITEL

Dalton MacIain, Earl of Rathsmere, stand an der Tür zu seiner Bibliothek und hörte zu, wie Howington mit irgendeinem Frauenzimmer stritt. Gab es am Tarkington Square jetzt auch schon Bettler? Die einzelnen Worte konnte er nicht verstehen, nur den Tonfall. Howington blieb so ruhig wie immer, im Gegensatz zu der Frau. Ihre Stimme wurde immer lauter, als wolle sie mit dem Donnergrollen draußen wetteifern.

Der Earl ging zurück ins Zimmer und überließ die beiden sich selbst. Howington würde sie schon loswerden, wer immer sie auch sein mochte. Er hätte seinen Majordomus nicht nach Gledfield schicken sollen. Wenn Samuels hiergeblieben wäre, hätte er die Tür geöffnet und Howington diesen Auftritt erspart. Außerdem wäre Samuels auch eine Art Puffer zwischen ihm und Howington gewesen; schade, dass er das nicht früher bedacht hatte. Jetzt war Howington allgegenwärtig und wich ihm auf seine unterwürfige Art nicht von der Seite.

Zielsicher ging er zum Fenster und zog die Vorhänge zu. Er erinnerte sich noch an ihre Farbe, ein Smaragdgrün, das er besonders gern mochte. Alles andere in dem Raum war noch genauso wie früher; zwei dunkelgrüne Ohrensessel vor dem Kamin mit einem kleinen Tisch zwischen ihnen und genug Bücher in den Regalen, um daraus schließen zu können, dass er ein belesener Mann war. Seine früheren Gefährten wären aufrichtig erstaunt gewesen, wenn sie gewusst hätten, dass er sie tatsächlich alle gelesen hatte. Jetzt war er froh darüber.

Wieder donnerte es, und die Fensterscheiben vibrierten. Das Prasseln des Regens draußen klang wie gedämpftes Artilleriefeuer. Dalton MacIain ging zur Anrichte an der gegenüberliegenden Wand, genau drei Meter von ihm entfernt, und zog den Stopfen aus der Kristallkaraffe. Er griff nach einem Glas und versuchte, die Hand ganz ruhig zu halten. Wieder ein Donnerschlag, der sich diesmal sehr wie ein Kanonenschuss anhörte und ihn dazu veranlasste, Karaffe und Glas mit einem leisen Klirren wieder hinzustellen. Er stützte sich mit beiden Händen auf die Anrichte, starrte geradeaus und versuchte, sein Zittern unter Kontrolle zu bekommen.

An der Wand vor ihm hing ein golden gerahmtes Gemälde, eine Ansicht von Gledfield, dem Landsitz der MacIains. Ein begabter Künstler hatte ein Bild geschaffen, das ihm immer in Erinnerung bleiben würde. Das große Haus aus gelblichem Backstein, gelegen auf einem sanft geschwungenen Hügel, schien das Sonnenlicht förmlich anzuziehen. Dutzende mächtiger Eichen umgaben es. Dalton war auf jede einzelne von ihnen geklettert, hatte sich zwischen ihren Ästen versteckt oder ihre Stämme als Rückenlehne benutzt, wenn er gedankenverloren sein Zuhause betrachtet hatte. Natürlich hatte er damals, als Junge, die ländliche Idylle nicht zu schätzen gewusst; er hatte sich nach Aufregung und Abenteuern gesehnt. Dieser Wunsch war ihm in der Tat erfüllt worden.

Er begann, sich selbst zu beruhigen, so wie er es lange geübt hatte, indem er tief und gleichmäßig ein- und ausatmete; eine Methode, die er seltsamerweise im Krankenhaus in Washington gelernt hatte. Einer der Ärzte dort war ein begeisterter Anhänger der fernöstlichen Heilkunst gewesen. Offenbar war es hilfreich, ganz ruhig zu bleiben, wenn einem ein Bein amputiert wurde; es fragte sich nur für wen – für den Patienten oder den Arzt? Zum Glück hatte er alle seine Gliedmaßen behalten.

Er stellte sich die Szene auf dem Gemälde vor; das Haus auf dem Hügel, der grüne Rasen, der blassblaue Himmel und ein Leuchten, das mehr von einer Sehnsucht nach dem Paradies zeugte als nach dem realen Gledfield. In seiner Erinnerung war das Haus ein Ort des Durcheinanders und Gelächters gewesen. Er und Arthur, die beiden älteren der Geschwister, hatten ständig Dummheiten ausgeheckt und im nahe gelegenen Denton River geangelt und gebadet. Sein kleiner Bruder Lewis war fünf Jahre jünger, während ihn und Arthur nur ein Jahr trennte. Dalton erinnerte sich, dass der Junge sich ständig beklagt hatte, weil er und Arthur nicht mit ihm spielen wollten. Lewis hatte ja recht gehabt; sie hatten sehr viel Zeit damit verbracht, sich vor ihm zu verstecken oder ihm das Leben schwer zu machen.

Auf dem Gemälde nicht zu sehen waren die Stallungen, sein bevorzugter Aufenthaltsort in Gledfield. Er ritt schon, bevor er überhaupt sprechen konnte. Er und Arthur lieferten sich täglich Wettkämpfe. Wer sprang über den höchsten Zaun? Wer konnte am schnellsten von Gledfield ins Dorf und wieder zurück galoppieren? Es ging dabei nicht um einen hohen Einsatz. Gegen seinen älteren Bruder hatte er nur ein einziges Mal verloren, und da hatte er die Box ausmisten müssen, in der Arthurs Pferd untergebracht war.

Arthurs Einsätze waren nie körperlicher Art gewesen. Nein, Dalton hatte darauf bestanden, dass Arthur eines von Burns’ Gedichten auswendig lernte, wenn er verlor. Arthur war lange nicht so stolz auf ihre schottische Abstammung wie er, auch Lewis nicht. Sie hielten sich in erster Linie für Engländer, während Dalton die schottische Mentalität faszinierte. Ihm gefiel die Vorstellung, dass ihre Vorfahren Highlander gewesen waren, und er wollte ihnen in ihrem Mut und ihrer Waghalsigkeit nacheifern.

Der Sturm war stärker geworden und ließ die Fensterscheiben klirren. Bei jedem Donner vibrierte der Fußboden mit. Dalton machte sich wieder daran, sich einen Whisky einzuschenken. Wie schade, dass seine Vorfahren nicht ins Whiskygeschäft eingestiegen waren. Nein, sie hatten sich stattdessen für Kohle entschieden, dank der reichen walisischen Erbin, die sein Urgroßvater geheiratet hatte.

Er achtete darauf, das Glas nicht zu voll zu machen, und trug es vorsichtig zu seinem Schreibtisch. Er hatte ihn eigens für sich anfertigen lassen, damit er dem Schreibtisch seines Urgroßvaters im Londoner Sitz der Familie ähnelte. Das hier jedoch war sein eigenes Haus, gekauft von seinem Erbe, eingerichtet mit Möbeln, die er selbst ausgesucht hatte. Ein Zuhause, in das er alle seine Freunde eingeladen und in dem er mit ihnen nächtelang gelacht und gefeiert hatte.

Arthur war nicht hier und sein Vater auch nicht. Es gab sie nicht mehr, sie lagen beide in der Gruft von Gledfield.

Er trank einen Schluck Whisky und freute sich auf das leichte Brennen in seiner Kehle. Es donnerte wieder, und er erhob sein Glas auf das Wohl der Natur.

Ich habe keine Angst.

Er war nicht so dumm, diese Worte laut auszusprechen, denn sonst wäre Howington gekommen, hätte leise an die Tür geklopft und gefragt: „Ist alles in Ordnung, Mylord?“

Dann wäre er gezwungen gewesen, sich zu räuspern und mit humorvollem Unterton zu antworten: „Es ist alles gut, Howington.“

Er fragte sich, ob Howington die Frau inzwischen abgewimmelt hatte; es war ihm lieber, dass sein Sekretär sich mit der Besucherin befasste statt mit ihm. Doch ganz gleich, wie lange es dauern mochte, sobald sie weg war, würde Howington zu ihm kommen und sich nach seinem körperlichen und seelischen Befinden erkundigen.

Wann legte sich endlich dieser verdammte Sturm? Dalton wusste, dass er nur in seiner Fantasie klang wie Krieg, und das war nicht die einzige Reaktion auf seine Umgebung in letzter Zeit. Sobald etwas zu Boden fiel, zuckte er erschrocken zusammen. Und die Albträume? An die wollte er gar nicht erst denken.

Er stellte sein Glas auf dem Schreibtisch ab und zwang sich, sich auf seinem Stuhl zurückzulehnen. Alles, was er brauchte, war genügend Zeit. Vielleicht wurde die Zeit aber auch zu seinem ärgsten Feind. Vielleicht war er es nach ein paar weiteren Monaten leid, ständig so tun zu müssen, als wäre alles in Ordnung, obwohl er etwas Verwerfliches getan hatte; etwas, wodurch der Name MacIain für alle Zeit mit einem Makel behaftet war.

Er konnte sich gut vorstellen, wie gerade über ihn geredet wurde.

Haben Sie schon von der Sache mit Rathsmere gehört?

Schrecklich, nicht wahr?

Ich habe von Anfang an damit gerechnet, seit er in den Krieg gezogen ist. Verdammter Narr!

Er war schon immer so unbesonnen. Seltsam allerdings, dass er jetzt den Titel trägt. Das hat er wohl selbst nicht erwartet.

Wenn er das gewusst hätte, wäre er wahrscheinlich in Amerika geblieben.

Nein, das wäre er nicht, verdammt!

Erwartungsgemäß klopfte jetzt Howington an die Tür. „Kann ich etwas für Sie tun, Mylord?“

Nicht ganz so devot wie sonst, aber das sagte er natürlich nicht. Howington umgab ein Kokon der Korrektheit; Gott bewahre, dass er den zum Platzen bringen wollte. Seine Mutter hatte Howington für ihn eingestellt, damals, während seiner wilden Jahre. Unter anderen Umständen wäre er jetzt wohl nicht weniger wild gewesen. Interessant, was so eine Pistolenkugel anrichten konnte.

„Wer war das eben an der Tür?“ Es überraschte ihn selbst, dass er danach fragte. Normalerweise interessierte er sich nicht für das Kommen und Gehen von Lieferanten und ihresgleichen. Trotzdem, sie sollten nicht den Vorder-, sondern den Hintereingang benutzen.

Howington sagte eine Weile nichts, aber Dalton wusste, dass sein Sekretär ihn prüfend ansah. Er kannte dieses nachdenkliche Schweigen, hatte es schon oft erlebt seit seiner Rückkehr. „Der Arzt kommt heute, Mylord“, verkündete Howington, ohne auf seine Frage einzugehen. „Bei dem Wetter wird er sich wahrscheinlich verspäten.“

„Ist das ein diskreter Hinweis, Howington, mich nicht schon vor seinem Eintreffen zu betrinken?“

„So etwas würde ich niemals sagen, Mylord.“

Nein, aber Sie würden es denken. „Haben Sie meiner Mutter Berichtet erstattet, als sie noch gelebt hat?“

„Ich bitte um Verzeihung?“

Er erkannte eine Hinhaltetaktik, sobald er sie hörte. „War es Ihre Pflicht, ihr einmal in der Woche zu schreiben? Wollte sie erfahren, was ich so tue?“

„Die Dowager Countess zeigte großes Interesse an Ihnen, Sir, aber an Arthur und Lewis ebenfalls.“

„Großer Gott, haben Sie uns allen nachspioniert?“

„Wenn die Countess mir eine Frage gestellt hat, habe ich ihr geantwortet.“ Howingtons Tonfall klang jetzt eindeutig eisig. Ob er den Mann beleidigt hatte? Das wäre nicht das erste Mal gewesen und gewiss auch nicht das letzte.

Früher einmal war er sehr höflich und für seinen Charme bekannt gewesen. Hatte er das alles in Amerika zurückgelassen? Dalton machte eine wegwerfende Handbewegung in Howingtons Richtung. „Ich werde versuchen, nüchtern zu bleiben, bis er mich mal wieder untersucht hat, auch wenn das eigentlich völlig unerheblich ist. So, sind Sie jetzt zufrieden?“

„Haben Sie etwas gegessen, Sir?“, fragte Howington immer noch leicht unterkühlt.

„Liebe Güte, Mann, Sie sind doch nicht mein Kindermädchen! Hören Sie auf, ständig um mich herumzuscharwenzeln.“

„Natürlich, Sir.“ Howington ging jedoch nicht, sondern verfiel wieder in sein nachdenkliches Schweigen.

„Was ist denn noch?“

„Die Frau an der Tür, Sir … Sie wollte etwas über Amerika wissen.“

Wie oft hatte er Howington schon gesagt, dass Amerika ein Thema war, über das er nicht zu sprechen wünschte? Wie oft war er dem Mann schon ins Wort gefallen, wenn der ihn danach gefragt oder eine Bemerkung dazu gemacht hatte? Die Tatsache, dass Howington das Wort jetzt in den Mund nahm, war wie eine Strafe für sein Benehmen vorhin. Vielleicht hatte Dalton es ja verdient.

Er trank seinen Whisky aus und stellte das Glas etwas zu heftig auf dem Schreibtisch ab. Das Geräusch brachte ihm zu Bewusstsein, dass sich der Sturm endlich gelegt hatte.

„Ich sage Ihnen Bescheid, wenn der Arzt eingetroffen ist, Mylord.“

„Tun Sie das.“ Er stand auf und ging wieder zur Anrichte. Was spielte es schon für eine Rolle, ob er bei der Ankunft des verdammten Arztes betrunken war oder nicht?

3. KAPITEL

Kaum betrat Minerva ihre Küche, da eilte Mrs. Beauchamp auch schon auf sie zu. Die Haushälterin, eine große, schlanke Frau, hatte ein Gesicht, das Minerva immer an ein Pferd erinnerte. Ihr breiter Mund lächelte jedoch oft, sodass man sofort das Gefühl hatte, eine aufrichtig treue und gute Seele um sich zu haben. Wenn Mrs. Beauchamp überhaupt einen Fehler hatte, dann den, dass sie sich viel zu viele Sorgen um andere machte.

„Ach je, Miss Minerva“, sagte sie jetzt und half ihr, die völlig durchnässte Haube abzunehmen. „Das ganze Ding ist ruiniert.“

Da ihre Hände ganz blau verfärbt waren vom Aufbinden der Haube, konnte Minerva der älteren Frau nur zustimmen.

„Es ist eine hübsche Farbe, aber nicht, wenn sie so stark abfärbt“, stellte Mrs. Beauchamp fest.

Minerva warf einen Blick in den Spiegel über der Anrichte und unterdrückte nur mit Mühe einen Schreckenslaut. Ihre Wangen waren blau, und auf ihrer Stirn zeichneten sich zwei blaue Streifen ab. Sie war keine eitle Frau, aber sie wollte auch nicht durch London spazieren und dabei einer Piktin ähneln. Hatte sie schon so ausgesehen, als sie mit Rathsmeres Sekretär gesprochen hatte? Hoffentlich nicht. Und warum hatte Hugh sie nicht darauf aufmerksam gemacht? Sie zeigte vorwurfsvoll auf die Haube, die Mrs. Beauchamp in den Händen hielt. „Wir können sie jetzt nur noch wegwerfen, Mrs. Beauchamp. Geben Sie sie zum Abfall. Ich halte mich lieber wieder an meine alten Hauben, die haben mich noch nie enttäuscht.“

„Die könnten ein paar Verzierungen vertragen, Miss Minerva. Ein oder zwei Blumen wären nicht schlecht, ein paar Farbtupfer hier und da.“

Minerva zog ihre Handschuhe aus und fragte sich, was sie auf diese Bemerkung wohl antworten sollte, die sie in der einen oder anderen Version in den letzten beiden Jahren fast täglich zu hören bekommen hatte. Aus irgendeinem Grund war Mrs. Beauchamp der Auffassung, dass sie pastellfarbene Kleider und alberne kleine Gegenstände in ihrem Haar tragen sollte. Die Haushälterin hätte es gern gesehen, wenn Minerva zu Tanzveranstaltungen, Soireen, Tischgesellschaften oder auf Bälle gegangen wäre – als ob sie jemanden gehabt hätte, der sie dorthin begleiten würde. Als ob jemand Lust gehabt hätte, sie dorthin zu begleiten.

Andere Kleidung würde keinen anderen Menschen aus ihr machen. Ihre Garderobe reichte völlig aus. Meistens achtete sie noch nicht einmal darauf, was sie gerade anhatte. Was spielte das auch für eine Rolle?

Nein, sie musste wahrlich nicht verhätschelt werden, trotzdem wurde sie immer wieder zum Gegenstand von Mrs. Beauchamps nicht unbeträchtlicher Aufmerksamkeit. In jeder ihrer Kommodenschubladen lag ein kleines Duftkissen. Der Duft war zwar angenehm, aber ziemlich intensiv und erinnerte sie an die kleinen Gebäckstücke, die sie morgens zum Frühstück aß.

Außerdem war Mrs. Beauchamp offensichtlich eine begnadete Näherin. Eine Woche nach dem Eintreffen der Haushälterin vor zwei Jahren war Minervas Unterwäsche plötzlich mit Spitze besetzt gewesen. Sie brauchte wirklich keine Spitze oder Seidenbänder an ihren Pantalons oder an ihrem Korsett, aber ihr blieb keine andere Wahl. Eines Morgens hatte sie in ihrer Kommode ihr Lieblingsunterkleid mit neuen Verzierungen vorgefunden, und im Laufe der folgenden Wochen war jedes einzelne ihrer Wäschestücke umgearbeitet worden.

Es bestand ein direkter Zusammenhang zwischen Mrs. Beauchamps tatsächlichen Aufgaben und der Menge von Spitze an Minervas Unterwäsche, daher versuchte sie, die Gute so beschäftigt wie möglich zu halten.

Trotzdem wich die Frau nicht von ihrer Seite. Wenn Minerva keinen Hunger hatte, war es, als hätte sie absichtlich Mrs. Beauchamps Menüauswahl beleidigt. Das führte dann dazu, dass die Haushälterin ihr mindestens eine Viertelstunde lang andere Gerichte vorschlug, die vielleicht ihren Appetit anregen konnten. Bei mehr als einer Gelegenheit hatte Minerva der älteren Frau zu erklären versucht, dass sie nicht krank und das Ausfallen einer Mahlzeit nicht abträglich für ihre Gesundheit war.

Mrs. Beauchamp war eine Tyrannin mit guten Absichten. Minerva war froh, dass die Frau sie nie bei einer ihrer Expeditionen begleitete. Sie wäre entsetzt gewesen über ihre unregelmäßigen Mahlzeiten, von den primitiven Verhältnissen ganz zu schweigen.

Neuerdings hatte die Haushälterin eine weitere Rolle übernommen – als Minervas Tugendwächterin.

„Die Art, wie er Sie ansieht, ist vollkommen unschicklich“, sagte Mrs. Beauchamp eines Tages, nachdem Hugh die Küche verlassen hatte. Sie beugte sich über den Tisch und flüsterte: „Fast, als wollte er etwas von Ihnen.“

Einen Moment lang überlegte Minerva tatsächlich, ob sie schockiert tun sollte, erkannte aber sofort, dass sie dieses geheuchelte Verhalten dann auch in Zukunft beibehalten musste. Besser, sie blieb einfach sie selbst. „Hugh und ich sind alte Freunde“, erwiderte sie und beschloss, es dabei zu belassen.

Vor Mrs. Beauchamps Einstellung waren sie und Hugh weit mehr gewesen als nur Freunde. Das Verhältnis hatte nicht länger als einen Monat gedauert, doch wenn es nach Hugh gegangen wäre, würde es immer noch fortbestehen. Leidenschaft war jedoch eine gefährliche Sucht, vor allem, wenn keine anderen Gefühle mit im Spiel waren.

Sie hatte ihn zu ihrem Liebhaber gemacht und in ihr Bett geholt, und zu dem Zeitpunkt war das eine sinnvolle und lobenswerte Entscheidung gewesen. Mit achtundzwanzig war sie sich sicher, dass niemand sie mehr begehren und erst recht nicht heiraten würde. Sie wollte auch gar keinen Ehemann, sondern nur etwas Leidenschaft.

Hugh war ein äußerst attraktiver Mann, groß, breitschultrig und mit einem markanten Gesicht. Seine grünen Augen funkelten sie oft verschmitzt an.

Ihr einziger Fehler war nicht, ihn in ihr Bett eingeladen, sondern das Verhältnis nicht beendet zu haben, bevor er auf falsche Gedanken gekommen war. Sie hatte keine dauerhafte Beziehung gewollt.

Er war ein bewundernswerter Liebhaber gewesen und hatte ihr mehr Vergnügen bereitet, als sie erwartet hatte. Unter seinen Händen hatte ihr Körper vor Lust gebebt, aber ihre Gefühle waren nicht beteiligt gewesen.

Sie konnte es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, Hugh zu benutzen. Als sie ihm das zu erklären versucht hatte, hatte er nur lächelnd gesagt, er würde mit Freuden auch nur wegen des rein körperlichen Aspekts weiterhin in ihr Bett kommen.

War es dumm von ihr, sich auch Gefühle zu wünschen? Jemanden einfach nur zu mögen war ihr nicht genug. Wenn sie sich liebten, spürte sie jedes Mal, dass irgendetwas fehlte; aber was, das konnte sie weder ihm noch sich selbst erklären. Sie sehnte sich nach mehr.

Bei ihren Eltern war dieses Etwas vorhanden gewesen, auch bei manchen anderen, denen sie fast täglich begegnete. Die Hamptons, ihre Nachbarn von der gegenüberliegenden Seite des Platzes, waren beide noch jung und so glücklich verliebt, dass es beinahe schon wehtat, sie zu beobachten. Die Ehefrau verabschiedete sich jeden Morgen auf der obersten Treppenstufe vor dem Haus mit einem Kuss von ihm, und am Ende des Tages stürmte der Ehemann dieselben Stufen freudig wieder hinauf.

Sie sagte sich, dass sie nicht der einzige Mensch war, der bis ans Lebensende ohne Liebe auskommen musste. Sie würde sich damit einfach arrangieren.

„War Ihr Gang wenigstens erfolgreich?“, fragte Mrs. Beauchamp jetzt.

Minerva schüttelte den Kopf. „Leider nicht.“ Mrs. Beauchamp sah genauso enttäuscht aus, wie Minerva sich fühlte. Sie hing sehr an Neville. „Ich gebe aber noch nicht auf. Es muss eine Möglichkeit geben, ihn zu erreichen. Ich muss einen Weg finden.“

„Und wenn Ihnen das nicht gelingt?“

„Das darf nicht passieren, Mrs. Beauchamp. Ich muss vom Earl empfangen werden, und wenn ich mich dort als Dienstmädchen vorstelle.“

Die Haushälterin riss erschrocken die Augen auf, rote Flecken bildeten sich auf ihren Wangen. „Bitte sagen Sie mir, dass das nur ein Scherz ist, Miss Minerva! Sie können doch nicht ernsthaft in Betracht ziehen, sich in seine Dienste zu begeben!“

Minerva tätschelte Mrs. Beauchamps Schulter. „Nein, natürlich nicht.“ Doch zum gegenwärtigen Zeitpunkt wollte sie keine Möglichkeit ausschließen.

Sie lächelte die Haushälterin an, nahm sich einen Teller mit Gebäck und verließ die Küche, um sich in ihr Zimmer zurückzuziehen. Sie musste sich abtrocknen, sich umziehen und in Ruhe ihren nächsten Schritt planen. Oben auf der Treppe blieb sie zögernd vor Nevilles altem Zimmer stehen.

Ihre Eltern waren gestorben, als sie achtzehn gewesen war. Zuerst ihr Vater an Herzversagen, dann ein paar Monate später auch ihre geliebte Mutter an der Grippe. Neville war damals zehn gewesen und Minerva seine Ersatzmutter geworden.

Er war ihr die reinste Freude gewesen, ein Schatz, ein süßer, hochintelligenter Junge. Er wollte unbedingt lernen und sog alles Wissen begierig ein, das sein Hauslehrer ihm vermitteln konnte.

Wenn er doch nur so unschuldsvoll geblieben wäre!

Sie konnte ihn nicht für immer in kurzen Hosen herumlaufen lassen und ihn unter ihren Fittichen halten wie eine Glucke ihr Küken.

Jammerschade.

Seit er volljährig geworden war und sein Erbe angetreten hatte, verhielt Neville sich immer unbesonnener, was ihm eigentlich gar nicht ähnlich sah. Er besuchte Spielhallen und Varietés, wurde gesehen, wie er Frauen mit schlechtem Ruf in ihre Unterkünfte begleitete, und brüstete sich damit, einer Clique junger Männer anzugehören, die zu viel Zeit und zu wenig Verstand hatten … Angeführt von Dalton MacIain, dem jetzigen Earl of Rathsmere.

In den vergangenen zwei Jahren hatte ihr Bruder sich verändert. Zu ihrem Entsetzen geriet er außer Rand und Band. Seine Freunde hatten einen schlechten Einfluss und keinen Charakter, obwohl ein Großteil von ihnen einen Adelstitel besaß. Neville wiederum war zu reich, zu gutgläubig und zu unerfahren.

Vielleicht brauchte die Welt ja Mitläufer, brave Soldaten, die hinter guten Generälen marschierten. Das Problem war nur, Dalton MacIain war kein Anführer, dem man nacheifern konnte. Und doch hatte er seine Anhänger, diese jungen Männer, die ihn für seinen Wagemut vergötterten, mit in den Krieg hineingezogen.

Der Narr war losgestürmt, um im amerikanischen Sezessionskrieg zu kämpfen, als wäre ein Krieg nur ein weiteres Spiel.

Neville war Rathsmere nach Amerika gefolgt – mit einem Lächeln auf den Lippen und der aberwitzigen Vorstellung, dass der Krieg ein Heidenspaß werden würde; eine großartige Erfahrung, bei der sie Whisky trinken, sich mit Weibern amüsieren und damit prahlen würden, wie heldenhaft sie doch waren.

Rathsmere war vor ein paar Monaten zurückgekehrt. Neville nicht. Irgendwo unterwegs hatte der Earl of Rathsmere es geschafft, ihren Bruder zu verlieren.

„Sind Ihre Kopfschmerzen immer noch so stark, Mylord?“, fragte der Arzt.

„Sie sind erträglich.“ Eine weitere Lüge von vielen, die Dalton noch von sich geben würde, bis der Idiot endlich wieder gegangen war.

„Wenn Sie sehr darunter leiden, nehmen Sie das Laudanum, das ich Ihnen verordnet habe.“

„Es würde mir sicher helfen, aber ich habe keine Lust, mein restliches Leben mit Halluzinationen zu verbringen, Doktor. Wenn Sie mir etwas anderes verschreiben können, das meine Sinne und meinen Verstand nicht benebelt, nehme ich es vielleicht, aber auf keinen Fall Opium.“

„Wenn Sie darauf bestehen, werden Ihre Kopfschmerzen bleiben.“

„Dann werden sie wohl bleiben, denke ich.“ Wenn sie noch schlimmer wurden, konnte er sich immer noch eine Kugel ins Gehirn schießen, passend zu der, die sein rechtes Auge getroffen und seinen Nasenrücken gestreift hatte.

„Hat sich das Sehvermögen Ihres linken Auges verändert, Mylord?“

„Nein.“

„Nach wie vor nur eine Unterscheidung von Hell und Dunkel?“

„Ja.“ Diesmal war es die Wahrheit. Wenn er nicht aufpasste, wurde er noch berühmt für seine Ehrlichkeit.

Der Doktor räusperte sich. „Auf Ihrem rechten Auge sind Sie vollkommen blind, Mylord“, sagte er mit Grabesstimme. „Es ist ein Wunder, dass Sie mit dem linken überhaupt noch etwas wahrnehmen können.“

Ein Wunder, das Dalton nicht unbedingt dem Allmächtigen zuschrieb, sondern eher der Tatsache, dass er sich im letzten Moment abgewandt hatte, als er die auf seinen Kopf zielende Pistole bemerkt hatte.

Er war ein Experte darin, seine Gefühle nicht zu zeigen. Nicht, weil er der Earl of Rathsmere war, sondern dank jahrelanger Erfahrung als zweitgeborener Sohn. Jedes Zeichen von Schwäche zog die Missbilligung seines Vaters oder eine Strafe des Hauslehrers nach sich.

Diese Fähigkeit hatte sich in den letzten Jahren bewährt, vor allem wenn er es mit unglaublicher Dummheit zu tun bekommen oder sich in großer Not befunden hatte. Jetzt erlaubte er sich den Luxus eines feinen Lächelns. Er sah und sah doch nicht. Er konnte nur vage Licht erkennen, wenn der Tag hell genug war. Manchmal nahm er einen dunkleren Umriss wahr, wenn jemand ganz dicht vor ihm stand. Das war alles.

„Vielleicht kann ich ja eines Tages die Gesichter von Engeln sehen.“

Er konnte die Gekränktheit des Arztes förmlich spüren. „Haben Sie sonst noch Beschwerden, Sir?“

„Mit anderen Worten solche, die Sie heilen können? Wie Bauchschmerzen, zum Beispiel?“

„Und? Haben Sie welche, Mylord?“

„Nein, ich strotze nur so vor Gesundheit, Dr. Marshall. Ich bin gesund und munter und lebe bestimmt noch mindestens fünfzig Jahre.“

Wenn ich das will.

Die unausgesprochenen Worte hingen zwischen ihnen im Raum.

Dalton hob das Glas an seine Lippen. In der letzten Stunde war er von Whisky zu Wein übergegangen. Er konnte das Glas fühlen, kannte seine Form von den unzähligen Malen her, die er ein Weinglas in der Hand gehalten hatte. Doch die Lichtreflexe auf dem Kristall und das dunkle Rot des Weins konnte er nicht sehen, ebenso wenig wie das Gesicht des Arztes. Er hatte keine Ahnung, wie der aussah, da er dem Mann vor seiner Rückkehr nach London noch nie begegnet war.

Wozu hatte er vor Amerika auch einen Arzt gebraucht? Er war nur selten krank gewesen. Seine robuste Gesundheit war genauso sehr ein Teil von ihm gewesen wie seine Körpergröße und seine blauen Augen, die nun unheilbar beschädigt waren.

„Ich habe immer noch Hoffnung auf Ihre Genesung, Mylord. In irgendeiner Form.“

„Es ist dumm, sich an Hoffnungen zu klammern, Dr. Marshall. Ich habe festgestellt, dass es viel besser ist, das Leben realistisch zu betrachten, nicht voller Hoffnung.“

Der Arzt antwortete nicht, was Dalton überraschte. Er hatte einen Vortrag erwartet, irgendetwas im Sinne von: Ein Mensch mit Ihrem Vermögen und Ihrem Titel sollte die Hoffnung niemals verlieren.

Stattdessen schwieg der Arzt. Wozu war ein blinder Earl jetzt noch gut?

In ihren Gemächern angekommen zog Minerva ihre nasse Kleidung aus und trocknete sich ab. Da es schon recht spät war, schlüpfte sie in ihren Morgenrock und ging hinüber ins Wohnzimmer.

Sie hatte diesen Raum wie eine Bibliothek eingerichtet, so wie man sie in vielen Häusern von Männern vorfand. Ein großer Marmorkamin nahm fast eine ganze Wand ein, ein Fenster die nächste. Durch einen Türbogen gelangte man ins Schlafzimmer, aber an der vierten Wand stand ein breiter Bücherschrank aus Mahagoni. Er enthielt Hunderte von Büchern, jedes einzelne sorgfältig ausgesucht und gelesen, manche sogar mehrmals. Es gab ein paar Romane, aber die meisten Bücher handelten von den Themen, die ihr am am Herzen lagen – alles, was mit der Antike zu tun hatte, mit Schottland und mit Archäologie.

Vor dem Bücherschrank stand mitten im Zimmer der Schreibtisch, den sie in einem Laden für gebrauchte Möbel gefunden hatte. Drei Kraftprotze hatten sich stundenlang abgemüht, ihn die Treppe hinauf und ins Wohnzimmer zu schleppen, aber als sie damit fertig waren, hatten sich der Aufwand und der Preis gelohnt.

Hier schrieb sie Briefe an gelehrte Männer auf dem ganzen Kontinent, bat sie, ihre Entdeckungen und Funde zu beschreiben, und suchte ihren Rat. Alle teilten ihr das Gewünschte bereitwillig mit. Aus irgendeinem Grund schienen Männer sich verpflichtet zu fühlen, sie zu beraten. Meistens nickte Minerva nur, prägte sich das Entscheidende ein und ignorierte den Rest.

Ihr Vater hatte es nie für nötig befunden, eine Bibliothek sein Eigen zu nennen. Allerdings war er auch jeden Tag zur Arbeit gegangen. Reichtum ist nie ein Anlass zu Müßiggang, pflegte er zu sagen. Ihr Urgroßvater war Minderheitseigentümer eines einzigen Schiffes gewesen und hatte sein Vermögen damit gemacht, dass er Gewinne immer wieder sofort reinvestierte. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte er zehn Schiffe besessen, eine Flotte, die ihr Großvater noch vergrößert hatte. Als Minervas Vater gestorben war, war die Familie Todd Minderheitseigentümer von über hundert Schiffen oder besaßen sie sogar ganz.

Minerva hatte sich nie reich gefühlt, aber nur, weil man ihr eine solche Einstellung sofort ausgeredet hätte. Über Geld wurde zu Hause so gut wie nie gesprochen; sie hatte sich jedoch nie Gedanken über Preise oder ihre Zukunft machen müssen. Sie konnte ihren Interessen ungehindert nachgehen und brauchte auch nicht zu heiraten, um versorgt zu sein.

Was hätten ihre Eltern wohl zu ihrem jetzigen Leben gesagt?

Ihr Vater wäre direkter gewesen als ihre Mutter. Ihr liebster Papa hätte den Arm um ihre Schultern gelegt, gelächelt und gesagt: „Minerva, meine Liebe, ich fürchte, du wirst allmählich eine unabhängige Frau. Das, was manche auch eine alte Jungfer nennen würden.“

Nun, eine alte Jungfer war sie nicht, aber das hätte sie ihrem Vater natürlich nie gestanden. Auch mit ihrer Mutter hätte sie unmöglich darüber sprechen können, nicht einmal in Form von Andeutungen.

Nora Todd war eine liebreizende Frau gewesen; eine, die immer so wirkte, als wäre sie zu zart und empfindlich für das Leben. Dinge mussten hübsch aufpoliert, parfümiert und nett verpackt werden, ehe man sie ihr präsentierte. Jeder schien ihre Zerbrechlichkeit zu akzeptieren, niemand testete die Grenzen ihrer Belastbarkeit aus. Stattdessen behandelten sie alle – sogar Neville als Kind – Nora behutsamer als jeden anderen Menschen.

Seltsam, dass man sie nie für so zart wie ihre Mutter gehalten hatte. Wie sich herausstellen sollte, war das auch gut so gewesen, denn sonst wäre sie niemals mit Neville fertiggeworden. Oder mit ihren Anwälten. Oder mit dem vergangenen Jahr.

Wenn sie jemals heiratete, dann nur wegen des Vorbilds ihrer Eltern. Die beiden waren ein Paar gewesen, echte Partner. Wo der eine war, war auch der andere zu finden. Selbst während der schweren Geburt ihres Bruders weigerte ihr Vater sich, in ein anderes Zimmer geschickt zu werden, und bestand darauf, am Bett seiner Frau zu sitzen und während der Wehen ihre Hand zu halten.

Am Tag von Nevilles Geburt war Minerva acht Jahre alt gewesen. Acht Jahre und zwei Wochen. Von dem Moment an wurden ihre Geburtstage immer zusammen gefeiert. Wenn sie ihn im Arm hielt, wurde er immer ganz ruhig. Er kaute dann auf einem Fäustchen herum und sah sie mit seinen blauen Augen an, als vertraute er ihr restlos.

Ihr Herz war ihm zugeflogen, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Was für ein entzückender kleiner Junge er gewesen war! Was für ein verständiger Jüngling und später ein intelligenter junger Mann.

Bis er Rathsmere kennengelernt hatte. Von da an hatte Neville sich verändert und war zu jemandem geworden, den sie nicht wiedererkannte, nicht verstand und der ihr ganz und gar nicht gefiel.

Doch das war wohl das Schlimmste. Sie wollte ihn mögen. Sie liebte ihn, und Liebe konnte man nicht so einfach auslöschen. Trotzdem stellte sie im Lauf der Zeit fest, dass sie den Mann, zu dem er geworden war, nicht bewunderte. Neville hatte keine Lust, auf der Todd-Werft zu arbeiten; er überließ es lieber anderen, das Unternehmen zu führen, das sein Urgroßvater gegründet hatte. Auch verplemperte und verschleuderte er sein Vermögen.

Lag es an ihr, dass er so zügellos geworden war? Das war eine Frage, die ihr nicht aus dem Kopf ging, vor allem nachts, wenn die Einsamkeit ihre einzige Gefährtin war. War sie verantwortlich für Nevilles Abgleiten in die Genusssucht? Hatte er ihr – oder ihrer Erziehung – so dringend entfliehen wollen, dass er einfach immer genau das Gegenteil von dem tat, was gut und richtig war? Oder lag es am Geld, dass er sich so stark verändert hatte?

Den Gerüchten nach war Rathsmere geradezu unverschämt reich, aber das hieß nicht, dass seine Anhänger ebenfalls vermögend waren. Neville war vielleicht sogar der Einzige, der irgendeine Form von Einkommen hatte. Waren die anderen auf Rathsmeres Freigiebigkeit angewiesen gewesen, um überhaupt existieren zu können?

Sie hätte Neville zu ihrer letzten Expedition mitnehmen sollen, ohne auf seine Proteste Rücksicht zu nehmen. Sie hätte irgendeinen Weg finden müssen, ihn zu überreden, mit ihr nach Schottland zu gehen, denn dann wäre sie nicht nach London zurückgekehrt, nur um feststellen zu müssen, dass er in den Krieg gezogen war. Dann hätte er ihr auch nicht den Brief geschrieben, den sie jetzt aus ihrem Schreibtisch hervorholte.

Meine liebe Schwester,

ich hoffe, es geht dir gut, wenn du diesen Brief erhältst, und deine Expedition nach Schottland verläuft angenehm und erfolgreich. Bisweilen habe ich dich um deine Zielstrebigkeit beneidet, mit der du auf den Spuren der Geschichte wandelst. Ich habe mich auch oft gefragt, warum du gerade diesen Weg eingeschlagen hast. Ich selbst interessiere mich gar nicht für solche Dinge.

Das wusste sie. Neville hatte nie Interesse an ihren Expeditionen in Schottland gezeigt. Sie verdrängte den Gedanken und las weiter, obwohl das eigentlich gar nicht nötig war. Sie kannte den Brief auswendig. Wie oft hatte sie ihn schon gelesen? Hundert Mal? Noch öfter? Doch nach jedem Mal schämte sie sich. Irgendwie, auf irgendeine Weise hätte es ihr gelingen müssen, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten.

Du suchst nach den Überresten derer, die längst nicht mehr sind, Minerva, während ich lieber in der Gegenwart leben möchte. Vielleicht sehen die Menschen einst mit der gleichen Bewunderung, die du deinen toten Schotten entgegenbringst, auch auf mein Grab und sagen: „NevilleTodd … ja, das war wirklich ein großer Abenteurer.“

Ich bin nach Amerika gegangen, um dort im Krieg mitzukämpfen. Ich weiß, dir wird mein Entschluss nicht gefallen. Manchmal müssen Frauen einfach akzeptieren, welchen Weg ein Mann im Leben gehen will.

Mein Weg ist, das Abenteuer zu suchen. Meinen Mut auf die Probe zu stellen. Herauszufinden, ob ich wirklich so mutig bin, wie ich glaube.

In Zuneigung, dein Bruder Neville

Sie wusste nicht, welcher Teil des Briefes sie wütender machte; die Tatsache, dass er fortgegangen war, um herauszufinden, ob er mutig war, oder seine Einstellung, dass Frauen einfach mit allem einverstanden zu sein hatten, was ein Mann vorschlug.

Was für ein Unsinn!

Sie faltete den Brief ruhig wieder zusammen und drückte ihn an ihre Brust. Sie wollte nicht weinen. Von Tränen wurden nur ihre Augen und ihre Nase rot. Sie lösten das Problem nicht. Und sie nahmen ihr auch nicht ihre Schuldgefühle.

Ihr gegenüber hatte er Amerika nie erwähnt. Was wusste er von dem Krieg dort? Hatte er einfach nur in den Krieg ziehen wollen, um zu sehen, ob er ihn überleben konnte?

Großer Gott, hatte er ihn überlebt?

Sie legte den Brief zurück in die Schreibtischschublade und dachte still über ihren nächsten Schritt nach. Wenn sie dem Earl erneut schrieb, würde er diesen Brief genauso ignorieren wie die fünf bisherigen. Wenn sie am kommenden Tag wieder zu seinem Haus fuhr, vor seinem Sekretär stand und stichhaltigere Argumente vorbrachte – wie groß war dann ihre Chance, dass Mr. Howington ihr überhaupt zuhörte?

Sie hatte nur gescherzt bei ihrem Gespräch mit Mrs. Beauchamp, aber vielleicht sollte sie wirklich zu einer List greifen. Jedes Haus brauchte Bedienstete, und ein so großes Haus wie das des Earls erforderte bestimmt eine ganze Reihe von ihnen, damit alles seinen geregelten Gang ging.

Doch dieser in ihrer Fantasie gereifte Plan fand ein schnelles Ende. Mr. Howington hatte sie gesehen. Vielleicht konnte sie versuchen, die Haushälterin auf ihre Seite zu bringen, oder einen Bediensteten bestechen, wegzusehen, wenn sie sich Zugang zum Haus verschaffte.

Sie musste irgendwie ins Haus gelangen, wenn sie den Earl of Rathsmere sehen wollte. Sie musste unbedingt herausfinden, was mit Neville passiert war. Sie hatte das Gefühl, es ohne eine Antwort auf diese Frage keinen Tag länger aushalten zu können.

4. KAPITEL

Dalton träumte, er stände auf einem Hügel oberhalb des Schlachtfelds und starrte auf das, was einmal ein Maisfeld gewesen war. Jetzt war es der Tod, der hier reiche Ernte hielt; der Anblick der niedergestreckten Leiber war so grauenvoll, dass Dalton sogar im Traum davor zurückschreckte. Bei dreiunddreißig hörte er auf zu zählen. Es mussten Tausende von Toten sein.

Die Frage ertönte zu seiner Linken, dröhnend wie die Stimme Gottes. Er konnte den Sprecher nicht sehen. Vielleicht war es die Stimme seines Gewissens, das Flüstern seiner Seele.

Was für einen Grund gab es für das Abschlachten dieser Männer? War es politische Notwendigkeit? Überheblichkeit und Anmaßung? War alles ein entsetzlicher Irrtum gewesen? Was wurde erreicht durch den Sieg in dieser Schlacht? Was wurde verloren außer diese vielen Menschenleben?

Er bemühte sich, richtig wach zu werden, denn er wusste, das war kein Traum, sondern eine Erinnerung. An jenem Tag, nach dieser Schlacht, war er entsetzt gewesen über die hohe Anzahl von Todesopfern und hatte keine Antworten auf die Fragen gefunden, die ihn noch immer heimsuchten. Vielleicht war das der Anfang seiner Ernüchterung gewesen. Oder vielleicht auch nur der Tag, an dem er erwachsen geworden war.

Er schlug blinzelnd die Augen auf, sah hinauf zur Decke und stellte wieder einmal fest, dass um ihn alles schwarz war.

Er hasste die Nächte.

Es verlief immer alles nach demselben unerbittlichen Schema. Er trank genug, um relativ schnell einschlafen zu können, doch mit der Präzision eines Uhrwerks wachte er exakt zwei Stunden später wieder auf. In den ersten Sekunden, in denen er zur Decke hinaufstarrte, fühlte er sich orientierungslos. Er rechnete damit, schwaches Mondlicht oder das erste Grau der Morgendämmerung durch das Fenster zu sehen. Seit seiner frühen Kindheit hasste er es, bei zugezogenen Vorhängen zu schlafen; jetzt spielte das keine Rolle mehr.

Erst kam die Panik, dann die Erkenntnis. Er konnte nicht mehr sehen.

Wie jede Nacht setzte er sich auf und türmte die Kissen um sich herum; ein Kokon der Sicherheit in seinem großen Bett. Dann war die Dunkelheit vollständig, als befände er sich in einer mondlosen Nacht auf dem Ozean und könne Wasser und Himmel nicht mehr auseinanderhalten. Diese pure Gestaltlosigkeit der Nacht flößte ihm panische Angst ein, aber das hatte er noch nie jemandem gestanden und würde es auch nicht tun, so lange er noch den Mut dazu aufbrachte.

Manchmal fragte er sich, wie lange es wohl dauern mochte, bis er den Mut verlor. Würde er einer dieser armen, vom Krieg traumatisierten Männer werden, die mit dem Rücken zur Wand in einem Krankenhausflur saßen, sich vor und zurück wiegten und andere Patienten mit entsetztem Blick anstarrten? Würde er eines Nachts den Verstand verlieren? Würde man den neuen, unfreiwilligen Earl of Rathsmere zu sehen bekommen, wie er splitternackt und laut schreiend durch die Straßen irrte und sich die Haare raufte? Nein, das wohl nicht. Er konnte die Straßen ja gar nicht erkennen, geschweige denn sie entlanglaufen. Wahrscheinlich würde er dabei gegen einen Zaun prallen oder unter eine Kutsche kommen.

Selbstmitleid gehörte nicht zu seinen Charakterzügen. Andererseits, je länger er seine Erblindung ertragen musste, desto mehr wurde er es leid. Würde er im Lauf der Jahre so angewidert sein von seinem eigenen Elend, dass er sich etwas antat?

Er stand auf, zog seinen Morgenmantel an und ging ins Wohnzimmer. Er fand den Weg zu dem Ohrensessel neben dem runden Mahagonitisch, setzte sich und starrte blicklos auf den kalten Kamin, während der Wind heulend in den Schornstein fuhr und sich anhörte wie eine Lokomotive in der Ferne.

Dadurch, dass er an einen Titel geraten war, den er gar nicht gewollt hatte, brauchte er wenigstens nicht aus seinem eigenen Haus auszuziehen. Lewis war jetzt der einzige Bewohner des Stadthauses der Familie MacIain, etwa eine halbe Meile entfernt. Für das Problem mit Lewis musste er irgendwann eine Lösung finden, aber nicht heute.

Der seidene Morgenmantel fühlte sich kühl auf Daltons Haut an, obwohl die Nacht trotz des abendlichen Gewitters schwülwarm war. Er wünschte, er hätte in weiser Voraussicht die Karaffe mit dem Whisky mitgenommen. Nach einem Bediensteten wollte er nicht läuten. Erstens war es schon nach Mitternacht, und zweitens wollte er nicht, dass eines der Dienstmädchen und schon gar nicht Mrs. Thompson sich Gedanken wegen seiner Trinkgewohnheiten machten.

Wenn er früher, vor Amerika, nachts allein gewesen war und nicht schlafen konnte, hatte er gelesen, um die Zeit totzuschlagen. Nicht einmal das konnte er mehr.

Um sich mit irgendetwas zu beschäftigen, stellte er sich das Muster der Sitzbezüge und den genauen Farbton des Mahagonitisches vor. Er wusste, wenn der Bettüberwurf nicht ausgewechselt worden war, hatte er eine ganz besondere blaue Farbe, die ihm gefiel, passend zu den Vorhängen. Die Fenster auf beiden Seiten seines Betts waren hoch, mit Blick auf seinen Garten.

Alexandra MacIain hatte es verstanden, alles, was wuchs, zum Blühen zu bringen, selbst hier in London. Seine Mutter hatte darauf beharrt, das Anlegen seines Gartens persönlich zu überwachen. Wenn er jetzt die Fenster öffnete, würde er wahrscheinlich den Duft von vernachlässigten Blumen wahrnehmen, die traurig die Köpfe hängen ließen und auf die Rückkehr seiner Mutter warteten.

Der MacIain-Clan war ziemlich klein geworden. Erst war sein Vater an einem Schlaganfall gestorben, kurz danach seine geliebte Mutter. Mehr als einmal hatte er jemanden in Gledfield sagen hören, dass die Countess ohne ihren Mann wohl einfach nicht mehr hatte leben wollen. Er hatte sich nie anmerken lassen, dass er diese Bemerkungen gehört hatte; insgeheim fragte er sich jedoch, ob an ihnen vielleicht etwas Wahres war.

Sein Vater und seine Mutter hatten sich vergöttert, eine Seltenheit in der Londoner Gesellschaft. Vielleicht war das nur möglich gewesen, weil sie nicht viel Zeit in der Stadt verbracht, sondern es vorgezogen hatten, den Großteil des Jahres in Gledfield zu verbringen.

Sein Vater war gern Mitglied des Oberhauses gewesen, genau wie Arthur. Doch auch Arthur war nicht mehr da, er war Opfer eines lächerlichen Jagdunfalls geworden. Dadurch waren nur noch er und Lewis übrig geblieben, die minderwertigeren Mitglieder der Familie, so dachten jedenfalls fast alle.

Er hatte die meiste Zeit seines Lebens damit verbracht, sich zu amüsieren, und es sah ganz so aus, als träte Lewis nun begeistert in seine Fußstapfen.

Wieder einmal verdrängte er das Problem mit Lewis und konzentrierte sich auf seine Erinnerungen an dieses Zimmer. Er kannte das Muster des Teppichs unter seinen nackten Füßen, spürte die abgewetzte Stelle genau vor dem Sessel. Er hatte nicht oft allein und nachdenklich am Kamin gesessen. Wenn überhaupt, war dieser Sessel Schauplatz irgendwelcher Schäferstündchen gewesen.

Ohne große Schwierigkeiten konnte er sich die letzte Frau vorstellen, die in seinem Schlafzimmer gewesen war. Cassandra, so hieß sie, die Frau eines Baronet. Sie hatte geklagt, ihr Gatte hätte nicht das geringste Interesse an ihr, und sie hatte sich dafür gerächt, indem sie mit jedem Mann ins Bett gegangen war, der sich anbot.

In der Zeit vor Amerika, als er sich noch ganz seinen hedonistischen Trieben hingegeben hatte, war er fest davon überzeugt gewesen, dass sie ihn anbetete. Dass sie nach ihm nie wieder Augen für einen anderen Liebhaber haben würde. In Wahrheit hatte sie wahrscheinlich schon am Tag seiner Abreise einen anderen gefunden, der Daltons Platz einnahm. Und die anderen Frauen? Vermutlich ebenfalls. Hatte er das nicht auch getan?

Und doch hatte er in Amerika bemerkenswert enthaltsam gelebt. Wenn man um sein Leben kämpfte, waren Bettgeschichten das Letzte, woran man dachte. Außerdem war er dort fast nur von Männern umgeben gewesen. Die wenigen beherzten Frauen, die auf dem Schlachtfeld erschienen, waren entweder Krankenschwestern oder Ehefrauen.

Keine der Frauen, die er gekannt hatte, würde jetzt noch gern in sein Schlafzimmer kommen, höchstens aus fehlgeleitetem Mitleid oder aus Neugier. Vielleicht war es ja eine ganz neue Erfahrung, mit einem blinden Mann ins Bett zu gehen.

Er musste sich an sein neues klösterliches Leben gewöhnen. Er machte sich nichts vor, im Moment hatte er dem anderen Geschlecht nichts zu bieten. Natürlich war da das Geld. Seine Familie war sehr wohlhabend, und seinem Anwalt zufolge war der Besitz unter Arthurs tüchtigen Händen noch gewachsen. Vielleicht sollte er verlauten lassen, dass er wieder zu haben war für eine Frau, deren Gier so groß war, dass sie dafür sein verwüstetes Gesicht und seine Blindheit in Kauf nahm.

Doch so tief war er noch nicht gesunken. Sein Stolz gebot ihm, jetzt erst einmal eine Zeit lang allein zu bleiben. Außerdem, so lange Lewis gesund und am Leben war, bestand für Dalton kein Grund zu heiraten. Er hatte seinen Erben.

Wen kümmerte es schon, wenn er Junggeselle blieb? Der Gedanke an eine Ehefrau, die besorgt, charmant und immer in seiner Nähe war, hatte etwas Erschreckendes. Er konnte kaum sein eigenes Selbstmitleid ertragen, geschweige denn das Mitleid einer anderen Person.

Dalton legte die Hände auf die Armlehnen des Sessels und betastete den Bezugsstoff und die Biesen daran. Er fragte sich, welche Farbe die Biesen wohl haben mochten, und wusste, vor Amerika hätte er sie gar nicht erst bemerkt.

Irgendein Dummkopf hatte ihm einmal gesagt, seine anderen Sinne würden durch den Verlust des Augenlichts geschärft. Daraufhin hatte er geschwiegen und ein seltsames Machtgefühl darin gefunden, einfach stumm zu reagieren. Die Leute konnten nicht mit ihm diskutieren, wenn sie nicht wussten, was er dachte. Auch konnten sie sich nicht an einem bestimmten Satz oder einer Bemerkung festbeißen und immer wieder darauf herumkauen.

Nein, Schweigen war immer noch das Beste. Er musste nur eine Möglichkeit finden, diese Nächte besser zu ertragen. Von jetzt an würde er die Karaffe mit dem Whisky mit ins Schlafzimmer nehmen.

Er lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück. Die Duftsträußchen, die Mrs. Thompson überall im Haus verteilte, rochen in diesem Zimmer womöglich noch intensiver. Zitrone, mit einem Hauch von Blumenduft. Mit ihrer Vorliebe für Pflanzen, Düfte oder hübsche Dinge, die den Alltag verschönerten, war sie seiner Mutter gar nicht so unähnlich.

Er sollte sie nach Gledfield schicken, wie Samuels. Je weniger Angestellte um ihn herumscharwenzelten, desto besser. Weniger Leute, die ihm über den Weg liefen und die er grüßen musste. Weniger Heuchelei, es wäre alles in Ordnung und das Leben lebenswert.

Unsinn!

Autor

Karen Ranney
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