Historical Herzensbrecher Band 3

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DIE SINNLICHE SKLAVIN DES WIKINGERS von FULFORD, JOANNA
"Du gehörst jetzt mir, Elgiva!" Als der starke Wikinger Wulfrum sie auf seinem Raubzug an sich reißt, fürchtet die schöne Angelsächsin Elgiva um ihr Leben. Doch stattdessen küsst Wulfrum sie so leidenschaftlich, dass es ihr den Atem verschlägt. Obwohl sie ihn hassen sollte, begehrt sie ihren Feind bald insgeheim mit einer alles verzehrenden Glut …

EINAR, DER WIKINGER von MOORE, MARGARET
Der stolze Wikinger Einar ist geblendet von der Schönheit der jungen Meradyce. Statt sie wie geplant nach einem Überfall auf ihr Dorf zu töten, nimmt er sie mit zu sich nach Hause. Dort entflammt er von Tag zu Tag mehr für sie. Doch Einars Geliebte Ingemar bemerkt schnell, dass er die betörende Fremde mit seinen Blicken verschlingt, und schwört Rache …


  • Erscheinungstag 02.11.2018
  • Bandnummer 3
  • ISBN / Artikelnummer 9783733756734
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Joanna Fulford, Margaret Moore

HISTORICAL HERZENSBRECHER BAND 3

PROLOG

Dänemark, 865 n. Chr.

Das Knistern der Holzscheite war das einzige Geräusch im Großen Saal. Die flackernden Fackeln in den Wandhaltern warfen einen schwachen gelblich roten Schein über die versammelten Krieger, deren Mienen wie versteinert waren. Jeder von ihnen dachte über die Bedeutung der Nachricht nach, die ihnen soeben überbracht worden war. Trauer und Unglauben erfüllten sie, als sie den Blick auf die drei Brüder richteten, die auf dem erhöhten Podest an der Tafel saßen. Die Söhne von Ragnar Lodbrok musterten den Überbringer der Botschaft mit scheinbar gelassener Miene, doch ihre Augen verrieten Fassungslosigkeit, Bestürzung und Zorn.

„Ragnar ist tot?“, fragte Halfdan düster, eine Hand fest um die Armlehne seines Stuhls geklammert. „Bist du sicher?“

„Ganz sicher, Herr.“

Jarl Wulfrum, der rechts von Halfdan saß, schwieg beharrlich. Auch sein Gesicht zeigte keine Regung, nur seine blauen Augen funkelten vor kaltem Zorn wie Eis. Unwillkürlich schloss er die Hand fester um das Heft seines Dolchs, so wie sein Waffenbruder neben ihm den Knauf seines Schwertes umklammerte. Wulfrum war einfach nicht in der Lage, Ragnars Tod zu begreifen. Ragnar, der Krieger, der Heerführer; furchtlos, mächtig und von seinem Volk wie ein König verehrt. Ragnar der Schreckliche, der viele Schiffe anführte, deren bloßer Anblick das Herz eines jeden Feindes vor Angst erstarren ließ. Ragnar, der für ihn wie ein Vater gewesen war, der ihn als Zehnjährigen aus den schwelenden Überresten seines Zuhauses geholt hatte, rings um sie die leblosen Körper seiner ganzen Familie. Ragnar, der mit seiner rauen Herzlichkeit den Sohn seines verstorbenen Freundes in seine Obhut genommen hatte, um ihn wie ein eigenes Kind großzuziehen. Der Mann, der ihm sein erstes Schwert geschenkt und ihm alles beigebracht hatte, was er wissen musste, um ein Krieger zu werden. Und nun war er tot.

Wulfrum verbarg seinen Schmerz, wie er es seit Jahren tat. Welches übellaunige Schicksal sorgte nur dafür, dass er jedes Mal verschont blieb, während die Menschen, die er liebte, sterben mussten? Ein Mann machte sich verwundbar, wenn er zu sehr liebte. Diese Lektion hatte er schon früh in seinem Leben lernen müssen, und jetzt wurde sie ihm ein weiteres Mal erteilt, als wolle jemand dafür sorgen, dass er sie nicht vergaß. Er presste die Lippen fester aufeinander. Das hier erforderte Rache. Die Blutfehde, durch die seinerzeit seine Familie ausgelöscht worden war, hatte schon viele Opfer gefordert. Wie hoch würde erst der Preis für den Mord an Ragnar sein?

Halfdan riss ihn mit einer Frage an den Boten aus seinen Gedanken.

„Wie ist es passiert?“

„Als wir uns der Küste von Northumbria näherten, kam ein schrecklicher Sturm auf, der viele unserer Schiffe in den Untergang riss. Diejenigen, die es bis ans Ufer schafften, wurden von König Ellas Soldaten angegriffen. Wir waren deutlich in der Unterzahl, und viele unserer Leute sind gefallen. Ragnar wurde gefangen genommen, und der König ordnete seine sofortige Hinrichtung an.“ Der Mann verstummte einen Moment und musste tief durchatmen. „Er ließ ihn bei lebendigem Leib in eine Bärengrube werfen.“

Die Anwesenden schnappten erschrocken nach Luft.

„Und wie kommt es, dass du überlebt hast, Sven?“ Ivars Tonfall war kühl, er betrachtete den Boten von Kopf bis Fuß, doch der Mann hielt der Musterung stand.

„Wir kämpften uns den Weg zu unserem Schiff frei und stachen wieder in See. Bei Anbruch der Nacht machten wir kehrt, und Bjorn ging im Morgengrauen an Land. Er beherrscht die Sprache der Angelsachsen, und so erfuhr er die Wahrheit auf einem Markt. Es heißt, bevor Ragnar starb, stimmte er ein Totenlied an, in dem er prophezeite, seine wütenden Söhne würden ihn rächen. Dann begann er zu lachen und hörte nicht mehr auf. Die Leute erzählten, dass er lachend starb.“

Ragnars Mut war legendär, zweifellos war er dem grausamen Tod tapfer entgegengetreten. Dass er nicht in einer Schlacht sein Leben verloren hatte, war allerdings tragisch, konnte er doch so nicht nach Walhalla aufsteigen, um an Odins Tafel zu speisen.

„Ihr habt nicht versucht, Ragnar zu rächen?“, wollte Ubba wissen.

„Was hätten wir bewirken können? Wir waren eine Handvoll gegen Hunderte von ihnen.“

Ubbas Hand wanderte zu seiner Axt, doch Halfdan schüttelte den Kopf.

„Sven hat recht. Unter diesen Umständen wäre es eine Dummheit gewesen, König Ella anzugreifen.“

„Willst du damit etwa sagen“, fragte Ubba mit finsterem Blick, „dass Ragnar einen sinnlosen Tod erlitten hat?“

Wulfrum wartete schweigend auf Halfdans Erwiderung, wobei er bei allen Anwesenden die gleiche unterdrückte Wut verspürte.

„Natürlich nicht. Wir werden Ragnar rächen, und dafür werden wir eine Armee losschicken, größer als jede Streitmacht, die je ein Mensch gesehen hat.“ Alle Augen richteten sich auf Halfdan, als dieser sich von seinem Platz erhob. „Wir werden eine zweihundert Schiffe starke Flotte entsenden.“

Voller Bewunderung betrachtete Wulfrum seinen Waffenbruder. Was er da beschrieb, war der größte Wikinger-Angriff, den es je gegeben hatte. Das war kein Angriff mehr, das war eine Invasion.

„Jeder Mann, der mit Axt oder Schwert umgehen kann, soll sich bereithalten“, sprach Halfdan weiter. „Wir werden uns durch Northumbria fressen wie ein Feuer durch Unterholz. Wir werden den König in seiner Burg heimsuchen, und dann wird er den Geschmack der Angst kosten. Sein Tod wird langsam und qualvoll sein, und er wird ihn herbeisehnen, lange bevor ich zulasse, dass er den letzten Atemzug tut. Das schwöre ich bei meinem Blut und beim heiligen Blut des Odin!“

Er zog eine Messerklinge über seine Handfläche und sah seine Brüder an, die seinem Beispiel auf der Stelle folgten und gemeinsam einen Blutschwur leisteten. Dann blieb sein Blick bei Wulfrum hängen. Es war eine wortlose Einladung, in Anerkennung ihrer Freundschaft und Brüderschaft. Wulfrum seinerseits unterbrach nicht für einen Moment den Blickkontakt zu Halfdan, während er seinen Dolch zog und sich gleichfalls einen Schnitt zufügte, um sein Blut mit dem der Brüder zu vermischen. Durch den Blutschwur war er untrennbar mit ihnen verbunden, war ihre Ehre nun auch seine Ehre, ihr Gelöbnis auch sein Gelöbnis. Halfdan nickte zustimmend, dann drehte er sich zu der erwartungsvoll schweigenden Menge um.

„Wer wird mit uns segeln, um Ragnar Lodbrok zu rächen?“

Zustimmender Jubel erfüllte die Halle, jeder Mann hob die Hand. Halfdan schien erfreut über die Entschlossenheit in den Gesichtern der Krieger. Dann gab er ein Zeichen, damit Ruhe einkehrte.

„Macht euch bereit. In drei Monden werden die Seedrachen ihr Segel setzen und Richtung England in See stechen.“

Wieder ertönte lauter Jubel.

„Eine angemessene Rache für Ragnar“, stellte Wulfrum fest.

„Es wird mehr als nur Rache sein, Bruder“, erwiderte Halfdan. „Diejenigen, die uns gut dienen, werden reich belohnt werden, mit Land und Sklaven, die das Feld bestellen. Und mit Frauen.“

Wulfrum grinste. „Die Frauen der Angelsachsen sind berühmt für ihre Schönheit, habe ich gehört.“

„So ist es. Und es wird höchste Zeit für dich, dir ein Weib zu nehmen. Ein Mann muss Söhne zeugen.“

„Das ist wohl wahr. Und wenn ich erst einmal eine Frau gefunden habe, die mir wirklich gefällt, werde ich sie heiraten und mit ihr viele Söhne zeugen.“

„Deine Anforderungen an eine Frau sind hoch, aber selbst du könntest dein Herz an eine angelsächsische Schönheit verlieren.“

„Bislang habe ich noch nie mein Herz an eine Frau verloren. Frauen stillen ein Bedürfnis, so wie Speis und Trank, aber sie können uns nicht für lange Zeit in ihren Bann schlagen.“

„So kannst du nur reden, weil du noch nie verliebt warst.“

„Richtig. Und das werde ich wohl auch nie sein. Man muss nicht verliebt sein, um Söhne zu zeugen.“ Wulfrum lachte. „Mein Herz gehört mir, Bruder, und ich beschütze es gut.“

1. KAPITEL

Northumbria, 867 n. Chr.

Elgiva saß auf dem Ziegenfell vor dem Feuer, die Arme hatte sie um ihre Knie geschlungen, ihr Blick war auf die Flammen gerichtet. Angeblich waren manche Menschen in der Lage, im Feuer die Zukunft zu lesen. In diesem Moment hätte sie viel dafür gegeben, einen solchen Blick in die Zukunft werfen zu können, der ihr vielleicht geholfen hätte, das Chaos in ihrem Kopf zu sortieren.

Sie schaute kurz zu Osgifu, ihrer Begleiterin, für deren Anwesenheit sie sehr dankbar war. Für sie war Osgifu nicht nur stets wie eine Mutter gewesen, sondern auch eine verschwiegene Vertraute. Nach dem Tod ihres Ehemanns hatte Osgifu ihre Dienste als Kinderfrau bei Lord Egbert angetreten. Mit ihren vierzig Jahren war sie immer noch ansehnlich, groß und von eindrucksvoller Erscheinung, trotz der Falten im Gesicht und der grauen Strähnen im dunklen Haar. Ihre grauen Augen sahen mehr als die anderer Menschen, besaß sie doch die Gabe des zweiten Gesichts. Kommende Ereignisse vermochte sie mit solcher Genauigkeit zu beschreiben, dass die Menschen ihr mit Ehrfurcht, manche sogar mit Angst begegneten. Elgiva hingegen empfand keine Angst, nur Neugier. Osgifus Mutter war Dänin gewesen, die Tochter eines Händlers, die einen Angelsachsen geheiratet hatte. Von ihr hatte sie die Gabe geerbt, und dazu eine unerschöpfliche Fülle an Geschichten.

Als Elgiva noch ein Kind gewesen war, hatte Osgifu sie mit Erzählungen über die nordischen Gottheiten unterhalten – über Thor, der Blitze schleuderte, über Loki den Listenreichen, über Fenrir den Wolf. Stets hatte Elgiva gebannt zugehört, ganz gleich ob sie von Jotenheim erzählte, dem Reich der Eisriesen, oder vom Drachen Nidhöggr, der unentwegt an den Wurzeln der gewaltigen Esche Yggdrasil fraß, die die Erde mit dem Himmel verband. Von Osgifu hatte sie auch die dänische Sprache gelernt, wenngleich auch nur im Geheimen, da Lord Egbert es nicht erlaubt hätte. Wenn sie beide allein waren, unterhielten sie sich meistens in ihrer „Geheimsprache“, da sie wussten, dass kein heimlicher Lauscher damit etwas anfangen konnte. So kannte nur Osgifu ihre persönlichsten Geheimnisse, und an sie konnte sie sich stets mit ihren Problemen wenden.

Elgiva seufzte, wandte den Blick von den Flammen ab und sah Osgifu nun richtig an. „Ich weiß nicht, was ich tun soll, Gifu. Seit Vaters Tod gleitet Ravenswood immer weiter ins Chaos ab. Mein Bruder hat nichts dagegen unternommen.“ Sie hielt einen Moment lang inne. „Und nun ist er auch tot, und seine Söhne sind noch kleine Kinder. Ravenswood braucht eine starke Hand, um gut geführt zu werden.“

Sie sprach nicht ausdrücklich von der starken Hand eines Mannes, aber Osgifu wusste, dass sie das gemeint hatte. Esgivas Bruder Osric hatte seine Zeit lieber mit der Jagd verbracht, statt sich um das Anwesen seines verstorbenen Vaters zu kümmern. Diese Aufgabe hatte er seinem Verwalter Wilfred übertragen, einem herzensguten Mann, der unter Lord Egberts Aufsicht seiner Arbeit stets ordentlich nachgekommen war. Als er aber keinen wachsamen Dienstherrn mehr zu fürchten hatte, wurde er allmählich nachlässiger und schob vieles immer weiter vor sich her, was er früher sofort erledigt hatte. Sein Verhalten färbte auf die ihm unterstellten Bauern ab, wie Elgiva bei ihren täglichen Ausritten bemerkt hatte. Früher einmal hatte sich Ravenswood als eindrucksvolles Anwesen präsentiert, doch längst war es von einer Aura der Vernachlässigung umgeben. Lücken in den Zäunen wurden nicht mehr repariert, inmitten des Getreides schoss Unkraut in die Höhe, niemand kümmerte sich richtig um das Vieh. In den Dächern der Scheunen und Lagerhäuser klafften Löcher, durch die der Regen ins Innere gelangte. Als sie Osric auf diese Dinge angesprochen hatte, war sie von ihm zurechtgewiesen worden.

„Eine Frau kümmert sich um den Haushalt, sie mischt sich nicht in Angelegenheiten ein, die sie nichts angehen“, hatte er ihr an den Kopf geworfen.

„Ravenswood geht mich sehr wohl etwas an“, hatte sie gekontert. „Und dich sollte es auch angehen!“

„Du hast zu viel Zeit, um über solche Sachen nachzudenken, Elgiva.“ Abweisend hatte er sie angesehen. „Wenn du einen Ehemann und Kinder hättest, würde dir gar keine Zeit bleiben, dich um diese Dinge zu kümmern. Du solltest schon längst verheiratet sein.“

In diesem Punkt hatte ihr Bruder recht gehabt, und das wusste Elgiva auch. Wäre ihr Vater nicht verstorben, hätte er für sie einen Bräutigam ausgesucht, immerhin hatte sie sich über einen Mangel an Verehrern nicht beklagen können. Sie hatte ihren Vater sehr geliebt, und sie wusste, sie war sein liebstes Kind gewesen. Ihre Gesellschaft hatte ihm gutgetan, da sie stets gewusst hatte, wie sie ihn zum Lachen bringen konnte. Als Reiterin, die keine Angst kannte, hatte sie ihn oft auf die Jagd begleitet. Als er dann vor drei Jahren starb, wandte sich alles zum Schlechten. Ein unbekümmerter, nichtsnutziger Osric war zum Herrn von Ravenswood geworden, während sich Elgiva darum kümmerte, dass im Haushalt alles glattlief. Leider hatte ihre Unterhaltung mit Osric nichts an dem grundlegenden Problem geändert. Sie hatte lediglich bewirkt, dass er an eine seiner Verantwortlichkeiten gegenüber seiner Schwester erinnert worden war.

„Ich werde dir einen Ehemann suchen. Wir leben in unsicheren Zeiten, und eine Frau sollte einen Beschützer haben, selbst wenn nur die Hälfte von dem wahr ist, was man sich von plündernden Wikingern erzählt.“

Auch darin konnte sie ihm nur zustimmen, doch sie war davon ausgegangen, er würde diesen Vorsatz genauso schnell wieder vergessen wie alles, was sich nicht unmittelbar um seine eigenen Interessen drehte. Gut einen Monat nach ihrem Gespräch verkündete er jedoch aus heiterem Himmel, Lord Aylwin habe um ihre Hand angehalten. Im ersten Moment wusste Elgiva nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Aylwin, ein wohlhabender und angesehener Mann, der fruchtbares Land verwaltete, war ein unmittelbarer Nachbar von Ravenswood. Er war ein guter Freund ihres Vaters gewesen; seine Frau war vor ein paar Jahren gestorben, und er hatte sich seitdem auf die Suche nach einer neuen Braut gemacht. Mit seinen vierzig Jahren hätte er ihr Vater sein können, und seine Söhne waren alle längst erwachsen. Aber er war noch immer ein kraftvoller, entschlossener Mann. Dennoch hatte Elgiva protestiert. Sie wusste, sie würde für ihn nichts von dem empfinden können, was eine Frau für ihren Ehemann fühlen sollte. Wenn sie ganz ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie bei keinem Mann, den sie bislang kennengelernt hatte, irgendetwas von diesen Gefühlsregungen gespürt hatte. Aber Frauen ihres Standes heirateten nun mal nicht der Liebe wegen. Es genügte, wenn beide Seiten sich respektierten. Dass genau das für sie nicht genügte, konnte Osric nicht verstehen.

„Weißt du etwas, das gegen Aylwins Rechtschaffenheit spricht?“

„Nein.“

„Er ist vermögend und genießt einen guten Ruf, nicht wahr? Ein Mann, der von anderen respektiert wird?“

„Ja.“

„Und warum lehnst du ihn dann ab?“

Während Elgiva noch nach den richtigen Worten suchte, bohrte Osric weiter nach: „Du weißt, Lord Aylwin hat schon vor langer Zeit um deine Hand angehalten, oder?“

„Ja, und ich habe ihm schon vor langer Zeit gesagt, dass ich ihn nicht liebe.“

„Liebe? Was hat denn Liebe damit zu tun? Es geht hier um eine Ehe, die viele Vorteile für dich bringt.“

„Das leugne ich ja gar nicht. Aber er ist auch alt genug, um mein Vater zu sein.“

„Er steht in der Blüte seines Lebens, und er wird ein fürsorglicher und aufmerksamer Ehemann sein.“

„Auf diese Art von Aufmerksamkeit lege ich keinen Wert.“

Mit diesen Worten hatte sie den Raum verlassen, und das Thema ruhte. Auch wenn er viele Fehler und Schwächen gehabt hatte, war Osric so sehr um das Wohl seiner Schwester besorgt gewesen, dass er sie niemals zu einer Ehe gezwungen hätte, die bei ihr nur Widerwillen auslöste. Das Leben war unverändert weitergegangen – bis dann Osrics Pferd gestürzt war. Das Tier hatte sich dabei ein Bein gebrochen – der Reiter hingegen brach sich bei dem Sturz das Genick.

Entsetzen und Trauer waren groß gewesen.

Mit einem Schlag trug Elgiva nun ganz allein die Verantwortung für das große Anwesen und zwei kleine Kinder. Zuvor war schon Osrics Frau Cynewise mit nur zwanzig Jahren bei der Geburt des zweiten Kinds gestorben. Ihr Bruder hätte nach einer Weile wieder geheiratet, das wusste Elgiva, weil das für Männer nichts Ungewöhnliches war. Auf eine allein lebende Frau wartete dagegen nur eine trübe Zukunft.

Als sie zu Osgifu sagte, sie wisse nicht, was sie tun solle, war das nichts weiter als eine Ausflucht gewesen. Beiden Frauen war klar, dass sie schon bald würde heiraten müssen. Aber ausgerechnet Aylwin?

„Was sagen die Runen, Gifu?“

Eigentlich kannte Elgiva die Antwort bereits, doch sie benötigte eine Bestätigung. Denn die Runen logen nie. Aus Esche geschnitzt – dem heiligen Baum Odins – und mit uralten mystischen Symbolen versehen, würden sie auch diesmal den richtigen Weg weisen.

„Stell deine Frage“, sagte Osgifu und sah Elgiva abwartend an.

Sie atmete tief durch. „Werde ich Aylwin heiraten?“ Dann beobachtete sie, wie die ältere Frau die geworfenen Runen musterte. Das Schweigen zog sich in die Länge, und schließlich legte Osgifu die Stirn in Falten.

„Also? Werde ich heiraten?“

„Aye, du wirst heiraten. Aber nicht Aylwin.“

„Nicht Aylwin?“, wiederholte Elgiva verdutzt. „Wen denn sonst?“

„Ich kenne den Mann nicht.“

„Wie sieht er aus?“

„Das kann ich nicht genau sagen. Sein Gesicht ist zum Teil hinter einem Helm verborgen. Er trägt eine Rüstung, und in einer Hand hält er ein großes Schwert mit einer Klinge, die so scharf ist wie der Zahn eines Drachen.“

„Ein Krieger? Ein Lord? Werde ich ihm bald begegnen?“

„Du wirst ihm früh genug begegnen.“

Danach verfiel Osgifu in beharrliches Schweigen, und so viele Fragen Elgiva auch stellte, sie konnte ihr keine weiteren Antworten entlocken.

Die Zeit verging, ohne dass Elgiva mehr über den mysteriösen Mann erfuhr. Sie wusste, sie konnte nicht ewig darauf warten, dass ein Fremder des Weges geritten kam, um sie zu heiraten und um all ihre Probleme zu lösen. Eine unverheiratete Frau war verwundbar; umso mehr, wenn sie auch noch wohlhabend war und Land besaß. Es kam nicht selten vor, dass eine solche Frau dem Drängen eines ehrgeizigen und rücksichtslosen Lords nachgeben musste, wenn der über eine starke Streitmacht verfügte und mit Gewalt drohte.

Elgiva erschauerte. Da war es doch besser, einen angesehenen Mann zu ehelichen, der sie gut behandelte und Ravenswood instand setzen ließ. Ihr wurde klar, dass sie keine andere Wahl hatte: Sie musste Aylwin heiraten, und das schon bald. Die Liebe war etwas für romantische Sagas, doch im wahren Leben hatte sie keinen Platz. Ihr Bruder hatte recht gehabt: Eine Ehe mit Aylwin wäre für beide Seiten von Vorteil. Und vielleicht würde sie ihn mit der Zeit ja auch zu lieben lernen. Ganz sicher würde sie ihm eine pflichtbewusste Ehefrau sein und seine Kinder zur Welt bringen können. Was damit alles zwangsläufig verbunden war, darüber wollte sie im Moment lieber nicht nachdenken. Die Frage war nur, wie sie das Thema zur Sprache bringen sollte. Immerhin hatte sie Alywins Antrag damals abgelehnt. Konnte sie jetzt angekrochen kommen und ihn bitten, sie zu heiraten?

Wenige Tage später erledigte sich ihre Frage von selbst, da ein Diener die Ankunft von Lord Aylwin ankündigte, der sich mit einer kleinen Gruppe bewaffneter Männer Ravenswood näherte. Elgiva empfing ihn im Großen Saal, und nachdem sie ihn willkommen geheißen hatte, bot sie seinen Männern Erfrischungen an und gestattete Aylwin ein Gespräch unter vier Augen. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie dem Mann in einem bescheidenen dunklen Kleid und mit schlicht zum Zopf geflochtenen Haaren ganz ohne farbige Bänder oder Schmuck gegenüberstand. Hätte sie früher von seiner Ankunft erfahren, wäre ihr Zeit geblieben, sich etwas gefälliger zu kleiden und zu frisieren. So empfing eine Frau keinen Mann, der um ihre Hand anhalten wollte. Doch Aylwin schien sich daran nicht zu stören, sondern lächelte sie an. Er war von mittlerer Größe und kräftiger Statur, sein volles braunes Haar und der dichte Bart waren von Grau durchwirkt. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas Mitfühlendes und Freundliches an sich, die Augen verrieten nichts als Bewunderung für sie.

Eine Weile unterhielten sie sich über Osric, und er hatte nur Freundliches über ihn zu sagen, doch es dauerte nicht lange, da kam er auf den wahren Grund für seinen Besuch zu sprechen.

„Durch den Tod Eures Bruders seid Ihr nun ganz allein, und Ihr befindet Euch in einer schwierigen Situation, Lady Elgiva. In Zeiten wie diesen braucht eine Frau einen Beschützer.“

Elgiva glaubte ihren Bruder reden zu hören, was ihr einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Ihr Herz schlug schneller, da sie wusste, was er sagen würde.

„Ich wäre gern dieser Beschützer für Euch.“ Er hielt inne und sah sie etwas verlegen an. „Ich stehe nicht mehr in der Blüte der Jugend, aber ich bin bei guter Gesundheit und kann Euch beschützen. Und ich schwöre Euch meine Loyalität und Hingabe.“

Sie spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen, was Aylwin wohl falsch deutete, da er tief durchatmete und hinzufügte: „Ich möchte Euch beschützen, Elgiva. Ich bitte Euch nicht darum, mich zu lieben, aber vielleicht wird das irgendwann ganz von selbst kommen. Bis dahin kann ich Euch versichern, dass ich Euch lieben werde.“

Ihr entging nicht die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme. Sie hob den Kopf und sah Aylwin in die Augen.

„Überrascht es Euch, das zu hören?“

„Ich hatte nicht erwartet … Ich meine …“ Sie unterbrach sich, da ihr nicht die richtigen Worte in den Sinn kommen wollten.

„Habt Ihr eine Vorstellung davon, wie wunderschön Ihr seid?“, sprach er weiter. „Seit dem Tag, an dem ich Euch zum ersten Mal gesehen habe, wollte ich Euch zu meiner Frau machen. Meine Gundred ist inzwischen seit fünf Jahren tot, und irgendwann fühlt sich ein Mann wieder einsam. Ich glaube, Ihr seid auch einsam. Können nicht zwei Menschen, die beide einsam sind, sich gegenseitig trösten?“

Sie nickte. „Ich denke, das können sie tatsächlich, Mylord.“

Einen Moment lang rührte er sich nicht, sondern musterte nur eindringlich ihr Gesicht. „Dann werdet Ihr mich heiraten?“

„Unter gewissen Voraussetzungen.“

„Nennt sie mir.“

„Die Rechte meiner Neffen müssen gewahrt werden, und Ihr müsst als Herr über Ravenswood auftreten, bis sie selbst alt genug dafür sind.“

„Ich bin einverstanden. Wenn wir heiraten, werde ich sie wie meine eigenen Söhne großziehen.“

„Ich bitte Euch außerdem um eine angemessene Trauerzeit für meinen Bruder.“

„Die sollt Ihr bekommen.“

„Dann werde ich am Johannistag Eure Frau werden“, versprach sie ihm mit fester Stimme.

Er nahm ihre Hand und drückte sie an seine Lippen. „Das ist eine Ehre, auf die ich kaum zu hoffen gewagt hatte.“

„Ich werde mich bemühen, Euch eine gute Ehefrau zu sein“, erwiderte sie.

Bis zu dem von ihr erbetenen Hochzeitstermin waren es noch drei Monate, aber falls Aylwin von dem Aufschub enttäuscht war, ließ er es sich nicht anmerken. Allerdings war er nun am Ziel seiner Wünsche angelangt, da fiel es ihm wohl nicht schwer, ihr ein wenig entgegenzukommen. Schließlich hatte sie sich einverstanden erklärt.

„Werdet Ihr Euch mir öffentlich versprechen, Elgiva?“, fragte er schließlich. „Ich habe kein großes Fest im Auge, das wäre unter den gegebenen Umständen nicht angemessen. Aber vielleicht eine Feier im kleinen Rahmen?“

Diese Bitte kam für Elgiva nicht überraschend. Es bedeutete, dass sie in der Öffentlichkeit ihre Absicht kundtat, ihn zu heiraten. Dadurch wurde für jedermann deutlich, dass sie und damit auch Ravenswood vergeben waren und unter dem Schutz eines vermögenden, mächtigen Lords standen. Von dem Moment an, da sie ihre Verlobung bekannt gaben, war sie praktisch seine Frau, und kein Mann würde noch wagen, sie zu berühren.

„Wie Ihr wünscht, Mylord.“

Er lächelte sie an. „Dann bin ich zufrieden.“

Elgiva hatte sich gefragt, ob er wohl versuchen würde sie zu küssen, aber zu ihrer großen Erleichterung fasste er sie nicht einmal an. Nur wenig später brach er auf, und sie schaute ihm nach, wie er gemeinsam mit seinen Bewaffneten davonritt. Kaum waren die Reiter außer Sichtweite, machte sie sich auf die Suche nach Osgifu.

Die ältere Frau hörte sich schweigend an, was Elgiva ihr zu berichten hatte. Ihr Gesicht zeigte dabei keine Regung.

„Meinst du, es war falsch, auf sein Angebot einzugehen?“, fragte Elgiva schließlich.

„Du hast getan, was du für das Richtige hältst, Kind“, antwortete Osgifu, „für dich selbst und für Ravenswood.“

„Aylwin wird ein guter Ehemann sein, und er wird dieses Land zu altem Wohlstand zurückführen. Ich ertrage es nicht länger, Ravenswood in diesem Zustand zu sehen.“

„Ich weiß.“ Osgifu zögerte kurz. „Aber kannst du ihm auch eine gute Ehefrau sein?“

„Das muss ich, Gifu. Mir bleibt keine andere Wahl. Das verstehst du doch, nicht wahr?“

„Ja.“ Sie legte die Arme um die Schultern der jungen Frau. „Ich glaube, du hast nichts zu befürchten. Er wird sicher ein fürsorglicher und gutmütiger Ehemann sein.“

Elgiva nickte und bemühte sich, den Handel von der positiven Seite zu sehen. Keine der beiden erwähnte mit einem Wort, was Osgifu aus den Runen gelesen hatte.

Die Verlobungsfeier verlief wie geplant, als eine fröhliche Zusammenkunft von Nachbarn und Freunden, die miterleben wollten, wie sich Elgiva und Aylwin einander versprachen. Sie gaben in jeder Hinsicht ein zueinanderpassendes Paar ab, und niemand störte sich am Altersunterschied zwischen Braut und Bräutigam. Weithin herrschte die Ansicht, dass Aylwin ein kluger und umsichtiger Mann war, hatte er doch auf diese Weise seinen Besitz auf einen Schlag vermehren können, und er bekam darüber hinaus auch noch eine wunderschöne Ehefrau. Elgiva trug ein blaues Kleid, das am Hals und an den Ärmeln kunstvoll bestickt war, ihr goldblondes Haar schmückten dazu passende Bänder. Niemandem entging, dass ihr zukünftiger Ehemann kaum den Blick von ihr abwenden konnte, während er sie mit Speisen und Wein versorgte, wobei er für sie die besten Stücke Fleisch abschnitt und ihr persönlich servierte.

Eigentlich hatte Elgiva gar keinen Hunger, aber sie gab sich alle Mühe, das niemanden merken zu lassen. Obwohl ihr schwer ums Herz war, wollte sie nicht mit einer verdrießlichen Miene die Gäste enttäuschen, und so lächelte sie freundlich und versuchte den Eindruck zu erwecken, dass sie sich tatsächlich vergnügte. Als sie Aylwins Blick bemerkte, der einmal mehr auf ihr ruhte, wurde ihr schlagartig deutlich, worauf sie sich eingelassen hatte – in drei Monaten würde sie mit ihm verheiratet sein, und er würde das Bett mit ihr teilen. Dann musste sie sich ihm hingeben, wann immer er es wollte. Und früher oder später würde sie seine Kinder zur Welt bringen. Er hatte bereits wohlgeratene Söhne, doch nach seinem Blick zu urteilen, wollte er es nicht dabei belassen. Aber sie hatte sich aus freiem Willen entschieden, und nun musste sie mit den Konsequenzen leben. Wenn er ihr Ehemann sein sollte, dann war es ihre Pflicht, ihn besser kennenzulernen und in Erfahrung zu bringen, was ihm Freude bereitete. An ihrer Fähigkeit, seinen Haushalt zu führen, zweifelte sie nicht, war sie doch von Kindheit an mit allen anfallenden Aufgaben vertraut gemacht worden. Welche Regeln hingegen im Schlafgemach galten, das war für sie Neuland, während er sich damit bereits auskannte. Aber sie hielt sich vor Augen, dass Liebe in einer guten Ehe nicht unbedingt erforderlich war. Hauptsache war, dass man sich gegenseitig respektierte. Bitte, Gott, flehte sie stumm, lass es gut gehen.

Das Fest war vorüber, es war bereits spät am Abend, und die Frauen hatten sich zurückgezogen. Elgiva wusste, dass die Männer nun hemmungsloser zu trinken beginnen würden, daher wies sie die Dienerschaft an, Ale und Met zu servieren, solange danach verlangt wurde. Sie bedauerte es nicht, den Saal zu verlassen, und wünschte ihrem zukünftigen Ehemann eine gute Nacht. Dabei gab er ihr einen Kuss auf die Hand, die er einen Moment lang drückte. Sein gerötetes Gesicht und das hitzige Funkeln in seinen Augen verrieten deutlich, dass er bereits viel getrunken hatte, doch er redete noch immer klar und deutlich, und als er vor ihr stand, schwankte er nicht im Mindesten.

„Gute Nacht, Elgiva, und schlaft gut. Wäre dies unsere Hochzeitsnacht, dann würde ich jetzt das Bett mit Euch teilen.“

Sie brachte ein Lächeln zustande. „Alles zu seiner Zeit.“

Dann hatte sie auch schon den Saal verlassen und suchte Zuflucht in den Frauengemächern.

Obwohl es am Abend zuvor so spät geworden war, wachte Elgiva am nächsten Morgen früh auf. Auch wenn durch die Fensterläden bereits das erste graue Licht des Frühlingsmorgens drang, war noch kein Vogelgesang zu hören, und der Hahn hatte noch nicht gekräht. Lediglich Osgifus leises Schnarchen unterbrach die fast schon bedrückende Stille des neuen Tages. Die ältere Frau würde so schnell nicht aufwachen. Also stand Elgiva auf und zog sich hastig an, weil die Morgenluft recht kühl war. Dann legte sie einen Umhang um und ging zur Tür, wo sie kurz stehen blieb und einen Blick über die Schulter warf. Osgifu schlief noch immer fest. Bei ihrem Anblick verspürte sie eine sonderbare Mischung aus Liebe und Enttäuschung. Sie hatte ihrer Freundin vertraut, und selbst jetzt hörte sie noch deren Worte in ihrem Kopf widerhallen: Die Runen lügen nie. Aber die Runen hatten gelogen, und Osgifu hatte sich geirrt. Sofort rief sich Elgiva zur Ruhe. Warum reagierte sie so erstaunt darauf, dass ein Mensch fehlbar war? Himmel, sie war doch kein kleines Kind mehr. Es wurde Zeit, sich den Tatsachen zu stellen und Verantwortung zu übernehmen.

Elgiva verließ die Schlafkammer und durchquerte den Großen Saal. Das war zwar nicht der kürzeste Weg zu ihrem Ziel, aber sie hatte Hunger, und sie wusste, die Chancen standen gut, dass sie an der Tafel noch etwas zu essen finden würde. Überall lagen schnarchende Männer auf dem Fußboden. Andere waren volltrunken nach vorn auf die Tischplatte gesunken und dort eingeschlafen. Nach den großen Mengen Ale und Met, die bis in die Nacht hinein getrunken worden waren, musste sich Elgiva keine Sorgen machen, sie könnte jemanden aufwecken. Allerdings würden einige der fröhlichen Zecher in Kürze von ordentlichen Kopfschmerzen geplagt werden.

Sie nahm einen Laib Brot von der Tafel und brach ein Stück davon ab. Es schmeckte fade und trocken, aber für den Moment genügte es. Kauend ging sie zwischen den Schlafenden hindurch und rümpfte die Nase, da in der Luft eine dichte Wolke aus kaltem Rauch, vergossenem Ale und Schweiß hing. Sie machte einen Bogen um die Feuerstelle, in der inmitten der grauen Asche noch ein Rest von Glut glimmte. Schnell ging sie zur Tür, da die stickige Luft im Saal ihr den Atem nahm und sie an Dinge erinnerte, die sie lieber vergessen würde.

Die Seitentür stand einen Spaltbreit offen, ein deutliches Zeichen dafür, dass sie nicht als Erste so früh am Morgen unterwegs war. Durch den Spalt konnte sie einen Mann sehen, der sich auf dem Burghof erleichterte. Er hatte ihr den Rücken zugewandt, doch nach seiner Kleidung zu urteilen, musste er einer von Lord Aylwins Leuten sein. Elgiva nutzte die Gelegenheit, um unbemerkt hinauszugelangen und außen um den Wohnturm herumzugehen. Von dort konnte sie ihre Umgebung gut überblicken, ohne selbst gesehen zu werden. Der Mann kehrte in den Saal zurück, und sie gelangte unbeobachtet zu den Ställen.

Auch hier herrschte Ruhe, da bislang noch nicht mal die Knechte wach waren. Sie alle hatten am Abend zuvor ebenfalls reichlich am Ale und Met teilgehabt, sodass jetzt niemand sie beobachtete, als sie zu dem Verschlag lief, in dem Mara untergebracht war. Die rotbraune Stute hörte sie kommen und begann prompt zu wiehern. Elgiva nahm das Zaumzeug vom Haken und betrat den Verschlag. Wenige Minuten später führte sie das Pferd aus dem Stall. Draußen angekommen, saß sie auf und ließ Mara Schritt gehen. Sie ritt an den Hütten im Weiler vorbei, wo es deutliche Anzeichen für Leben gab – eine Rauchfahne, die aus der Dachöffnung aufstieg, ein Hund, der vor einer geöffneten Haustür saß und sich am Hals kratzte. Die Männer im Saal dagegen würden wohl noch eine Weile benötigen, ehe sie aus ihrem tiefen Schlaf erwachten.

Froh, all dem für eine Weile entkommen zu können, atmete Elgiva die kühle Morgenluft ein. Doch auch das konnte ihre düstere Stimmung nicht vollständig vertreiben. Wenn sie in die Burg zurückkehrte, würde sie wieder die Rolle spielen müssen, die alle von ihr erwarteten.

Stolz und ein Gefühl für die Familienehre hatten sie dazu veranlasst, bei ihrer Verlobungsfeier weder Kosten noch Mühen zu sparen. Immerhin gab es auch einen Grund zum Feiern, sollten doch durch diese Heirat zwei bedeutende angelsächsische Häuser vereint werden. Ihr zukünftiger Ehegatte war ein Mann, den sie respektieren konnte. Wenn es aber doch nur Gutes mit sich bringen würde, warum fühlte sich ihr Herz dann so schwer an?

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als auf einmal ihr Pferd scheute. Hastig zog sie an den Zügeln, um es zu bändigen, dann sah sie sich um. Aber da waren nur die Schatten unter den Bäumen und vereinzelte Nebelschwaden, und über allem lag eine unheimliche Stille. Das Pferd schnaubte nervös, was sie noch argwöhnischer machte. Elgiva musterte den umgebenden Wald sorgfältig. Die Ruhe hatte etwas Beängstigendes an sich, kein Windhauch ging, kein Vogel sang. Nicht einmal im Unterholz raschelte etwas.

Dann, endlich, machte sie eine Bewegung aus. Zwischen den Bäumen hindurch sah sie in einiger Entfernung einen Reiter, der weit nach vorn gebeugt im Sattel saß. Einen Moment lang überlegte Elgiva, ob es nicht am besten war, die Flucht zu ergreifen, solange der Fremde noch weit genug entfernt war. Doch etwas an seiner Körperhaltung hielt sie davon ab. Der Mann schwankte hin und her, als wäre er betrunken. Den Gedanken verwarf sie aber gleich wieder, denn als er näherkam, konnte sie erkennen, dass er bereits lange Zeit unterwegs gewesen sein musste. Das Fell seines Pferds war nass geschwitzt und dampfte in der frischen Morgenluft, Beine und Bauch des Tiers waren mit getrocknetem Schlamm bespritzt. Als der Fremde sich weiter näherte, wurde Mara unruhig, wieherte und tänzelte, doch Elgiva hielt die Zügel fest in den Händen, damit die Stute nicht durchging.

Der Reiter war ein Mann im mittleren Alter, und wie sein Pferd war auch seine Kleidung mit Morast beschmutzt. Sein Gesicht wirkte grau und von Schmerz verzerrt, und sie sah, dass eine Seite seines Rocks mit mittlerweile getrocknetem Blut getränkt war. Er starrte sie an, als sei sie eine Erscheinung, und dann endlich erkannte Elgiva den Mann wieder.

„Gunter!“

Der Verwalter ihres Onkels! Er musste den zweitägigen Ritt fast ohne Unterbrechung bewältigt haben, so erschöpft, wie Ross und Reiter wirkten. Jedes Wort schien ihn ungeheuer viel Kraft zu kosten, als er flüsternd erklärte: „Ich bringe wichtige Nachrichten für Ravenswood, Herrin.“

„Wir sind nicht weit entfernt. Kommt, ich bringe Euch hin.“

Er nickte und folgte ihr auf dem Weg, den Elgiva gekommen war. Kaum hatten sie das Tor passiert, rief sie Hilfe herbei. Stallburschen kamen zu ihnen geeilt, um ihnen die Pferde abzunehmen, ein anderer Diener half, Gunter in den Großen Saal zu bringen. Einige Männer wurden durch die plötzliche Unruhe aus dem Schlaf gerissen und sahen überrascht auf. Aylwin bemerkte Elgiva und eilte sofort zu ihr.

„Das ist Gunter, der Verwalter meines Onkels“, ließ sie ihn wissen. „Er ist verletzt, aber ich weiß nicht, wie schlimm es ist.“

Aylwin schaute auf den großen Fleck aus getrocknetem Blut auf dem Waffenrock des Mannes. „Er hat viel Blut verloren, seine Wunden müssen unbedingt versorgt werden.“

Elgiva schickte einen Diener los, um ihre Kiste mit Arzneien zu holen. Ein anderer kam mit einem Kelch Wasser und half, den Verletzten ein wenig anzuheben, damit Elgiva ihm den Kelch an die Lippen halten konnte. Gunter trank gierig, aber sie gestattete ihm nur wenige Schlucke. Dann sahen sie und die eilig herbeigerufene Osgifu sich die Wunde an. Sie stammte von einem Schwerthieb, der eine tiefe, aber saubere Schnittverletzung hinterlassen hatte. Soweit Elgiva das erkennen konnte, war die Verletzung nicht lebensgefährlich, dennoch hatte Gunter viel Blut verloren. Gemeinsam stoppten sie die Blutung, säuberten und verbanden die Wunde. Gunter ließ das alles wortlos über sich ergehen, nur sein Gesicht wirkte noch bleicher als zuvor.

„Ihr müsst Euch jetzt ausruhen, damit Ihr zu Kräften kommt.“

„Herrin, ich muss reden. Meine Neuigkeiten dulden keinen Aufschub.“

„Dann redet, Gunter. Betrifft es meinen Onkel?“

„Aye, Herrin, und es sind schlechte Neuigkeiten.“

„Ist etwas geschehen? Ist er krank?“

„Nein, Herrin. Er ist tot, so wie seine ganze Familie. Seine Burg wurde in Schutt und Asche gelegt. Eine gewaltige Kriegerhorde Wikinger ist auf dem Weg nach Norden.“

Grabesstille folgte diesen Worten. Jeder der Anwesenden versuchte sich auszumalen, was diese Neuigkeit zu bedeuten hatte.

„Dann stimmen die Gerüchte also“, murmelte Aylwin.

„Aye, Herr. Sie tauchten ohne Vorwarnung vor unseren Toren auf, aber selbst wenn wir viel früher von ihrem Kommen gewusst hätten, wäre es uns nicht besser ergangen. Es waren einfach zu viele, als dass wir uns gegen sie hätten behaupten können. Wen sie nicht getötet haben, den verschleppten sie als Sklaven. Ich wurde verletzt und für tot gehalten. Als ich wieder zu mir kam, war vom Wohnturm nur noch eine rußgeschwärzte Ruine übrig. Ich fand ein entlaufenes Pferd und machte mich im Schutz der Dunkelheit auf den Weg hierher.“

„Es ist gut, dass Ihr das gemacht habt“, sagte Elgiva.

„Es war notwendig“, murmelte Gunter, „denn die Söhne von Ragnar Lodbrok üben schreckliche Rache für den Tod ihres Vaters.“

„Davon haben wir gehört“, bestätigte Aylwin. „Vor gut einem Jahr hat es Gerüchte über eine große Wikingerflotte gegeben, aber es hieß, sie würden viel weiter südlich an Land gehen.“

„So ist es, Herr“, bestätigte Gunter, „doch offenbar nicht absichtlich. Wie es scheint, hatten sie Kurs auf Northumbria genommen, aber starke Winde haben die Schiffe von ihrem Kurs abgebracht. Seitdem bahnen sie sich mit Feuer und Schwert ihren Weg durch das Königreich. Wir hörten davon, dass sie mehrere Klöster geplündert haben. Angeblich soll einer von ihnen eigenhändig achtzig Mönche ermordet haben.“

Erschrockene Ausrufe wurden laut.

Gunter atmete angestrengt. „Sie haben Mercia eingenommen, und nachdem nun York gefallen ist, droht als Nächstes ganz Northumbria Gefahr.“

Unwillkürlich legte Aylwin eine Hand auf das Heft seines Schwerts. „Was ist mit König Ella?“

„Sie übten grausame Rache an ihm. Sie brachen ihm den Brustkorb auf und drehten seine Rippen nach hinten, sodass er an einen Adler mit ausgebreiteten Schwingen erinnerte. Dann streuten sie Salz in seine Wunden und überließen ihn dem Tod.“

Elgiva spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Schon oft hatte sie von der gnadenlosen Brutalität der Nordmänner gehört, aber noch nie war ihr etwas so Barbarisches zu Ohren gekommen.

„Ihr müsst Vorbereitungen treffen, damit Ihr Euch gegen sie verteidigen könnt“, fuhr Gunter fort. „Die Wikinger haben bei York überwintert, aber mit Einsetzen des Tauwetters haben sie ihren Zug durch unser Land fortgesetzt. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie hier auftauchen.“

„Aber wenn König Ella tot ist, dann haben sie doch ihre Rache bekommen“, wandte Osgifu ein. „Also werden sie wieder heimkehren, wenn sie hier genug geplündert haben.“

„Diesmal geht es ihnen um mehr als nur ums Plündern. Halfdan hat verkündet, dass sie Land in Besitz nehmen werden.“

„Land? Wollen diese Piraten sich hier niederlassen?“

„Wie es scheint, ist der Boden hier fruchtbarer als in den Nordländern.“

„Das wird sie teuer zu stehen kommen“, erklärte Aylwin mit finsterer Miene. „Mein Schwert ist bereit, und das meiner Brüder ebenfalls.“

Elgiva sah die Entschlossenheit in den Gesichtern der Männer und wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Aylwin war bereit, für sie in einen Kampf zu ziehen, und sie begegnete ihrer Verlobung mit Vorbehalten. Während sie Aylwin betrachtete, sah er sie auf einmal an und begann zu lächeln.

„Ich schwöre Euch, solange ich lebe, wird Euch niemand etwas antun.“

Seine Worte bescherten ihr nur ein noch schlechteres Gewissen. „Ich danke Euch, Mylord. Wenn es zu einem Kampf kommt, wird meine Familie tief in Eurer Schuld stehen.“

„Eure Familie wird bald auch meine Familie sein“, entgegnete er. „Da ist es nur richtig, dass mein Schwert bereit ist, sie zu verteidigen – und natürlich Euch.“

In diesem Augenblick mochte Elgiva Lord Aylwin mehr als je zuvor. Gleich darauf drehte er sich jedoch schon wieder weg und begann, die Verteidigung von Ravenswood zu organisieren.

„Jeder Mann und jeder Junge, der eine Waffe halten kann, muss bereit sein. Wir wissen nicht, wie bald die Wikingerhorde uns erreicht. Die Wachen sollten wir verdoppeln und Vorposten einrichten, die uns frühzeitig warnen, sobald sich die Streitmacht nähert. Wenn die Nordmänner kommen, werden wir bereit sein.“

Die Männer verließen den Saal, um seine Befehle auszuführen. Elgiva sah nach Gunter, doch er war eingeschlafen.

„Ich werde eine Weile bei ihm bleiben“, sagte Osgifu.

„Glaubst du, er wird es überleben?“

„Er hat wirklich viel Blut verloren. Aber er ist ein starker Mann, und so Gott will, wird er es überstehen. Er braucht jetzt vor allem Ruhe.“

Elgiva begab sich zu den Palisaden, die Ravenswood schützten. Von dort konnte sie bestens die Vorbereitungen überblicken, die für die Verteidigung getroffen wurden. Hinter dem Wohnturm, jenseits der hohen hölzernen Umzäunung, schlossen sich Wiesen und Wälder an. Üblicherweise stellten diese Wälder für Elgiva einen Ort dar, an den sie sich zurückziehen konnte, weil sie dort ungestört und sicher war. Doch nun ging von diesem Land eine lautlose Bedrohung aus. Sie suchte zwischen den Bäumen nach Bewegungen, die auf einen im Verborgenen lauernden Feind hindeuteten. Sehen konnte sie allerdings nur ein paar Bewohner aus dem Dorf, die ihren üblichen Beschäftigungen nachgingen, dabei aber einen verängstigten Eindruck machten.

Ein wenig beruhigte es sie zu wissen, dass Lord Aylwin Wachen ausgesandt hatte. So würde sich zumindest ein Überraschungsangriff verhindern lassen. Und vielleicht hatte Osgifu ja recht, und die Wikinger hatten sich nur an König Ella rächen wollen, sodass sie nun keinen Grund mehr hatten, länger im Land zu verweilen. Das war jedoch nur eine schwache Hoffnung, waren diese Plünderer doch für ihre unstillbare Habgier berüchtigt. Für die Küstenbewohner gehörten regelmäßige Überfälle leider zum Alltag, und neben anderer Beute verschleppten die Nordmänner dabei auch Frauen und Vieh in ihre Heimat.

Elgiva erschauerte, als sie an die armen Menschen denken musste, deren Schicksal es war, irgendwo in der Fremde ihr Dasein in Sklaverei zu fristen. Und sie dachte an die Frauen, die gegen ihren Willen zu Ehefrauen oder Bettgenossinnen ihrer neuen Herren wurden. Da war es besser, bis zum Tod gegen solche Angreifer zu kämpfen, statt ihnen ein Leben lang ausgeliefert zu sein. Als sie sich vom Wald abwandte, fiel ihr Blick auf den Wohnturm, in dem sich ihre Schlafkammer befand. Dort in ihrem Raum stand die Truhe, in der sie ihre Kleider verwahrte. Ganz zuunterst lag das kleine Schwert, das Vater ihr vor einigen Jahren geschenkt hatte. Er hatte ihr auch den Umgang mit der Waffe beigebracht, da er fand, eine Frau sollte sich genauso verteidigen können wie ein Mann. Elgiva war fest entschlossen, ihr Heim zu verteidigen, um jeden Preis.

2. KAPITEL

Wenige Tage später saß Elgiva gemeinsam mit Osgifu in der Kammer und nähte, als die friedliche Stille jäh durch das ungestüme Läuten der Glocke der kleinen Kirche zerrissen wurde. Ihre Hände erstarrten mitten in der Bewegung, und es dauerte ein paar Herzschläge lang, bis sie begriff, was das Läuten bedeutete.

„Der Alarm!“

„Lieber Gott, das darf nicht wahr sein.“ Osgifu warf ihr Nähzeug zur Seite und eilte zur Tür. Elgiva kam ihr zuvor, jedoch mussten beide Frauen auf der Türschwelle stehen bleiben, da im Gang hektisches Treiben herrschte. Männer rannten zu ihren jeweiligen Posten, im Laufen schnallten sie die Schwertgürtel fest. Elgiva hielt einen von ihnen an, der mit einem großen Köcher voll Pfeile vorbeieilte.

„Was ist los? Was geschieht?“

„Die Wachposten haben eine große feindliche Streitmacht entdeckt, Herrin“, antwortete er. „Sie ist auf dem Weg nach Ravenswood.“ Er verbeugte sich vor Elgiva. „Aye, die Wikinger kommen. Wenn Ihr mich entschuldigen würdet, Herrin, ich muss mich auf meinen Posten begeben.“ Mit diesen Worten rannte er weiter.

Die beiden Frauen eilten unterdessen in den Saal, wo Aylwin lautstark Befehle an seine Leute erteilte. Als er Elgiva entdeckte, rief er: „Geht und verbarrikadiert Euch im Frauengemach. Dort seid Ihr sicherer. Und nehmt Osgifu und die Kinder mit.“

Ehe sie etwas entgegnen konnte, meldete sich einer von Aylwins Männern zu Wort, wobei er Osgifu einen finsteren Blick zuwarf. „Man hat mir gesagt, diese Frau sei von dänischem Blut. Woher wissen wir, ob wir ihr vertrauen können, Herr?“

Elgiva reagierte zornig: „Osgifu ist seit vielen Jahren meiner Familie treu ergeben! An ihrer Loyalität gab es noch nie Zweifel, und die wird es auch nie geben!“

Der Mann wurde rot. „Ich bitte um Verzeihung, Herrin.“

Aylwin schaute ihn missbilligend an und deutete mit einem Nicken auf die Tür. Der Krieger verstand und zog sich hastig zurück.

„Es tut mir leid, Elgiva.“ Beschwichtigend legte er eine Hand auf ihren Arm. „Aber in solchen Zeiten neigt man dazu, übervorsichtig zu sein.“

„Das merke ich.“

Mit Mühe schluckte sie ihre Verärgerung hinunter. Es führte zu nichts, sich jetzt zu streiten. Stattdessen drehte sie sich zu Osgifu um. „Hol Hilda und die Kinder, und auch die Dienerinnen. Geh mit ihnen ins Frauengemach.“

Die ältere Frau nickte und fragte: „Und was ist mit dir, Kind?“

„Ich komme sofort zu euch, zuerst muss ich noch etwas holen.“

„Beeilt Euch besser, Elgiva“, sagte Aylwin, lächelte noch einmal warmherzig und schloss sich seinen Männern an, die draußen in Stellung gingen.

So schnell sie konnte, lief Elgiva zu ihrem Gemach, riss die Truhe auf und durchwühlte die Kleidung, bis sie das Schwert gefunden hatte. Das Gewicht der Waffe in ihren Händen fühlte sich beruhigend an. Wenigstens waren sie damit nicht völlig wehrlos, wenn es zum Schlimmsten kam. Sie schloss die Truhe, dann machte sie sich auf den Weg zu den anderen Frauen und verbarrikadierte, wie von Aylwin angewiesen, die stabile Tür hinter sich. Dann bezog sie am gegenüberliegenden Fenster Stellung, um das Geschehen zu beobachten. Aylwin hatte, wie sie wusste, seinen Verteidigungsplan schon vor Tagen zurechtgelegt, weshalb jeder seiner Männer innerhalb kürzester Zeit bereit war, jeder von ihnen bis an die Zähne bewaffnet und voll finsterer Entschlossenheit, ihr Heim und ihr Leben zu verteidigen.

Beim Glockengeläut waren die Bauern von den Feldern und aus dem Wald zurückgekehrt, um Zuflucht in der Umzäunung zu suchen. Kaum hatten sie sich dort eingefunden, stießen die Männer auf dem Wachtturm Warnrufe aus, da sie die vordersten Reihen der Wikingerhorden gesichtet hatten. Wie eine Armee aus bösen Geistern kamen sie zwischen den Bäumen zum Vorschein, mordlüstern rückten sie auf die Wiese vor. Einer ihrer Bogenschützen schickte einen Pfeil auf die Reise, der einen angelsächsischen Wachposten traf und auf der Stelle tötete. Wie auf ein Zeichen hin ging ein Aufschrei durch die Menge, dann stürmten sie wie ein Mann vor.

Von ihrem Platz hinter den Fensterläden aus verfolgte Elgiva voller Entsetzen das nun folgende Blutbad und murmelte ein Stoßgebet nach dem anderen. „Gott im Himmel, können es denn tatsächlich so viele von ihnen sein?“

Mit Schwert und Axt streckten die Nordmänner alles nieder, das sich ihnen in den Weg stellte. Dabei riefen sie immer wieder den Namen ihres Kriegsgotts.

„Odin!“

Aus Hunderten Kehlen ertönte der Ruf, während die Wikinger furchtlos in die gegnerischen Reihen stürmten. Die Verteidiger kämpften genauso unerschrocken, doch die Übermacht war so erdrückend, dass sie Schritt um Schritt zurückweichen mussten.

Elgiva wandte den Blick ab und sah hinüber zu einer anderen Gruppe von Wikingern, die außerhalb der Palisaden einen Rammbock in Stellung brachten. Vor Entsetzen wie gelähmt, beobachtete Elgiva, wie der Baumstamm wieder und wieder gegen das Tor gerammt wurde.

Doch auch wenn die Verteidiger versuchten, die Angreifer mit Pfeilen und Steinbrocken zu vertreiben, mussten sie sich geschlagen geben. Ein ungeheures Krachen verkündete schließlich, dass das Tor nachgegeben hatte. Unter Triumphgeheul drangen die Nordmänner durch die geschlagene Lücke ins Innere der Anlage ein.

Hilflos musste Elgiva mit ansehen, wie die Verteidigung zusammenbrach und ihre Leute sich immer weiter in Richtung des Turms zurückziehen mussten. In ihrer Mitte machte sie Aylwin mit seinen Männern aus, die Schulter an Schulter kämpften. Ein halbes Dutzend Wikinger fiel Aylwins Klinge zum Opfer, während die Gruppe seiner Getreuen um ihn herum immer stärker zusammenschrumpfte. Die Verzweiflung ließ die angelsächsischen Krieger über sich selbst hinauswachsen, sie schlugen auf den Gegner ein, wehrten Schwert- und Axthiebe ab, entschlossen, ihr Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Dennoch wurde einer nach dem anderen niedergestreckt. Unverdrossen kämpfte Aylwin weiter, doch dann wurde sein Schwert von einer großen Streitaxt getroffen, der Stahl erzitterte und zerbrach. In einem letzten trotzigen Aufbegehren schleuderte Aylwin seinem Kontrahenten das Heft seines Schwerts entgegen, dann traf ihn die Klinge des Feindes, und er sank zu Boden.

Elgiva presste sich eine Hand auf den Mund, um ihren Entsetzensschrei zu unterdrücken, gleichzeitig blinzelte sie die Tränen fort. Wenn sie Schwäche zeigte, half das weder Aylwin noch den anderen Burgbewohnern, die auf sie angewiesen waren. Sie zwang sich zur Beherrschung, wandte sich vom Fenster ab und blickte die anderen im Raum ernst an. Als Hilda ihre versteinerte Miene sah, stieß sie ein ersticktes Schluchzen aus und presste den kleinen Pybba an ihre Brust. Das Kindermädchen war erst sechzehn und stand sichtlich Todesängste durch. Osgifu stand kreidebleich, aber schweigend daneben und hatte einen Arm um den dreijährigen Ulric gelegt, der sich verängstigt an ihren Rock klammerte. Die übrigen Dienerinnen konnten ein Schluchzen nicht unterdrücken.

Wütende Hiebe gegen die verbarrikadierte Tür des Gemachs kündeten davon, dass die Invasoren die Halle bereits durchquert und das obere Stockwerk erreicht hatten. Elgiva stand an der Tür, die unter den Axthieben erzitterte. Ein Loch war bereits im Holz entstanden; je größer es wurde, desto deutlicher waren die Klingen zu sehen. Ihr Herz schlug vor Aufregung rasend schnell, während sie zur gegenüberliegenden Wand zurückwich und voller Entsetzen mit ansah, wie immer größere Stücke Holz aus der Tür flogen. Mit jedem Moment fiel es ihr schwerer, ihre Angst unter Kontrolle zu halten. Sie umfasste das Heft ihres Schwerts, atmete tief durch und zog die Klinge aus der Scheide.

In diesem Augenblick gab die Tür dem Ansturm nach und wurde aus den Angeln gerissen, sodass die vordersten drei Männer mit ihr zusammen auf dem Boden landeten. Sie rappelten sich auf, drangen in das Gemach ein, dicht gefolgt von einem halben Dutzend weiterer Krieger. Der gierige Blick dieser Männer fiel sofort auf die ängstlich zusammengekauerten Frauen und Kinder, dann traten sie vor und packten als Erstes die Dienerinnen. Einer von ihnen brachte Hilda in seine Gewalt, die mit einem Arm den Säugling an sich drückte und mit der anderen Hand den verängstigten Ulric festhielt. Osgifu versuchte sich schützend vor sie zu stellen, doch der Wikinger versetzte ihr einen Schlag, der sie nach hinten schleuderte und mit dem Kopf gegen die Wand schlagen ließ. Benommen sank sie zu Boden, während Hilda aufschrie und sich gegen den Krieger zur Wehr zu setzen versuchte, der ihren Arm umklammert hielt.

Außer sich vor Wut darüber, dass man mit den Schwachen und Hilflosen so umsprang, ging nun Elgiva dazwischen. „Lass sie in Ruhe! Lass sie los!“

Ihr Protest war vergebens, sie lenkte damit lediglich die Aufmerksamkeit eines anderen Kriegers auf sich. Er war groß und gut gekleidet, Haupt- und Barthaar waren blond, und man hätte ihn wohl als gut aussehend bezeichnen können, wäre da nicht dieses grausame Lächeln gewesen, das seine Lippen umspielte.

„Na, was haben wir denn hier?“

Vor Abscheu und Wut schoss Elgiva das Blut in die Wangen, und sie hielt das Heft ihres Schwerts noch fester umschlossen.

„Wikingerabschaum! Auf Frauen und wehrlose Kinder geht ihr los? Kommt und versucht euer Glück bei mir! Ich werde euch den Bauch aufschlitzen!“

Alle Blicke richteten sich nun auf Elgiva, das Erstaunen der Männer verwandelte sich in Belustigung, als sie das Schwert in ihrer Hand sahen.

„Sei vorsichtig, Sweyn“, spottete einer seiner Gefährten. „Die Kleine ist eine richtige Feuerspeierin!“

Sweyn musterte sie lauernd. „Zweifellos eine Kriegerbraut. Vielleicht sogar eine von Odins Töchtern, und dann beherrscht sie auch noch unsere Sprache. Das wird mir sehr gelegen kommen, wenn ich ihr im Bett Anweisungen erteile.“

Der Sprecher wandte sich für einen Moment zu seinen grinsenden Begleitern um. Elgiva nutzte die Gelegenheit für einen Angriff, doch der Mann bemerkte aus dem Augenwinkel die Bewegung und machte einen Satz zur Seite. Der Hieb, der ihn ins Herz hätte treffen sollen, fügte ihm lediglich eine Schnittwunde am Arm zu. Ungläubig presste er eine Hand auf die Verletzung und starrte auf das Blut, das zwischen seinen Fingern hindurchlief. Seine Kameraden brachen in schallendes Gelächter aus. Elgiva ließ sich davon nicht beirren, sondern griff erneut an und zwang Sweyn dazu, sich gegen den Ansturm zu verteidigen. Es gelang ihr sogar, ihn ein paar Schritte zurückzutreiben. Dann jedoch zeigten sich seine überlegene Kraft und seine Erfahrung, als er zum Gegenangriff überging. Elgiva musste den Rückzug antreten, bis sie die Wand in ihrem Rücken spürte. Ein energischer Schlag gegen das Gelenk ließ ihre Hand vor Schmerzen einen Moment lang taub werden, und das Schwert entglitt ihren Fingern, während sie nach Atem rang. Ehe sie sich versah, hielt der Wikinger ihr bereits die Spitze seiner Klinge an die Kehle.

„Bettle um Gnade, du kleine Hexe.“

Elgiva spuckte ihn an. Ihr war klar, dass er sie nun töten würde, aber sie gönnte ihm nicht die Genugtuung, ihre Angst zu sehen und sie um ihr Leben flehen zu hören. Trotzig hob sie das Kinn und ließ den Blick über die blutige Klinge wandern, bis sie dem Mann, der die Waffe hielt, in die Augen sah. Die Schwertspitze ritzte leicht ihre Haut, und Elgiva spürte ein wenig warmes Blut. Ihr Herz raste, da sie damit rechnete, dass er ihr jeden Moment die Kehle aufschlitzen würde. Das gebannte Schweigen zog sich schier endlos in die Länge, dann ließ der Mann die Klinge ein winziges Stück sinken, und in seinen Augen flackerte beinahe so etwas wie Bewunderung auf.

„Nein“, sagte er. „Ich werde dich nicht töten. Das wäre Vergeudung.“

„Recht hast du, Sweyn!“, rief einer der Männer. „Nimm sie mit in dein Bett. Ich wette, sie ist besser als alles, was du bisher erlebt hast.“

Wieder lachten die anderen. „Lieber sterbe ich“, verkündete sie, als sie Sweyns begierigen Blick bemerkte.

„Du wirst nicht sterben“, erwiderte er. „Noch nicht.“

Er steckte sein Schwert weg, trat einen Schritt auf sie zu und packte sie grob um die Taille, damit sie ihm nicht entkommen konnte, als er seinen Mund rücksichtslos auf ihre Lippen presste. Seine Leute feuerten ihn mit begeisterten Rufen an.

Angewidert wand sich Elgiva in seinem Griff, doch es half alles nichts. In ihrer Verzweiflung biss sie ihn in die Unterlippe, woraufhin er vor Schmerz aufschrie und sie von sich stieß. Noch während er eine Hand auf seine blutende Lippe drückte, nutzte Elgiva die Gelegenheit und zog ein Knie hoch. Schnell wich er ihr aus, aber sie erwischte ihn doch hart genug, dass er laut aufstöhnte und zusammengekrümmt ein paar Schritte zurück machte – zum großen Vergnügen seiner Kameraden. Elgiva blieb nicht stehen, um herauszufinden, wie sehr sie ihn verletzt hatte, sondern machte auf der Stelle kehrt und flüchtete auf die andere Seite des Gemachs. Hilda wand sich noch immer in den Armen des Mannes, der sie festhielt, doch da sie nach wie vor den Säugling an sich gedrückt hielt, konnte sie sich kaum gegen ihn wehren. Ulric stand neben der wie erstarrt wirkenden Osgifu und weinte, weshalb sich Elgiva neben ihm hinkniete und ihn in die Arme nahm.

Unterdessen hatte sich Sweyn wieder aufgerappelt. Elgiva bemerkte die Bewegung und sah zu ihm, wobei sie rasenden Zorn in seinen Augen erkannte, als sich ihre Blicke trafen. Mit wenigen Schritten war er am Fenster und stieß die Läden auf. Licht flutete den Raum. Im nächsten Moment hatte er ihr Ulric entrissen und hielt den Jungen hoch in die Luft. Als Elgiva begriff, was er vorhatte, schrie sie vor Entsetzen laut auf.

„Nein!“

Sweyn verzog den Mund zu einem gehässigen Grinsen.

Auf einmal ertönte eine Stimme, die lauter war als Elgivas Schrei. „Halt!“ Es gab keinen Zweifel daran, dass dies ein Befehl war. „Das reicht! Setz das Kind ab, Sweyn.“

Zitternd drehte Elgiva sich zu dem Mann um, der soeben gesprochen hatte, einem großen Krieger. Sein Gesicht war hinter den metallenen Schilden seines Helms verborgen, aber es war nicht zu übersehen, dass er für die Eindringlinge ein Befehlshaber war. Seine blauen Augen waren auf den Mann namens Sweyn gerichtet, und auch Elgiva sah wieder zu ihm hinüber, da sie fürchtete, er könnte sein grausames Vorhaben doch noch in die Tat umsetzen. Zu ihrer grenzenlosen Erleichterung setzte er den Jungen jedoch ab, der sofort zu ihr gelaufen kam und sich an sie klammerte. Ohne von ihnen Notiz zu nehmen, sagte Sweyn an den anderen Mann gerichtet: „Haben wir nicht geschworen, Ragnar mit Feuer und Schwert zu rächen?“

„Ja, Mann gegen Mann. Aber führen Männer etwa auch Krieg gegen kleine Kinder?“

„Das ist doch bloß ein angelsächsisches Gör. Was macht das schon?“

Elgiva wurde es übel, als sie die abfälligen Worte hörte. Dadurch entging ihr der beiläufige Blick, den der dunkelhaarige Krieger ihr zuwarf, ehe er sich wieder Sweyn vornahm.

„Sklaven sind wertvoll, egal welchen Alters. Wir brauchen jeden Einzelnen von ihnen. Heute wird hier niemand mehr getötet.“ Der Tonfall war ruhig, fast gelassen, aber er ließ keinen Widerspruch zu.

Sweyn hob lässig die Schultern an. „Wie du meinst, Wulfrum.“ Dann drehte er sich zu Elgiva um. „Aber mit ihr bin ich noch nicht fertig.“

Hastig stand sie auf und schickte Ulric zu einer der Dienerinnen. Als Sweyn auf sie zuging, rannte sie blindlings Richtung Tür. Doch sie kam nicht weit, da der Krieger, der zuletzt das Gemach betreten hatte, sie aufhielt. Sie stemmte die Hände gegen seine Brust, um den Mann aus dem Weg zu schieben. Er stand unverrückbar wie ein Fels da, packte sie bei den Armen und setzte ihrer Flucht ein jähes Ende.

„Nicht so schnell.“

Er sprach mit tiefer und ruhiger Stimme, die sogar ein wenig amüsiert klang. Elgiva ließ den Blick von seiner Brust langsam nach oben wandern, bis sie sein kantiges Kinn und die sinnlichen, vollen Lippen betrachtete, die zu einem freundlichen Lächeln verzogen waren. Als sie sich gegen seinen Griff wehrte, bewirkten selbst ihre größten Anstrengungen lediglich, dass er noch vergnügter lächelte.

„Ich nehme dieses Weib an mich, Wulfrum“, erklärte Sweyn, der dicht neben ihnen stehen geblieben war. „Ich werde dieser Teufelin schon Respekt beibringen, und zwar umgehend.“

Als er noch einen Schritt näherkam, drückte Elgiva sich unwillkürlich an Wulfrum, da in Sweyns Augen etwas Furchterregendes funkelte.

„Bei Odins Blut, ich hatte tatsächlich den Eindruck, dass sie diejenige war, die dir noch das eine oder andere beigebracht hat, Sweyn“, konterte ein anderer Krieger, der nun vortrat und sich zu Wulfrum stellte.

Unter dem spöttischen Gelächter, das dieser Bemerkung folgte, sah Elgiva sich zu dem Mann um, der diese Worte gesprochen hatte – und erstarrte. Ein Hüne von furchterregender Gestalt, gut einen Kopf größer als alle übrigen Anwesenden und über und über mit Blut bespritzt. Tiefe Falten hatten sich in sein wettergegerbtes Gesicht gegraben, doch die grauen Augen blickten kühl und scharfsinnig. In einer Hand hielt er eine blutverschmierte Streitaxt.

„Eisenfaust hat recht!“, rief ein anderer. „Sie ist zu wehrhaft für dich, Sweyn!“

Sweyn warf ihm einen wütenden Blick zu. „Das werden wir ja sehen.“

„Du bist zu unaufmerksam mit deinen Gefangenen“, erklärte Wulfrum. „Du hast die Frau entwischen lassen. Ich habe sie an der Flucht gehindert, daher gehört sie jetzt mir.“

Erschrocken hob Elgiva den Kopf, doch Wulfrums Blick war auf Sweyn gerichtet. Eine Hand ruhte auf ihrer Schulter, die andere auf seinem Schwert.

„Das ist richtig“, bestätigte Eisenfaust. „Wir alle haben es gesehen.“

„Nein, Wulfrum, ich bleibe dabei. Sie gehört mir.“

„Nein. Du hast sie entkommen lassen.“

„Wulfrum spricht die Wahrheit“, meinte ein anderer.

Zustimmendes Gemurmel machte sich breit, das Sweyn wütend nach links und rechts schauen ließ. Elgiva hielt gebannt den Atem an und betete, dass er sich nicht durchsetzte, da sie lieber gar nicht daran denken wollte, wie er sie für ihr Verhalten bestrafen würde. Sie dachte an Flucht, aber als hätte Wulfrum ihre Absicht erraten, presste er sie noch etwas fester an sich.

„Dann nimm das Miststück doch“, knurrte Sweyn. „Ist ja doch nur ein Weib.“

„Richtig, und davon gibt es noch viele mehr“, erklang eine Stimme nahe dem Eingang.

Alle drehten sich in diese Richtung um, dann machten die Männer schweigend Platz. Obwohl der Mann, der nun eintrat, nur von durchschnittlicher Größe war, strahlte er Macht aus, ähnlich wie Wulfrum, der nun respektvoll den Kopf neigte. „Fürst Halfdan.“

„In England gibt es viele Frauen und Sklaven, und für jeden gibt es Land genug“, fuhr dieser fort, und seine Stimme erfüllte das ganze Gemach, obwohl er nicht laut sprach. „Es gibt also keinen Grund zum Streiten.“ Er richtete den Blick auf Elgiva und musterte sie eindringlich. „Ein ansehnliches Weib, Wulfrum. Auf dem Sklavenmarkt wird sie einen guten Preis erzielen, es sei denn, du willst sie für dich behalten.“

„Das ist meine Absicht.“

„Nun, dann solltest du gut auf sie aufpassen.“

„Das werde ich.“

„Der Streit ist damit beigelegt.“ Er schaute zu Sweyn. „Ich denke, sie wird eine gute Wikingerbraut abgeben.“

„Nie im Leben!“ Die Worte waren ihr über die Lippen gekommen, ehe Elgiva sie zurückhalten konnte. Im nächsten Moment wurde ihr Mund trocken, als die beiden Männer sich ihr zuwandten. Wulfrum lachte und legte den Arm noch ein wenig fester um sie, ohne ihre Gegenwehr auch nur zur Kenntnis zu nehmen.

„Eine lebhafte Person“, meinte Halfdan. „Aufsässig noch dazu. Sie muss lernen, ihrem Herrn zu gehorchen.“

„Einem Wikinger werde ich niemals gehorchen!“

„Doch, das wirst du – früher oder später“, widersprach Halfdan und lächelte sie von oben herab an.

Elgiva drehte sich der Magen um.

„Sie wird es schon noch lernen“, meinte Wulfrum.

„Von Euch?“, gab sie voller Verachtung zurück. „Das glaube ich nicht.“

„Oh ja, von mir.“ Wieder musterte er ihr Gesicht und schien einen Entschluss zu fassen. „Denn bei allen Göttern, ich werde dich zur Frau nehmen.“

„Das werde ich niemals zulassen.“

„Du hast gar keine Wahl. Du gehörst jetzt mir.“

„Nein!“

„Oh doch. Es sei denn, du möchtest dein Leben lieber mit Sweyn teilen?“

Bei diesen Worten musste sie schlucken. Sie wollte nichts von diesem Wulfrum wissen, doch wenn sie bedachte, wem sie ansonsten ausgeliefert wäre, regten sich in ihr nur Abscheu und Verachtung.

„Also?“

„Ich werde mich nicht für einen Feigling und Kindermörder entscheiden.“

Wulfrum sah zu Sweyn. „Sie hat sich entschieden.“

„Dann wünsche ich dir viel Spaß mit ihr“, gab der andere Mann gelassen zurück, auch wenn sein Gesichtsausdruck die Worte Lügen strafte.

Wulfrum ließ sich nicht beeindrucken. „Ich werde Spaß haben, davon bin ich überzeugt.“

„Dann ist die Angelegenheit also geklärt.“ Halfdan wandte sich an Wulfrum. „Du hast unter dem Banner des Schwarzen Raben gute Dienste geleistet. Von heute an soll dir dieses Anwesen mit dem umgebenden Land gehören. Auch die Sklaven gehören jetzt dir, und du kannst mit ihnen machen, was du möchtest.“

„Ihr seid sehr großzügig, mein Fürst.“

„Ja, denen gegenüber, die mir treu dienen.“ Er schaute zu Elgiva. „Was die Frau betrifft, nimm sie – sie ist ein angemessener Preis.“

„Das ist sie allerdings.“

Elgiva warf den beiden einen vernichtenden Blick zu, aber der Anführer der Wikingerhorde reagierte nur mit einem höhnischen Lächeln.

„Dein Schicksal ist entschieden, Frau, und es ist am besten, wenn du dich fügst.“ Er wandte sich an die versammelten Krieger. „Geht nach unten in den Saal, ruft die anderen herbei. Ich habe euch allen etwas zu sagen.“

Die Männer gingen zur Tür; einer von ihnen hatte sich die schreiende Hilda buchstäblich unter den Arm geklemmt.

„Nein!“ Elgiva versuchte noch einmal, sich aus Wulfrums Griff zu befreien. „Nimm deine schmutzigen Finger von ihr!“

Als sie sah, dass die auf dem Boden liegende Osgifu sich rührte, wand sie sich noch heftiger, da sie nach der älteren Frau sehen wollte.

„Komm mit“, sagte Wulfrum.

„Niemals, Wikingerabschaum!“

Anstatt weiter auf sie einzureden, warf er sie sich über die Schulter und trug sie aus dem Raum, auch wenn sie noch so sehr strampelte und protestierte. Erst als sie im Saal angekommen waren, setzte er sie ab, hielt sie aber weiterhin an der Taille umfasst. Wutschnaubend wünschte sie sich, sie hätte ihr Schwert zur Hand, um ihn zu töten. Wulfrum grinste nur unbekümmert. Als sein Blick durch den Saal schweifte, fiel ihr auf, dass Halfdan zu sprechen begonnen hatte.

„Heute Abend feiern wir unseren Sieg. Wir werden lange genug hier verweilen, um die Toten beizusetzen und die Verwundeten zu versorgen. Danach ziehen wir weiter, bis wir ganz Northumbria erobert haben.“ Tosender Jubel brandete auf, bis Halfdan die Faust in die Luft reckte, damit wieder Ruhe einkehrte. „Bevor wir aber aufbrechen, werden wir Zeuge werden, wie Jarl Wulfrum diese Angelsächsin zur Frau nimmt. Sie wird ihm stolze Söhne gebären, die dereinst dieses Land erben werden. Jeder soll wissen, dass wir gekommen sind, um zu bleiben.“

Wieder reagierte die Menge mit ausgelassenem Jubel. Elgiva schloss die Augen und atmete tief durch, um sich zu sammeln, damit sie nicht diesen Entsetzensschrei ausstieß, der in ihr hochstieg. Als sie die Augen wieder öffnete, stellte sie fest, dass Wulfrum sie beobachtete. Sein eindringlicher Blick brachte ihre Entschlossenheit ins Wanken.

„Wenn ich eine Ehefrau bekomme, würde ich gern wissen, mit welchem Namen ich sie anreden soll.“

„Ich bin Elgiva, Tochter des verstorbenen Lord Egbert und Schwester des gleichfalls verstorbenen Osric.“

„Elgiva. Ein schöner Name, so schön wie die Frau, die ihn trägt.“

Sein Blick ließ eine unerwartete Wärme in ihr aufsteigen. Wulfrum lächelte und nahm den Helm ab. Das Gesicht, das darunter zum Vorschein kam, hatte etwas Imposantes. Wangen, Stirn und Kinn wirkten wie aus Stein gemeißelt, so ausgeprägt waren sie. Unterstrichen wurde sein Erscheinungsbild von einem kurz geschnittenen Bart, der so dunkel war wie sein Haupthaar. Seine Augen waren so beeindruckend blau wie ein Sommerhimmel. Mit einem Mal veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und er streckte eine Hand aus, um behutsam die Schnittwunde an ihrem Hals zu berühren.

„Du bist verletzt?“

„Nur ein Andenken Eures tapferen Freundes Sweyn.“

Er ignorierte den Spott in ihren Worten. „Wie kommt es, dass du unsere Sprache so gut beherrschst, Elgiva?“

„Ich habe sie von meiner Kinderfrau gelernt, ihre Mutter war Dänin.“

„Das ist eine erfreuliche Wendung, mit der ich nicht gerechnet hätte.“

„Ja, sehr erfreulich, weil ich Euch so als das widerwärtige Reptil bezeichnen kann, das Ihr seid, und weiß, dass Ihr mich versteht.“

Wulfrum ließ sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Vielmehr wirkte es so, als amüsierten ihn ihre Worte. „Du kannst es auch ruhig in deiner Sprache sagen, wenn dir das lieber ist.“

Ihr fehlten einen Moment lang die Worte, da er soeben in fließendem Angelsächsisch mit ihr gesprochen hatte.

„Auf meinen Reisen habe ich viel gelernt“, erklärte er, ließ seine Hand ein Stück tiefer sinken und strich über den Stoff ihres Kleids. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück, was ihn umso breiter lächeln ließ. „Schon bald wirst du darum flehen, von mir berührt zu werden.“

„Dazu wird es niemals kommen.“

„Das sagst du jetzt, aber du hast auch noch nicht das Bett mit mir geteilt. Ich freue mich bereits darauf!“

Sie spürte, wie ihr Gesicht zu glühen begann, doch bevor sie etwas erwidern konnte, stand auf einmal Eisenfaust neben ihnen. Er legte ihr die Finger seiner großen Hand unters Kinn und drehte ihren Kopf so, dass sie ihn ansah.

„Bei den Göttern, wirklich nicht schlecht.“ Er ließ die Hand zu ihrem Oberarm sinken und umfasste ihn in einem lockeren Griff, dann sah er Wulfrum amüsiert an. „Für meinen Geschmack etwas zu dürr, aber jedem das Seine.“

Elgiva setzte eine finstere Miene auf. Hielten diese Wikingertrampel sie etwa für einen alten Klepper auf dem Viehmarkt?

„Es freut mich, dass sie dir gefällt“, sagte Wulfrum.

„Bei Thors Bart, es wird Zeit, dass du dir eine Frau nimmst. Ein Mann muss Söhne zeugen.“

„Das habe ich vor.“

„Eher schneide ich Euch die Leber aus dem Leib!“ Für die Dauer von vielleicht zwei Herzschlägen schauten die beiden Männer sie an, dann begannen sie laut zu lachen.

„Ich traue ihr zu, es zu versuchen“, meinte Eisenfaust. „Mit ihr wirst du noch Schwierigkeiten bekommen. Bist du einer solchen Herausforderung gewachsen?“

„Glaub mir, das bin ich“, antwortete Wulfrum, dann fuhr er fort: „Komm, Elgiva, wir wollen unsere Verlobung besiegeln.“

Ehe sie begriff, was er vorhatte, presste er auch schon seine Lippen auf ihren Mund. Dabei hielt er sie in seinen starken Armen und drückte sie so fest an sich, dass es ihr den Atem verschlug. Kein Mann hatte sie je so umarmt und geküsst, so leidenschaftlich, so erschreckend selbstverständlich. Als er sie wieder losließ, spürte sie seine Wärme noch eine Zeit lang auf ihren Lippen. Wut loderte in ihr, als sie ihm eine Ohrfeige verpasste. Einige Umstehende schnappten erschrocken nach Luft, alle drehten sich zu ihnen um. Jeder, Elgiva eingeschlossen, rechnete damit, dass Wulfrum sie, dieses „ungezogene Weib“, mit einem Fausthieb zu Boden schickte, doch zu ihrer Überraschung grinste er nur.

„Ich nehme an, das hatte ich verdient.“

„Allerdings“, stimmte Eisenfaust zu.

Schnell setzte Elgiva zu einer zweiten Ohrfeige an, aber diesmal bekam Wulfrum ihr Handgelenk zu fassen und hielt es fest. „So verhält man sich nicht gegenüber seinem zukünftigen Ehemann.“

„Ich werde Euch nie zu meinem Ehemann nehmen!“

„Doch, das wirst du, Elgiva, und zwar schon bald.“

Diesmal war es Fürst Halfdan, der sie an einer Erwiderung hinderte.

„Komm, Wulfrum, lass die Tändelei. Du kannst dich später mit der Frau befassen. Jetzt gibt es Arbeit zu erledigen.“

„Ganz wie Ihr sagt, Herr.“

„Bring sie zurück in das Gemach und stell eine Wache davor auf, dann komm zu mir nach draußen.“

Wulfrum nickte und drehte sich zu Elgiva um, wobei er ihre Versuche ignorierte, sich irgendwie aus seinem Griff zu winden.

„Wagt es nicht, mich anzurühren!“

Er zog eine Augenbraue hoch und warf Eisenfaust einen vielsagenden Blick zu. Sein Griff um ihr Handgelenk wurde fester, und er ging in Richtung Stufen, wobei er Elgiva hinter sich herzog. Widerstand war zwecklos. Als sie wieder das Gemach erreichten, gab er ihr einen Schubs, sodass sie nicht anders konnte, als ins Innere zu stolpern.

„Bis später, Elgiva.“

Dann verließ er sie und gab den Wachen vor der zersplitterten Tür Anweisungen, sie nicht entkommen zu lassen.

Sobald sie Gewissheit hatte, dass er weg war, drehte sie sich um und betrachtete voller Sorge das Bild, das sich ihr bot. Beide Kinder waren hier, sie schienen nicht verletzt. Die verängstigten Dienstmädchen versuchten sie zu trösten. Vor Erleichterung fiel ihr ein Stein vom Herzen, als Elgiva sah, dass eine Dienerin Osgifu beim Aufstehen half. Die ältere Frau wirkte noch ein wenig benommen, sie hatte eine Platzwunde an der Lippe, und an ihrer Wange zeichnete sich bereits ein blauer Fleck ab. Elgiva eilte zu ihr und führte sie zu einem Stuhl, dann goss sie ein wenig Wasser in eine Schüssel und tupfte mit einem nassen Tuch das Blut von der aufgeplatzten Lippe. Osgifu saß die ganze Zeit über reglos da, nur ihre Hände zitterten. Da Elgiva ihre Kiste mit Heilmitteln und Salben nicht zur Hand hatte, gab es nur wenig, was sie für ihre Freundin tun konnte.

Eine Zeit lang sprach keine der Frauen ein Wort, da jede von ihnen noch versuchte, die schrecklichen Geschehnisse zu begreifen, die ihr friedliches Leben für immer verändert hatten. Schließlich rang sich Osgifu als Erste zu einer Frage durch: „Geht es dir gut, Kind? Haben sie dir wehgetan?“

„Nein, es geht mir ganz gut.“

„Gott sei Dank. Und die Kinder?“

„Auch beide unversehrt.“ Unwillkürlich musste Elgiva zum offenen Fenster sehen, wobei ihr ein Schauer über den Rücken lief. Wäre Sweyn nicht im letzten Moment an seinem Vorhaben gehindert worden, wären nun ihre beiden Neffen tot. Aber dazu war es nicht gekommen. Sie musste Wulfrum tatsächlich dankbar sein, dass er gerade noch rechtzeitig aufgetaucht war. Wie es schien, hatte er nichts dafür übrig, kleine Kinder zu ermorden. Und er hatte sie vor Sweyn bewahrt. Andernfalls hätte dieser sich wahrscheinlich fürchterlich an ihr gerächt – allein schon, weil sie ihn zum Gespött für seine Kameraden gemacht hatte. Das würde er ihr nicht so bald nachsehen. Der gehässige Ausdruck in seinen Augen hatte das nur zu deutlich gezeigt.

Auch wenn Osgifu ihre Gedanken nicht lesen konnte, schien sie dennoch zu erraten, was ihr durch den Kopf ging.

„Hast du alles mitbekommen?“, fragte Elgiva.

„Aye, genug, um zu wissen, was los ist.“

Bevor sie weiterreden konnten, riss sich Ulric von der Dienerin, die ihn hielt, los und lief auf sie zu. Elgiva schloss ihn in die Arme, zog ihn hoch und setzte ihn auf ihr Knie, damit sie ihn leichter an sich drücken und ihm aufmunternde Worte zuflüstern konnte. Die Tränen, die ihr in die Augen steigen wollten, drängte sie rasch zurück. Wenn sie die nächste Zeit unbeschadet überstehen wollte, musste sie allen Mut aufbringen, den sie besaß.

Das Problem war nur, dass sie sich noch nie im Leben so mutlos gefühlt hatte.

3. KAPITEL

Im Freien angekommen, gesellte Wulfrum sich zu Halfdan und Olaf Eisenfaust. Seine Männer liefen zwischen den Gefallenen hin und her und sammelten Waffen, Rüstungsteile und alles andere von Wert ein. Der Kampf war kurz, aber heftig gewesen, da die Angelsachsen sich mit ganzem Körpereinsatz gegen die Invasoren gewehrt hatten, obwohl sie hoffnungslos in der Unterzahl gewesen waren. Wulfrum bewunderte die Krieger für ihren Mut. Ihre Anführer waren gefallen, doch man hatte eine recht große Zahl Männer gefangen nehmen können. Nach dem finsteren Gesichtsausdruck zu urteilen, den die meisten von ihnen zeigten, war ihr Kampfeswille ungebrochen, doch in diesem Moment überwog die Angst. Dass sie um ihr Leben fürchteten, war gut, weil es bedeutete, dass sie sich nicht zu irgendwelchen Dummheiten verleiten ließen. Er wollte nicht noch mehr Blut vergießen, schließlich benötigte er Leute, die anpacken konnten, da sie zukünftig für ihn die Felder bestellen würden. Allerdings konnte es nichts schaden, wenn er die Gefangenen noch eine Weile über seine Absichten im Ungewissen ließ.

Wulfrum wandte sich von den Gefangenen ab und begegnete dem eindringlichen Blick seines Fürsten.

Mit gesenkter Stimme sprach Halfdan: „Verteidige diesen Ort hier gut, Wulfrum. Seine Lage an der Straße nach Norden macht ihn für uns strategisch bedeutsam.“

„Ihr könnt Euch darauf verlassen.“

„Ich weiß.“ Halfdan klopfte ihm auf die Schulter. „Ich wüsste nicht, wem ich diese Aufgabe lieber übertragen könnte. Aber du wirst hier alle Hände voll zu tun haben. Das Ganze sieht ungewöhnlich verwahrlost aus.“

Wulfrum schaute sich um. „Es hat wohl tatsächlich schon bessere Zeiten erlebt. Aber die werden wiederkommen, das verspreche ich.“

„Warum lässt ein Mann, der etwas auf seinen Namen hält, sein Anwesen so herunterkommen?“

„Ich kann es mir nicht erklären.“

„Es sei denn, es gab hier gar keinen Mann, der das Anwesen geführt hat“, überlegte Halfdan.

„Möglicherweise. Dennoch waren die Angelsachsen organisiert und haben sich tapfer zur Wehr gesetzt. Das deutet auf einen Anführer hin.“

„Dann könnte er im Verlauf des Kampfes gefallen sein.“

„Wahrscheinlich. Diese Leute haben schwere Verluste hinnehmen müssen. Ich werde nachfragen, ob ich etwas herausfinden kann.“

Bevor sie sich zu weiteren Spekulationen verleiten lassen konnten, wurden sie von zwei Kriegern unterbrochen, die einen Gefangenen heranbrachten. Die Hände des Mannes waren gefesselt, sein bleiches Gesicht war von einer Rußschicht bedeckt. Die Tonsur und die Kutte ließen keinen Zweifel daran, dass es sich um einen christlichen Priester handelte.

„Seht, was wir gefunden haben, Herr.“ Einer der Wächter zog verächtlich die Oberlippe hoch, während er auf den Gefangenen deutete. „Dieses Schwein hatte sich in der Scheune versteckt.“

„Versteckt?“ Voller Verachtung musterte Halfdan den Priester von oben bis unten. „Das wundert mich eigentlich nicht. So wie er aussieht, ist er ein ziemlich klägliches Exemplar. Er ist bestimmt schon fünfzig.“ Er drehte sich zu Wulfrum um. „Was soll mit ihm geschehen? Sollen wir ihn an die Tür seiner verfluchten Kirche nageln?“

„Ich bitte um Verzeihung, Herr“, warf der Wachmann ein. „Aber die Kirche haben wir niedergebrannt.“

Halfdan blickte zu einer dichten Rauchsäule, die in einiger Entfernung in den Himmel aufstieg. „Ah, tatsächlich. Zu schade. Nun, dann spießen wir ihn eben auf.“

Grinsend machten sich die Männer daran, den Befehl auszuführen, aber Wulfrum hob schnell eine Hand. „Nein, noch nicht. Er könnte noch von Nutzen sein.“ Er sah den zitternden Mann an. „Wie heißt du, Priester?“

„Pater Willibald, Herr.“

Halfdan schaute Wulfrum ungläubig an. „Du willst diesen rasierten Hund behalten?“

„Ja, das will ich.“

„Gut, wenn es so sein soll. Bringt ihn zu den anderen Gefangenen.“

Sichtlich enttäuscht zerrten die Wachen den Geistlichen hinter sich her.

„Lass einige von deinen Männern die Wälder durchsuchen“, schlug Halfdan dann vor. „Ich vermute, dass einige Diener sich dort versteckt haben, und wir sollten wertvolle Sklaven nicht einfach so entkommen lassen. Außerdem könnten sie sonst später noch für Ärger sorgen.“

Wulfrum nickte, da ihm der Gedanke ebenfalls gekommen war. „Das werde ich tun.“

„Lass die Verletzten in den Saal bringen, damit sie behandelt werden können. Einige der Frauen verfügen sicher über Heilkenntnisse. Wir müssen wissen, wer sie sind, damit sie sich an die Arbeit machen können.“

„Das sollte nicht allzu schwierig sein. Der Priester weiß es bestimmt.“

Wulfrum sollte recht behalten. Es war nur ein kurzes Gespräch mit dem Geistlichen nötig, um alle wichtigen Auskünfte zu bekommen. Als er die Namen hörte, musste er sich ein Lächeln verkneifen. Wie es schien, besaß seine zukünftige Ehefrau neben ihrer Schönheit noch ganz andere Talente. Er kehrte in den Saal zurück und nahm einen seiner Männer zur Seite. „Die Wachen sollen Lady Elgiva herbringen“, trug er dem Krieger auf. „Und die Frau mit Namen Osgifu.“

Dann setzte sich Wulfrum auf die Kante der langen Tafel und wartete. Es dauerte nicht lange, da kamen die Wachen mit den Frauen in den Saal. Ein oder zwei Schritte von Wulfrum entfernt blieben die beiden stehen und musterten ihn argwöhnisch.

„Wie ich gehört habe, seid ihr Heilkundige“, sagte er ohne Vorrede. „Ihr werdet helfen, die Verletzten zu behandeln.“

Er sah, wie in Elgivas Augen Trotz aufblitzte. Auch ihre Begleiterin schien es zu bemerken, denn sie legte ihr besänftigend eine Hand auf den Arm. Die beiden Frauen sahen einander kurz an. Schließlich antwortete die Ältere: „Das werden wir tun, Herr, aber ich brauche dafür meine Heilmittel.“

„Dann hol sie.“ Er deutete auf einen Wachmann. „Du gehst mit.“ Er wandte sich wieder Elgiva zu, die ihn nach wie vor mit einem unübersehbar feindseligen Blick bedachte. Als er im Gegenzug begann, sie ausgiebig zu mustern, fiel ihm auf, wie sie sich dagegen sträubte. „Ich werde dich im Auge behalten, Elgiva.“

„Denkt Ihr etwa, ich würde den Verletzten etwas antun? Dafür achte ich das Leben eines Menschen zu sehr.“

„Dann behandle die Verletzten.“

„Heißt das, dass ich Angelsachsen und Nordmänner gleichermaßen heilen soll?“

„Natürlich. Sklaven sind für mich auch von Wert.“

„Zu schade also, dass Ihr so viele getötet habt.“

„Das Los des Krieges“, meinte er. „Sie hätten sich ja ergeben können!“

„Um ihr Leben als Sklaven zu verbringen? Das kann nicht Euer Ernst sein.“

„Ist es auch nicht. Ich habe nur eine weitere Möglichkeit genannt.“

Ihre bernsteinfarbenen Augen loderten, doch er ließ sich davon nicht beeindrucken. Im nächsten Moment kehrte Osgifu mit einer Kiste zu ihnen zurück, in der sich Kräuter und Tränke befanden. Zögerlich sah sie Wulfrum an.

„Und?“, fragte er.

„Ich brauche auch heißes Wasser und saubere Tücher“, erklärte sie. „Und jemand muss helfen, Unterlagen für die Verletzten herzubringen.“

Er nickte dem Wachmann zu, der sie begleitet hatte. „Kümmere dich darum.“

Sofort machten die beiden sich auf den Weg, um alles Notwendige zu beschaffen. Als Wulfrum sich wieder zu Elgiva umdrehte, stellte er fest, dass sie sich nach wie vor nicht von der Stelle gerührt hatte. Er zog eine Braue hoch und sah, wie sie ihr Kinn ein wenig anhob. Einige Herzschläge lang trotzte sie einfach nur seinem Blick, erst dann wandte sie sich ab. Hätte sie das Aufblitzen in seinen Augen gesehen, wäre sie womöglich etwas schneller zur Tat geschritten, denn einen Augenblick später ließ Wulfrum sein Schwert schwungvoll mit der Breitseite auf ihrem Gesäß landen. Voller Entrüstung wirbelte sie herum.

„Widersetz dich mir noch einmal, Weib, und ich lege dich übers Knie.“

Er sprach diese Worte zwar leise aus, aber seine finstere Miene verriet ihr, dass er es ernst meinte. Ihr entgingen auch nicht die grinsenden Gesichter der Wikinger, die die kleine Szene beobachtet hatten. Kurz zögerte sie noch, doch als Wulfrum aufstand und einen Schritt auf sie zumachte, ergriff sie hastig die Flucht.

Es war noch hell, als die in den Wald ausgesandten Wikinger mit gut einem Dutzend gefesselter Gefangener zurückkehrten. Einige von ihnen waren verletzt, sie alle waren verdreckt und zerlumpt. Wulfrum betrachtete die Gruppe kurz und wandte sich an Ceolnoth, der einen der Suchtrupps geleitet hatte.

„Mehr habt ihr nicht gefunden?“

„Nein, Herr.“

„Nun gut. Haltet sie von den anderen Gefangenen getrennt. Ich werde mich später mit ihnen befassen. Bring ein paar der Frauen in die Küche, damit sie das Essen vorbereiten. Halfdan und seine Gefolgsleute werden heute Abend hungrig sein.“

„Jawohl, Herr.“

Ceolnoth saß ab und ging zu den gefangenen Frauen, die ihn ängstlich ansahen, und durchtrennte bei gut einem halben Dutzend die Fesseln, darunter auch bei Hilda. Wulfrum entging nicht, dass der Blick des jungen Mannes auf ihr deutlich länger verweilte als auf dem Rest der Gruppe. Unwillkürlich musste er lächeln. Offenbar war er nicht der Einzige, der Gefallen an einer angelsächsischen Frau gefunden hatte. Er sah den Frauen nach, dann schaute er hinauf zu dem Stockwerk, in dem er Elgiva zum ersten Mal begegnet war. Das Gemach, in dem sie sich versteckt hatte, war groß. Er würde es zu seinem machen … zu seinem und Elgivas gemeinsamem Gemach. Ihre Heirat würde sein Eigentumsrecht an diesem Land und seinen Leuten besiegeln.

Wie Elgiva darüber dachte, konnte er sich gut vorstellen. Sie war tatsächlich eine lebhafte Frau, und zudem sehr mutig. Das sah man daran, wie sie sich gegen Sweyn zur Wehr gesetzt hatte. Wulfrum erinnerte sich noch gut an den Ausdruck in den Augen des anderen Mannes, als sie ihn vor seinen Kameraden bloßgestellt hatte. Ähnlich finster hatte er ausgesehen, als Wulfrum die Frau für sich beansprucht hatte. Wären Eisenfaust und die übrigen Männer nicht mit im Raum gewesen, hätte Sweyn vermutlich darauf beharrt, Elgiva zurückzubekommen. Aber selbst dann hätte Wulfrum die Frau nicht wieder hergegeben, war ihm doch bei ihrem ersten Anblick klar gewesen, dass er sie für sich haben wollte.

Noch vor einer Woche hätte Wulfrum den Gedanken, sich eine Frau zu nehmen, weit von sich gewiesen, doch jetzt war er von der Idee sehr angetan. Immerhin war er bereits fünfundzwanzig Jahre alt, und er hätte sich längst eine Braut nehmen sollen. Aber bislang hatte keine Frau sein Interesse wecken können. Und nun, auf einmal, hatte sich das geändert. Als er an den Kuss dachte, den er Elgiva gestohlen hatte, musste er lächeln. Könnten Blicke töten, wäre er gleich darauf tot umgefallen. Dabei war er fest entschlossen, diesem Kuss noch viele weitere Küsse folgen zu lassen. Und wenn sie sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte, es würde ihr nichts nützen. Letztlich musste sie nachgeben, denn er war fest entschlossen, ihre Gegenwehr nach und nach einzureißen. So, wie er ihr auch die Kleidung nach und nach vom Leib reißen wollte …

„Herr?“

Wulfrum zuckte zusammen, riss sich aus seinem Tagtraum und wandte sich dem Boten zu. „Was ist?“

„Fürst Halfdan bittet um Eure Anwesenheit im Saal.“

„Ich bin schon unterwegs.“

Zurück im Saal, erstattete Wulfrum Bericht und sah sich um. Die heilkundigen Frauen waren nicht untätig gewesen. Die Krieger mit den schwersten Verletzungen hatten sie als Erste behandelt und dann auf provisorisch hergerichtete Lager gebettet. Inzwischen kümmerten sich Elgiva und ihre Gefährtin um die zahlreichen Verwundeten, die noch aus eigener Kraft gehen und stehen konnten.

„Diese Frauen verstehen ihr Handwerk“, stellte Halfdan fest. „Es ist von Nutzen, wenn man erfahrene Heilkundige zur Hand hat. Sie werden dir gute Dienste leisten.“

Dann wandte er sich ab und besprach etwas mit einem seiner Männer. Wulfrum beobachtete unterdessen Elgiva, die am anderen Ende des weitläufigen Raums einem Verletzten den Arm verband. Sie arbeitete tatsächlich zügig und zielstrebig und schien genau zu wissen, was sie tat. Aufmerksam betrachtete er die anmutigen Kurven ihres Körpers, den Schwung ihrer Hüften und ihrer Brüste. Die blonden Haare hatte sie zu einem langen Zopf geflochten. Im nächsten Moment drehte sie sich so, dass er sie im Profil sehen konnte. Der Anblick ihrer zarten, makellosen Haut war einfach nur wundervoll. Als hätte sie gespürt, dass sie beobachtet wurde, schaute sie sich suchend um und entdeckte ihn sofort. Prompt hob sie das Kinn ein wenig an und wandte sich ab, was ihm nur ein Lächeln entlockte. Für den Moment war sie vor ihm sicher, da es für sie noch genügend Wunden zu versorgen gab.

„Aber danach“, murmelte Wulfrum zu sich selbst, „werden wir weitersehen.“

Elgiva und Osgifu arbeiteten unverdrossen weiter. Es war bereits spät am Abend, als endlich die letzten Verwundeten zu ihnen gebracht wurden. Unter ihnen befand sich auch Aylwin, dessen Gesicht unter dem Schmutz und dem Blut wächsern wirkte. Ihm war ein Schwert tief in die Seite gestoßen worden, sein Waffenrock war mit Blut getränkt, doch sie fühlte noch einen schwachen Puls. Zügig schnitt sie den Waffenrock und das Hemd darunter auf, dann konnte sie die klaffende Wunde sehen. Sie war tief, aber zumindest war es ein glatter, sauberer Schnitt. Elgiva versuchte zuerst, die Blutung zu stillen. Als sich dabei auf einmal ein Schatten über sie schob, hob sie erschrocken den Kopf. Halfdan stand vor ihr und musterte einen Moment lang den Verletzten. So verschmutzt er auch war, konnte man dennoch deutlich erkennen, dass seine Kleidung die eines Edelmanns war.

„Wer ist das?“

Elgiva brachte kein Wort heraus, und so antwortete Osgifu. „Das ist Lord Aylwin.“

„Ein angelsächsischer Lord?“ Halfdan sah zwischen den beiden Frauen hin und her. „Dein Vater, Elgiva?“

„Nein, mein Vater ist tot.“

„Ah, dann vielleicht dein Ehemann?“ Halfdan griff unwillkürlich zum Heft seines Schwerts.

Elgiva schluckte einen entsetzten Aufschrei hinunter. Wenn Wulfrum sie tatsächlich heiraten sollte, dann durfte sie nicht bereits vermählt sein. Wenn der Wikinger Aylwin für ihren Ehemann hielt, würde er ihn auf der Stelle töten. „Er ist nicht mein Ehemann, aber ich bin ihm versprochen.“

Der Nordmann entspannte sich und meinte lachend: „Jetzt nicht mehr.“

Während sie ihm nachsah, atmete Elgiva tief durch, um sich zu beruhigen. Sie schaute kurz zu Osgifu, dann legte sie mit zitternden Fingern einen Verband an. Es war unwahrscheinlich, dass Aylwin die Nacht überleben würde, und insgeheim sagte sie sich, dass es sogar besser wäre, wenn er starb. Ansonsten erwartete ihn ein Leben in Sklaverei, in das er sich niemals fügen würde. Und erst recht würde er seine Verlobte nicht kampflos aufgeben. Elgiva schluckte angestrengt. Aylwin war noch einmal mit dem Leben davongekommen, aber für wie lange?

Sie und Osgifu arbeiteten weiter, bis alle Verwundeten versorgt waren. Die Sonne war bereits vor einer Weile untergegangen, und sie beide waren todmüde. Elgiva fragte sich, ob sie sich je wieder vom Gestank nach Blut und Tod würde befreien können, der ihr in der Nase hing. Jeder Knochen tat ihr weh, ihr Kleid starrte vor Blut und Dreck. Gemeinsam mit Osgifu zog sie sich ins Frauengemach zurück, und sobald sie sich davon überzeugt hatte, dass die Kinder gut aufgehoben waren, wusch sie Gesicht und Hände, um sich von den Erinnerungen an die letzten Stunden zu befreien.

„Ach, Gifu, so viele gute Männer wurden getötet.“

Obwohl die Angelsachsen tapfer gekämpft hatten, hatten sie am Ende eine bittere Niederlage erlitten. Nun waren die Nordmänner die neuen Herrscher, und jeder überlebende Angelsachse war ihnen ausgeliefert. Allein der Gedanke daran, wozu diese Horde fähig war, ließ ihr einen eisigen Schauer über den Rücken laufen.

„Aye, aber einige unserer Krieger sind entkommen. Die Wikinger haben Trupps ausgesandt, um nach ihnen zu suchen, doch sie werden nicht alle finden.“

„Sie werden uns aber auch nicht mehr helfen können“, entgegnete Elgiva. „Dafür ist es zu spät.“ Vor ihrem geistigen Auge sah sie wieder das Bild des Mannes mit den markanten Gesichtszügen und beängstigenden blauen Augen. Hastig verdrängte sie es und kämpfte die aufsteigende Panik nieder. Nein, sie würde den Wikinger nicht heiraten.

Osgifu unterbrach ihren Gedankengang, indem sie sagte: „Der Wald ist weitläufig und bietet viele Verstecke.“

„Aye, wenn man sich dort auskennt und weiß, wo man diese Verstecke findet.“

Elgiva wandte sich ab, und obwohl Angst und Verzweiflung ihr beinahe den Verstand vernebelten, kam ihr eine Idee. Sie kannte die Wege durch die Wälder bestens, weil sie dort oft zusammen mit Osgifu unterwegs gewesen war, um Heilkräuter zu sammeln. Sie konnte nicht abwarten, ob die Angelsachsen sich gegen die Eroberer auflehnen würden oder ob Aylwin durchkommen würde. So viel Zeit hatte sie nicht. Plötzlich bemerkte sie, dass die Luft im Gemach erstickend war. Langsam ging sie zur Tür.

Elgiva biss sich auf die Unterlippe. Wenn sie es unentdeckt bis zum Tor schaffte, hätte sie eine Chance, das freie Feld zu überqueren und sich in den Schutz der Bäume zu retten. Die Wikinger hatten ihr Lager in der entgegengesetzten Richtung aufgeschlagen. Wie es nach ihrer Flucht weitergehen sollte, wusste sie zwar noch nicht so genau, aber sie könnte versuchen, die anderen Landsleute zu finden, die der Wikingerhorde entkommen waren. Falls sie zahlreich genug waren, konnten sie sich zusammenschließen und die Invasoren überwältigen. Wenn nicht, würde sie eben weiterziehen, bis sie unbesetztes Gebiet erreichte. Alles war besser, als die Frau eines Wikingers zu werden.

Sie sah sich um, bis ihr Blick auf einen leeren Eimer fiel. Wenn sie behauptete, Wasser aus dem Brunnen holen zu wollen, war das ein guter Vorwand, den Raum zu verlassen. Sie nahm den Eimer.

„Was hast du vor?“, fragte Osgifu besorgt.

„Ich kann hier nicht bleiben, Gifu.“

„Elgiva, denk nach.“

„Das habe ich bereits getan. Ich kann nicht tun, was sie von mir verlangen.“

„Wenn du wegläufst, werden sie dich finden und wieder herbringen. Diese Männer sind gnadenlos. Wer weiß, welche Bestrafung sie sich für dich ausdenken werden!“

„Es kann nicht schlimmer sein als das, was sie mir ohnehin antun wollen.“

„Tu es nicht, ich flehe dich an.“

„Ich kann nicht bleiben, um mit dem Wikinger verheiratet zu werden. Ich muss Hilfe holen. Du hast gesagt, dass einige unserer Männer in den Wald geflohen sind. Ich werde nach ihnen suchen.“

„Elgiva, warte doch!“

Aber sie hatte sich bereits auf den Weg zum Brunnen gemacht. Dabei schaute sie sich verstohlen um, da sie fürchtete, jeden Moment entdeckt zu werden. Nichts geschah, und sie erreichte unbehelligt den Brunnen, stellte den Eimer ab und sah sich abermals unauffällig um. Noch immer war niemand zu sehen, also nahm sie all ihren Mut zusammen und ging gemächlich zum Tor, um niemanden durch übertriebene Eile auf sich aufmerksam zu machen. Bei jedem Schritt rechnete sie damit, dass jemand sie aufhielt, doch auch das geschah nicht. Am Tor angelangt, warf sie einen Blick nach draußen, auch dort war alles verlassen. Der Weg war frei! Sie raffte ihre Röcke, dann rannte sie so schnell sie nur konnte über das freie Feld in Richtung Waldrand. Sie lief und lief, vergaß alles um sich herum, jetzt zählte nur noch, Ravenswood hinter sich zu lassen. So bemerkte sie zunächst nicht den Reiter, der ihr folgte.

Als sie das Hufgetrappel endlich wahrnahm, war der Reiter bereits dicht hinter ihr. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah einen bedrohlich wirkenden Mann auf einem riesigen schwarzen Pferd. Mit letzter Kraft rannte sie weiter, von Verzweiflung getrieben. Die ersten rettenden Bäume waren keine hundert Schritt mehr entfernt. Wenn sie sie erreichte, würde sie vielleicht entkommen. Die Hufschläge hinter ihr kamen näher und näher, sie dröhnten in ihren Ohren und übertönten noch das laute Pochen ihres Herzens. Nur noch ein paar Schritte … aber da beugte sich der Reiter auch schon zur Seite, schlang ihr einen Arm um die Taille und riss sie hoch. Elgiva schrie auf, als sie bäuchlings über den Sattel gezogen wurde, sodass sie auf den Knien des Reiters lag. Er ließ sein Pferd noch eine Weile weitergaloppieren, sodass sie bald jeden Knochen in ihrem Körper spürte. Wut und Angst brodelten in ihr, während sie versuchte durchzuatmen. Schließlich hörte sie eine vertraute Stimme.

„Wolltest du dich davonschleichen, Elgiva?“

Ihr Magen verkrampfte sich. Wulfrum! Mit aller Macht versuchte sie, sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien, aber er musste nur ihr nur eine Hand auf den Rücken legen, und schon war es ihr unmöglich, sich aufzurichten oder sich auch nur umzudrehen. Schließlich brachte er sein Pferd zum Stehen.

„Lass mich los, Grobian! Dänischer Trottel!“

„Grobian? Dänischer Trottel? Das sind schwere Beleidigungen.“ Wulfrum betrachtete sie interessiert von oben herab. „Mir scheint, ich muss dir erst mal Manieren beibringen.“

Ihr wollt mir Manieren beibringen? Ein Barbar?“

„Du hast mir wohl vorhin nicht richtig zugehört, Weib, als ich dir sagte, was passiert, wenn du dich mir noch einmal widersetzt.“

Plötzlich erinnerte sie sich an seine Warnung, und ihr Gesicht begann noch mehr zu glühen, da ihr klar wurde, in welch unvorteilhafter Haltung sie auf dem Pferderücken lag.

„Das würdet Ihr nicht wagen!“

„Ach nein?“

Seine flache Hand traf sie mit lautem Klatschen, und Elgiva stieß einen beleidigten Schrei aus, während sie abermals versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien.

„Lasst mich los! Bastard! Schwein! Ihr sollt mich loslassen!“

Ihre unglückliche Wortwahl brachte ihr ein weiteres halbes Dutzend Schläge ein, die sie mit wütenden Schreien kommentierte. Dabei schluckte sie die Beschimpfungen, die ihr in den Sinn kamen, jedoch herunter, da er sie nur zum Anlass genommen hätte, sie weiter zu züchtigen.

„Du gehst nirgendwohin“, sagte er schließlich. „Du gehörst jetzt mir, und was mir gehört, darauf passe ich auf.“

Wutschnaubend vergaß sie angesichts dieser maßlosen Arroganz ihren eben gefassten Vorsatz. „Ich werde Euch niemals gehören, Wikingerabschaum!“

Das war ein Fehler gewesen. Etliche Male sauste die Hand auf ihre Kehrseite herab, noch härter als zuvor. Elgiva schnappte nach Luft.

„Bist du fertig?“, fragte er. „Ich könnte noch lange so weitermachen. Und du?“

Ihr lagen noch viele Schmähungen auf der Zunge, seine Geburt, seine Familie und sein Schicksal nach dem Tod betreffend, aber sie zwang sich dazu, den Mund zu halten. Stattdessen schnaubte sie nur wütend.

Wulfrum grinste amüsiert und ließ sein Pferd wieder antraben. Gemächlich trottete es zurück in Richtung Ravenswood, während Elgiva der fürchterliche Verdacht beschlich, dass Wulfrums Strafe für ihren Fluchtversuch noch nicht vorüber war.

Autor

Margaret Moore

Ihre ersten Schreibversuche als Autorin machte Margaret Moore mit acht Jahren, als der verwegene Errol Flynn sie zu einer Geschichte inspirierte. Wenig später verfiel sie dem kühlen Charme von Mr. Spock aus Raumschiff Enterprise. Er ließ bei sich keine Emotionen zu – ganz anders als die Helden in ihren Romances!...

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