Historical Platin Band 11

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  • Erscheinungstag 28.07.2017
  • Bandnummer 0011
  • ISBN / Artikelnummer 9783733768416
  • Seitenanzahl 750
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sally Cheney, Deborah Simmons, Nicola Cornick

HISTORICAL PLATIN BAND 11

PROLOG

London 1855

Eine Karte.“

„Zwei.“

„Ich bleibe bei diesen.“

Die Karten wurden wie verlangt um den Tisch herum ausgeteilt. Schließlich schnipste der Geber einige Karten für sich selbst vom Stoß.

„Der Geber kauft drei“, verkündete er.

Die Männer auf den Stühlen betrachteten die Karten, die sie in Händen hielten, mit unterschiedlich finsteren Mienen. Ziemlich unbekümmert dagegen wirkte der Geber selbst, was zweifellos auf den beeindruckenden Stapel Münzen und Geldscheine, die vor ihm auf dem Tisch lagen, zurückzuführen war.

„Mr. Phillips, ich glaube, Sie müssen setzen“, erinnerte er den Mann neben sich sanft.

Dessen Gesichtsausdruck verdüsterte sich noch mehr. „Ein Pfund“, knurrte er endlich, legte eine schwere Münze in den Topf und warf dem Spieler zu seiner Linken einen herausfordernden, giftigen Blick zu.

Mr. Abbot hätte seinem Mitspieler trotz dessen strenger Miene die Stirn geboten, hätte der gebende Gentleman ihm nur eine weitere Bildkarte gegeben, aber mit diesem Blatt …

Abbot seufzte tief und schob seine Karten zusammen. „Ich fürchte, die Vorsicht gebietet mir, mich vom Schlachtfeld zurückzuziehen“, sagte er und legte die Karten umgedreht vor sich hin.

„Mr. Carstairs?“, mahnte prompt der Geber.

„Ich bin dabei“, meinte der dritte säuerlich und nahm einige Münzen von dem zusammengeschmolzenen Stapel, den er vor sich liegen hatte.

„Der Geber geht mit.“ Eine Banknote gesellte sich zu dem schon im Topf liegenden Geld.

Die vier Männer – Phillips, Abbot, Carstairs und der Geber, Mr. Peter Desmond – waren keine engen Freunde. Eigentlich waren sie nur flüchtig miteinander bekannt. Sie trafen sich mehrere Male im Jahr, um Karten zu spielen. Mindestens einer von ihnen zog stets als Verlierer von dannen, was nicht eben dazu beitrug, sich untereinander sympathischer zu finden.

„Mr. Phillips? Möchten Sie erhöhen oder aussteigen?“

„Ich möchte vieles tun“, antwortete Phillips. „Aber Wünsche gehen nicht immer in Erfüllung, nicht wahr? Ich passe.“

„Tja, Mr. Carstairs, wieder einmal scheint es, als ob nur wir beide dieses Blatt ausspielen würden“, meinte der Mann, der gegeben hatte. Seine Stimme war sanft, sein Auftreten weltmännisch und von vollendetem Charme.

Mr. Carstairs stellte sich ihn mit eingeschlagener, blutiger Nase vor und überlegte, wie weltmännisch und charmant er dann trotzdem noch wirken würde. Bei jedem Spiel, das die vier Männer machten, stand Mr. Desmond für gewöhnlich mit Geld in der Tasche vom Tisch auf, und Mr. Carstairs verabschiedete sich meist mit leeren Händen.

„Sie haben das meiste Geld, das ich hergebracht habe, an sich genommen, und ich möchte zu gern einen Teil dieser Verluste wettmachen. Alles oder nichts, Desmond.“

Carstairs schob den Rest seiner Barschaft in die Mitte des Tisches.

Desmond nahm die Zigarre, die in dem Aschenbecher neben seinem Ellbogen schwelte, steckte sie zwischen die Lippen und studierte aufmerksam die Karten in seiner Hand. Noch eingehender jedoch betrachtete er den Mann, der neben ihm saß. In der Rauchwolke, die er ausstieß, blinzelte er, aber weder der Qualm noch die zusammengezogenen Augenbrauen konnten die Tatsache verhehlen, dass er ausgesprochen gut aussah. Sein Haar war dunkelbraun, die Augen tiefgrau, und sein kantiges Kinn wies auf einen eisernen Willen hin.

Er schnippte die Asche von seiner Zigarre, steckte sie wieder in den Mund und hielt sie zwischen den Zähnen. „Unglücklicherweise, Mr. Carstairs, befinden Sie sich nicht in der Position, Bedingungen zu stellen“, meinte er, ein ironisches Lächeln auf den Lippen. „Ich brauche nur zu erhöhen, damit Sie verlieren.“

Er schickte sich an, genug Münzen und Scheine aufzunehmen, um seinen Worten die Tat folgen zu lassen, aber Carstairs gebot ihm beinahe panisch Einhalt. „Warten Sie!“, rief er. „Ich sagte, alles oder nichts.“

„So ist es“, pflichtete Desmond ihm bei. „Und Sie haben alles gesetzt und nichts mehr übrig.“

„Nein, nein. Ich habe …“

„Was, Mr. Carstairs?“

„Ich habe … geben Sie mir ein Blatt Papier.“

„Also, Mr. Carstairs, Sie kennen doch unsere Abmachung. Wir waren uns einig, dass wir nur um die Summen spielen, die wir mit an den Tisch gebracht haben.“ Dieser Umstand schien den Gentleman ehrlich zu bekümmern.

„Ich rede nicht von Geld“, murmelte Carstairs, der selbst einen Zettel und einen Stift in seiner Tasche gefunden hatte und etwas kritzelte, während er sprach. „Etwas Besseres als Geld.“ Er griff noch einmal in seinen Rock und nahm eine kleine Brieftasche heraus. Nachdem er einen Moment lang ihren Inhalt durchwühlt hatte, zog er eine abgegriffene und zerfledderte Daguerreotypie hervor. Diese reichte er zusammen mit dem Papier über den Tisch.

„Wertvoller als Geld? Das bezweifle ich“, meinte Desmond, nahm die Gegenstände, die Mr. Carstairs ihm zugeschoben hatte, und betrachtete sie. Er zog die Augenbrauen hoch und sah, Bestätigung heischend, seinen Mitspieler an. „Wirklich?“, fragte er.

„Ich garantiere dafür“, sagte Carstairs fest.

Desmond nahm die Zigarre, die zwischen seinen Zähnen steckte, und legte sie behutsam zurück in den Aschenbecher. „Ich gebe zu, dass Sie meine Neugierde geweckt haben.“

„Dann nehmen Sie den Einsatz an?“, drängte Carstairs.

Desmond zögerte noch einen Augenblick, bevor er schließlich nickte. „Nun gut“, willigte er ein. „Das könnte ganz … lustig werden. Meine Gewinne gegen dies hier.“ Er hielt das Papier und die Daguerreotypie hoch. „Was haben Sie, Mr. Carstairs?“

Carstairs lächelte selbstgefällig und deckte seine Karten auf, damit die anderen sie sehen konnten.

„Full House!“, erklärte er triumphierend und breitete die Karten vor sich auf dem Tisch aus.

Mr. Phillips und Mr. Abbot murmelten ehrfürchtig.

Mr. Desmond betrachtete die drei Buben und die beiden Zweier und schüttelte leicht den Kopf.

„Nun“, meinte er, „das schlägt auf jeden Fall einen Dreier.“ Sorgfältig legte er drei Dreien auf den Tisch.

Carstairs lachte in sich hinein und griff über den Tisch, um das Geld an sich zu nehmen.

„Allerdings“, fuhr der jüngere Gentleman fort, „schlägt ein Full House noch lange keinen Vierer“, und kühl legte er eine vierte Drei ab.

Carstairs sank auf seinen Stuhl zurück, als habe er einen Schlag bekommen.

„Kopf hoch, alter Junge“, sagte Desmond und zog seinen Gewinn, einschließlich des Blatt Papiers und der sepiabraunen Fotografie, über den Tisch. „Hier haben Sie eine Kleinigkeit, damit Sie nach Hause kommen.“ Er suchte die schwere Münze heraus, die Mr. Phillips’ letzter Einsatz gewesen war, und warf sie dem anderen über den Tisch hinweg zu. „Ich möchte Sie auf keinen Fall davon abschrecken, sich beim nächsten Mal noch mehr Geld von mir abnehmen zu lassen. Ah, aber in dieser Sache …“ Er nahm das Bild und betrachtete es genüsslich, „… werde ich auf der vollen Begleichung der Schuld bestehen.“

„Selbstverständlich“, erwiderte Carstairs. „Wir stehen Ihnen zur Verfügung.“

„Worum geht es eigentlich?“, erkundigte sich Mr. Phillips neugierig und wies mit einem Nicken auf Desmond und das Bild, das er in Händen hielt.

„Ich dachte, wir hätten beschlossen, nicht um Wechsel zu spielen“, meinte Abbot vorwurfsvoll.

„Das haben wir tatsächlich. Aber Mr. Carstairs hat mir keinen Schuldschein angeboten. Es scheint, dass er mir den Anspruch auf sein Mündel abgetreten hat, eine gewisse Miss Marianne Trenton.“

Die beiden anderen Gentlemen lachten, während Desmond zwinkernd nach seiner Zigarre griff.

1. KAPITEL

Dafür, dass der Sommer gerade erst begonnen hatte, war die Nacht zu heiß. Die Fenster standen offen, doch nur ab und zu wehte eine frische Brise ins Zimmer.

Ein Mädchen saß bekleidet am Fußende des Bettes.

Für diese Jahreszeit war die junge Frau zu warm angezogen, und angesichts der späten Stunde trug sie das Oberteil viel zu hochgeschlossen. Daher war es kein Wunder, dass ihr kleine Schweißperlen auf der Stirn standen. Aber der Grund, weshalb ihr der Schweiß aus den Poren trat und in Rinnsalen langsam den Rücken herunterrann, war in Wirklichkeit ein anderer.

Marianne wartete auf ihren Onkel Horace. Übellaunig war er meistens, aber wenn er beim Kartenspiel verlor, wurde er gewalttätig. Und leider verlor Horace Carstairs fast immer, wenn er spielte.

Carstairs war nicht ihr leiblicher Onkel. Nachdem ihre Eltern im vergangenen Jahr gestorben waren – ihr Vater an den Folgen eines Jagdunfalls und ihre Mutter drei Monate später an einer Influenza, die sie sich in ihrem durch die Trauer geschwächten Zustand zugezogen hatte –, war das Mädchen durch Gerichtsbeschluss Carstairs zugewiesen worden.

„Ich kann das Mädchen nicht aufnehmen“, hatte Carstairs eingewandt. „Ich bin unverheiratet. Sie werden doch einem alten Junggesellen wie mir keine solche Verantwortung aufbürden wollen?“

Aber das Gericht hatte Mr. Carstairs daran erinnert, dass die Justiz, da die junge Dame unter staatlicher Vormundschaft stand, über sie und ihr bescheidenes Erbe verfügen konnte. Carstairs hätte sich vielleicht weiter gewehrt, aber der Richter erklärte sich bereit, ihm als Vormund aus dem Erbe des Mädchens eine Jahresrente auszusetzen.

Mr. Carstairs bestritt seinen Lebensunterhalt durch verschiedene Tätigkeiten, von denen einige, wenn auch nicht alle, legal waren, und da er als Geschäftsmann ebenso wenig gewitzt war wie als Kartenspieler, hatte er gegen zusätzliche Einkünfte nichts einzuwenden. Das Entgelt, das der Richter ihm aussetzte, war ihm damals also ganz gelegen gekommen.

Marianne Trenton, die noch vor kurzem ein Heim und eine liebevolle Familie besessen hatte, musste nicht nur mit ihrer Trauer fertig werden, sondern fand sich auch noch mit einemmal als Mündel eines Mannes wieder, den sie nicht kannte und binnen kurzem verabscheute.

Als Marianne endlich hörte, wie unten ein Schlüssel im Türschloss herumgedreht wurde, sprang sie erschrocken auf.

Ängstlich lauschte sie auf die Schritte ihres Onkels, der im Haus umherging und seinen Überrock an den Garderobenständer neben der Vordertür hängte. An dem Tisch in der Halle blieb er stehen, um die Post durchzusehen. Sie dachte, er würde vielleicht in den Salon gehen, um die Zeitung zu lesen, aber nach einer kurzen Stille, in der er, wie sie sich vorstellte, die Schlagzeilen überflog, näherten seine Schritte sich der Treppe.

Die schweren Stiefeltritte klangen, als stammten sie von einem kräftigen Mann, aber Mr. Carstairs war nicht muskulös, sondern hager und schmächtig. Seine Schultern waren schmal, und sein Gesicht mit der spitzen Nase und den dicht zusammenstehenden Augen wirkte verhärmt.

Marianne erstarrte. Wenn heute Abend alles gut verlaufen war, würde Onkel Horace weitergehen, den Flur entlang und in sein eigenes Zimmer. Dann könnte sie sich endlich entkleiden und ins Bett schlüpfen. Aber wenn er verloren hatte, würde er die Tür aufstoßen und über sie herfallen, ohne dass sie sich wehren konnte. Das Ausmaß der Misshandlungen, die sie würde erdulden müssen – brutale Schläge – hing stets von der Höhe seiner Verluste ab.

Seine Schritte näherten sich der Tür. Weit riss sie die grünen Augen auf, ihr Atem wurde flach, und jetzt hielt sie ihn an. „Na los, nur zu“, flüsterte sie, als er vor ihrer Tür stehen blieb. Voller Angst wartete sie darauf, dass er mit dem Stiefel gegen das dünne Holz trat, das sich zwischen ihnen befand.

Stattdessen klopfte es leise an ihrer Tür.

Verblüfft stieß sie den angehaltenen Atem aus. „Herein“, sagte sie.

Langsam öffnete sich die Tür.

„Du bist noch auf“, begann Onkel Horace.

„So ist es“, antwortete sie.

„Konntest du nicht schlafen?“

„Nein, ich habe gewartet …“ Sie verstummte.

„Gewartet? Auf mich? Ich bin gerührt, Marianne.“

Sie schwieg.

„Ich habe noch einmal über unsere Lage nachgedacht“, fuhr er fort. „Du weißt, dass ich nicht unbedingt geeignet bin, ein junges Mädchen großzuziehen, und ich vermute, dass du hier nicht glücklich gewesen bist. Zu oft warst du allein, ohne eine Möglichkeit, unter Leute zu kommen. Du bist in einem Alter, in dem du andere Menschen kennen lernen solltest.“

„Also, ich …“

Carstairs unterbrach sie. „Vielleicht ist es Zeit, dass wir uns nach einer neuen Stelle für dich umsehen. Etwas mit einer besseren Perspektive.“ Er hatte sich halb abgewandt und beiläufig gesprochen, als wäre ihm all das eben erst eingefallen, aber jetzt betrachtete er sie aufmerksam von der Seite und beobachtete ihre Miene.

„Eine neue Stelle? Das hört sich an, als sollte ich mich nach einer Arbeit umsehen. Meinst du das, Onkel Horace?“

„Nein, nein. Ich habe mich falsch ausgedrückt. Aber eine andere Umgebung, einen größeren Bekanntenkreis, das schlage ich dir vor.“

„Soll ich jemand besuchen? Vielleicht eine meiner alten Freundinnen?“, fragte sie.

„Das auch wieder nicht“, erwiderte Carstairs ausweichend.

„Was dann?“

„Es ist keine deiner alten Freundinnen, sondern ein mir bekannter Gentleman. Du wirst Ende der Woche abreisen.“

„Abreisen?“

„Am Freitagmorgen wirst du mit einer Kutsche abgeholt. Bis dahin musst du reisefertig sein.“

„Eine Kutsche? Und wohin bringt die mich?“, fragte Marianne, die sich die größte Mühe gab, diesen furchteinflößenden Mann, der ihr Vormund war, zu verstehen.

„Der Herr besitzt ein Landgut in der Umgebung von Kingsbrook. Ich glaube, er möchte dich dort unterbringen.“

„Ich soll London verlassen?“

„Es ist nicht weit“, erläuterte Carstairs. „Und du wirst zweifellos in einigen Wochen wieder zurück sein.“

Horace Carstairs musste sich zu seiner Schande eingestehen, dass er bis zum heutigen Abend die Möglichkeiten, die Marianne ihm eröffnete, nicht erkannt hatte. Sie war ein unverdorbenes junges Mädchen und, soweit er wusste, Jungfrau. Wenn Desmond ihrer überdrüssig war, konnte er ihre Dienste von neuem verkaufen.

„Und wer ist nun der Herr, den ich besuchen soll?“, wollte Marianne wissen. Endlich stellte sie die Frage, die sie am meisten beschäftigte.

Doch ihr Vormund schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern. „Du kennst ihn nicht“, sagte er.

„Ein Philanthrop.“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Für Marianne war offensichtlich, dass jeder Mann, der sie von Onkel Horace fortnahm, ein Menschenfreund sein musste.

Als Marianne am nächsten Morgen aufstand, teilte man ihr mit, Mr. Carstairs sei in aller Frühe nach Barnett aufgebrochen, um einen Kredit aufzunehmen.

Sie war verwirrt und erschrocken. Onkel Horace war abgereist, ohne ihr das Geringste über ihre neuen Lebensumstände mitzuteilen. Als Bette sie über Mr. Carstairs’ plötzliche Geschäftsreise informierte, war die junge Frau mit einemmal nicht mehr sicher, ob sie die gestrige Episode nicht geträumt hatte. Es war spät gewesen, und vielleicht war sie eingeschlafen. In ihrer unbequemen Lage am Fußende des Bettes hatte sie wohl besonders lebhaft geträumt.

Mit der Nachmittagspost traf jedoch ein Brief ein, der ihre vage Erinnerung bestätigte.

Miss Trenton,

Ihr Vormund hat Sie inzwischen zweifellos über Ihren bevorstehenden Umzug in Kenntnis gesetzt. Ich freue mich darauf, Sie kennen zu lernen. Mein Diener wird am Freitagmorgen um sieben bei Ihnen sein. Die Fahrt nach Kingsbrook wird den größten Teil des Tages in Anspruch nehmen, sodass Sie früh aufbrechen müssen. Bis dahin verbleibe ich, le tiens, ma biche. P. Desmond.

Marianne, deren Französischkenntnisse äußerst dürftig waren, ahnte nicht, dass Mr. Desmond sie seinen „Schatz“ genannt hatte, noch war ihr klar, wie unverschämt vertraulich die letzte Wendung des Gentleman gewesen war.

Freitagmorgen stand Marianne bei Sonnenaufgang auf. Als um kurz vor sieben Mr. Desmonds Kutscher läutete, war sie angekleidet und erwartete ihn.

Wie Mr. Desmond in seinem Brief angekündigt hatte, nahm die Fahrt zu seinem Anwesen in der Nähe von Reading den Vormittag und den größten Teil des Nachmittags in Anspruch. Es war heiß. Um acht Uhr bedauerte Marianne schon, dass sie ihr dreiteiliges Kostüm gewählt hatte, das nur mit der Jacke komplett wirkte.

An einem kleinen Gasthaus am Wegesrand hielten sie an, um zu Mittag zu essen. Marianne war geradezu gerührt, als der Kutscher zwei Einpfundnoten hervorzog und erklärte, Mr. Desmond habe sie ihm mitgegeben, um für alle Ausgaben aufzukommen, die sich unterwegs vielleicht ergeben würden.

So genoss Marianne ihr Mahl außerordentlich und trank sogar ein Glas Wein, der sie wunderbar in die Lage versetzte, den Rest der Fahrt in der schaukelnden, drückend heißen Kutsche zu verschlafen.

Erschrocken fuhr sie hoch, als der Kutscher den Wagenschlag aufriss. Er hatte sich als „Rickers“ vorgestellt.

„Wir sind da, Miss“, verkündete der Fahrer jetzt.

„Wo denn?“ Marianne fühlte sich noch ganz benommen vom Genuss des Weines.

„Kingsbrook.“ Mit einer weit ausholenden Geste riss Rickers die beiden Türen der Kutsche auf, und Marianne verschlug es den Atem.

Soeben hatten sie eine Holzbrücke über einen Bach überquert, nach dem zweifellos das Gut benannt war. Die Ufer waren mit Moos und zauberhaften rosa Tausendschönchen bewachsen. Die ungezähmte Schönheit der Landschaft setzte sich im Park fort, der, wie Marianne sogleich erkannte, bepflanzt und instand gehalten werden musste, denn zwischen den Bäumen und Büschen wuchsen in leuchtendbunten Beeten Fliederspeer und Mohn, Dahlien und Azaleen.

Das Bild wurde abgerundet durch ein Reh, das zum Bach hinuntertrippelte. Es beäugte sie vorsichtig, zeigte jedoch keine Angst.

Und dann richtete Marianne den Blick auf das Haus, und ihr stockte der Atem. Das Herrenhaus von Kingsbrook erhob sich aus den umliegenden Feldern und Wiesen und machte auf das junge Mädchen den Eindruck eines Märchenschlosses. Dann atmete Marianne wieder gleichmäßig. Die durch den Wein hervorgerufene Schläfrigkeit verflog vollständig und wich einem dumpfen, pochenden Kopfschmerz, und sie erkannte, dass das Gebäude natürlich nicht ganz so ehrfurchtgebietend war, wie sie zuerst geglaubt hatte.

Es besaß drei Stockwerke. Im Erdgeschoss verliefen zu beiden Seiten der massiven, exakt in der Mitte platzierten Doppeltüren hohe Fenster. Die Fenster im ersten Stock waren kleiner und die Fensterläden unter dem Dach nicht viel größer als ein Taubenschlag.

Rickers half Marianne aus der Kutsche, und während er sie zum Haus geleitete, erkannte sie, dass ihr Eindruck von überwältigender Größe zum Teil darauf beruht hatte, dass das Gebäude in so auffälligem Gegensatz zu seinem verwilderten Hintergrund stand. Wäre es von einem gepflasterten Hof umgeben gewesen, mit einer breiten, geschwungenen Auffahrt, dann hätte es die Sinne nicht dermaßen getäuscht und nicht so kolossal gewirkt.

Dennoch war es das größte Privathaus, in dem sie je gewohnt hatte, und sie musste sich zusammennehmen, um nicht Mund und Augen aufzusperren, wenn sie zu ihm aufblickte. Zuerst schien Rickers sie nur ziellos durch das hohe Gras zu führen, doch nach kurzer Zeit erkannte sie, dass unter ihren Füßen flache, ebene Steine lagen. Der Weg war, genau wie die Beete mit den bunten Mohnblumen, sorgfältig und peinlich genau so geplant worden, dass einem der Eindruck ungekünstelter, natürlicher Schönheit vermittelt wurde.

Als sie die Türen fast erreicht hatten, verbreiterte sich der Weg endlich, und der Rasen war gemäht. Offensichtlich hatte Mr. Desmond ein kleines Zugeständnis an Besucher und Gäste gemacht, die es vielleicht zivilisiert bevorzugten. Um das Haus herum verlief ein gepflasterter Fußweg, und die Blumen, die vor den Fenstern blühten, mussten sich mit Pflanzenkübeln begnügen. Doch man musste dem Gebäude schon sehr nahe kommen, ehe die Illusion eines Märchenschlosses in einem verwunschenen Tal verflog.

Rickers blieb vor den hohen Doppeltüren stehen.

„Mrs. River wird Ihnen alles zeigen“, meinte er.

„Mrs. River?“

„Die Wirtschafterin hier auf Kingsbrook.“

„Und wo befindet sich Mr. Desmond?“, fragte Marianne. Sie hatte es eilig, den Gentleman kennen zu lernen, ihm für seine Großherzigkeit zu danken.

„Ach, ich schätze, er ist irgendwo in der Nähe. Lassen Sie sich ein bisschen von Mrs. River herumführen, und dann merken Sie’s schon, wenn er auftaucht.“ Rickers stellte Mariannes Habseligkeiten ab und tippte grüßend an seine Mütze.

„Miss Trenton?“ Erschrocken drehte Marianne sich um und sah sich einer hoch gewachsenen, grobknochigen Frau gegenüber, die die Tür geöffnet hatte. Sie war nicht schön. Ihr Haar begann an den Schläfen zu ergrauen und war zu einem Knoten zurückgebunden, aber ihr Gesicht war interessant. Sie hörte gewiss mehr als nur das, was gesprochen wurde, und sie schien wahrheitsliebend zu sein. Marianne war Mrs. River auf Anhieb sympathisch.

„Miss Trenton, nehme ich an. Wir haben Sie erwartet. Wollen Sie nicht hereinkommen?“ Nach ihrem eisigen Tonfall zu urteilen, hatte die Haushälterin ihrerseits keinen vorteilhaften Eindruck von Marianne.

„Ja. Vielen Dank“, hauchte Marianne und griff nach einer ihrer Taschen.

„Lassen Sie nur. James wird sie Ihnen nach oben bringen.“

Mrs. River trat zur Seite, um Marianne einzulassen, und sie trat über die Schwelle in die dunkle Eingangshalle. „Ist Mr. Desmond …“

„Mr. Desmond hatte heute Vormittag geschäftlich zu tun. Er hat Anweisung gegeben, Ihnen den Tee zu servieren, sobald Sie eintreffen, und sagte, er werde versuchen, so früh zurück zu sein, dass er Ihnen Gesellschaft leisten kann. Der Tee ist fertig, Miss Trenton, aber vielleicht mögen Sie sich ja zuerst ein wenig frisch machen?“

Mrs. Rivers Stimme klang jetzt nicht mehr unfreundlich, sondern ausdruckslos. Angesichts der offenen Missbilligung der Haushälterin beschlich Marianne ein flaues Gefühl in der Magengegend.

„Ich würde mir sehr gern Gesicht und Hände waschen, falls das möglich ist“, antwortete sie dennoch mit einem Lächeln.

„Sicher, Miss Trenton. Alice, führe Miss Trenton in ihre Räume, und bring sie dann wieder in den vorderen Salon herunter, wenn sie so weit ist“, sagte Mrs. River, und Marianne sah verblüfft, wie unmittelbar neben ihr ein Dienstmädchen mit dunklem Rock, weißem Häubchen und weißer Schürze aus dem Nichts aufzutauchen schien.

„Sehr wohl, Mrs. River. Wenn Sie mir folgen würden, Miss?“, bat die Zofe sie.

Alice führte sie durch die Eingangshalle, die Treppe hinauf und die Galerie entlang. „Das ist Mr. Desmonds Suite“, sagte sie und räusperte sich. „Und dies hier …“, sie wies auf die nächste Tür, die, wie Mr. Desmonds Zimmer, auf der von den Eingangstüren im Erdgeschoss abgewandten Seite lag, „… sind Ihre Räume.“

Räume?

Tatsächlich war die Zimmerflucht, die Alice ihr zeigte, fast so groß wie das Häuschen, in dem sie aufgewachsen war und zusammen mit ihren Eltern bequem Platz gehabt hatte.

„Gehört das alles mir?“, flüsterte Marianne. „Soll ich hier wohnen – allein, meine ich?“

„Sicherlich, Miss. Das heißt, außer Sie laden … ich meine, solange Sie nicht … jemand anders hereinbitten. Ich wollte damit nicht andeuten …“ Das Hausmädchen, das kaum älter als Marianne war, stammelte, errötete tief und verstummte schließlich völlig.

Marianne war so überwältigt von der Weitläufigkeit ihrer Zimmer, dass ihr die Verwirrung der Zofe kaum auffiel. Alice knickste tief und ließ sie daraufhin allein. Während sie die Tür schloss, schüttelte sie leicht den Kopf. Diese junge Frau war nicht die Art von Person, mit der sie nach den gedämpften Gesprächen zwischen Mrs. River und Mrs. Rawlins unten in der Küche gerechnet hätte.

In ihrer herrlichen Suite wusch Marianne sich das Gesicht in einer Porzellanschüssel mit Wasser und trocknete sich mit einem der flauschigen Handtücher, die in ihrem Badezimmer bereitlagen, ab. Anschließend ordnete sie sich das Haar mit einer Schildpattbürste, Teil eines eleganten Sets. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu, dann setzte sie eine für ein bedürftiges Waisenkind passende Miene auf. Bevor sie allerdings die Möglichkeit hatte, ihren Auftritt einzuüben, klopfte jemand an ihre Tür.

„Herein“, rief sie.

Alice schlüpfte ins Zimmer. „Er ist da, Miss. Mrs. River hat mich gleich nach oben geschickt, um Sie zu holen. Mr. Desmond hat es nicht gern, wenn man ihn warten lässt, und außerdem sagte Mrs. River, Sie wollten ihn gern sehen.“

„Mr. Desmond? Ja, natürlich“, sagte Marianne, legte die Bürste hin, strich ihr Kleid glatt und überprüfte ein letztes Mal ihr Spiegelbild. Endlich würde sie den liebenswürdigen alten Herrn kennen lernen und Gelegenheit haben, ihm für seine uneigennützige Güte zu danken.

2. KAPITEL

Mr. Peter Desmond stand vor einem der hohen Fenster, blickte in die herrliche, verwilderte Landschaft hinaus und hielt eine Teetasse mit Unterteller in der Hand. Das Nebeneinander von Wildnis und Zivilisation spiegelte sich auf eigentümliche Weise an ihm selbst wider.

Desmond trug einen eleganten maßgeschneiderten Anzug aus bestem Stoff. Hose und Jackett waren dunkelblau und die frisch gestärkte weiße Krawatte sowie das makellose Hemd verrieten ebenso seine hohe gesellschaftliche Stellung wie die zarte Teetasse aus edlem chinesischem Porzellan, die er in den Händen hielt.

Aber als er sich umwandte und Marianne ansah, wirkten sein Gesicht und seine Miene ebenso ungezähmt und atemberaubend wie das Panorama vor dem Fenster.

Einen Moment lang betrachtete er sie schweigend. Von wechselhaftem Licht beschienen, stand sie an einer Stelle, wo die Sonne durch einen grob gewirkten Spitzenvorhang fiel. Ihr Reisekostüm war in einem hellbraunen Farbton gehalten, um den Staub, der am Rock oder an der Jacke haften mochte, zu kaschieren, und mit ihrem dunkelblonden Haar und den großen grünen Augen erinnerte sie ihn an eine Dschungelkatze, die vorsichtig aus dem Unterholz trat und argwöhnisch die vor ihr liegende Landschaft in Augenschein nahm. Die Szene, die durch das Fenster hinter ihr zu sehen war und an einen tropischen Urwald erinnerte, vervollständigte das Bild.

Ihr Busen hob und senkte sich unter dem Rhythmus rascher Atemzüge. Sie beobachtete ihn nervös. Beinahe erweckte sie den Anschein, als wollte sie ihn angreifen oder aber fliehen. Wofür sie sich entscheiden mochte, hing wohl von seinen nächsten Schritten ab. Die Vorstellung nötigte ihm ein kaum merkliches Lächeln ab.

Marianne bedurfte nicht des Spiels von Licht und Schatten, um den ersten Eindruck zu verstärken, den dieser Mann auf sie machte – den eines wilden Tieres, das zum Sprung ansetzte. Dies war entschieden nicht der freundliche ältere Herr mit dem weißen Haar und den zittrigen Händen, den sie sich vorgestellt hatte. Mr. Desmond war sonnengebräunt, dunkel und ebenso kräftig und muskulös, wie ihr Onkel Horace hager war. Sein Haar war zu lang, und sein Blick, der unverhohlen über ihren Körper streifte, um einiges zu kühn. Seine Nase war gerade, seine Augenbrauen schwarz und sein Kinn ausgeprägt.

Als er sich zu ihr umwandte, hatte sein Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck angenommen, ja beinahe zornig sah er sie an. Binnen eines Momentes entspannte sich seine finstere Miene jedoch ein wenig, doch das erleichterte Marianne nicht. Wie sie so vor ihm stand, fühlte sie sich hilflos und irgendwie ausgeliefert, und die passendste Beschreibung für ihn, die ihr in den Sinn kam, war Raubtier.

„Miss Trenton, wie nett, dass Sie mir Gesellschaft leisten.“ Seine Stimme klang sanft und leise.

„Mr. D… Desmond“, stammelte sie. Nach kurzem Schweigen fiel ihr ein, einen Knicks zu machen.

Er lächelte sie an. Das Mädchen war vollkommen, genau wie Carstairs es beschrieben hatte. Es war gewiss nicht Desmonds Stil, um junge Frauen zu spielen, aber zweifellos traf Carstairs neben seinen zahlreichen geschäftlichen Unternehmungen gelegentlich gewisse „Arrangements“ zwischen durchreisenden Herren und Damen von … nun ja, von freier Weltanschauung. Es belustigte Desmond, dass Carstairs die junge Frau als sein „Mündel“ bezeichnet hatte.

„Treten Sie ein, Miss Trenton. Nehmen Sie Platz. Jenny hat uns einen ausgezeichneten Tee gebrüht. Wir wollen ihn doch nicht kalt werden lassen.“ Er wies auf den Diwan, und schnell setzte sich Marianne, dankbar für das Angebot, ihre Beine zu entlasten, die sie kaum noch tragen mochten.

Unerwartet kam Mr. Desmond und setzte sich neben sie.

„Tee?“

Sie nickte.

„Zucker? Milch? Ich sehe keine Zitrone. Soll ich nach Mrs. River läuten?“

„Oh nein“, stieß Marianne hervor. „Zucker und Milch sind genau richtig. Ich mag Zucker und Milch. Ich tue nie Zitrone in meinen Tee. Doch, manchmal schon, aber das schmeckt mir nicht so gut wie Zucker. Und Milch.“

„Also Zucker und Milch“, meine Desmond, nahm mit einer Silberzange ein Stück Zucker und goss etwas Milch in die Tasse, ehe er sie ihr reichte.

Die Tasse klirrte verräterisch, und Marianne stellte sie ab.

„Und sagen Sie mir, Miss Trenton … möchten Sie vielleicht ein Sandwich? Wie gefällt Ihnen Kingsbrook? Ein ganz schöner Unterschied zu London, nicht wahr?“

Marianne, die eines der angebotenen Sandwiches genommen und hineingebissen hatte, konnte nur nicken.

„Aber andererseits ist das auch meine Absicht gewesen. Diesen Ort ganz im Gegensatz zur Stadt zu gestalten, meine ich.“

Er lächelte ihr über den Rand seiner Tasse hinweg zu, und Marianne würgte an ihrem Sandwichbissen herum. Sie schluckte nochmals. „Es scheint, als hätten Sie das vollbracht“, bemerkte sie schließlich atemlos.

„Ich hoffe, Ihnen wird das geschäftige, laute Treiben Londons nicht fehlen“, meinte Mr. Desmond. Sein vollendet höflicher Tonfall beruhigte ihre Nerven ganz und gar nicht. „Ich finde Kingsbrook sehr friedlich, obwohl ich mir vorstellen könnte, dass einem die Stille auch bedrückend vorkommen kann.“

„Ach, mir nicht, Sir. Ich liebe die Ruhe, aber Mr. Carstairs’ Haus war auch nicht so viel besucht, dass man von einem ‚regen Treiben‘ hätte sprechen können.“

Marianne lächelte unsicher, doch Desmond hatte den Blick abgewandt. Er wollte nichts von Carstairs hören oder von den Geschäften, die in seinem „Haus“ abgewickelt wurden.

„Ich verstehe“, sagte Desmond und nahm eins der kleinen Kuchenstücke von dem Tablett, das Mrs. River bereitgestellt hatte. Er hielt Marianne die Platte hin, doch sie schüttelte den Kopf.

„Ich hoffe, das heißt, Sie sind nicht allzu betrübt über Ihren Umzug“, fuhr Desmond fort und stellte das Tablett wieder ab.

„Ganz und gar nicht“, erwiderte Marianne, holte tief Luft, ehe sie hinzusetzte: „Tatsächlich, Mr. Desmond, habe ich auf die Gelegenheit gewartet, Ihnen für die Güte zu danken, mich herzuholen. Kingsbrook ist bezaubernd, und ich werde mich bemühen, Ihren Erwartungen zu entsprechen.“

„Da bin ich ganz sicher“, meinte der Gentleman, sah ihr lächelnd in die Augen und ließ dann seinen Blick noch tiefer wandern.

„Und Sie müssen mir sagen, wenn es etwas gibt, das ich für Sie tun kann“, bot sie an.

„Oh, darauf können Sie sich verlassen“, erwiderte er mit einem Lächeln, das seine dunklen Augen unberührt ließ.

Es folgte ein weiterer Augenblick des Schweigens, währenddessen er Marianne ansah und sie ihre Teetasse betrachtete.

„Sie möchten vielleicht ruhen und dann auspacken, bevor wir uns näher kennen lernen“, meinte Desmond.

„Ja. Ich … das wäre wunderbar“, flüsterte Marianne.

Der Gentleman lächelte bedächtig. „Sehr gut“, sagte er. Desmond erhob sich und bot ihr die Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen, eine Geste, die angesichts ihrer Aufregung nicht ganz überflüssig war. „Ruhen Sie sich aus, Miss Trenton. Wir sehen uns dann heute Abend zum Essen.“

Er griff um sie herum, und einen schwindelerregenden Augenblick lang glaubte Marianne, er wolle sie umarmen. Stattdessen zog er an einer Kordel, die, hinter den Draperien verborgen, an der Wand hing.

Sogleich erschien Mrs. River. „Mr. Desmond? Wünschen Sie etwas?“

„Miss Trenton ist nach ihrer Reise von London hierher erschöpft. Bringen Sie sie nach oben, und Tilly oder Alice sollen das Bad richten.“

„Gewiss, Sir. Hier entlang, Miss Trenton.“

Marianne ging mit Mrs. River hinaus, unsicher, ob sie die Gesellschaft der unfreundlichen Haushälterin vorzog oder lieber bei Mr. Desmond, der sie so beunruhigte, geblieben wäre. Sie argwöhnte, dass sie, indem sie Onkel Horace verlassen hatte, vom Regen in eine ziemlich ungemütliche Traufe geraten war.

Tilly befolgte Mrs. Rivers kurz angebundene Anweisungen und ließ ein Bad ein, während Alice Miss Trenton beim Auspacken half.

Tilly, das ältere der beiden Hausmädchen, war eine schweigsame Frau mit faltigem Gesicht und reizloser Figur. Sie nahm nicht die geringste Notiz von Marianne. Alice schenkte ihr ein schüchternes Lächeln, als Mrs. River sie rief, aber nach einem Blick auf die Haushälterin und ihre säuerliche Miene verzichtete das Mädchen auf jede weitere Freundlichkeit. Die Lider gesenkt, nahm Alice schweigend die Gegenstände entgegen, die Marianne aus ihren Taschen holte.

Marianne tat es leid, dass das Personal ihr so kühl begegnete. Aber ihre Räume waren prächtig ausgestattet und das Bad so luxuriös, dass sie versuchte, ihre Sorgen einfach zu vergessen. Nach dem Bad gönnte sie sich ein wenig Ruhe, die sie so dringend benötigte.

Als Alice um halb neun an ihre Tür klopfte und sie zum Essen rief, hatte Marianne sich bereits mit aller Sorgfalt angekleidet und zurechtgemacht, um mit dem Hausherrn zu dinieren.

Bis ins Speisezimmer schritt Alice voraus, doch dann ging sie durch die gegenüberliegende Tür, die in die Küche führte, wieder hinaus, und Marianne blieb allein.

Über dem langen Tisch war eine weiße Damastdecke gebreitet. Porzellan, Kristall und Silber für zwei Personen befanden sich darauf, und alles war so makellos poliert, dass sie darin das Spiegelbild ihres tannengrünen Kleids sehen konnte, während sie hin und her ging und auf den Mann wartete, der sie so verwirrte. Das Speisezimmer lag im hinteren Teil des Hauses und besaß ebenso wie der vordere Teil eine Reihe hoher Fenster. Es war dunkel geworden, und sie konnte sich auch in den Lücken zwischen den nicht ganz zugezogenen Vorhängen wie im Spiegel sehen.

Marianne trug eines der wenigen Kleider, die sie, als sie zu Onkel Horace gezogen war, von zu Hause mitgebracht hatte. Als sie die Falten des Rocks berührte, erinnerte sie sich, wie ihre Mutter gemeint hatte, sie sei noch zu klein dafür, aber sie werde schon eines Tages hineinwachsen. Und wahrscheinlich hatte sie recht gehabt, wenn Marianne auch jetzt noch einiges fehlte. Die Ärmel ließen die Schultern frei, das Mieder lag eng an, und der Halsausschnitt reichte provozierend tief. Das Kleid war eigentlich für eine reifere Frau geschnitten, obwohl Marianne, deren Figur noch mädchenhaft schmal war, es mit Hilfe von Nadeln und Abnähern fertig gebracht hatte, es hier im Halbdunkel für sie einigermaßen passend erscheinen zu lassen.

Schließlich, nachdem sie schon verzweifelt überlegt hatte, ob man sie den ganzen Abend hier allein lassen oder, noch schlimmer, von ihr verlangen würde, allein an dieser einschüchternden Tafel zu essen, wurden die Doppeltüren zum Speisezimmer aufgestoßen, und Mr. Desmond trat ein.

„Ich dachte schon, Sie hätten mich vergessen“, meinte sie nervös. Sie hatte ihre Gedanken nicht laut aussprechen wollen, aber die Worte waren ihr entschlüpft.

„Miss Trenton. Ganz und gar nicht. Mir ist allerdings der Nachmittag wie Sand durch die Finger geronnen. Ich habe mir nicht einmal die Zeit genommen, mich zum Dinner umzukleiden.“ Er hielt inne, um das Bild, das das Mädchen in seinem dunklen Kleid inmitten des von Lichterglanz erfüllten Raums abgab, in sich aufzunehmen. Ja, sein erster Eindruck verstärkte sich. In dem grünen Kleid erinnerte sie ihn noch stärker an eine Dschungelkatze. „Ich sehe jetzt, dass ich es hätte tun sollen.“

„Ach nein. Sie schauen wunderbar aus.“ Sanfte Röte stieg Marianne in die Wangen.

„Nun, dann wollen wir einander bei einem Teller Suppe weiter bewundern. Ich nehme doch an, dass Sie hungrig sind?“ Mr. Desmond trat zum Tisch und schwang die kleine Silberglocke, die neben einem der Teller stand, offensichtlich seinem Platz. Mrs. River kam sogleich.

„Wir sind hungrig, Mrs. River. Übermitteln Sie Mrs. Rawlins meine Entschuldigung dafür, dass ich zu spät komme, und lassen Sie bitte das Abendessen sofort auftragen.“

Desmond rückte Marianne einen Stuhl zurecht, und sie setzte sich. Zwei Schalen klarer Brühe wurden aufgetragen. Danach wurden die Schüsseln abgeräumt und durch Teller, auf denen schmale Scheiben Rindfleisch und heißes, gemischtes Gemüse lagen, ersetzt. Aber sie hätte nicht beschwören können, dass sie etwas zu sich nahm.

Das Einzige, das ihr von der Mahlzeit im Gedächtnis blieb, waren Mr. Desmonds tiefliegende Augen, die sich, wenn man das Glück hatte, ihm sehr nahe zu kommen, als dunkelgrau herausstellten, und seine sanfte, leise Stimme, die einen merkwürdigen Bann auf sie ausübte. Er erzählte von exotischen Weltgegenden, Ländern, von denen sie nie zuvor gehört hatte. Er zitierte Stellen aus der Literatur, Worte voller Leidenschaft, die ihr das Blut in die Wangen steigen ließen.

Die Uhr schlug zehn.

Er sagte ihr, dass sie in ihrem Kleid, und so, wie sie das Haar trug, bezaubernd aussehe.

Die Uhr schlug elf.

Fünf Minuten später schlug sie zwölf.

„Hören Sie doch, wie still es ist“, flüsterte Desmond und neigte lauschend den Kopf. „Das Haus ist so solide gebaut, dass es nachts nicht einmal knackt. Und alle Dienstboten sind zu Bett gegangen, sogar Mrs. River. Früher habe ich manchmal geglaubt, Mrs. River lege sich überhaupt nie schlafen.“ Desmond lächelte und stand auf. „Lassen Sie uns ihrem Beispiel folgen“, meinte er und zog Marianne sanft hoch.

Ohne ihre Hand loszulassen, führte er sie durch die dämmrigen Flure und die düsteren Stiegen hinauf. Auf dem Treppenabsatz bogen sie ab und gingen die Empore über der vorderen Halle entlang. Vor einer der Türen blieb Desmond stehen, öffnete sie und schob Marianne hinein. In der Dunkelheit glaubte Marianne, die mit dem Haus nicht vertraut war, dies sei ihr Zimmer, und trat über die Schwelle.

Mr. Desmond folgte ihr mit einer Kerze, und als sie gewahr wurde, dass dies das falsche Zimmer war, hatte er schon die Tür hinter ihnen geschlossen.

„Das ist nicht mein Zimmer“, erklärte sie, immer noch in dem Glauben, er habe, ebenso wie sie, einen leicht erklärbaren Fehler begangen.

„Nein, es ist mein Zimmer.“

Endlich, viel zu spät und lange, nachdem eine solche Reaktion verständlich und ratsam gewesen wäre, fühlte Marianne kalte Panik in ihrem Herzen aufsteigen.

„Ich meine, so ist es am besten, finden Sie nicht auch?“, sagte Desmond, drehte sich um und schob den Türriegel vor. „Durch dieses Arrangement können Sie Ihre Räume für sich behalten, wo Sie allein sein und Ihre Privatsphäre genießen können.“

Kühl und sachlich begann er, seine Hose aufzuknöpfen. Entsetzt sah Marianne zu, wie er die Beinkleider vollständig auszog und lange, dunkle und außerordentlich behaarte Beine offenbarte.

„Wenn wir also zusammen sind“, fuhr er fort, so beiläufig, als tauschten sie in einem Teesalon ihre Meinung über das Wetter aus, „dann hier. Unsere Zimmer liegen so nahe beieinander, dass Sie sich, wenn Sie wünschen, nachher in Ihr Bett zurückziehen können. Ich hoffe allerdings, dass Sie beschließen, einige Nächte ganz bei mir zu verbringen.“

Marianne blickte ihn aus weit aufgerissenen Augen an, obwohl Desmond in dem schwachen Licht der einen Kerze möglicherweise die Furcht, die darin stand, nicht erkannte. Vielleicht sah er auch einfach mit Absicht darüber hinweg, oder er beschloss, diesen Ausdruck als etwas anderes zu deuten. Als Begehren vielleicht.

Doch es war Angst, die aus ihren Augen sprach, ihre Gedanken, ihr Herz erfüllte. Sie wich einige Schritte vor ihm zurück, dennoch war der Abstand zwischen ihnen noch zu gering. Ohne sich von der Stelle zu rühren, streckte er die Hand aus, packte ihren schlanken Arm und umfasste ihn mit seinen langen Fingern. Er zog sie an sich und spürte erregt, wie ihr Herz heftig pochte.

„Was … was tun Sie da?“, keuchte sie. Sie warf den Kopf zurück, konnte sich aber von ihm nicht losreißen.

Er drückte sie an sich und hielt ihren Kopf mit einer Hand, während er sich zu ihr herunterbeugte.

„Ich nehme dich mit ins Paradies, mein kleines Rehkitz“, flüsterte er, strich mit den Lippen über ihre weiche Halsbeuge und küsste ihr rosiges Ohrläppchen. „Und ich gehe jede Wette ein, dass es dir besser gefallen wird als alles, was der alte Carstairs je mit dir getan hat.“

Im nächsten Moment presste Desmond seine Lippen auf ihre. Einen Augenblick gab Marianne sich dem sinnlichen Genuss hin, seinen warmen, feuchten Mund zu fühlen, und wie elektrisiert spürte sie seine Zunge auf ihren Lippen. Er streichelte ihre bloßen Schultern und presste Marianne noch enger an sich. Er drängte sein Knie zwischen ihre Beine, und sie war sich der angespannten Kraft seiner Schenkelmuskeln bewusst.

Als er jedoch ihre Beine auseinander zwang, seine andere Hand zum Mieder ihres Kleides hinauf glitt, konnte sie mit einemmal wieder klar denken, und sie erkannte, was er tat und was er mit ihr vorhatte. Verzweifelt drehte sie ihren Kopf zur Seite, presste die Handflächen abwehrend gegen seine Brust.

„Nein, nein!“, keuchte sie.

Desmond unterbrach seine Bemühungen einen Augenblick und sah ihr verwirrt in die Augen.

„Dein Widerstand ist nicht sehr schmeichelhaft, meine Liebe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man damit in deinem Beruf sonderlich weit kommt.“

„Ich … ich weiß nicht, was Sie meinen“, flüsterte sie angstvoll. Er hielt sie so fest umarmt, dass sie kaum Luft bekam.

„Ich meine, dass du mir dies schuldig bist. Ich habe die Absicht, Carstairs’ Wetteinsatz einzulösen.“

„Mr. Carstairs’ Wetteinsatz? Was für eine Wette?“

„Den Einsatz, den er verspielt und den ich gewonnen habe. Dich, Marianne.“

„Mich? Aber ich bin Mr. Carstairs’ Mündel“, stieß sie hervor.

Er lächelte. Natürlich. Die junge Frau war keineswegs ungeschickt, ganz im Gegenteil. Sie spielte ihre Rolle als „Mündel“ sehr gut. Herrlich.

Mühelos hob Desmond sie hoch und trug sie zu dem großen, dunklen Himmelbett, das in der Mitte des Raumes stand.

„Nein … nein, das dürfen Sie nicht!“, schrie sie. „Oh bitte, nein.“

Doch Desmond glaubte immer noch, dies gehöre alles zu ihrem Spiel und ignorierte ihr Flehen. Mit der rechten Hand hielt er Mariannes Arme fest, während er mit der anderen das Mieder ihres Kleides lockerte. Die Knöpfe waren ärgerlich klein, und am liebsten hätte er den Stoff zerrissen, doch dann konzentrierte er sich auf die winzigen Perlen aus Obsidian und öffnete schließlich alle, ohne auch nur eine zu sprengen.

Das Kleid klaffte auf, und schnell schob er die Unterkleidung, die ihm im Weg war, zur Seite.

Als er ihre jugendlich straffen Brüste freilegte, ließ er ihre Arme los, denn er wollte diese zarten Leckerbissen mit seinem Mund bedecken. Aber das Mädchen unter ihm holte mit der Hand, die jetzt frei war, aus, und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.

Desmond war so von Leidenschaft berauscht, dass er nur verblüfft zusammenzuckte und dann leise lachte. Es klang bedrückend, unbarmherzig, und Mariannes Herz krampfte sich zusammen.

„Du bist wohl ein kleiner Feuerkopf, nicht wahr?“, sagte er lachend.

Von neuem packte er Mariannes Hände und begann, an dem Stoff ihrer Röcke und Unterröcke zu zerren. Er hatte damit gerechnet, dass sie ihm zu Willen sein würde, aber das Mädchen war wirklich sehr gut und legte es darauf an, ihn mit diesem Spiel zu erregen.

Ihr Kleid kam ihm wie ein Labyrinth vor. Immer, wenn er mit der Hand unter eine Stoffschicht vorgedrungen war, stellte er fest, dass ihm eine weitere den Weg versperrte. Doch endlich berührten seine Finger die zarte Haut ihres Oberschenkels. Sie fühlte sich weich und warm an. Sanft rieb er die Innenseite ihres Schenkels, ließ die Handfläche über die seidenweiche Haut gleiten und schob auch hier störende Wäscheteile beiseite. Mit den Lippen strich er über ihren entblößten Busen und saugte an den zarten Knospen.

Inzwischen hatte er all ihre Röcke und Unterröcke hochgeschoben und freie Bahn. Erregt fühlte er ihre glatten, kühlen Beine. Er schob seinen Schenkel zwischen ihre Beine und begann, sich behutsam zu bewegen.

Nun würde sie sich jeden Augenblick entspannen und auf ihn reagieren. Sie würde sich unter ihm winden, um ihn aufzunehmen. Heftig würden sie sich miteinander bewegen, und ihre Lust würde immer stärker werden, bis sie endlich miteinander verschmolzen.

Seine Lippen berührten ihre elfenbeinfarbene Haut. Leise stöhnte er, überwältigt von ihrem Duft, dem Gefühl, sie zu spüren. Er rechnete damit, zur Antwort ein leises Flüstern von ihr zu vernehmen.

Doch sie verlieh ihrer Leidenschaft keinen Ausdruck. Die Gestalt unter ihm entspannte sich nicht, um ihn zu empfangen, sondern blieb kalt und starr. Sie hätte aus Stein gehauen sein können. Und dann bemerkte er, dass sich ihre Brust unter seinem Mund ruckartig hob und senkte.

Er befreite seine Hand aus ihrer Unterkleidung und richtete sich auf, um ihr ins Gesicht zu sehen.

Tränen strömten unter ihren fest zusammengepressten Lidern hervor und netzten das Haar an ihren Schläfen und das Kissen, auf dem ihr Kopf lag. Sie bewegte die Lippen, und in der plötzlichen Stille, die im Zimmer herrschte, hörte er sie flüstern: „Bitte nicht. Oh lieber Gott, bitte lass nicht zu, dass er mir das antut. Bitte nicht.“

Desmond gab ihre Hände frei, glitt von ihr herunter und setzte sich auf die Bettkante. Er warf einen Blick hinter sich und fuhr sich mit der Hand durch sein zerzaustes Haar.

Was meinte sie damit? Was ging hier vor? Dies war nicht das, was Carstairs ihm verheißen hatte.

Desmond holte tief Luft und mahnte sich nachzudenken. Sein Atem ging tiefer und ruhiger, während das Feuer in seinen Lenden erstarb. Was genau hatte Carstairs ihm denn versprochen? Der Mann hatte ihm sein „Mündel“ angeboten. Sein Mündel? War es möglich …?

„Marianne?“, sprach er sie schließlich vorsichtig an.

Sie öffnete die Augen nicht, aber ihre Lippen bewegten sich auch nicht mehr.

„Wie alt bist du, Marianne?“, fragte er.

Eine lange Pause folgte, während der das Mädchen krampfhaft schluchzte und Desmond ihm mit dem Daumen sanft die Tränen von der Wange strich.

„Sechzehn“, wisperte sie.

Sechzehn? Sollte sie wirklich so jung sein? Forschend betrachtete er ihr Gesicht.

Kein Zweifel. Er war ein Narr gewesen.

„Und du … du hast dies noch nie getan, stimmt’s?“

Sie schüttelte den Kopf.

Desmond nahm die Hand von ihrem Gesicht, wobei er fast das Gefühl hatte, seine Berührung müsse einen Schmutzfleck auf ihrer Wange zurückgelassen haben. Mit einemmal war er von tiefem Abscheu erfüllt. Widerwillen gegen Carstairs, der ihm die junge Frau ausgeliefert hatte in dem vollen Bewusstsein des Schicksals, das sie wahrscheinlich erwartete. Der Einsatz war in beiderseitigem Einvernehmen über das, worum sie spielten, angeboten und angenommen worden.

Doch er empfand auch Abscheu vor sich selbst. Wenn Carstairs ein Schwein war, was war dann er?

Eine Weile war es ganz still. Die Tränen des Mädchens waren versiegt, obwohl ihr Schluchzen noch ab und zu die Matratze erbeben ließ.

Desmond schien in Gedanken versunken zu sein und die junge Frau gar nicht wahrzunehmen, doch tatsächlich beschäftigte er sich nur mit ihr. Er überlegte, wie wohl ihr bisheriges Leben ausgesehen hatte, fragte sich, was sie heute Abend an diesen Ort gebracht hatte und wohin der Weg, den Carstairs ihr vorgezeichnet hatte, sie schließlich führen würde. Wenn dies das erste Mal für sie war, hatte Carstairs dieses Verfahren wohl noch nicht durchgespielt. Aber da sein Wetteinsatz einmal angenommen worden war, würde sich dies wiederholen. Vielleicht häufig, so lange, bis die junge Frau die Wette nicht mehr wert war. Selbst wenn Desmond Marianne nie wieder anrührte – falls er sie zurückschickte, erwartete sie das Leben einer Prostituierten, der Schlund der Hölle. Dann wäre er nicht besser als Carstairs.

Er verzog das Gesicht. Auch jetzt war er nicht besser als Carstairs, denn er hatte sie in der Erwartung hergebracht, seinen „Gewinn“ einzulösen.

„Mr. Desmond?“, flüsterte das Mädchen.

Verblüfft fuhr Desmond hoch, wandte sich um und sah sie an.

Marianne hatte die Lider geöffnet. Sie waren rotgerändert und verschwollen, und ihr Blick hatte einen Ausdruck, von dem Desmond geglaubt hätte, nur Henker sähen ihn in den Augen der zum Tode Verurteilten.

„Sind Sie fertig?“, fragte sie.

„Wie bitte?“

„Ist es vorbei? Darf ich zurück in mein Zimmer?“

„Ja. Geh nur. Geh“, sagte er mit rauer Stimme und wandte sich ab, damit er nicht zu sehen brauchte, wie sie mühsam vom Bett aufstand.

Mit hängenden Schultern und schweren Schritten schleppte sich Marianne zur Tür und mühte sich, den Riegel zurückzuschieben. Als ein erleichterter Seufzer ihm verriet, dass sie endlich Erfolg gehabt hatte, blickte er ihr schließlich doch nach. Bevor sie in den Flur hinaustrat, strich sie sich das Haar aus dem Gesicht, straffte die Schultern und reckte das Kinn.

Ihre Tapferkeit und Entschlossenheit rührten ihn. Doch bevor sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, bemerkte er noch, wie ihre Schultern wieder zusammensackten, als laste ein furchtbares Gewicht darauf.

Desmond plagten schreckliche Schuldgefühle. Kein Zweifel, er hätte ihr beinahe schweren körperlichen Schaden zugefügt. Aber noch schlimmer mochte der seelische Schock sein, den er ihr versetzt hatte.

Hier auf Kingsbrook konnte er sie nicht behalten und sich dem Vorwurf aussetzen, den ihre Gegenwart für ihn bedeutete. Und ebenso wenig konnte er sie in ihr altes Zuhause zurückschicken.

Er hatte um ein Mündel gespielt und es gewonnen. Aber jetzt, da er Marianne besaß, was sollte er bloß mit ihr anfangen?

3. KAPITEL

Langsam entkleidete sich Marianne, darauf bedacht, den Blick vom Spiegel abzuwenden, denn sie fürchtete, dort einen sichtbaren Beweis für das, was geschehen war, zu entdecken.

Sie streifte sich das grüne Kleid von den Schultern und ließ es zu ihren Füßen auf den Boden fallen. Unwillkürlich hob sie es hoch und hängte es in ihren Wandschrank, obwohl sie wusste, dass sie sich nie wieder würde überwinden können, es zu tragen.

Marianne zog ihre Unterwäsche aus und goss dann lauwarmes Wasser aus dem Waschkrug in die Schüssel. Sie wusch sich langsam und sorgfältig, aber ohne das panische Bestreben, sich zu reinigen. Sie sagte sich, dass dies jetzt nicht mehr möglich sei, und Tränen rollten ihr über die Wangen.

Ihre Muskeln schmerzten von dem Kampf mit dem großen, kräftigen Mann. Der Kopf tat ihr weh, und ihre Brüste fühlten sich wund an. An intimeren Stellen jedoch spürte sie keinen Schmerz, aber sie war zu verwirrt und zu unwissend, als dass ihr das aufgefallen wäre. Außerdem bereitete die glühende Scham ihr größere Qualen als jede körperliche Verletzung.

Marianne nahm ein langes Flanellnachthemd aus dem Schubfach, in das Alice es früher an diesem Nachmittag gelegt hatte. Sie zog es über den Kopf und kroch dann zwischen die Laken ihres Bettes. Obwohl der Sommer außergewöhnlich heiß war, zog sie die Decken bis zum Kinn hoch, als sei sie durchgefroren wie im tiefsten Winter.

Marianne hätte am liebsten nicht über das Geschehene nachgedacht, aber ihr Kopf schwirrte nur so vor Selbstvorwürfen. Was hatte sie getan, um einen solchen Überfall herauszufordern? Soweit sie sich erinnerte, hatte sie Desmond nicht bewusst provoziert, aber sie war so fasziniert von ihm gewesen. Seine Aufmerksamkeit hatte ihr geschmeichelt, und sie hatte eifrig seine Anerkennung gesucht. Zweifellos war ihm ihr bewundernder Blick herausfordernd erschienen. Wahrscheinlich hatte sie sich, als er mit ihr sprach, zu weit zu ihm hinübergebeugt, oder vielleicht hatte er den Ausdruck ihrer Augen oder die Bewegung ihrer Lippen oder Hände als Aufforderung gedeutet.

Sie stöhnte leise und drehte sich auf die Seite.

Zu ihrer Pein trug noch bei, dass sie so einsam war. Auf der ganzen Welt gab es niemand, bei dem sie Hilfe oder Trost hätte finden, niemand, der ihr hätte raten können. Marianne musste mit dem schrecklichen Erlebnis allein fertig werden, und sie war ein sehr junges Mädchen mit einem äußerst begrenzten Erfahrungshorizont.

Die ganze Nacht über warf sie sich hin und her. Wenn sie kurz einschlief, waren ihre Träume von seltsamen Sehnsüchten erfüllt, und sie erwachte daraus schweißgebadet und noch beschämter.

Doch schließlich wurde es hell, und die Sonne stand hoch am Himmel. Marianne lag immer noch im Bett, die Decken bis zum Kinn gezogen, hellwach und unangenehm erhitzt.

Als sie letzte Nacht ins Bett geschlüpft war, hatte sie sich von ganzem Herzen gewünscht, sie könnte sterben. Doch sie war nicht tot, und während sie sich jetzt sorgenvoll und rastlos hin und her warf, wurde ihr klar, dass sie nicht wirklich den Rest ihres Lebens in diesem Bett verbringen wollte.

Entschlossen presste Marianne die Lippen zusammen, so wie letzte Nacht, bevor sie Desmonds Zimmer verlassen hatte. Sie schlug die Decken zurück und schwang die Beine aus dem Bett.

„Mrs. River!“

„Miss Trenton?“

Sie waren sich später im Esszimmer begegnet. Marianne war erleichtert, den Raum verlassen vorzufinden, als sie dort eintraf, und tat ihr Bestes, um niemand im Haus auf ihre Anwesenheit aufmerksam zu machen. Sie war erfreut, auf der Anrichte noch ein paar Frühstücksreste vorzufinden. Die hart gewordenen Eier und der kalte Haferbrei schienen ihr nicht besonders einladend, aber sie entdeckte ein paar frische Erdbeeren, die sie hungrig hinunterschlang, als Mrs. River durch die Küchentür in den Raum trat.

Die Haushälterin brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln. Die Situation hier auf Kingsbrook verwirrte sie außerordentlich. Sie kannte den jungen Herrn und seine Familie zu lange, um sich von Mr. Desmonds fadenscheiniger Geschichte anführen zu lassen, er werde sein „Mündel“ für einige Zeit nach Kingsbrook holen – in die Räume, die direkt neben seiner Suite lagen.

Tatsächlich kannte sie Mr. Desmond, seit er „Master Peter“ gewesen und gelegentlich hergekommen war, um seinen Großvater zu besuchen. Er war ein recht nettes Kind gewesen, aber sie nahm an, dass er während seiner Internatszeit gewisse ungute Gewohnheiten angenommen hatte. In den Dienstbotenquartieren war bekannt, dass der Junge seine Eltern schwer enttäuscht hatte und sie ihn praktisch als hoffnungslosen Fall abgeschrieben hatten.

Aber Mrs. River wusste, wo ihr Platz war, und Mr. Desmond konnte herzlich gern sein Leben genießen und seine niedrigen Instinkte befriedigen, ohne seine Haushälterin um Erlaubnis zu bitten oder auch nur ihre Meinung dazu einzuholen. Doch dass er eine Frau von zweifelhaftem Ruf in dieses ehrwürdige alte Haus brachte, um hinter diesen Mauern Bett und Tisch mit ihr zu teilen, das kränkte die Wirtschafterin von Kingsbrook zutiefst.

Doch dann hatte Alice heute Morgen atemlos berichtet, Mr. Desmond habe allein in seinem Bett geschlafen, und Miss Trenton in ihrem. Alice hatte hinzugesetzt, Miss Trenton komme ihr wirklich wie eine richtige Dame vor, ganz gleich, welchem Gewerbe sie nachgehen mochte, falls Mrs. Rawlins und Tilly verstünden, was sie meinte.

Selbstverständlich billigte Mrs. River solches Geschwätz nicht und tat Alices Meinung als törichte romantische Anwandlungen eines jungen naiven Mädchens ab. Jetzt allerdings, als sie der fraglichen jungen Dame gegenüberstand, musste sie sich eingestehen, dass die Abenteurerin von gestern Abend und dieses niedliche junge Ding mit Krümeln an den Fingern und dem winzigen Erdbeerfleck am Kinn nicht dieselbe Person zu sein schienen.

Heute Morgen trug Miss Trenton eine helle Hemdbluse mit einem etwas hausbackenen Trägerkleid darüber. Ihr Haar war zerzaust, und ihre Augen sahen müde und gerötet aus. Mrs. River fühlte, wie ihre moralische Empörung mütterlichem Mitgefühl wich. Hatte sie sich etwa geirrt?

Für Mrs. River war das eine ganz neue Vorstellung.

„Entschuldigen Sie bitte. Ich hatte gesehen, dass diese Sachen noch draußen standen. Ich weiß, es ist schon furchtbar spät, und ich hätte bestimmt kein Frühstück erwartet, aber ich dachte, da sie schon einmal hier lagen … Oh, ich … ich hoffe, sie waren nicht für jemand anders bestimmt!“, stammelte Marianne so schuldbewusst, als hätte Mrs. River sie dabei überrascht, wie sie das Familiensilber unter dem Rock versteckte.

„Das macht doch nichts, Miss Trenton. Sie können sich gern von allem auf der Anrichte nehmen, oder Jenny wird Ihnen etwas Frisches richten, wenn Sie möchten.“

„Oh nein“, stieß Marianne hervor, offensichtlich entsetzt über die Vorstellung, jemand könnte etwas für sie zubereiten. „Das ist schon in Ordnung. Die Erdbeeren sind sehr gut, und wenn ich nur diesen zweiten Muffin mit nach oben in mein Zimmer nehmen darf, dann stehe ich Ihnen nicht weiter im Weg.“

Marianne versuchte, den Muffin in eine Serviette zu wickeln, wobei das kleine Kuchenstück allerdings fast völlig zerkrümelte.

„Na, ganz ruhig“, sagte Mrs. River. Verblüfft blickte Marianne auf, denn die Stimme der Frau klang freundlich und mitfühlend.

Dem Mädchen traten Tränen in die Augen. Jetzt war ihr klar, warum die Haushälterin gestern so kühl gewesen war, denn sie kannte nun den Grund, weshalb Mr. Desmond sie hergeholt hatte. Sie alle hielten sie für ein leichtes Mädchen.

Marianne war unglücklich gewesen, als sie bei Onkel Horace gelebt hatte, war immer allein gewesen, manchmal sogar misshandelt worden. Aber noch nie war sie so entsetzt und verwirrt gewesen wie jetzt hier. Noch nie seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie dringender einen tröstenden Arm gebraucht.

„Ach, du meine Güte“, seufzte Mrs. River, und angesichts der Tränen in den Augen des Mädchens schwand die letzte Missbilligung, die ihr noch Einhalt gebot. Die Haushälterin trat einen Schritt nach vorn und legte den Arm um Mariannes Schultern, und diese barg das Gesicht an ihrem Busen.

Wenn Mrs. River Mariannes provozierendes Kleid von gestern Abend außer Acht ließ und den Eindruck, Marianne wolle mit Mr. Desmond flirten, dann konnte sie nur annehmen, dass sie einen beklagenswerten Fehler begangen hatte. Die junge Frau war also tatsächlich als Mündel ihres Herrn hier und litt zweifelsohne unter dem kürzlichen Verlust eines Elternteils oder beider. Die Tränen waren damit leicht erklärt, und Mrs. River brauchte dem Mädchen nur leicht den Rücken zu tätscheln, während es weinte. „Psst, jetzt“, sagte sie nach einer Weile leise.

Marianne, die geglaubt hatte, ihr Kummer sei grenzenlos, stellte zu ihrem Erstaunen fest, dass ihre Tränen versiegten. Sie schniefte, und Mrs. River nahm ihr Taschentuch aus dem Gürtel und hielt es ihr hin. Wie ein braves Kind schnaubte Marianne kräftig hinein und fühlte sich noch weiter gestärkt.

„Besser?“, fragte Mrs. River.

Marianne nickte. Jetzt bekam sie auch noch einen grässlichen Schluckauf. „Ein bisschen“, meinte sie. „Es tut mir leid …“

„Ach, Kindchen. Ich verstehe Sie.“

Marianne blickte der Haushälterin ins Gesicht und sah erleichtert, dass sie gar nichts verstand. Was immer Mrs. River hinter ihrem Ausbruch vermutete, es war nicht die Trauer um den Verlust ihrer Unschuld.

„Jetzt gehen Sie hinauf in Ihr Zimmer, waschen sich das Gesicht und kämmen sich das Haar. Es ist fast Mittag, und wenn Sie wieder nach unten kommen, hat Jenny einen heißen Teller Suppe für Sie.“

Die Suppe war herrlich. Marianne aß sie in einem ruhigen Eckchen in der Küche, und es war die köstlichste Mahlzeit, die sie bisher an diesem Ort zu sich genommen hatte. Mrs. River kam etliche Male in die Küche und ging wieder hinaus, und sie trat gerade eben wieder ein, als Marianne mit einem Stück Brot den letzten Tropfen auftunkte.

„Na also“, sagte die Haushälterin und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab, als habe sie soeben eine besonders anstrengende Arbeit erledigt. „Mr. Desmond …“

Erschrocken hob Marianne den Kopf, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und blickte wie gehetzt umher. „Wo? Wo ist Mr. Desmond?“

„Nicht hier. Er ist gar nicht da“, sagte Mrs. Rivers begütigend. Lieber Himmel, das Mädchen war ja so nervös wie ein Fohlen! „Ich wollte nur sagen, dass Mr. Desmond heute in aller Frühe aufgebrochen ist. Er meinte, er würde ein paar Tage wegbleiben, und das Haus und der Park stünden Ihnen zur Verfügung, während er fort sei. Daher wollte ich bloß wissen, was Sie jetzt vorhaben.“ Die Haushälterin lächelte, und Marianne erwiderte ihr Lächeln, allerdings etwas schwach.

„Ich weiß nicht“, antwortete sie aufrichtig ratlos.

„Na, Sie können sich ja wohl nicht in Ihrem Zimmer verkriechen, bis der Herr zurückkommt“, schalt Mrs. River sie.

Aber genau das klang für Marianne sehr einladend. Eilig ging sie wieder auf ihr Zimmer und verbrachte den größten Teil dieses und die erste Hälfte des nächsten Tages dort. Aber dann langweilte sie sich doch und wurde unruhig, denn den fehlenden Schlaf hatte sie auch längst nachgeholt.

„Aha, sind Sie nun endlich heruntergekommen?“, empfing Mrs. River sie am darauf folgenden Nachmittag.

Marianne errötete leicht. „Was haben Sie denn heute zu tun, Mrs. River?“

„Ach, ich wollte Erbsen für Mrs. Rawlins schälen und Alice anweisen, das Glas zu polieren.“

„Kann ich Ihnen helfen?“, erbot sich Marianne.

Also pulte sie Erbsen mit Mrs. River, und dann polierten Marianne und Alice unter dem wachsamen Blick der Haushälterin das Kristall. An diesem Abend aß Marianne im Dienstbotenquartier, und zum ersten Mal fühlte sie sich hier auf Kingsbrook ganz behaglich, ja fast froh.

Am nächsten Tag war sie bereit, den Besitz zu erkunden. „Darf ich ein wenig auf dem Gut spazieren gehen?“, fragte sie Mrs. River.

Die ältere Frau lächelte. „Natürlich dürfen Sie das, Kind. Etwas frische Luft kann Ihnen nur gut tun.“

Mrs. River nahm einen locker gewirkten Schal von einem Haken und schob Marianne sanft auf die offene Tür zu. Sie zeigte ihr den Fußpfad und schlug einen Weg vor, der sie an den bezaubernsten Stellen von Gut Kingsbrook vorbeiführen würde.

Zaghaft setzte Marianne einen Fuß nach draußen, dann tat sie einen weiteren Schritt. Sobald sie über die Schwelle getreten war, schloss Mrs. River schmunzelnd die Tür hinter ihr.

Der Waldboden war übersät von Farnen, Moos und Efeu. In den Wiesen leuchteten Dahlien und Rittersporn, wilde Orchideen und rote Lichtnelken.

Der Fußweg führte Marianne über eine gewölbte Holzbrücke, die den plätschernden Bach überspannte. Sie sah noch ein Reh und fragte sich, ob die Tiere auf Mr. Desmonds Ländereien wohl zahm gehalten wurden. Sie hatte kein Stück Zucker bei sich, aber sie war sich ziemlich sicher, dass das Reh ihr aus der Hand gefressen hätte.

Marianne achtete sorgfältig darauf, wohin sie ihre Füße setzte, denn der Konstrukteur des Pfades hatte, wie es schien, in einem Augenblick unwiderstehlichen Schalks die Pflastersteine gefährlich nahe am Bachufer verlegen lassen. Dann aber blickte sie auf und fand sich vor einer gedrungenen steinernen Einfriedung wieder. Sie umschritt sie und entdeckte, dass sie nach oben offen war. Steine waren zu Säulen übereinander gesetzt, die ein schräges Schieferdach abstützten. Das Bauwerk stellte offensichtlich eine Laube dar, ebenso urwüchsig wirkend wie die Landschaft und ebenso bewusst geschaffen.

Von der hellen, sonnenbeschienenen Wiese aus erschien Marianne das Gebäude finster und abweisend. Nervös spähte sie umher. Doch dann holte sie tief Luft, um sich Mut zu machen, und stieg die Stufen hinauf. Zwischen zwei Säulen hindurch trat sie in das schattige Innere wie in eine Höhle. Aber sobald sie einmal drinnen war, stellte sie fest, dass es ein angenehmer Schlupfwinkel war, mit einer glatten Steinbank, auf der man rasten konnte.

Marianne setzte sich.

Sie blickte auf die Wiese hinaus und lauschte dem Rascheln des Grases, das sich im sanften Wind bewegte. Zwischen den dunklen Steinsäulen auf das sonnenüberflutete Panorama hinauszusehen, war, als schaue man in eine andere Welt – ein helleres, unschuldigeres Gefilde. Mariannes Augen brannten, und Tränen rollten ihr die Wangen herunter. Dies war eine Welt, in die sie jetzt nicht mehr gehörte.

Nicht nur wegen des Geschehenen, sondern wegen der dunkleren Erinnerungen, die sich in ihr Bewusstsein stahlen: das Bild von Mr. Desmond, wie er, halb angekleidet, vor ihr gestanden hatte, die bloßen Beine an ihre Röcke gepresst, wie sie seine kräftige Hand und seine Finger auf ihren Brüsten und auf der empfindsamen Haut ihrer Oberschenkel gespürt hatte.

Unwillkürlich stellte sie sich vor, wie es wohl gewesen wäre, wenn Mr. Desmond langsamer vorgegangen und sie eine willige Gespielin gewesen wäre. Sie schaffte es einfach nicht, die schändlichen Gedanken von sich zu schieben. Über diese Angelegenheit wurde viel geflüstert und gekichert, und Marianne fragte sich, warum solch ein Aufhebens darum gemacht wurde. Ihr hatte der Akt kein besonderes Vergnügen bereitet. Tatsächlich konnte sie sich an „den Akt“ überhaupt nicht erinnern.

Sie hätte gern gewusst, ob er, unter den richtigen Umständen, so lustvoll sein konnte, wie manche Leute behaupteten. Als sie jedoch versuchte, sich diese richtigen Begleitumstände vorzustellen, traten allerlei unschickliche Bilder vor ihr inneres Auge, und rasch versuchte sie, sich abzulenken.

Marianne schlug die Hände vors Gesicht, bemühte sich, die Bilder nicht zu sehen, bemühte sich, wieder das Mädchen zu sein, das sie noch vor einer Woche gewesen war, doch in ihrem Herzen wusste sie, dass ihre einstige Unschuld nun unwiederbringlich verloren war.

Sie bemerkte nicht, dass sich noch jemand auf der friedlichen kleinen Lichtung aufhielt, bis sie das Knirschen von Schuhen auf den Steinstufen, die in die Laube führten, vernahm. Erschrocken hob sie den Kopf und sah genau in die Augen des Mannes, die sie gerade zu vergessen versuchte. Ihr schien, als hätte sein tiefer, durchdringender Blick beinahe ein Brandmal auf ihrer Haut hinterlassen.

Entsetzt keuchte sie auf.

Desmond zuckte zusammen, als hätte sie ihm ins Gesicht gespuckt.

Als sie jetzt vor ihm zurückwich, sich vor ihm verschloss, erschien sie ihm wie eine zarte Rosenknospe. Desmond wurde klar, dass er diese Blüte verletzt hatte, und heiß stieg ihm ungewohnte Scham in die Wangen.

Er räusperte sich. „Guten Tag, Miss Trenton“, sagte er.

Sie gab keine Antwort, sondern beobachtete ihn nur misstrauisch.

Er trat einen weiteren Schritt in die Laube hinein, und sie rutschte auf der Bank, so weit sie konnte, von ihm fort.

Desmond seufzte. „Miss Trenton, ich wünschte, ich könnte Sie überzeugen, dass Sie von mir nichts zu befürchten haben, aber ich nehme an, das ist derzeit nicht möglich. Hier, ich werde mich mit dem Rücken an diese Säule stellen. Während der ganzen Zeit, die ich mich hier aufhalte, werde ich keinen weiteren Schritt auf Sie zu tun. Und Sie könnten, falls Ihnen das möglich ist, aufhören, den Rand der Bank zu umklammern. Ihre Knöchel sind schon ganz weiß.“

Peter Desmond war zwar, wie er selbst zugegeben hätte, ein Filou, der sowohl in dunklen Spelunken wie auch in noblen Bordellen ein- und ausgegangen war, aber er hatte noch nie eine Frau gegen ihren Willen genommen. Doch trotz seines ausgesprochen unmoralischen Lebenswandels hätte er nie geglaubt, je in den Augen einer jungen Frau den Ausdruck zu erblicken, den er jetzt bei Marianne sah.

Er räusperte sich, ehe er schroff sagte: „Ich will gleich zur Sache kommen. Ich habe genau wie zweifellos auch Sie schlaflose Nächte damit verbracht, über Ihre unmittelbare Zukunft nachzudenken.“

Marianne nickte kaum unmerklich.

„Wenn ich Sie in jener Nacht recht verstanden habe …“ Bei der bloßen Erwähnung des Vorfalls erglühten plötzlich die bleichen Wangen der jungen Frau, und Desmond räusperte sich noch einmal unbehaglich. „Ja … dann sind Sie keines der üblichen Mädchen von Mr. Carstairs?“

Marianne sah ihn ausdruckslos an und runzelte leicht die Stirn bei dem Versuch zu verstehen, was er meinte.

„Sie … arbeiten nicht für Carstairs?“

„Ich bin Onkel Horaces Mündel“, sagte Marianne leise dieselben Worte, über die er gelacht und die er gegenüber Abbot und Phillips wiederholt hatte, fast die gleichen Worte, die Mrs. River gebraucht hatte, um Miss Trentons Eintreffen anzukündigen. Warum bedeuteten sie dann etwas so völlig anderes, wenn das Mädchen sie flüsterte?

„Ja, natürlich“, murmelte Desmond. „Trotzdem glaube ich nicht, dass sie in Mr. Carstairs’ Etablissement zurückkehren sollten.“

Sie schüttelte den Kopf, wagte aber nichts zu bemerken.

Desmond nickte knapp. „Gut. Wenn das so ist, sollte ich Sie darüber unterrichten, dass ich in London gewesen bin, um bezüglich der Lage, in der wir beide uns befinden, juristischen Rat einzuholen.“

Verblüffung malte sich auf Mariannes Zügen. Wie konnte Mr. Desmond nach dem, was er getan hatte, einem Vertreter des Gesetzes unter die Augen treten?

„Ich weiß nicht, ob sie sich der Umstände, die Sie hierher geführt haben, vollständig bewusst sind, Miss Trenton. Doch es ist so: Mr. Carstairs hat seine Vormundschaft über Sie beim Pokern gesetzt und verloren. Ich habe gewonnen.“ Desmond vermochte den ironischen Unterton nicht aus seiner Stimme zu verbannen. „Mein Anwalt hat mir mitgeteilt, eine derartige Übertragung der Vormundschaft sei zwar ungewöhnlich, könne jedoch legal sein. Es sind noch Papiere und Unterschriften nötig, aber Mr. Bradley hat mir versichert, seit meinem Zusammentreffen mit Carstairs und einigen anderen im Grand Hotel könnte ich mich juristisch als Ihren Vormund betrachten.“

„Oh.“

Das klang ganz leise, aber Desmond hoffte, dass darin mehr Erstaunen als Furcht lag. Doch Mariannes Augen verrieten eine Angst, die ihn zutiefst verletzte.

Nun stand er da, den Rücken unbequem gegen die harten Steine gepresst, aber er hielt seine Stellung. „Ich habe die Absicht, Sie auf ein respektables Internat zu schicken.“

Zu diesem idealen Ausweg war er in der langen, schlaflosen Nacht gelangt, die seiner Abreise nach London vorausgegangen war. Allerdings hatte er nicht geahnt, wie viel Geld eine solche Lösung kosten könnte. Mr. Bradley, sein Anwalt, hatte ihn darüber informiert, dass eine „gute Schule“ jeden Penny der Summe, die seine Mutter ihm jährlich schickte, verschlingen würde.

Egal, er würde den Gürtel enger schnallen und für die nächsten paar Jahre auf seine einträglichen Ausflüge nach Paris und Monte Carlo verzichten müssen. Während er den Vorschlag mit Bradley diskutierte und über die Opfer nachdachte, die dies von ihm verlangen würde, war sein Entschluss ein wenig ins Wanken geraten. Er hätte vielleicht doch eine andere Lösung gesucht, aber als jetzt das liebreizende Mädchen zitternd auf der kalten Steinbank vor ihm saß, biss er die Zähne zusammen und beschloss, seine Spielausflüge auf London und Liverpool zu beschränken, solange sie noch zur Schule ging.

Gott, was für ein gutes Gefühl, so edel zu sein!

„Ich habe noch keine Erkundigungen eingezogen. Wenn Sie also eine Vorliebe für einen bestimmten Landesteil hegen oder für eine Schule, von der Sie vielleicht gehört haben, werde ich Ihre Wünsche natürlich in Erwägung ziehen.“

„Ich … ich habe eine Zeitlang Miss Willmingtons Institut in der Miller Street besucht“, flüsterte Marianne.

„Dann haben Sie eine gewisse Bildung genossen?“, fragte Desmond verblüfft. Zwar hatte er angenommen, die junge Frau sei zwar noch keine Dirne, aber doch einfach irgendein Straßengör, das Carstairs aufgelesen hatte, um es auf den Markt vorzubereiten.

Das Mädchen nickte.

„Sie können also lesen und schreiben?“

Sie nickte noch einmal.

„Möchten Sie denn an Miss Willmingtons Schule zurückkehren?“

„Die habe ich abgeschlossen“, erwiderte sie fast unhörbar. „Es war eine Schule für Kinder.“

„Ich verstehe.“ Er schluckte heftig. Das Mädchen, das vor ihm saß, war immer noch fast ein Kind. „Nun gut. Dann müssen wir etwas anderes suchen, aber jetzt sehe ich, dass ich nicht nach einem Institut Ausschau zu halten brauche, das die einfachsten Grundlagen vermittelt, sondern Sie unter Gleichaltrigen unterbringen kann.“

Marianne blickte ihn nur wortlos aus großen Augen an, was ihn sehr aufwühlte.

„Ich werde alles in die Wege leiten“, versprach er. „Es mag ein oder zwei Wochen dauern, aber ich werde mir eine Wohnung in Reading nehmen, bis ich einen Platz für Sie gefunden habe. Sie sollen sich hier auf Kingsbrook wie zu Hause fühlen, und Mrs. River wird Ihnen bei allem, was Sie brauchen, behilflich sein. Haben Sie noch irgendwelche Fragen bezüglich Ihrer Ausbildung?“

Er hielt inne, um der jungen Frau eine Möglichkeit zum Sprechen zu geben, doch diese schüttelte den Kopf.

„Wenn Ihnen noch etwas einfällt, können Sie Mrs. River fragen. Ich werde ihr umfassende Anweisungen hinterlassen. Vielleicht sehe ich Sie nicht mehr, bevor Sie abreisen, Miss Trenton, daher erlauben Sie mir, noch einmal mein Bedauern über unser kleines Missverständnis zum Ausdruck zu bringen.“

Tief erleichtert holte er Luft. Es war vorbei. Er hatte jede ihm mögliche Wiedergutmachung dafür geleistet, dass er das Mädchen hergeholt und sich wie ein Wüstling aufgeführt hatte. Und nun brauchte er es, wenn er Glück hatte, nie wieder zu sehen und konnte diese Episode ein für allemal vergessen. In Zukunft würde er froh über die Abgeschiedenheit von Kingsbrook sein und dankbar für sein einsames Bett. Er war sogar versucht, das Kartenspiel aufzugeben, obwohl er keinen Eid darauf geschworen hätte. Verluste konnte er wettmachen. Es waren eher seine Gewinne, die ihm Angst machten.

4. KAPITEL

Knapp eine Woche später erhielt Mrs. River einen Brief mit Anweisungen von Mr. Desmond. Er setzte sie und sein Mündel darüber in Kenntnis, dass er ein ehrenwertes Institut für Damen in der Nähe von Farnham ausfindig gemacht habe. Er hatte Miss Trenton dort bereits einen Platz gesichert.

In der Zwischenzeit hatte Mr. Desmond, wie versprochen, Kingsbrook verlassen, damit Marianne für sich sein konnte. Sie fühlte sich jetzt auf seltsame Weise daheim in dem weitläufigen Haus und verbrachte ihre Tage damit, von Zimmer zu Zimmer zu streifen. Meistens hielt sie sich ein wenig länger in der Bibliothek auf, deren hohe Regale mit über Jahrzehnte zusammengetragenen Büchern voll gepackt waren.

Dafür, dass die Bibliothek nicht die Sammlung einer einzigen Person darstellte, sprachen die unterschiedlichen Themen, die dort zu finden waren: Vogel- und Pflanzenkunde, Geschichte, politische Aufsätze und sogar ein paar schmale Bände mit Lyrik, verfasst von Dichtern, deren Namen Marianne noch nie gehört hatte. Außerdem gab es Bücher über Mineralien und Etikette und eine ziemlich große Auswahl über Pferde und Reitkunst.

Auf einem niedrigen Regalbrett an der Nordwand des Raumes, leicht zu erreichen und gerade über der Augenhöhe des Mädchens, standen Bände mit höchst faszinierenden Titeln: Medea, Antigone, die Ilias, die Äneis. Eines, dessen Umschlag fast abgerissen war und das leicht aufklappte, was nahe legte, dass es häufig vom Regal genommen und gelesen wurde, trug den Titel Odyssee.

Doch als Marianne einige Bücher aufschlug, wurde sie enttäuscht, denn sie waren in einer fremden Sprache geschrieben, manche sogar in einer fremden Schrift. Trotzdem war sie fasziniert von der neuen Welt, die sich ihr mit einemmal eröffnete.

Aber sie fand auch Bände in ihrer Sprache. Damit ließ sie sich in der Bibliothek nieder und las, als Mrs. River ihr einige Tage später einen Brief brachte, der eben mit der Post gekommen war.

„Er ist von Mr. Desmond“, sagte die Haushälterin und hielt den Brief in die Höhe. „Darin heißt es, dass er eine Schule für Sie gefunden hat. Er schreibt … nun, ich will es Ihnen vorlesen: ‚Die Akademie von Farnham liegt außerhalb der gleichnamigen Stadt. Ich glaube, die Ruhe wird Miss Trenton gefallen, und Mrs. Avery, die Schulleiterin, hat mir versichert, dort werde die beste Ausbildung geboten, die einer jungen Dame unserer fortschrittlichen Zeit angemessen ist.‘ Hört sich das nicht großartig an? Der Herr schreibt, Sie sollten Kingsbrook innerhalb einer Woche verlassen, von dem Tag gerechnet, an dem er den Brief geschrieben hat, das heißt also … mal sehen … übermorgen.“

Marianne spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte, aber sie war nicht sicher, ob es Freude war oder Furcht.

„Allerdings meinte er noch, falls Ihnen das zu früh sei, sollten Sie sich so viel Zeit nehmen, wie Sie brauchen. Aber ich glaube nicht, dass das der Fall ist. Alice kann Ihre Sachen in einem halben Tag packen. Meinen Sie nicht auch?“

Marianne hatte kaum eine Wahl, als zur Antwort auf Mrs. Rivers muntere Frage zu nicken.

Ohne weitere Debatte fand Marianne sich zwei Tage später einmal mehr hinter Rickers sitzend, in einer offenen Kutsche, die sie zur „Farnham-Akademie zur Erbauung junger Damen von Stand“ fuhr.

Marianne hatte nur einundzwanzig Tage auf Kingsbrook verbracht, doch diese waren die stürmischsten Tage ihres jungen Lebens gewesen. Erstaunt bemerkte sie ein schmerzliches Gefühl von Heimweh, als die Straße eine Biegung machte und das Gutshaus sowie die umgebende Parklandschaft dahinter verschwanden.

Die Akademie war in einem wenig bemerkenswerten dreistöckigen Bau aus grauem Stein untergebracht und besaß zwei Seitenflügel. In einem der Nebengebäude befand sich die Küche, das andere war für Leibesübungen und Gymnastik bestimmt, „die für das Wohlbefinden des Körpers ebenso notwendig sind wie die Nahrung.“ So jedenfalls befand die spröde, steckendürre Mrs. Avery, Schulleiterin und begeisterte Verfechterin der segensreichen Wirkungen des Sports.

Der Haupttrakt der Schule, wo die Mädchen den größten Teil ihrer Zeit verbrachten, lag innerhalb des weitläufigen zentralen Gebäudes.

Mrs. Avery unterrichtete auch Latein. „Nicht alle Schulen für junge Damen bieten das Erlernen der lateinischen Sprache an“, hielt sie den Mädchen oft vor Augen. „Junge Frauen lehrt man, leise zu sprechen und sich auf ihre Handarbeit zu konzentrieren, während die tiefsinnigsten Gedanken der Menschheit in den klassischen Sprachen verborgen liegen. Junge Männer lernen Latein. Ihr jungen Frauen habt außerordentlich großes Glück, dass man euch denselben mystischen Schlüssel in die Hand gibt.“

An jenem schönen Nachmittag Ende Juni setzte Rickers also Marianne vor dem kargen Steinbau ab.

„Miss Trenton.“ Mrs. Avery begrüßte die neue Schülerin persönlich. „Willkommen in der Akademie von Farnham. Ich hoffe, Sie werden hier glücklich sein.“

Marianne hoffte das ebenfalls und tat mit einigen leise gemurmelten Worten ihre Zustimmung kund. Man führte sie auf ihr Zimmer, das heißt, in den Schlafsaal, in dem die Hälfte der Mädchen schlief. Die andere Hälfte, die jüngeren Mädchen im Alter von acht bis zwölf Jahren, nächtigte ein Stockwerk tiefer in viel engeren Quartieren.

Neben Mariannes Bett stand ein Tischchen mit zwei Schubladen für ihre Unterwäsche und andere persönliche Besitztümer. Wie alle anderen erhielt sie einen leichten Rock aus braunem Wollstoff sowie zwei Musselin-Blusen, die zum Unterricht getragen wurden. Die Röcke, Blusen und Kleider, die die Mädchen von zu Hause mitgebracht hatten, hingen in einem langen Gemeinschaftswandschrank an der Stirnseite des Saales.

Gehorsam zog Marianne das Kleid, das sie auf der Herfahrt von Kingsbrook getragen hatte, aus und legte die Schuluniform an. Dann ging sie wieder in die Eingangshalle zu Mrs. Avery und wurde in ihre Klasse geführt.

„Tief in der Hölle liegt ein Ort, genannt Malebolge …“ Ein schmales, blasses Mädchen, das jünger als Marianne aussah, las laut aus einem abgegriffenen Buch vor, das sie mit ihrer Banknachbarin teilte. Die schmächtige Frau am Kopfende des Klassenraums klatschte kräftig in die Hände, und die Vorleserin hielt inne und blickte wie die übrigen Mädchen auf, um neugierig die neue Schülerin in Augenschein zu nehmen, die ihren Unterricht störte.

„Mädchen, dies ist Miss Marianne Trenton. Miss Trenton, Sie können sich hierher setzen, in die letzte Bank. Judith, kümmern Sie sich darum, dass Miss Trenton ein Exemplar von Dantes Göttlicher Komödie erhält. Nedra, Sie dürfen fortfahren. Wir befinden uns in der Hölle …“

Die Mädchen waren recht nett, doch Marianne fiel es schwer, in der Schule Freundschaften zu schließen. Eine Woche verging, ehe sie einen vollständigen Satz mit jemandem sprach, und zwei, ehe sie irgendwelche persönlichen Informationen über sich preisgab. Diese bestanden jedoch nur darin, dass sie Nedra, der blassen Vorleserin aus jener ersten Unterrichtsstunde, ihr Alter und ihr Geburtsdatum mitteilte.

Marianne und Nedra Stevens fanden zusammen wie zwei fallende Blätter, die auf einem wirbelnden Strom in dieselbe Richtung getrieben wurden.

Während der beiden vergangenen Jahre, die so wichtig für ihr Leben gewesen waren, war Marianne ziemlich isoliert gewesen und hatte keine Ahnung, welches Verhalten von Mädchen ihres Alters erwartet wurde. Daher zog sie sich in ihr Schneckenhaus zurück, und sogar einen Monat später hatte die sanfte Nedra es kaum geschafft, sie ein Stück daraus hervorzulocken.

Da sie ein Jahr jünger war als Marianne, stellte sie keine Bedrohung dar. Ihr Äußeres war farblos und ihr Temperament ruhig. So schüchterte sie Marianne weder ein, noch drängte sie sie in den Hintergrund. Wenn Marianne sich von ihren Büchern losreißen konnte, verbrachten die beiden Mädchen manchen Nachmittag miteinander.

Nedra erzählte ihr, dass sie in einem Haus hoch über dem Meer lebte. Marianne beschrieb das ihr so geheimnisvoll erscheinende Kingsbrook. Nedra berichtete Marianne von ihren beiden Brüdern, die beide älter waren als sie, ihrer kränkelnden Mutter und ihrem Vater, der davon lebte, dass er den Seeleuten in der Gegend wasserfeste Kleidung verkaufte … und von ihrem Cousin, in den sie sich schon im Alter von sieben Jahren hoffnungslos verliebt hatte.

Marianne ihrerseits erwähnte wohl ein- oder zweimal ihren Vormund und seine äußere Erscheinung.

Tatsächlich bestürzte es Marianne sehr, dass Mr. Desmond ihr so oft durch den Kopf ging. Zum einen lag das an jenem Umschlag, den sie jede Woche von dem ehrenwerten Mr. Bradley erhielt. „Mr. Desmond hat mich angewiesen, Ihnen ein kleines Taschengeld zu zahlen, das die diversen kleinen Auslagen einer jungen Dame decken soll“, erklärte Mr. Bradley in dem Brief, der den ersten Geldschein begleitete. Für ihre Kleidung war gesorgt, sie bekam zu essen, Unterkunft und Bücher wurden ihr gestellt, und so gab es sehr wenige zusätzliche „kleine Auslagen“, für die sie das Geld hätte ausgeben können.

Jede Woche nahm sie den Geldschein aus dem Umschlag und steckte ihn in das erste, sehr steife und förmliche weiße Kuvert, das sie von der Anwaltskanzlei erhalten hatte. Nach zwei Monaten war dieser Umschlag sehr dick geworden und erinnerte Marianne unweigerlich an Mr. Desmond und an die Gunstbezeugungen, für die er vielleicht im Voraus zu bezahlen glaubte.

Doch noch aus einem anderen Grund fiel es ihr schwer, die Gedanken an Mr. Desmond loszuwerden: Bisher hatte sie nur Onkel Horace und jetzt Mr. Brannon, den Geschichtslehrer, zum Vergleich gehabt, aber nun ging ihr langsam auf, wie ungewöhnlich attraktiv ihr Vormund war.

Mrs. River schrieb Marianne regelmäßig. In fast jedem Brief drängte sie sie, für einige Zeit nach Kingsbrook zu kommen. Marianne beantwortete die Briefe immer, doch die Einladungen lehnte sie ab. Als Vorwand führte sie ihre Studien an, die sie unmöglich unterbrechen konnte.

Doch unerbittlich verstrich die Zeit. Ein Tag folgte auf den anderen. Und im Dezember schien es, als verlasse jedes Mädchen und auch fast jeder Lehrer die Akademie, um die Weihnachtsferien bei Familie und Freunden zu verbringen.

Mrs. Rivers Brief vom dritten Dezember ließ keine Ausflüchte mehr gelten.

Rickers wird am nächsten Wochenende kommen, um Sie abzuholen. Um diese Zeit ist Kingsbrook herrlich, und wir haben Sie alle vermisst. Sogar Mr. Desmond hat mir versprochen, dass er nicht den ganzen Monat in Reading oder London zu tun haben wird, sodass Sie ihn, wenn Sie Glück haben, ebenfalls zu sehen bekommen.

Wir freuen uns darauf, Sie bei uns zu haben.

Ihre Mrs. River

„Wenn Sie Glück haben.“ Als Marianne diese Zeile las, begannen ihre Hände zu zittern, aber sie hatte keinerlei Möglichkeit, die Rückkehr in Mr. Desmonds Haus zu vermeiden.

Kingsbrook war wirklich herrlich.

Das Land war von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, aber am Bach, im Schutz der Bäume, lagen selbst im tiefsten Winter die weißen Flocken auf grünen Pflanzen.

Dieses Mal hielt Rickers die Kutsche vor dem Seiteneingang an, wo die Auffahrt näher an das Haus heranführte. Mrs. River, die auf ihre Ankunft gewartet hatte, riss die hohen Glastüren des Südsalons auf, und noch bevor Marianne eintrat, konnte sie das Knistern des Feuers vernehmen und spürte, wie ein warmer Lufthauch sanft über ihre Wange strich.

„Nur herein! Lassen Sie sich einmal ansehen. Farnham scheint Ihnen zu bekommen, obwohl das Essen in der Akademie nicht besonders zu sein scheint. Ich nehme Ihnen den Mantel und die Haube ab. Alice! Al… ach, da bist du ja. Nimm Miss Trentons Sachen. Und frag Jenny, ob sie noch heiße Brühe vom Mittagessen hat. Bringen Sie diese Taschen über die Hintertreppe nach oben, Rickers. Kommen Sie herein.“

Die Haushälterin führte sie nach drinnen, gluckte wie eine besorgte Mutter um sie herum und überwachte gebieterisch das Abladen ihres Gepäcks.

„Jetzt lassen Sie sich richtig ansehen“, fuhr Mrs. Rickers fort und drehte Marianne in Richtung Fenster, damit sie sie genau betrachten konnte. Staunend schüttelte sie den Kopf. „Im November sind Sie erst siebzehn geworden, und plötzlich sind Sie eine wunderschöne junge Frau. Nein, nein, setzen Sie sich nicht dorthin. Mr. Desmond sagte, Sie sollten in der Bibliothek auf ihn warten, wenn Sie angekommen seien.“

Die Herfahrt von Farnham hatte Marianne offensichtlich ermüdet, daher fand Mrs. River es nicht ungewöhnlich, dass sie blass wurde. Die Haushälterin gab nicht viel darum, legte dem Mädchen die Hand auf den Rücken und schob es auf die Tür des Salons zu.

„Ich nehme doch an, dass Sie noch wissen, wo die Bibliothek liegt. Der Himmel weiß, dass Sie ganz schön viel Zeit dort verbracht haben, als Sie im Frühling hier waren.“

Offenkundig beabsichtigte Mrs. River nicht, mit ihr zur Bibliothek zu gehen. Dies würde ein Gespräch unter vier Augen werden.

„Wa… wartet Mr. Desmond dort auf mich?“, fragte Marianne nervös.

„Im Moment nicht. Er ist die Straße hinunter zu Sir Grissam geritten, um über den Wald zu reden, der ihre beiden Grundstücke verbindet, aber er hat versprochen, es würde nicht lange dauern, und er wollte Sie auf jeden Fall sehen. Ich dachte, in der Bibliothek würden Sie sicher etwas finden, womit sie sich so lange unterhalten können“, erklärte Mrs. River.

„Ja, natürlich“, erwiderte Marianne.

Der Raum war verlassen, wie Mrs. Rivers vorhergesagt hatte. Die Bücher waren Marianne vertraut. Durch die hohen Fenster fiel, von den schweren Vorhängen gedämpft, mattes Licht ein. Das erste, was Marianne tat, war, die Vorhänge zurückzuschieben. Dann drehte sie sich im Kreis und nahm die Regale, den Schreibtisch, die Stühle und den Kamin in Augenschein. Die Trittleiter, über die man die höheren Regalfächer erreichte, die wohlbekannten Titel weiter unten.

Die Bücher, die sie bei ihrem letzten Aufenthalt hier so fasziniert hatten, waren noch da, die einladenden Bände, die sie so leicht in die Hand nehmen, aber nicht hatte lesen können. Sie wusste jetzt, dass sie in Latein und Griechisch geschrieben waren, obwohl ihre sechs Monate Anfängerlatein nicht ausreichten, um etwas davon entziffern zu können.

Sie ließ sich in einen der tiefen Ledersessel fallen, die vor dem Kamin standen. Kurz darauf klopfte es leise an der Tür. Marianne umklammerte die Sessellehnen und blickte sich um. „Kommen …“ Sie räusperte sich. „Kommen Sie herein.“

Doch auf dem Kopf, der erschien, saß ein weißes Spitzenhäubchen, und die schlanke Gestalt gehörte Alice. „Mrs. Rawlins schickt Ihnen etwas Suppe, Miss. Willkommen zu Hause.“

„Es ist sehr schön, wieder daheim zu sein“, antwortete Marianne, ohne darüber nachzudenken, ob es stimmte.

Das zierliche Hausmädchen stellte das Tablett auf dem Tisch neben Marianne ab. „Huhn mit Nudeln, Miss Marianne. Mrs. Rawlins kocht eine wirklich köstliche Hühnersuppe.“

„Ganz bestimmt. Ich habe auch wirklich Hunger, vielen Dank.“

Alice knickste und ließ die junge Dame wieder allein.

Mrs. Rawlins’ Suppe war so gut, wie Alice versprochen hatte, und schon kurz darauf hatte Marianne den Teller geleert und den Löffel beiseite gelegt.

Mariannes Füße waren warm, ihr Hunger gestillt. Sie stellte fest, dass sie nicht mehr ganz so nervös war wie zuvor. Auf dem Tisch neben dem Tablett lag ein Buch, das sie nun aufnahm und zerstreut zu lesen begann. Es ging darin um Bäume, um die verschiedenen Arten, ihr Wachstum und ihre Entwicklung. Nicht eben eine fesselnde Lektüre, obwohl mehr als ein Abschnitt leicht unterstrichen war, was darauf hinwies, dass jemand das Buch mit großem Interesse studierte.

Wenige Minuten später legte Marianne das Buch beiseite und stand ungeduldig auf. Später erinnerte sie sich nicht daran, dass sie einen bewussten Entschluss getroffen hätte, zu Mr. Desmonds Schreibtisch zu gehen. Nachdem sie einmal dort stand, begann sie jedoch, müßig die Papiere und persönlichen Kleinigkeiten darauf zu betrachten.

Neben anderen Dingen lag dort ein dickes, in Glas eingegossenes ausländisches Geldstück, das Mr. Desmond als Briefbeschwerer gebrauchte. Marianne konnte nicht wissen, dass die Münze aus dem ersten Kartenspiel im Ausland stammte, an dem Desmond teilgenommen hatte, als er noch fast ein Knabe war. Damals hatte er noch das Wohlwollen seines Vaters genossen und sich angeblich in Paris aufgehalten, um die Kunst einiger alter Meister zu studieren. Die Münze war kaum ein Symbol des Sieges.

Desmond hatte in jenem Spiel erbärmlich verloren und war gezwungen gewesen, seine „Kunststudien“ abzubrechen. Doch der erfahrene Spieler, der ihm den Großteil seines Geldes abgenommen hatte, hatte ihn auch gelehrt, seine Gegner niemals völlig mittellos zurückzulassen. Monsieur Deveraux hatte ihm die Münze in die Hand gedrückt und ihn eingeladen, ein andermal wiederzukommen. Daraufhin hatte Desmond sich das Geldstück von einem Glasbläser als Erinnerung fassen lassen.

Auf dem Schreibtisch lagen auch ein abgegriffenes Kartenspiel, ein Fingerhut aus Elfenbein und ein kleines Samtbeutelchen mit einem ungeschliffenen Edelstein darin, und jedes Teil hatte seine Geschichte. Die meisten Gegenstände standen mit der einen oder anderen Spieleskapade in Zusammenhang, obwohl der Fingerhut ein Andenken an ein romantischeres Abenteuer darstellte. Marianne, die sich der persönlichen Geschichte hinter jedem Stück nicht bewusst war, betastete sie wenig interessiert und legte sie gedankenlos zurück, bevor sie sich mit dem nächsten Stück beschäftigte.

Zwischen den verschiedenen Andenken befanden sich auch eine Anzahl anderer Dinge, und Mariannes Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln, als sie auf die Unordnung hinunterblickte. Schreibfedern lagen verstreut umher, ein Tintenfass, ein fleckiger Tintenlöscher, Schreibwerkzeuge und Papiere waren aufs Geratewohl zusammengeschoben.

In einer Ecke des Schreibtisches lag ein Stapel Briefe, von denen einige vor langer Zeit abgeschickt waren und die Mr. Desmond, wie sie argwöhnte, größtenteils nie beantwortet hatte. Sie nahm den ersten Umschlag, drehte ihn um und entdeckte, dass er nicht einmal geöffnet war. Belustigt begann sie, die Schreiben durchzusehen, um festzustellen, wie viele nicht gelesen und schon gar nicht beantwortet worden waren.

Marianne hatte den Stapel halb durchgearbeitet, als ihr Gewissen sie zu plagen begann. Was sie da tat, hätte man durchaus als Schnüffelei bezeichnen können. Sie beschloss aufzuhören, nahm aber widerspenstig noch einen letzten Umschlag. Dieser war wenigstens geöffnet worden. Doch dann fiel ihr Blick auf den Absender in der oberen linken Ecke, und sie vergaß sämtliche guten Absichten, Mr. Desmonds Papiere in Ruhe zu lassen.

Der Brief stammte von Mr. Horace Carstairs, East Coventry Lane sechzehn, London. Ohne die geringsten Skrupel öffnete Marianne den Umschlag und nahm den Brief heraus. Er war vor zwei Monaten geschrieben worden, kurz nach dem Ausflug, bei dem Mrs. Avery sie in Reading ins Museum und in die Gemäldegalerie geführt hatte.

Desmond, alter Freund,

ich habe in letzter Zeit oft über unsere beiderseitig vorteilhaften geschäftlichen Transaktionen in den vergangenen Jahren nachgedacht, vor allem über eine, deren Früchte Sie wohl immer noch genießen. Denn Sie haben weder einen Versuch unternommen, mir die junge Dame zurückzuschicken, noch beanstandet, sie sei weggelaufen. Und als ich über diese Sache nachdachte, kam mir eine geniale Idee.

Durch Ihre Beschäftigung sind Sie mit einigen wohlhabender Herren bekannt, die London gelegentlich aufsuchen, in geschäftlichen Angelegenheiten oder auch nur, um an einem Kartenabend in freundschaftlicher Runde teilzunehmen. Diese Männer sind fremd in der Stadt, reisen für gewöhnlich allein und brauchen zweifellos Gesellschaft. Als Herren von Stand wollen sie sich gewiss nicht mit ungewaschenen Straßendirnen abgeben. Und möglicherweise bekleiden sie gewisse gehobene Stellungen, sodass sie sich nicht in der Lage sehen, ein exklusiveres Etablissement aufzusuchen.

Daher ist mein Vorschlag, diesen Gentlemen junge Damen zuzuführen, die ebenso frisch und unverdorben sind, wie die junge Marianne es war, ehe Sie Ihren Anspruch auf sie geltend gemacht haben. Die Herren würden auf ziemlich dieselbe Weise, eben am Kartentisch, zu ihnen kommen, nur dass der Einsatz und das Ergebnis des Spiels im Voraus feststünden.

Den Profit würden wir natürlich teilen, wobei Sie die Kunden beschaffen und ich die Mädchen. Natürlich habe ich kein unerschöpfliches Reservoir an Mündeln, doch ich versichere Ihnen, dass ich in der Lage bin, meinen Teil des Handels zu erfüllen.

Ich glaube, Ihnen mit diesem Vorschlag näher treten zu können, da Sie sich derzeit eines ähnlichen Arrangements erfreuen. Ihr fortgesetzter Gebrauch des Mädchens entspricht natürlich unserer Übereinkunft, und als Gentleman würde ich niemals Einspruch dagegen erheben. Doch unser Arrangement ließ trotz des ausgeklügelten Dokuments, das Ihr Anwalt aufgesetzt hat, gewisse Details offen, und ich bin nicht überzeugt davon, dass es juristisch stichhaltig ist.

Ich warte ungeduldig darauf, von Ihnen eine Antwort auf meinen Vorschlag zu erhalten.

Ihr ergebener Diener H. Carstairs

Entsetzt blickte Marianne auf das Papier, das sie in Händen hielt. Das war zu furchtbar! Onkel Horace schlug vor, Mr. Desmond solle sich mit ihm zusammentun, um andere junge Frauen in dasselbe Unglück zu stürzen wie sie.

In einem Anflug von Selbstironie blickte sie sich in der luxuriös ausgestatteten Bibliothek von Kingsbrook um und gestand sich ein, dass ihr Elend so schlimm nicht war. Doch noch immer betrachtete Mr. Desmond sie offensichtlich als Teil seiner „Spielgewinne“.

Sie würde … sie würde sich lieber umbringen, als sich von diesem Teufel in Besitz nehmen zu lassen. Aber sie konnte auch nicht weglaufen, und sie konnte Desmond nicht verprellen, denn sonst würde er vielleicht nicht länger mit ihr herumspielen, sondern sie einfach zurück zu Carstairs schicken.

Zum ersten Mal wurde Marianne richtig klar, dass sie auf einem sehr schmalen Grat wandelte.

Von der Eingangstür her hörte Marianne Geräusche und fuhr heftig zusammen. Mit zitternden Händen steckte sie den Brief wieder in den Umschlag und diesen in die Mitte des Briefstapels zurück. Schritte näherten sich, und die Stimmen waren jetzt deutlich zu vernehmen.

„Ist Miss Trenton schon da?“, hörte sie eine tiefe, wohl modulierte Männerstimme fragen – unverkennbar die von Mr. Desmond.

„Sie wartet, seit sie eingetroffen ist, in der Bibliothek auf Sie, Sir“, sagte Mrs. River.

„Sehr gut“, meinte Desmond. Nun flog die Tür zur Bibliothek, die Marianne angelehnt gelassen hatte, ganz auf, beinahe, so schien es, vor der Macht seiner Persönlichkeit zurückweichend.

Mr. Desmond trug einen schwarzen Gehrock mit hohem Kragen, über den sein dunkelbrauner Schopf fiel. Sein Haar war, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, noch länger geworden.

Marianne biss sich auf die Lippen, aber das Beben ihres Körpers konnte sie nicht unter Kontrolle bringen. Dies war der Schurke, der abscheuliche Pläne mit ihr hatte und die teuflische Absicht hegte, sich mit Onkel Horace zusammenzutun und „Geschäfte“ mit ihm zu machen. Er war unbarmherzig, ein Ungeheuer und, wie sie bekümmert feststellte, genauso unglaublich gut aussehend, wie sie ihn in Erinnerung hatte.

In seiner Stimme schwang nichts von der Bedrohung mit, die er für sie darstellte. „Mrs. River sagte, Sie hätten hier auf mich gewartet. Ich hoffe doch, nicht allzu lang“, begann er.

„Nein, nicht lange“, flüsterte sie.

„Aber lange genug, wie ich sehe“, meinte er.

Marianne wurde blass und errötete schuldbewusst. Sie fürchtete, sie habe eine verräterische Ecke von Carstairs’ vernichtendem Brief aus dem Stapel hervorschauen lassen. Aber Desmonds Blick war auf das Tablett mit dem leeren Teller gerichtet, das auf dem Lesetisch stand.

„Oh ja. Mrs. Rawlins hat mir einen Teller Suppe geschickt. Ich hoffe, das war recht. Aber nein, natürlich sollte in Ihrer Bibliothek nicht gegessen werden. Ich bringe die Sachen nach draußen in die Küche“, stieß Marianne hervor.

„Nein, nein, das ist schon in Ordnung, Miss Trenton. Lassen Sie das Tablett hier. Mrs. River wird sich darum kümmern.“

Desmond war jetzt vollends ins Zimmer getreten, und seine Persönlichkeit schien den gesamten Raum zu erfüllen. Die Tür ließ er hinter sich offen.

Desmond ging zu einem der Sessel vor dem Feuer, eben jenem, auf dem sie selbst gesessen hatte, und wies auf den anderen. „Setzen Sie sich“, forderte er sie auf.

Dies klang für Marianne wie ein Befehl, und sie trat in ergebenem Gehorsam an den Sessel, den er ihr zugewiesen hatte, und ließ sich auf der äußersten Kante nieder – das Bild eines nervösen Vogels, der sich zu sofortiger Flucht anschickt. Desmond nahm in seinem Sessel Platz. Als er den Ellbogen auf die Armlehnen legte, klapperte das Tablett.

„Sie werden also die Weihnachtsferien hier verbringen“, sagte er.

Er sprach im Plauderton, und seine Bemerkung war harmlos gewesen. Aber Mariannes Blick wanderte unwillkürlich zu dem Briefstapel auf Desmonds Schreibtisch. Wie konnte er so unbekümmert reden angesichts der Pläne, die er schmiedete, der teuflischen Verschwörung, die er anzettelte?

Marianne holte tief Luft und riss ihren Blick vom Schreibtisch los. „Mrs. River hat die Kutsche geschickt“, erwiderte sie zu ihrer Verteidigung. Sie wollte klarstellen, dass es nicht ihre Idee gewesen war zurückzukommen.

„Natürlich. Sie werden sehen, dass Kingsbrook im Winter sehr angenehm ist.“

Marianne schwieg.

Entschlossen, nicht schon wieder zu den Briefen zu sehen, starrte Marianne auf den Fußboden. Mr. Desmond rutschte auf seinem Stuhl herum und räusperte sich.

„Gefällt Ihnen Ihre Schule?“, fragte er.

„Sie ist sehr … passend“, antwortete sie nach einer kurzen Pause, um das richtige Wort zu finden.

„Passend“, wiederholte Desmond nachdenklich. „Tja, etwas Besseres konnte man wohl nicht erwarten.“

Die Sessel, in denen sie saßen, hatten breite Ohren und standen dem Feuer zugewandt, sodass er sie nicht deutlich erkennen konnte. Sie bedauerte das nicht und sagte sich, dass sie ihn ebenfalls nicht sehen wollte. Doch ihr Blick glitt vom Boden zu seinen scharfen Bügelfalten und seinen auf Hochglanz polierten Schuhen weiter nach oben. Vor ihrem inneren Auge sah sie wieder sein zerzaustes Haar und fragte sich abwesend, wie ein Mann, der solche Sorgfalt auf seine Garderobe verwendete, seine Körperpflege so vernachlässigen konnte.

Allerdings scheint sein Körper nicht gerade vor dem Verfall zu stehen, überlegte sie und runzelte dann die Stirn über ihre schändlichen Gedanken.

„Mrs. River hat mir berichtet, Sie seien seit Ihrem Eintritt in die Akademie nicht nach Kingsbrook zurückgekehrt.“

„Nein, Sir“, antwortete Marianne mit schwacher Stimme.

Von neuem saßen sie eine Weile schweigend da. Desmond rutschte wieder auf seinem Sessel herum, und Marianne schluckte hörbar.

„Wirklich, Miss Trenton, Sie dürfen nicht das Gefühl haben, Sie seien auf die Farnham-Akademie verbannt worden“, sagte Desmond schließlich.

„Mir geht es dort ganz ausgezeichnet“, beteuerte sie schnell.

„Das hoffe ich“, meinte Desmond. „Aber trotzdem ist sie bloß eine Schule. Es kann doch nicht angenehm für Sie sein, dort monatelang eingesperrt zu sein. Mrs. River berichtete, sie habe Sie bei zahlreichen Gelegenheiten nach Kingsbrook eingeladen, aber Sie seien ihr immer ausgewichen und hätten angeführt, Ihre Studien hielten Sie so sehr beschäftigt, dass Sie nicht fort könnten. Glauben Sie mir, Miss Trenton, ich weiß, wie fleißig Schülerinnen in Ihrem Alter normalerweise sind, und ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Ihre Bücher Sie sechs Monate lang nicht losgelassen haben.“

„Für gewöhnlich ist das schon so … wenn auch nicht immer“, gestand sie leise.

„Ich habe um dieses halböffentliche Gespräch gebeten …“ Betont blickte er zur Tür, und Marianne musste sich eingestehen, dass er nicht etwa vergessen hatte, sie zu schließen, sondern sie mit Absicht offen gelassen hatte, „… weil ich fürchtete, wir müssten ein Thema anschneiden, das für uns beide schmerzlich ist.“

Er neigte sich in seinem Sessel nach vorn, sodass er sie jetzt deutlich sah. Seine dunklen Augen befanden sich auf einer Höhe mit ihren, und er konnte ihr fest in die großen grünen Augen blicken.

„Miss Trenton … Marianne … ich weiß, dass Sie sich von Kingsbrook ferngehalten haben, um mir aus dem Weg zu gehen.“

Marianne holte tief Luft und schüttelte leicht den Kopf, um diese Unterstellung zurückzuweisen. Sie wollte etwas sagen, doch Desmond hob die Hand, und Marianne schwieg. Ihr Protest wäre auch nicht sehr überzeugend gewesen.

„Was in jener Nacht geschehen ist, war höchst bedauerlich“, fuhr er fort. „Und es hat bei uns beiden tiefe Spuren hinterlassen. Aber deshalb brauchen Sie sich doch nicht in der Akademie zu vergraben.“

„Ich fühle mich sehr wohl in der Akademie in Farnham“, begann Marianne, doch Desmond schnitt ihr das Wort ab.

„Sie vergessen, dass ich die Akademie auch gesehen habe: ein paar graue Gebäude auf einem halben Morgen Land. Wie können Sie es nur aushalten, so lange nicht nach Kingsbrook zu kommen?“, fragte er, und in seiner Stimme schwang aufrichtige Verwunderung mit.

„Ich wollte nicht … Ich dachte nicht …“, stammelte Marianne.

Desmond räusperte sich verlegen. „Natürlich“, sagte er.

Einige Minuten saßen sie schweigend da.

„Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, Miss Trenton“, sagte Desmond schließlich. „Ich sorge dafür, dass ich nicht auf Kingsbrook bin, wenn Sie sich hier aufhalten.“

„Ich … ich kann Sie nicht aus Ihrem eigenen Heim vertreiben“, widersprach Marianne.

„Es sind doch nur ein paar Tage. Wirklich, mir macht es nichts aus. Dann hätten Sie Kingsbrook für sich. Was meinen Sie dazu?“

Er hielt inne und wartete auf ihre Antwort.

Worauf lief das alles hinaus? Was für ein Mensch war Mr. Desmond? Marianne war jung und verstand wenig von der Welt, und vielleicht war das Böse nicht immer leicht zu erkennen. Aber sie hatte Onkel Horace gekannt, und sie wusste, dass er ein schlechter Mensch war. Wenn Mr. Desmond und Onkel Horace gemeinsam dieses niederträchtige Geschäft betrieben, das ihr einstiger Vormund in seinem Brief vorgeschlagen hatte, dann war Mr. Desmond gewiss auch ein schlechter Mensch. Obwohl jeder Charakterzug von Mr. Desmond jedem einzelnen von Onkel Horace entgegengesetzt schien …

Marianne war verwirrt und durcheinander. Und sie war es müde, ständig nach allem Übel in der Welt Ausschau zu halten.

„Kingsbrook ist wirklich schön“, gestand sie leise zu.

„Sie werden also kommen“, sagte er, als sei das schon beschlossene Sache. „Ausgezeichnet. Und wie oft? Jede Woche?“

„Ich glaube nicht, dass einmal die Woche nötig ist, Mr. Desmond, oder dass es klug ist. Ich habe tatsächlich zu arbeiten. Aber vielleicht alle drei Monate. Dann könnte ich Kingsbrook zu jeder Jahreszeit kennen lernen wie in einer Reihe von Stillleben.“ Zwar lächelte sie nicht, aber ihre Miene entspannte sich, als sie sich vorstellte, wie das Gut im Frühling und im Sommer aussehen würde.

„Nun, in diesem Fall scheint mir jede Veränderung als Verbesserung“, meinte Desmond zustimmend. Und erleichtert registrierte er ihren zugänglichen Tonfall, doch er war sich bewusst, dass er bei seinen nächsten Worten wieder verschwunden sein würde. „Also eine Woche alle drei Monate. Ein Letztes …“ Wieder räusperte er sich. „Die Feiertage in der Schule zu verbringen kann entsetzlich eintönig sein, daher möchte ich Sie nicht über Weihnachten oder Ostern in Farnham lassen. Aber zu Weihnachten ließe sich kaum begründen, wenn ich nicht nach Kingsbrook käme. Was meinen Sie, können wir nicht Frieden schließen, solange wir uns notgedrungen zur gleichen Zeit hier aufhalten?“

„Selbstverständlich“, erwiderte Marianne. Doch sie gab ihre Einwilligung nicht ohne Vorbehalte. Sie fürchtete, jede ihrer Begegnungen würde von dunklen Hintergedanken getrübt werden. Genau wie jetzt, dachte sie, als sich mit einemmal das Bild seiner sonnengebräunten, behaarten nackten Beine in ihr Bewusstsein drängte.

„Allerdings ist es so, dass zwischen uns mehr als nur duldsames Schweigen herrschen soll. Sie dürfen nicht vergessen, dass Sie jetzt mein Mündel sind. Ich bin sicher, Mrs. River findet es bereits jetzt eigenartig, dass Sie nie zu Besuch kommen und wir nie einen Versuch unternehmen, einander zu begegnen, obwohl sie sehr wahrscheinlich annimmt, dass Sie mir schreiben, wenn Sie im Internat sind. Aber vor den Dienstboten müssen wir normal miteinander umgehen, und sollte ich Gäste nach Kingsbrook einladen, würden diese auch erwarten, mein Mündel kennen zu lernen. Sie wollen hören, wie wir Höflichkeiten austauschen und uns über alltägliche Dinge unterhalten. Was meinen Sie? Fühlen Sie sich dem gewachsen?“

Marianne schluckte hörbar. Das würde viel schwieriger werden.

„Miss Trenton?“, fragte Desmond. Er beugte sich vor, damit er ihr Gesicht wieder sehen konnte, und fragte ganz behutsam: „Marianne? Schaffen Sie das? Ich bitte Sie nicht, das Geschehene zu vergessen, ich bitte Sie nur, nicht wegen einer einzigen, schrecklichen Nacht in Ihrem Leben von hier fortzubleiben.“

Als er die Episode erwähnte, zuckte sie leicht zusammen, und so unangenehm ihm die Erinnerung war, so konnte er doch sehen, dass es ihr weit schlimmer erging. Trotzdem sah er, dass ihre Augen entschlossen funkelten. Sie reckte das Kinn und nickte.

„Ja. Sicherlich. Ich sehe ein, dass wir um des Scheins willen, zu unsrem Besten, versuchen müssen, uns so ungezwungen wie möglich zu benehmen.“

„So schrecklich wird es schon nicht werden. Sie werden Kingsbrook lieb gewinnen, und ich schwöre feierlich, dass ich mich Ihnen gegenüber wie ein perfekter Gentleman benehmen werde. Und der Schwur eines Desmond ist absolut unwiderruflich“, endete er finster, denn er erinnerte sich an den Eid seines Vaters, damals, vor vielen Jahren, als er ihn zuletzt gesehen hatte.

Marianne wusste nichts mehr zu sagen, und Mr. Desmond erging es offensichtlich nicht anders. Das Knistern des Feuers genügte nicht, um das Schweigen zu überbrücken, und nach einer Weile unbehaglicher Stille erhob Desmond sich aus dem Sessel. Auch Marianne stand auf.

„Wollen wir unser Abkommen nicht mit einem Handschlag besiegeln, Miss Trenton?“, fragte er und streckte ihr steif den Arm entgegen.

Marianne legte die Hand in die seine, und für Desmond fühlte sie sich an wie eine Taubenschwinge, ebenso weich und weiß und genauso zerbrechlich. Er hätte sie mühelos zerdrücken können, obwohl er bestürzt erkannte, dass er ihre Hand am liebsten an die Lippen gezogen und mit heißen Küssen bedeckt hätte, ebenso wie ihren Arm und ihre Schultern. Mit unbewegter Miene drückte er feierlich einmal ihre Hand und gab Marianne daraufhin frei.

Obwohl die Erinnerung an Onkel Horaces Brief Marianne nicht losließ, und trotz ihres verständlichen Misstrauens gegenüber ihrem „Vormund“ gestaltete sich der Aufenthalt auf Kingsbrook nicht so schrecklich, wie sie vielleicht angenommen hatte. Mr. Desmond bestand darauf, dass Mrs. River jeden Abend die große Tafel für sie deckte. Daran saßen sie an entgegengesetzten Enden, und zwischen ihnen befanden sich Salzstreuer, Pfeffermühlen, Kerzenhalter, etliche Trinkgläser, Porzellan, eine ganze Sammlung glänzenden Silbers und eine breite Fläche weißen Damasts.

Er pflegte sie zu fragen, wie es ihr gehe. „Gut“, antwortete sie stets. Er erkundigte sich, wie ihr Kotelett sei. „Es ist köstlich“, erklärte sie. Und was sie heute erlebt habe, wollte er wissen, und sie antwortete so knapp wie möglich.

Damit war ihr Gesprächsthema so gut wie erschöpft, außer wenn Desmond eine Bemerkung über das Wetter machte, was gelegentlich vorkam, oder Marianne Jenny durch Mrs. River ein schüchternes Kompliment über die Suppe oder die Vorspeise zukommen ließ, was ebenfalls ab und zu geschah.

An diesem ersten Abend überdeckten Alices Betriebsamkeit und der Umstand, dass Mrs. River ständig Teller von einem Ende des Tisches zum anderen brachte, das unbehagliche Schweigen, das zwischen Mr. Desmond und seinem Mündel herrschte. An dem Abend, nachdem sie ihr Abkommen geschlossen hatten, erhielt Desmond Besuch von zwei Herren aus London, und Marianne durfte bei Mrs. River in der Küche essen.

„Verzeihen Sie, dass man Sie in die Küche verbannt hat wie ein unartiges Kind. Aber ich versichere Ihnen, dass Sie nichts verpassen, sondern sich einen entsetzlich langweiligen Abend ersparen“, meinte die Haushälterin. „Mr. Desmond und seine Gäste werden während des Essens keine zwei Worte wechseln und sich unmittelbar darauf an den Spieltisch zurückziehen.“

„Ach, ich bitte Sie, Mrs. River. Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen. Ich finde es sehr nett, mit Ihnen und Alice zu Abend zu essen“, erklärte Marianne herzlich.

„Nun, wenn das so ist, dann lassen Sie sich von Jenny einen Teller guten Rindereintopf geben, und setzen Sie sich zu uns.“

Am nächsten Abend hatte Alice sich eine schwere Erkältung zugezogen, und Jenny Rawlins verbannte sie aus Küche und Speisezimmer. Mrs. River hatte sich den ganzen Tag lang um die Haushaltsbücher gekümmert. Mr. Desmond hatte ihr an diesem Morgen ein dickes Bündel Geldscheine überreicht und erklärt, diesen Monat würden Mr. Frederick und Mr. Bartholomew die Rechnungen bezahlen. Unglücklicherweise litt Mrs. River selbst unter Kopfschmerzen. Die Wirtschafterin wies Jenny an, den gedünsteten Fisch und die Rahmkartoffeln auf die Anrichte zu stellen, damit Mr. Desmond und Miss Trenton sich selbst bedienen konnten.

Vormund und Mündel beschlich ein beklommenes Gefühl, als sie von diesem Arrangement erfuhren. Das würde bedeuten, dass sie sich eine ganze Weile allein im selben Zimmer aufhalten mussten. Desmond hätte sich fast entschuldigt, doch dann sah er, wie Marianne entschlossen die Lippen zusammenpresste.

„Es ist gut, Mrs. River“, sagte er und lächelte flüchtig.

Schweigend füllten die beiden ihre Teller. Keiner von ihnen hatte besonders viel Appetit. Doch sie mussten diese Farce trotzdem durchstehen.

„Der Fisch ist gut“, murmelte Desmond nach etlichen Minuten.

„Ausgezeichnet. Sehr guter Fisch“, pflichtete Marianne ihm leise bei.

Während Desmond einfach nur wortkarg schien, waren Mariannes Gedanken von gefährlichen Erinnerungen daran erfüllt, wie sie das letzte Mal allein zusammen gegessen hatten – dem ersten Mal. Damals hatten sie sich lebhaft unterhalten, und Desmond und seine Erzählungen hatten sie wirklich fasziniert. Er hatte sie zum Lachen gebracht. Charmant war er gewesen, wenn auch gewiss voll finsterer Hintergedanken.

Marianne blickte auf und betrachtete Desmond, der am anderen Ende des Tisches saß. Er hatte den Kopf gesenkt und widmete sich dem Essen auf seinem Teller anscheinend mit außerordentlicher Konzentration. Jetzt erschien er ihr nicht gefährlich. Als sie ihn beobachtete, erkannte sie, dass er nicht einfach schweigsam war, sondern sich bei diesem intimen Essen ebenso unbehaglich fühlte wie sie. Die Andeutung eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. Hätte sie es bemerkt, wäre sie verwundert, nein entsetzt gewesen.

„Haben Sie sich gestern beim Abendessen mit Ihren Freunden gut unterhalten?“, fragte sie.

Desmond blickte scharf auf. Die Frage an sich war nicht besonders erstaunlich. Verblüffend jedoch war, dass Marianne sie ihm in einem ganz normalen Konversationston stellte. „Ja“, antwortete er und runzelte verwirrt die Stirn.

„Sie freuen sich sicher sehr, wenn Freunde Sie hier auf Kingsbrook besuchen kommen.“

„Manchmal“, erwiderte Desmond. Dann lächelte er verhalten. „Gestern Abend jedenfalls schon.“

„Außerdem haben Sie ja auch noch Ihre Nachbarn in Kingsbrook. Ich kann mir vorstellen, dass Sie, wohin Sie auch kommen, von Freunden umgeben sind“, bemerkte sie.

„Nun, um die Wahrheit zu sagen, kenne ich meine Nachbarn gar nicht“, gestand Desmond. Marianne hatte ihn überrumpelt, und in seinem Bekenntnis klang mehr Bedauern durch, als er hatte zeigen wollen.

„Überhaupt nicht?“, fragte sie verblüfft.

„Ich habe mich noch nie längere Zeit auf Kingsbrook aufgehalten … vorher“, erklärte er.

„Aber Sie sind doch immer hier“, meinte sie.

„Ja, jetzt schon. Aber früher war das nicht so. Außerdem hatte ich keine Gelegenheit, mich mit ihnen bekannt zu machen.“

Marianne betrachtete ihn ernst. „Dann müssen Sie die Gelegenheit schaffen, Mr. Desmond“, erklärte sie ihm. „Ihre Nachbarn können Sie nicht von sich aus aufsuchen. Als reichster Landbesitzer der Gegend müssen Sie den ersten Schritt tun. Bestimmt geben Sie irgendeine Weihnachtsgesellschaft für Ihre Nachbarn?“

„Ich kann mich eigentlich nicht erinnern, jemals zu Weihnachten auf Kingsbrook gewesen zu sein“, gestand er. Für gewöhnlich reiste er dann auf den Kontinent, wo um diese Zeit in bestimmten Städten die Spieler zusammenkamen und um hohe Einsätze pokerten. Seit zwei oder drei Jahren hatte der unglaublich reiche Graf Anistopholes den Weihnachtsmann gespielt, indem er genug Geld verloren hatte, um Kingsbrook bis zum Frühjahr zu unterhalten.

„Tja, dieses Jahr sind Sie aber hier“, meinte Marianne, womit sie eine unbestreitbare Tatsache feststellte.

„Ja“, gab Desmond seufzend zu, „dieses Jahr bin ich hier.“

„Dann müssen Sie Ihre Nachbarn einladen“, erklärte sie entschieden, griff zu ihrer Gabel und spießte zerstreut eine Kartoffelscheibe auf. „Mrs. River und ich können eine Weihnachtsfeier vorbereiten – klein, inoffiziell, ungezwungen und freundschaftlich, der angemessene Hintergrund, um sich bekannt zu machen. Aber Sie müssen Ihre Nachbarn persönlich einladen. Ach du meine Güte, ich soll ja schon in der ersten Januarwoche nach Farnham zurück! Mrs. River und ich müssen sofort mit den Vorbereitungen beginnen.“

„Eine Weihnachtsfeier?“, fragte Desmond zweifelnd. „Hier?“

„Natürlich hier“, erklärte Marianne nachdrücklich und mit der typischen Zuversicht einer Siebzehnjährigen. Desmond, der kinderlos war, wusste sich gegen die Entschlossenheit des Mädchens nicht zu wehren.

„Wenn Sie meinen …“, begann er unsicher.

Marianne blickte sich im Raum um und schmiedete laut Pläne, aber als er zögernd sein Einverständnis gab, wandte sie sich zu ihm um und lächelte.

Sie hatte keine Ahnung, was in sie gefahren war, aber in diesem Moment war ihr der furchteinflößende Mann am anderen Ende des Tisches beinahe … liebenswert erschienen.

5. KAPITEL

Desmond kannte kaum die Namen seiner Nachbarn und stand nicht gerade auf freundschaftlichem Fuß mit ihnen. Aber nachdem er notgedrungen seine Zustimmung zu der Feier gegeben hatte, woraufhin Marianne und Mrs. River aufgeregt mit den Vorbereitungen begonnen hatten, blieb ihm nichts anderes übrig, als die Einladungen auszusprechen.

Mrs. Jacobs saß sichtlich wie vom Donner gerührt da, als Mr. Desmond im Salon ihres Hauses seine Einladung überbrachte. Der junge Mr. Desmond lebte nun seit fast zehn Jahren auf Kingsbrook – genau genommen konnte man ihn gar nicht mehr als den jungen Mr. Desmond bezeichnen –, und während dieser Zeit hatte er niemals die Freundschaft seiner Nachbarn gesucht, selbst wenn er im Gutshaus lebte und sich nicht im Ausland aufhielt, wo er in fremden Metropolen ein zügelloses Leben führte. Desmond mochte sich als junger Mann ja wüst aufgeführt haben, aber so tief, wie Mrs. Jacobs und einige andere Damen in der Gegend es sich vorstellten, war er nie gesunken.

Nun saß er da, war außerordentlich charmant und lud Mr. und Mrs. Jacobs sowie ihre beiden Töchter für den ersten Weihnachtstag ein.

„Nur eine kleine Zusammenkunft unter Nachbarn. Ich bin sicher, dass Sie die anderen Gäste alle kennen.“

„Zweifellos“, pflichtete Mrs. Jacobs ihm bei.

„Ja, also“, sagte Desmond, und in seiner Stimme schwang eine Spur jungenhafter Schüchternheit mit. „Ich dachte mir, es sei Zeit, Sie ebenfalls kennen zu lernen.“

„Das wäre … nett“, stimmte Mrs. Jacobs ihm wieder zu. Jetzt endlich lächelte sie und nahm damit auch im Namen ihres Mannes sowohl die Einladung als auch das Freundschaftsangebot an. „Wir kommen sehr gern an Weihnachten zu Ihnen nach Kingsbrook, und wir fühlen uns außerordentlich geschmeichelt, dass Sie an uns gedacht haben.“

„Keine Ursache, keine Ursache“, meinte Desmond.

Mrs. Jacobs brachte ihn zur Tür und lächelte ihm zu, während er sein Pferd bestieg. Als er das Tier wendete, winkte sie ihm noch zu und ging erst dann wieder nach drinnen.

Desmond stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Eine Einladung war ausgesprochen und angenommen worden, und er hatte nur noch wenige vor sich. Dank einer rücksichtsvollen Vorsehung war die Gegend um Kingsbrook nur dünn besiedelt. Eigentlich war es nicht so schwierig gewesen, wie er befürchtet hatte, und Mrs. Jacobs schien recht nett zu sein. Sie gehörte sicher nicht zu der Art Damen, mit denen er gewöhnlich Umgang pflegte, doch seine Kindheit lag noch nicht so weit zurück, dass er vergessen hätte, wie angenehm der Umgang mit durch und durch respektablen Frauen sein konnte.

Er kehrte auch bei den Romers und den Martins ein und ritt danach durch die Wälder, um mit Sir Grissam zu reden. Alle schienen überrascht zu sein, ihn zu sehen, sogar der alte Grissam, mit dem er in den letzten zehn Jahren gelegentlich und im letzten Monat sogar zweimal über das verwilderte Waldgebiet zwischen ihren Besitztümern gesprochen hatte. Es ging dabei um eine Idee zu dessen Urbarmachung und die Kosten, die die beiden Güter vielleicht teilen könnten.

Desmond stellte jedoch fest, dass seine Nachbarn nach der ersten Überraschung sehr umgänglich waren, und alle willigten ein, am Weihnachtstag zu ihm zu kommen.

Das hieß allerdings nicht, dass nicht über den Herrn von Kingsbrook geredet wurde, nachdem er fortgeritten war.

„Tja, Mrs. Romer, ich glaube, so etwas könnte man einen Blitz aus heiterem Himmel nennen, meinst du nicht auch?“

„Wahrhaftig, aus heiterem Himmel, Mr. Romer“, pflichtete dessen Gattin ihm bei.

„Zehn Jahre lebt der Bursche dort wie ein Einsiedler …“

Wenn er dort lebt, obwohl ich gehört habe …“

„Ja, ja, ich kenne die ganzen Geschichten auch. Trotzdem scheint er ein ganz netter Kerl zu sein. Und er hat das Blut der Chadburns. Wir wissen, dass er aus einer guten Familie stammt.“

„Meinst du wirklich, wir sollten die Jungen mitnehmen?“, fragte Mrs. Romer zweifelnd. Vielleicht hatte ihr Mann nicht alle Geschichten gehört, die sie und einige der anderen Damen sich beim Tee erzählt hatten.

„Desmond hat sie schließlich eingeladen, oder? Und freundlich war er noch dazu. Meinst du, dass sein Mündel etwas damit zu tun hat? Vielleicht will er das Mädchen einigen der jungen Herren aus der Umgebung von Kingsbrook vorstellen. Ganz hübsch raffiniert“, überlegte Mr. Romer.

Mrs. Romer, die üblicherweise keine Frau war, die sich einen so fetten Köder entgehen ließ, reagierte nicht mit der Begeisterung, die er erwartete. Aber schließlich hatte sie auch einige Geschichten über Desmonds „Mündel“ gehört.

Die Romers waren nicht die einzigen, die über Mr. Desmonds Einladung und dessen unerwartet charmantes Auftreten spekulierten. Doch das hielt keinen der Nachbarn davon ab, ihm am Weihnachtstag ihre Aufwartung zu machen.

Auf Kingsbrook war man in heller Aufregung, seitdem Marianne die Feier vorgeschlagen hatte. Zum ersten Mal, seit dem Tod des Grafen, schickten Mrs. River und Mrs. Rawlins sich an, Gäste zu empfangen.

Um acht Uhr am Weihnachtsabend trafen die Gäste ein. Marianne, äußerst angetan, dass ihr Einfall so herrliche Früchte getragen hatte, stand mit Mr. Desmond an der Tür zum Speisesaal und begrüßte die Nachbarn.

„Dies ist Mrs. Jacobs. Mrs. Jacobs, mein Mündel, Miss Marianne Trenton. Miss Trenton hat mir erzählt, wie sehr sie sich darauf freut, Sie kennen zu lernen“, pflegte Desmond zu sagen, worauf er den Gast weiter bat und sich erstaunliche Mühe gab, damit sich sowohl der Gast als auch sein Mündel wohl fühlten.

Zum Dinner hatte Mrs. Rawlins eine Gans, drei Enten und einen gepökelten Schinken gebraten und eine große Pfanne mit Kartoffeln, Rüben, Möhren und Zwiebeln gefüllt.

Mr. Desmond wies James an, eine Flasche Wein aus dem Keller zu holen.

James brachte zwei.

Sir Grissam erzählte eine haarsträubende Geschichte über die höchst anständige Lady Steepleton und Will Pellan, den Schneider aus London, der versucht hatte, von ihr für einen neuen Anzug die Maße von Lord Steepleton zu erfahren. Mr. Pellan fragte Lady Steepleton nach der Taillenweite ihres Mannes. Sie teilte ihm mit, ihr Mann und sie hätten praktisch dieselbe Größe, und so musste Pellan die Taille der Dame messen. Es stellte sich heraus, dass der Körperbau von Lord und Lady Steepleton fast bis ins Detail übereinstimmte, und Mr. Pellan wurde gebeten, seine gesamten Maße von Lady Steepleton zu nehmen.

Diese Geschichte, die Lady Steepleton stets in arge Verlegenheit brachte, wurde sie in ihrer Gegenwart erzählt, gab Lord Steepleton selbst oft und gern zum Besten. Auch auf Kingsbrook rief sie lautes Gelächter hervor. Je weiter Sir Grissam sie ausschmückte, je öfter James mit der Karaffe Wein den Tisch umrundete, desto lustiger erschien die Erzählung.

Schließlich schickte Mrs. River Tilly und Alice, Kaffee eine kleine Platte Petit fours zu servieren. Mr. Martin ließ den Kopf hängen und begann, leise zu schnarchen. Teddy und Ross, die beiden ältesten Söhne der Romers, stießen einander in die Rippen und prusteten vor Lachen. Mr. Romer warf ihnen einen vernichtenden Blick zu, und schließlich verkündete Mrs. Romer mit ihrer vornehmen, leisen Stimme, es sei Zeit, nach Hause zu fahren.

Jedermann gab zu, es sei zwar spät geworden, doch es sei so gemütlich, dass es schwer falle, aufzubrechen.

„Die Deklination von nauta, der Seemann. Miss Prince, beginnen Sie.“

Sylvia Prince war ein hoch aufgeschossenes Mädchen, grobknochig und mit eckigem Kinn. Sie und Judith Eastman waren die besten Freundinnen und praktisch unzertrennlich. Falls Marianne sich überhaupt damit aufhielt, über sie nachzudenken, dann verblüffte sie diese Freundschaft, denn die beiden Mädchen waren grundverschieden. Miss Eastman war eine kluge junge Dame mit ausgeprägten Ansichten und scharfem Intellekt. Sie war recht hübsch und trat so selbstbewusst auf, dass man sie stets für schöner hielt, als sie eigentlich war.

Miss Prince dagegen war eher beharrlich als intelligent, ahmte lieber andere nach, statt sich eine eigene Meinung zu bilden, und war der humorloseste Mensch, den Marianne je kennen gelernt hatte.

Die Lehrer an der Akademie von Farnham mochten Miss Prince jedoch, weil sie ihren Unterrichtsstoff stets ernst nahm. Miss Prince nahm eben alles ernst.

Nun stand sie neben ihrem Pult auf und begann mit der Deklination. „Nauta, nautae, nautae, nautam, nauta.“

„Sehr gut, Miss Prince. Miss Baxter, silva, der Wald. Beginnen Sie.“

Ein Mädchen nach dem anderen erhob sich und deklinierte die lateinischen Substantive, die Mrs. Avery ihnen vorgab. Das war nicht schwer – von ihrer ersten Unterrichtsstunde an hatten sie solche Übungen gemacht –, und trotzdem fiel es Marianne nicht leicht, sich zu konzentrieren.

Es war März. Obwohl es noch nicht warm und die winterliche Kälte endgültig vorbei war, fühlte Marianne sich außerstande, ihre Aufmerksamkeit auf den Lehrstoff zu richten. Und ganz bestimmt nicht auf Mrs. Avery.

„Miss Trenton, terra, das Land.“

Schuldbewusst zuckte Marianne zusammen und stand auf.

„Terra“, wiederholte sie. „Terrarum, terris …“

„Nicht im Plural, Miss Trenton. Im Singular. Versuchen Sie es noch einmal. Terra …“

Eigentlich machte Marianne in Farnham gute Lernfortschritte. Die liebe Mrs. Grey hatte den Schülerinnen endlich gestattet, einige der Biographien des Plutarch in ihren Literaturkanon aufzunehmen. Die Mädchen in der Akademie hatten über Perikles und Coriolanus gelesen. Sobald sie Julius Cäsar hinter sich gebracht hatten, würden sie sich, wie Mrs. Grey andeutete, vielleicht mit den Bekenntnissen des Heiligen Augustinus beschäftigen.

Einige der Mädchen hatten die Hoffnung, Augustinus habe vielleicht ein wild bewegtes, lasterhaftes Leben geführt und schwere Sünden begangen, die zu bekennen er sich genötigt gefühlt hätte. Doch so, wie Marianne Mrs. Grey kannte, hegte sie keine derartigen Erwartungen.

Wehmütig schweifte Mariannes Blick wieder zum Fenster. In ihrer Freizeit wanderte sie mit Nedra über die Feldwege in der Umgebung der Farnham-Akademie. Das Gras wurde schon grün, obwohl die wenigen Blumen, die schon im März blühten, noch fest geschlossen waren, mit Ausnahme der Narzissen und Krokusse, die beim ersten Sonnenschein ihre ganze Farbenpracht entfaltet hatten.

Jedes frische Blatt, jedes zirpende Insekt erinnerte Marianne an Kingsbrook. Sie stellte sich vor, wie sie mit den Fingerspitzen über das hohe Gras auf der Wiese strich, das seit dem letzten Jahr vertrocknet war und erst jetzt durch frisches Grün ersetzt wurde.

Auch die Singvögel würden sich zu dieser frühen Jahreszeit anders verhalten. Im letzten Juni hatten sie fröhlich und selbstzufrieden gewirkt, aber im Mai würden sie laut und heiser singen und versuchen, einander mit ihren Balzgesängen zu übertreffen.

Und sie stellte sich die Laube vor, sah sich selbst im kühlen Schatten sitzen, eines der Bücher aus der Bibliothek von Kingsbrook in der Hand haltend. Dort würde es ihr noch schwerer als in Mrs. Averys Lateinunterricht fallen, sich auf die gedruckte Seite zu konzentrieren. Jedes unerwartete Geräusch würde sie erschrocken aufblicken lassen …

Weil sie dieselbe Person erwartete, die sie bei ihrem ersten Aufenthalt dort überrascht hatte? Ernst und abweisend wirkend, das Haar zerzaust? Und würde sie enttäuscht sein, wenn sie jedes Mal nur einen Hasen oder einen Vogel sah?

Doch an der Farnham-Akademie war die Landschaft im kühlen Monat März nicht ganz so idyllisch, und nachdem die beiden eine Woche lang in der feuchten Kälte draußen umhergewandert waren, zog Nedra sich eine fiebrige Erkältung zu. Man stellte ihr Lager in die Krankenstation und verordnete ihr strengste Bettruhe.

„Geht es dir besser?“, fragte Marianne am folgenden Tag hoffnungsvoll von der Tür aus.

„Ich habe schon vergessen, wie sich das anfühlt“, meinte Nedra und drehte sich stöhnend auf die Seite.

Autor

Deborah Simmons

Die ehemalige Journalistin Deborah wurde durch ihre Vorliebe für historische Romane angespornt, selbst Historicals zu schreiben. Ihr erster Roman "Heart's Masquerade" erschien 1989, und seitdem hat sie mehr als 25 Romane und Kurzgeschichten verfasst. Zwei schafften es bis ins Finale der alljährlichen RITA Awards, einer Auszeichnung für besondere Leistungen im...

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Die britische Schriftstellerin Nicola Cornick schreibt überwiegend Liebesromane, die in der Zeit des britschen Regency spielen. Sie ist aktives Mitglied der britischen “Romantic Novelists’ Association”, zudem erhielt sie zahlreiche Preise unter anderem den RITA-Award. Ihr erstes Buch wurde 1998 von Mills & Boon veröffentlicht. Sie zählt zu den Bestseller-Autoren der...

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