Das Herz des Löwen
PROLOG
Im schottischen Hochland
Juli 1358
Die Strahlen der aufgehenden Sonne vermochten kaum die unheilvollen Wolken über Curthill Castle zu durchdringen. Trotz der frühen Stunde drängten sich Soldaten an den Wehrgängen der Burg, die Jahrhunderte zuvor auf den natürlichen Verteidigungsbastionen steiler, dunkler Klippen errichtet worden war.
„Passt auf, Leute!“, mahnte der Hauptmann. „Bald werden sie kommen.“ Nach der durchwachten Nacht rieb sich Archie Sutherland müde die Augen.
„Da, ein Schiff!“, rief der Beobachtungsposten.
Sofort verflog Archies Müdigkeit. Diesem Augenblick fieberte er entgegen, seit er erfahren hatte, Lionel Carmichaels Schiff würde, einen Trupp Soldaten an Bord, nordwärts segeln. Dem Dudelsackspieler befahl er, das Alarmsignal zu geben. „Alle Posten müssen bereitstehen, die Besatzung der Hawk muss sofort Nachricht erhalten“, rief er. „Sobald ich Mylord mitgeteilt habe, das Schiff sei gesichtet worden, komme ich zurück.“
Das schrille, gespenstische Kreischen des Dudelsacks riss die Sutherlands aus den Betten und übertönte das Gepolter der Zugbrücke, die nun herabgelassen wurde. Archie ritt aus der Burg. Da die Zeit drängte, galoppierte er in halsbrecherischer Geschwindigkeit den steilen, gewundenen Weg zum Dorf hinab, das im Windschatten der Klippe lag.
Türen und Fensterläden flogen auf, während er an Holz- und Steinhäusern vorbeisprengte. Angstvolle Stimmen fragten nach dem Feind, der Curthill in den letzten zehn Monaten zweimal attackiert hatte, aber Archie beachtete sie nicht. Erst als er den schmalen Felsenstrand erreichte, wo die Fischerboote lagen, hielt er inne. Dreißig bewaffnete Krieger in ihren Rüstungen sahen ihm entgegen. Er sprang aus dem Sattel und lief zu dem kostbar gekleideten Mann, der sich an einem kleinen Lagerfeuer wärmte. „Carmichaels Schiff segelt auf uns zu, Mylord“, keuchte er.
„Ah!“ Erwartungsvoll wandte sich der Lord zur See. Er war hochgewachsen und gertenschlank, mit scharf geschnittenen Zügen. Trotz seiner schottischen Herkunft trug er eine Rüstung im französischen Stil. Seine hellen Augen verengten sich, als er die Segel des feindlichen Schiffes entdeckte. Und sein Puls beschleunigte sich, im Einklang mit den rastlos schäumenden Wellen, die gegen die Felsbrocken schlugen. Bald würde Carmichael mitsamt seinem Gefolge auf dem dunklen Meeresgrund ruhen, ein passendes Ende für einen Mann, der es wagte, seine Pläne zu durchkreuzen. „Habt Ihr mein Schiff alarmiert?“, fragte er Archie.
„Aye. Alle Eure Befehle wurden befolgt, Mylord. Die Bogenschützen stehen auf den Klippen bereit. Sobald Carmichael in den Hafen eindringt, segelt die Hawk aus der Bucht und greift sein Schiff von hinten an.“
Ein dünnes, kaltes Lächeln belohnte diese Antwort. „Das dürfte dem alten Lionel Carmichael die größte Überraschung seines Lebens bescheren, was?“
„Den nehmen wir ganz schön in die Zange.“ Boshaft stimmte der Hauptmann in das Gelächter seines Anführers ein. „Ich würde meinen Anteil an unserer nächsten Beute dafür geben, könnte ich Carmichaels Gesicht sehen, wenn er merkt, dass Curthill keineswegs ein schutzloses Fischerdorf ist.“
„Nein, das ist es gewiss nicht.“ Der Lord blickte zu den schäbigen Hütten hinüber, die so viel verbargen – die Bewohner und die Arbeit, die sie nachts verrichteten. „Die Dinge haben sich großartig entwickelt“, sagte er mehr zu sich selbst.
Der Hauptmann spuckte auf den steinigen Boden. „Warum gab Carmichael sich nicht mit unserer Behauptung zufrieden, sein Sohn habe einen tödlichen Jagdunfall erlitten?“
„Die Carmichaels halten fest zusammen. Wahrscheinlich macht es für den Alten gar keinen Unterschied, wie Lion gestorben ist. Er will Blut sehen – Sutherland-Blut – und seinen geliebten Erben rächen.“
„Nun, diesmal werden wir ihm Einhalt gebieten, ein für alle Mal. Zum Glück ist die Hawk erst kürzlich in den Hafen eingelaufen, mit reicher Beute. Sonst stünden uns im Kampf gegen Carmichael nur die Burggarnison und Eure Söldner zur Verfügung.“
„Ja, und wir können’s uns nicht leisten, Lionel Carmichael noch länger gewähren zu lassen. Alle paar Monate segelt er hierher und vereitelt unsere Pläne. Wenn wir ihm diesmal nicht den Garaus machen, beschwere ich mich beim König. Er erhielt damals einen lückenlosen Bericht über Lions Tod. Und er weiß, wie tief wir den unglückseligen Zwischenfall bedauern.“ Voller Genugtuung erinnerte sich Seine Lordschaft an den Tag, wo er während der Jagd einen Streit vom Zaun gebrochen und den jungen Ritter beseitigt hatte, der zu einem zweifachen Ärgernis geworden war – in geschäftlicher und persönlicher Hinsicht. „König David war so bewegt angesichts unserer misslichen Lage, dass er versprach, Carmichael mit Acht und Bann zu belegen, sollte der Mann noch weitere Rachefeldzüge unternehmen.“
„Und wenn der König seine Ritter hierher schickt?“
„Was würden sie finden?“, fragte der Lord mit jenem sanften, unschuldigen Lächeln, das schon viele Leute veranlasst hatte, ihn zu unterschätzen. „Ein paar Dorfbewohner, die ihrem ehrbaren Tagewerk nachgehen.“
„Und ein Lagerhaus, vollgestopft mit Sachen, von denen der König nichts ahnt.“
Verächtlich schnaufte Seine Lordschaft. „Ihr führt Euch auf wie ein altes Weib. Nun betreiben wir unsere Geschäfte schon seit zwei Jahren, und niemand hat etwas gemerkt. Nicht einmal Megan Sutherland, die sich einbildet, sie wüsste ganz genau, was in Curthill Castle und im Dorf geschieht.“
„Ja, sie wurde ebenso zum Narren gehalten wie die anderen.“ Archie kicherte. „Nur der junge Lion schöpfte Verdacht.“
„Aber bevor er irgendetwas herausfinden konnte, brachten wir ihn zum Schweigen“, betonte der Herr von Curthill. „So wird es auch allen anderen ergehen, die hier herumschnüffeln und uns ins Handwerk pfuschen wollen.“
1. KAPITEL
Im schottischen Tiefland
Schloss Carmichael
Laird Lionel ist zurückgekehrt.“ Owain of Llangollen sprach mit leiser Stimme, aber sein Herr, der die Einschnitte eines Kerbholzes studiert hatte, richtete sich ruckartig auf.
„Ist er unverletzt?“, fragte Ross Carmichael, die leuchtend blauen Augen voller Angst.
„Ja.“ Owain betrat das Kontor. „Aber Euer Vater trägt den Kopf nicht mehr so hoch wie bei seinem Aufbruch zu dieser Jagd.“
Ross umklammerte das Kerbholz so fest, dass es beinahe zerbrach. „Gewiss lockte ihn kein Rotwild in den Norden, sondern der Sutherland-Clan.“
„Ja, wahrscheinlich“, stimmte der Waliser zu.
„Verdammt! Wenn der König davon erfährt …“
„Das bezweifle ich. Der beschwerliche Ritt vom Sutherland-Gebiet am Dornoch Firth bis nach Edinburgh dauert zwei Wochen.“
„Aber auf dem Seeweg nur vier Tage. Deshalb kam Vater so schnell zurück. Zum Teufel mit seiner Rachsucht!“ Erbost warf Ross das Kerbholz zu Boden und sprang auf. „Wo er meiner Mutter und mir doch versprochen hat, die Sutherlands nicht mehr zu verfolgen!“ Er ging zum schmalen Fensterschlitz und stützte beide Hände gegen die Steinmauer. Die letzten Sonnenstrahlen fielen auf sein markantes Profil mit der breiten Stirn, der aristokratischen Nase, dem eigenwilligen Kinn. Sein hochgewachsener, muskulöser Körper bebte, als er seinen Zorn zu bezähmen suchte. Und es gelang ihm.
Nach all den Jahren, in denen er seinen Vater vor Wut toben sah, hat er gelernt, seine eigenen Leidenschaften im Zaum zu halten, dachte Owain. Die kühle Vernunft seines jungen Herrn hatte ihn bewogen, seine walisische Heimat zu verlassen und ihm zu dienen. Aber Laird Lionels wilder Rachedurst stellte Ross’ Geduld auf eine harte Probe. „Ein Vater hat das Recht, Sühne für den Tod seines ältesten Sohnes und Erben zu fordern“, meinte Owain beschwichtigend.
Davon wollte Ross nichts hören. „Wenn König David das erfährt, wird er uns alle zur Rechenschaft ziehen, so wie er es letztes Mal androhte, als Vater im Hochland zur ‚Jagd‘ ging.“
Owain nickte. Nicht die Sorge um sich selbst bedrückte Ross, sondern die Angst um seine Mutter, die sechs Geschwister und den ganzen Clan. Er nahm seine neue Verantwortung als Erbe sehr ernst, seit Lion vor zehn Monaten gestorben war, während er die Burg Curthill aufgesucht hatte, um Siusan Sutherland zu heiraten. „Vielleicht solltet Ihr zum König gehen und ihm alles erklären“, schlug der Waliser vor.
„Was denn?“ Ross drehte sich verbittert um. „Dass Vater nicht an einen Jagdunfall glauben will, trotz aller Zeugenaussagen behauptet, Eammon Sutherland habe Lion getötet, und weder ruhen noch rasten wird, bis das Blut der Sutherlands die See rot färbt? Davon lässt er sich nicht einmal abbringen, wenn der ganze Clan Carmichael mit Acht und Bann belegt wird.“ Seufzend strich er das dichte schwarze Haar aus der Stirn, das er von seinem Vater geerbt hatte.
„Vermutlich gestattet Euch der Laird nach dieser letzten Niederlage, jemanden nach Curthill zu schicken, der den Sutherlands nachspionieren und die Wahrheit herausfinden könnte.“
„Vater hört nicht auf meine Ratschläge.“ Das verletzte Ross, aber nicht so schmerzlich wie die Weigerung des Vaters, ihn offiziell zum Erben zu ernennen. Inzwischen waren zehn Monate seit Lions Tod verstrichen – und vier seit der Rückkehr des zweitältesten Sohnes aus dem Krieg in Wales. „Die Wahrheit kümmert ihn nicht. Er will nur möglichst viele Sutherlands töten.“
„Aye, manchmal beschwört die Trauer einen solchen Wahn herauf.“
„Ich sollte ihn an sein Bett fesseln, bis er wieder zur Vernunft kommt, sonst bringt uns seine Rachsucht noch ins Grab. Ich segle selbst nach Curthill.“
Erschrocken eilte Owain zu seinem Herrn und packte ihn bei den Schultern. „Dieser Wahnsinn muss ansteckend sein. Was hofft Ihr zu gewinnen, wenn Ihr Euch in Gefahr bringt?“
„Die Wahrheit.“
„Glaubt Ihr, Laird Lionel gibt sich zufrieden, wenn Ihr den armen Burschen anschleppt, dessen Pfeil versehentlich in Lions Rücken stecken blieb? So einfach ist das nicht. Es würde die tiefe Trauer Eures Vaters nicht mildern.“
„Aber die Wahrheit ist alles, was ich ihm zu bieten vermag. Und wenn er dann immer noch von seinem Wahn besessen ist, sperre ich ihn in den Turm.“
„Ross Carmichael, wie kannst du es wagen!“, rief eine Kinderstimme, und er sah seine elfjährige Schwester in der Tür stehen, die Arme vor der Brust verschränkt, die violetten Augen voller Zorn.
Besänftigend hob er eine Hand. „Elspeth, das verstehst du nicht …“
„Ich komme hierher, um dir von Vaters Heimkehr zu berichten, und ertappe dich bei einem Komplott gegen ihn, du Verräter!“ Wütend stürmte sie davon.
„Ehe sie irgendwelchen Unsinn erzählt und alles noch schlimmer macht, gehe ich ihr lieber nach.“ Zuvor nahm Ross sich noch genug Zeit, um die Kerbhölzer und das Buch, in dem die Zahlungen der Pächter eingetragen wurden, in einer Kassette zu verschließen. Seit seinem zwölften Lebensjahr erledigte er die Buchhaltung, denn weder sein Vater noch Lion hatten sich je dafür interessiert.
Er holte tief Atem und überlegte, wie er den Zorn des Lairds am besten bezähmen konnte. Früher hatte er die lebhaften Diskussionen mit dem Vater genossen, aber seit Lions Tod nicht mehr. Denn hinter diesen Willenskämpfen steckten zu viele Schuldgefühle, zu viel Leid. Könnte er doch zurücknehmen, was er an jenem verhängnisvollen Tag gesagt hatte, bevor Lion nach Curthill aufgebrochen war … Aber es gab kein Zurück. Und zwischen Ross und seinem Vater würde niemals Friede herrschen.
Energisch schloss er die Tür zur Vergangenheit und verließ das Schlafgemach hoch oben in der alten Festung, vom ersten Laird Carmichael erbaut. Er stieg die steile, schmale Turmtreppe hinab, deren enge Windungen jeweils nur einem eventuellen Angreifer Platz boten, dann betrat er das Kopfsteinpflaster des Hofs, an allen Ecken von Türmen flankiert, die spätere Generationen des wohlhabenden Clans hinzugefügt hatten. Wie mächtige graue Wächter hüteten sie die niedrigeren Bauten, die Kapelle, die Küche und die Stallungen. Trotz seines inneren Aufruhrs empfand Ross unbändigen Stolz beim Anblick des Lebens und Treibens innerhalb der Mauern der Burg, die er jetzt als sein Erbe betrachtete.
Seit seiner Rückkehr vom Waliser Feldzug trugen seine Kenntnisse in der Landwirtschaft und sein Geschäftssinn reiche Früchte, während andere Clans darbten. Klug und gerecht schlichtete er alle Streitigkeiten zwischen seinen Clansleuten, die ihm Respekt zollten. Aber solange der Laird zögerte, ihn offiziell zum Erben zu ernennen, untergrub er die Bemühungen und Erfolge seines Sohnes.
Im Hof tummelten sich Lionels Männer, die nach der Heimkehr ihre Pferde versorgten und das Rüstzeug wegbrachten. Einige nickten ihm lächelnd zu, andere wichen seinem Blick aus. Andrew Carmichael spuckte zu Boden, als Ross auf ihn zukam, und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin.
Ärgerlich presste Ross die Lippen zusammen. Verdammt, er wollte sich nicht mit dem grauhaarigen Ritter streiten, Lions einstigem stellvertretenden Kommandanten. Nicht, weil er die Fechtkunst des Mannes fürchtete, der beide Brüder gelehrt hatte, das Schwert zu schwingen, sondern weil ein Zwist die Lage noch verschlechtern würde. Eine seltsame Spannung knisterte in der Luft, die Männer fanden sich zu Gruppen zusammen, ergriffen Partei für diese oder jene Seite, und Ross wusste, dass er die Bemerkung nicht überhören durfte. Sonst würde man ihn für einen Schwächling halten. „Habt Ihr mir etwas mitzuteilen, Andrew?“
Das wettergegerbte Gesicht des Ritters nahm fast die gleiche Farbe an wie die roten Strähnen, die sein graues Haar immer noch durchzogen. Seine braunen Augen drückten Verachtung aus. „Ich sagte nur, Ihr seht völlig erschöpft aus, nachdem Ihr während unserer Abwesenheit unentwegt über Euren Büchern gehockt habt.“
Diese Attacke vonseiten eines Mannes, den er stets bewundert und der bis zu Lions Tod sein Freund gewesen war, verletzte Ross. „Nur gut, dass ich mich um die Geschäfte kümmere!“, stieß er hervor. „Denn sonst könnten wir das Rüstzeug, das Ihr für Eure ‚Jagdausflüge‘ braucht, bald nicht mehr bezahlen.“ Er bedachte Andrew mit einem vernichtenden Blick. Dann musterte er die anderen Männer und entdeckte mehrere blutige Verbände. Einige Pferde hatten ebenfalls Wunden davongetragen. „Vermutlich finde ich den Laird in der Halle“, fügte er hinzu und ging davon.
Als er den Eingang erreichte, hallte die zornige Stimme seines Vaters vom hohen Gewölbe wider. „Wir waren tatsächlich auf der Jagd!“ Auch hier erfüllte eine spürbare Spannung die schwüle Sommerluft, in der sich die seidenen Banner an den Deckenbalken kaum bewegten. An den langen Tischen saßen neugierige Carmichaels. Sogar die Figuren auf den Wandteppichen schienen den Laird anzustarren. Dienerinnen eilten umher, die Brot, Speck, Käse und Ale zur Stärkung anboten.
Lionel stand vor dem großen Kamin, in dem um diese Jahreszeit kein Feuer brannte. „Die Sutherlands müssen bestraft werden!“, brüllte er. Zu seiner Rechten stand Elspeth, und als sie Ross entdeckte, zupfte sie am Ärmel des Vaters. Aber dessen Aufmerksamkeit galt der kleinen, zierlichen Frau, die seinen Blick furchtlos erwiderte.
„Es wäre ein sinnloser Sieg, wenn der König uns mit Acht und Bann belegte“, erinnerte ihn Carina Carmichael. Tapfer stand sie vor ihm, gewandet in blaue Seide, die zu ihren Augen passte. Nie hatte Ross seine Mutter so sehr bewundert wie in diesem Moment. Sie war klug, loyal und charakterstark. Keine Frau konnte sich mit ihr messen, schon gar nicht Rhiannon, die walisische Hexe, deren Verrat so viel Leid heraufbeschworen hatte.
„Ich habe das Recht, den Tod meines Sohnes zu rächen!“, schrie der Laird und hob eine Hand, aber niemand fürchtete, er könnte seine Gemahlin schlagen. Trotz seines zügellosen Temperaments liebte er sie zärtlich und hatte seinen Söhnen stets eingeschärft, man müsse die Frauen ehren und schützen, dürfe sie niemals missachten und prügeln, wie es so manche Männer taten.
Wegen dieser Lektion war ich eine leichte Beute für die tückische Rhiannon, dachte Ross, während er zwischen den Tischen zu seinen Eltern eilte. Nie wieder würde er einer Frau trauen, die nicht seinem Clan angehörte.
„Lion war auch mein Sohn“, betonte Carina.
Schwer sanken Lionels Schultern nach vorn. Die Zornesröte konnte das fahle Grau der Müdigkeit und Verzweiflung, das seine Wangen überzog, nicht verdecken. Wie gern hätte Ross ihn umarmt … Aber der Vater hätte ihn zurückgewiesen, wünschte weder das Mitleid noch die Zuneigung seines zweitältesten Sohnes.
„Nun, hast du diesmal jemanden getötet?“, fragte Ross kühl.
„Nein. Die Sutherlands, diese Schurken, schickten Piraten los, die uns von hinten angriffen. Aber wir konnten rechtzeitig fliehen und müssen nicht mehr beklagen als einen gebrochenen Mast und ein paar blutige Kratzer.“
„Ja, diesmal …“
Die Kinnmuskeln des Lairds verkrampften sich. „Wenigstens wollen die Ritter und ich Lions Tod rächen. Zumindest wir haben keine Angst vor den Sutherlands.“
„Du fürchtest nur die Wahrheit. Deshalb verbietest du mir, Ermittlungen in Curthill durchführen zu lassen. Denn es könnte sich herausstellen, dass Lion tatsächlich einen Unfall erlitten hat.“ Ein Raunen ging durch die Halle, gespannt beugten sich die Zuschauer vor.
„Lionel, Ross – oben in meinem Gemach könnten wir ungestört reden“, schlug Mylady Carina vor.
Wortlos stapfte Lionel zur Treppe. Wie eine Klette hing Elspeth an seiner Hand.
„Warum musst du ihn so bedrängen?“, fragte ihn die Mutter, während sie mit Ross die Stufen hinaufstieg.
„Weil ich nach Curthill fahren und herausfinden möchte, was wirklich mit Lion geschehen ist. Nur dann werden wir wieder in Frieden leben können.“
„Du darfst dir keine Vorwürfe machen, Ross.“
„Hätte ich Lion begleitet, statt mein Wort zu halten und in Wales zu kämpfen, wäre er vielleicht nicht gestorben.“
Seine Verzweiflung ging ihr sehr nahe. So schmerzlich sie auch um den Erstgeborenen trauerte, nun betrachtete sie es als ihre Pflicht, Ross über seine Schuldgefühle hinwegzuhelfen, die Kluft zwischen Vater und Sohn zu überbrücken. Wenn bloß keine so krassen Gegensätze zwischen den beiden bestünden … War es ein Fehler gewesen, dem Sohn ihres Herzens beizubringen, dass nicht nur der Kampf und die Jagd das Leben eines Mannes bestimmten, dass noch andere Dinge zählten?
Nein, er war tapfer und loyal, einfühlsam und klug genug, um die Gefahr zu erkennen, in die man sich begab, wenn man ein Gebot des Königs missachtete. Ross hatte die Waliser bekämpft, als die Nachricht von Lions Tod eingetroffen war, und erst vor wenigen Monaten zurückkehren können. Danach war er verändert gewesen – härter, kühler, unbeugsamer, vor allem, wenn es um seine Ehre ging.
„Auch in deiner Begleitung hätte Lion sterben können“, erwiderte Lady Carina, aber er zuckte nur die Achseln. Irgendwie muss ich Mittel und Wege finden, um das alles in Ordnung zu bringen, dachte sie, während sie die Kemenate betraten. Webstühle und Rahmen für Wandteppiche nahmen fast die Hälfte des Raumes ein, nun standen sie unbenutzt, und die Dienerinnen würden erst nach oben kommen, wenn die Herrin nach ihnen rief.
Elspeth füllte gerade einen Becher mit gewürztem Wein und brachte ihn dem Vater, der vor dem Kamin saß und nachdenklich ins Leere starrte. Eine Hand auf der geschnitzten Stuhllehne wandte sie sich herausfordernd zu ihrer Mutter und ihrem Bruder. „Vater, Ross hat gedroht, dich zu töten.“
Bestürzt rang Lady Carina nach Atem. „Sicher hat er so etwas nie gesagt.“
„Ha!“, rief Lionel Carmichael höhnisch. „Dann könnte er früher den Titel des Lairds tragen.“
„Gib sofort zu, dass du lügst!“, mahnte Ross. „Oder du wirst es bitter bereuen.“
„Also gut“, murmelte Elspeth mürrisch.
„Schande über dich!“, schimpfte Lady Carina.
„Sie kann nichts dafür“, erklärte Ross. „Frauen sind geborene Lügnerinnen. Zumindest Rhiannon war in dieser Kunst eine Meisterin.“
„Da muss ich ganz energisch widersprechen!“ Lady Carina drückte einen gefüllten Becher in Ross’ Hand. „Die Frauen lügen nicht mehr oder weniger als die Männer.“
Feindselig musterte Lionel seinen Sohn. „Mir wär’s jedenfalls lieber, du würdest mich zum offenen Kampf fordern, statt lauthals zu verkünden, dass du mich in den Turm sperren willst.“
Einen Arm auf das Kaminsims gestützt, umklammerte Ross seinen Becher so fest, dass das Relief des Familienwappens schmerzhaft in seine Hand schnitt. „So kann es nicht weitergehen, Vater.“
„Es ist unser gutes Recht Lion zu rächen“, fiel der Laird ihm ins Wort, „selbst, wenn dir der Mut dazu fehlt.“
Mühsam zwang Ross sich zur Ruhe. Sein Vater wusste, dass es ihm nicht an Mut mangelte. Nur ein Jahr jünger als Lion, war er gemeinsam mit seinem Bruder zum Kämpfer ausgebildet worden, und er verstand es, sein Schwert zu schwingen, aber stets mit Bedacht. Hingegen hatte Lion, ein kopfloser Draufgänger, schon mit fünfundzwanzig Jahren sein Ende gefunden. „Wir müssen herausfinden, was wirklich geschehen ist.“
„Pah!“ Lionel leerte seinen Becher und sprang auf, mit einer Geschmeidigkeit, die seine fünfzig Jahre Lügen strafte, und schenkte sich noch etwas Wein ein. Seine Tochter wollte ihm folgen, aber die Mutter zog sie auf den Schemel, der zu Füßen ihres Armstuhles stand. Eisern hielt sie das Kind fest, trotz seiner heftigen Gegenwehr. Kleine Furie, dachte Ross. Sie hätte als Junge auf die Welt kommen sollen. Beharrlich weigerte sich Elspeth, ein sittsames, mädchenhaftes Verhalten zu zeigen.
„Ich glaube, du bist sogar froh über Lions Tod!“ Abrupt drehte der Laird sich um, Wein tropfte zu Boden. „Von Anfang an hast du ihn um sein Erbe beneidet.“
Ein kalter Schauer lief Ross über den Rücken. Er hatte die Wahrheit gesucht, und nun erkannte er das Krebsgeschwür, das an der Seele des Vaters fraß, seit der Leichnam des Erstgeborenen heimgebracht worden war, in einen Sack genäht.
Aber bevor Ross antworten konnte, erhob sich die Mutter. „Gib doch auf die Teppiche acht, die dich ein Vermögen gekostet haben.“ Rasch nahm sie einen Lappen aus ihrem Flickkorb, sank auf die Knie und betupfte den Fleck, der in Ross’ Augen wie Blut aussah, das sinnlos vergossene Blut seines Bruders. „Wie kannst du nur so von Ross denken? Das verstehe ich nicht. Das alles muss ein Ende haben. Es zerreißt mir das Herz …“
Der Laird blickte auf ihren gesenkten Kopf hinab, die zitternden Schultern. „Ah, Carina!“, seufzte er, stellte den Becher ab und kniete neben ihr nieder. „Du weißt doch, ich will deine Tränen nicht sehen.“ Ungeschickt tätschelte er ihren Rücken.
„Ich weine nicht.“ Mit verschleierten Augen sah sie ihn an. „Indes ertrage ich euern Zwist nicht länger.“
Verzweifelt trat Ross näher und fiel ebenfalls auf die Knie. „Vater, ich schwöre dir – niemals wollte ich haben, was Lion zustand.“
„Ha! Schon immer hast du diese Burg und die Ländereien geliebt.“
„Das leugne ich nicht, aber ich war nie bestrebt, sie für mich zu gewinnen, denn ich hatte andere Pläne.“
„Lionel“, beschwor Lady Carina ihren Gemahl, „siehst du denn nicht ein, wie falsch und gefährlich deine Rachsucht ist?“
„Ich kann nicht anders.“
Und darin liegt das ganze Problem, dachte Ross traurig. Auge um Auge, das forderten die alten Sitten. König David jedoch hatte zwölf Jahre am englischen Hof verbracht und vertrat seither zivilisiertere Ansichten. Dafür bewunderte ihn Ross, und nach seiner Meinung durften die Sutherlands nicht für einen Unfall bestraft werden. Falls Lion tatsächlich einem Unfall zum Opfer gefallen war. „Wir müssen dem König Beweise vorlegen. Vater, erlaube mir wenigstens, Nachforschungen anzustellen …“
„Nein! Eammon Sutherland soll sterben. Immerhin hat er seine verfluchte Tochter bewogen, meinen Sohn in den Tod zu locken.“
Ehe Ross weitere Argumente vorbringen konnte, flog die Tür auf, und Hunter stürmte herein, die Wangen gerötet. „Vater, du bist wieder zu Hause.“ Beim Anblick des knienden Trios hielt der lebhafte Sechzehnjährige verwundert inne. „Was macht ihr denn da? Habt ihr etwas verloren?“
„Sehr viel“, entgegnete Ross grimmig, erhob sich langsam und beobachtete, wie sein Vater der Mutter auf die Beine half.
„Warum hast du mir nicht gesagt, dass du gegen die Sutherlands kämpfen würdest, Vater?“, fragte Hunter vorwurfsvoll. „Ich wäre mitgekommen.“
„Ich auch!“, rief Elspeth.
„Du bist nur ein Mädchen“, spottete Hunter.
Herausfordernd hob Elspeth das Kinn. „Ich reite genauso gut wie du, und Sir Andrew sagt, ich kann meinen Dolch ebenso schwingen wie …“
„Elspeth Carmichael, hast du dich schon wieder auf dem Fechtplatz herumgetrieben?“, wurde sie von der strengen Stimme ihrer Mutter unterbrochen.
Hilfesuchend wandte sich das Mädchen zum Vater, aber er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Das darfst du nicht. Es ist gefährlich, und es schickt sich nicht.“
„Nur weil ich ein Mädchen bin, soll ich ständig im Haus bleiben und nähen und kochen lernen. Ich hasse das alles, Vater …“
„Ist irgendjemand hungrig?“ Avery trug ein Tablett ins Zimmer, über dem ein weißes Tuch lag. Mit ihren vierzehn Jahren war sie bereits eine Schönheit, das Ebenbild ihrer Mutter. Im Herbst sollte sie verheiratet werden. „Sobald wir von deiner Ankunft hörten, beauftragte mich Mama, für dein leibliches Wohl zu sorgen, Vater.“ Sie setzte das Tablett auf dem Tisch ab, stellte sich auf die Zehenspitzen, um seine schmutzige Wange zu küssen, dann rümpfte sie die Nase. „Willst du nicht die Spuren deiner Reise wegwaschen, Vater? Soll ich ein Bad vorbereiten lassen?“
„Später. Erst möchte ich mich ausruhen.“ Er sah so erschöpft und niedergeschlagen aus, dass Ross’ Herz sich schmerzlich zusammenkrampfte. Könnte er seinem Vater doch den Mann präsentieren, den die Schuld an Lions Tod traf …
„Setz dich, ich spiele dir etwas auf meiner Laute vor.“ Fürsorglich führte Avery ihren Vater zu einem Stuhl. „Das wird dich aufmuntern.“
Verächtlich schnitt Hunter eine Grimasse und stopfte ein Stück Brot in den Mund. „Jetzt, wo sie Simon bald heiraten wird, spielt sie dauernd die künftige Burgherrin.“
„Mama überlässt mir einige ihrer Pflichten“, erklärte Avery, die Laute in der Hand, und sank auf den Schemel, wo Elspeth vorher gesessen hatte. „Und Ross gibt mir Unterricht, wie die Bücher zu führen sind.“
„Ja, das kann er“, murrte Lionel.
Gequält seufzte Ross. Wann würde der Vater endlich aufhören, ihn zu kränken?
„Sogar Anne Fraser reitet herüber, wann immer sie Zeit findet, und geht bei Ross in die Lehre“, verkündete Avery und stimmte ihre Laute.
„Tatsächlich? Und was bringt er ihr denn bei?“ In Lionels Augen funkelte ein schwacher Anflug seines früheren Humors.
„Nichts Unschickliches“, versicherte Avery. „Das würde er niemals wagen.“
„Zu schade“, meinte der Laird. „Wann wirst du Anne um ihre Hand bitten, Ross?“
„Niemals.“ Ross dachte an den Tag zurück, wo er im Regen gestanden und seine toten Männer betrachtet hatte – grausam niedergemetzelt, weil sein Vertrauen in Rhiannon enttäuscht worden war. Damals hatte er geschworen, sich niemals wieder mit einer Frau einzulassen. „Ich muss nicht heiraten, denn du hast genug Erben, falls mir etwas zustößt.“
Die Miene seines Vaters verdüsterte sich. „Also hat Andrew recht. Wegen dieser Waliserin fürchtest du dich nun vor allen Mädchen. Darüber solltest du möglichst schnell hinwegkommen. Ich werde nicht jünger, und bevor ich sterbe, möchte ich meinen Enkel im Arm halten.“
Und du wünschst dir, es wäre Lions Sohn, nicht meiner, ging es Ross durch den Kopf. „Ich kenne meine Pflicht, und ich werde sie erfüllen“, erwiderte er kühl.
„Hoffentlich findest du eine Frau, die du wirklich liebst“, seufzte seine Mutter wehmütig.
„Der Erbe so großer Ländereien kann sich diesen Luxus nicht leisten“, gab der Laird zu bedenken – mit boshaftem Vergnügen, wie Ross fand.
„Nun, die Missbilligung meines Vaters hat dich nicht daran gehindert, mich zu heiraten.“ Lady Carina warf dem Gatten einen liebevollen Blick zu.
„Nein. Ich sah, was ich wollte, und das nahm ich mir.“ Schöne Erinnerungen erwachten, als er die Frau anlächelte, die er seinerzeit entführt hatte.
„Auch Ross sollte genau das bekommen, was er will.“
Unwillig wich der Laird dem Blick seiner Gemahlin aus. „Das hat er doch schon. Nach meinem Tod wird er den Titel des Lairds tragen.“
Es klopfte an der Tür, und der Majordomus trat ein. „Eine Nachricht vom König.“
Sechs Augenpaare wandten sich ihm zu. Lady Carina erlaubte dem Boten einzutreten, und der Mann überreichte dem Laird eine Ledertasche, die ein Pergament enthielt.
Nachdem Lionel das Siegel geprüft hatte, nickte er. „Ihr habt Eure Pflicht getan. Geht mit dem Majordomus nach unten, er wird dafür sorgen, dass Euch Speise und Trank gebracht werden.“ Dann gab er den Brief an seine Gemahlin weiter, sobald der Kurier den Raum verlassen hatte.
Mit zitternden Händen brach sie das Siegel und überflog das Schreiben. „Oh mein Gott!“
„Was ist los?“ Ross trat vor und nahm ihr das Pergament aus den schlaffen Fingern. Sein Mund wurde trocken. „Der König weiß Bescheid über den letzten Angriff gegen die Sutherlands. Und er bestraft mich dafür …“
„Du warst doch gar nicht dabei!“, rief Lionel.
Krampfhaft schluckte Ross. „Um die Fehde zu beenden, soll ich Megan Sutherland heiraten.“
„Den Teufel wirst du!“ Lionel entriss ihm das Pergament, sein Blick suchte die empörenden Zeilen. „Niemals! Eammon Sutherlands Blut darf meine Familie nicht besudeln. Genauso gut könnte ich eine Schlange an meinem Busen nähren.“
„Vater bin ich ganz deiner Meinung.“ Um seine Verzweiflung zu verbergen, trat Ross ans Fenster. Was sollte er tun? Er schaute in den sommerlichen Garten hinab, ein Blütenmeer in Rot, Gelb und Weiß. Zwei kleine Gestalten wanderten den Steinplattenweg entlang, den Lady Carina zwischen den Beeten hatte anlegen lassen. Die sechsjährige Brenna trug einen Korb, während Margaret, neun Jahre alt, Blumen abschnitt. So jung – so verletzlich … Wohin würden sie gehen, wenn er den Befehl des Königs missachtete, David sie alle mit Acht und Bann belegte und sie ihr Heim verlassen mussten?
In Edinburgh hatte Ross das Viertel gesehen, wo die Armen in erbärmlichen Hütten hausten und die Dirnen ihrem Gewerbe nachgingen, manche kaum älter als Margaret. Damit durfte er sein Gewissen nicht auch noch belasten. „Ich habe keine Wahl. Und so werde ich nach Curthill reisen, wie es der König befiehlt.“
„Nein!“ Sein Vater eilte zu ihm, packte ihn bei den Schultern, so fest, als wollte er ihn nie mehr loslassen. „Verdammt will ich sein, wenn ich noch einen Sohn nach Norden schicke, um ihn von diesen Schurken ermorden zu lassen.“
So sehr Ross die väterliche Fürsorge auch schätzte – er wusste, dass eine Missachtung der königlichen Wünsche Not und Elend für alle bedeuten würde, die Carmichael hießen. „Ich kann auf mich selber aufpassen.“
„Und wenn Lion aus einem Hinterhalt überfallen wurde? Glaubst du, davor könntest du dich besser schützen?“
„Immerhin bin ich vorgewarnt“, entgegnete Ross zuversichtlich, obwohl ihm ganz anders zumute war. „Ich nehme alle Ritter mit, die du entbehren kannst.“ Und Owain, der sein Leben hingeben würde, um seinen Herrn zu retten, denn das war er ihm schuldig.
„Du wirst Megan Sutherland nicht zu uns bringen. Dieses Biest will ich nicht hier haben.“
Entschlossen hielt Ross dem zornigen Blick des Vaters stand. „Ich sagte, ich würde nach Curthill gehen.“ Und ich will die Wahrheit über Lions Tod herausfinden, ergänzte er in Gedanken. „Aber ich schwöre bei der Seele meines Bruders, niemals in die Familie einzuheiraten, die ihn ermordet hat.“
„Geld oder Leben!“, rief der Räuber.
„Du bekommst etwas ganz anderes!“ Die Prinzessin zog ihr Schwert und versetzte ihm einen kraftvollen Hieb, worauf er wie am Spieß brüllte, dann schlug sie noch einmal zu. Die Kinder schrien vor Lachen.
Lächelnd kauerte Megan Sutherland hinter dem Fass, das als Bühne diente. Das Püppchen in ihrer rechten Hand verprügelte das in der linken so lange, bis der Strauchdieb um Gnade flehte.
„Und jetzt die Geschichte, wo Lady Fiona zum Schloss läuft, die Ritter zu Hilfe ruft und die Hütte ihrer Pächter rettet!“, verlangte Jannet, die Tochter der Köchin. Ihre braunen Augen funkelten vor Vergnügen.
Megan freute sich über die Begeisterung der Kleinen. Als weiblicher Barde des Sutherland-Clans erfüllte sie die Pflicht, alte Mythen und Legenden am Leben zu erhalten. Mit ihren Puppenspielen konnte sie die Aufmerksamkeit der Kinder mühelos fesseln.
Das Amt des Seanachaidhs, des Barden, wurde nur selten einer Frau übertragen. Dass der Vater sie damit betraut hatte, erwärmte ihr Herz immer noch und entschädigte sie für seine mangelnde Zuneigung in den letzten beiden Jahren. Nein, dachte sie, eigentlich nicht, und ihr Lächeln erlosch. Aber sie konnte sehr gut vorgeben, es wäre so. Geschichten zu erzählen – das war ihr Lebensinhalt.
„Es ist spät geworden.“ Langsam stand sie auf. Wie immer, wenn sie zu lange in einer Stellung verharrt hatte, schmerzten die Muskeln ihres linken Beins, das Erbe jenes Tages, an dem ihr Bruder gestorben war. Geistesabwesend massierte sie ihren Schenkel, mit einer Hand, an deren Fingern immer noch die Puppe steckte.
„Da bist du ja, Meg!“, rief eine helle Stimme. Ihre Cousine Chrissy schloss die Stalltür und rannte herüber. Die langen blonden Zöpfe wippten über ihren runden Brüsten. „Bald ist Essenszeit. Deine Mutter wird dich schon suchen.“ Freundlich, aber energisch scheuchte sie die Kinder aus dem Stall. „Gerade haben wir’s gehört. Sein Schiff ist eingelaufen. Nun müsste er jeden Augenblick in der Burg eintreffen.“
„Ross Carmichael?“ Als die Cousine nickte, presste Megan beide Puppen an die Brust, um ihre rasenden Herzschläge zu besänftigen. „Also ist er gekommen. Das hätte ich nicht gedacht, nach allem, was geschehen ist.“ Armer Lion. Arme Siusan. Ihre Kehle wurde eng, wie immer, wenn sie an das unglückliche Paar dachte – ihre schöne jüngere Schwester, den hübschen Ritter, der sie so leidenschaftlich geliebt hatte. Jetzt war Lion tot – und Siusan verzweifelt.
„Nun, er ist hier. Und ich hoffe nur, diesmal wird alles ein gutes Ende finden.“ Chrissy zupfte einen Strohhalm aus Megans dichtem blondem Zopf. „Komm jetzt, wir müssen uns noch waschen.“
In dem schlichten rostbraunen Kleid, das Megan am Morgen angezogen hatte, um der Mutter im Kräutergarten zu helfen, konnte sie den Besucher nicht empfangen. Das wusste sie, aber sie zögerte trotzdem. „Ich kann es kaum fassen, dass er mich heiraten will.“
„Warum nicht? Du besitzt das Gesicht eines Engels und eine Seele, die genau dazu passt. Und er muss sich glücklich schätzen, wenn er dich erobert.“
„Das meine ich nicht.“ Ich bin kein Engel, dachte Megan. Weder äußerlich noch innerlich. Ihre Lippen waren zu voll, ihre Augen zu groß für das kleine Gesicht, und sie hatte ein viel zu lebhaftes Temperament, was die sittenstrenge Mutter immer wieder bemängelte. Aber das bereitete ihr keine Sorgen. Sie zeigte auf ihr linkes Bein, das von den langen, weiten Röcken verhüllt wurde. „Glaubst du, dass sie ihm davon erzählt haben?“
„Ja – wahrscheinlich“, antwortete Chrissy zögernd. „Gewiss möchte er dich heiraten, sonst würde er die lange Reise nicht auf sich nehmen.“
Sofort verflog die Angst aus Megans großen braunen Augen. „Lion behauptete, ich würde seinem Bruder gefallen. Erinnerst du dich?“
„Mach dir nicht zu große Hoffnungen“, warnte Chrissy.
„Zu spät“, erwiderte Megan lächelnd. „Schon jetzt baue ich auf seine Liebe. Und du musst nicht befürchten, er könnte mir wehtun. Lion erklärte, Ross sei ein wahrer Ritter – hübsch, stark, tapfer, klug und gütig.“
„Kein Mann ist so.“
„Wie schade, dass die Ehe mit dem alten Fergus dich dermaßen gegen die Männer eingenommen hat, Chrissy. Bestimmt ist Ross ganz anders. Lion erzählte, sein Bruder würde niemals die Stimme erheben, nicht einmal, wenn er sich ärgert. Kannst du das glauben? Sogar Vater schreit, wann immer er in Zorn gerät.“ Zumindest hat er das früher getan, dachte Megan. Jetzt nicht mehr. Als er das letzte Mal aus seinem abgeschiedenen Turmgemach heruntergekommen war, hatte er so still und verschlossen gewirkt, dass sie ihn kaum wiedererkannte. Hastig verdrängte sie die beklemmende Erinnerung. „Ich wette, Ross wird mich genauso lieben wie ich ihn.“
„Oh Meg, bilde dir bloß nichts ein.“
„Keine Bange, obwohl ich unvollkommen bin, wird er mich anbeten.“ Sie musste seine Zuneigung gewinnen, denn er allein konnte ihre Zukunft sichern und Siusans Leben retten. Doch mit dieser Sorge wollte sie sich erst morgen befassen. Heute war alles viel einfacher. „Immerhin habe ich fleißig geübt und kann schon gehen, ohne zu hinken. Schau mal her …“ Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. „Wenn ich mir Zeit nehme – und gut aufpasse …“
Schweren Herzens beobachtete Chrissy ihre Cousine. Nur zu gut erinnerte sie sich an den Tag, wo man Megan unter dem gestürzten Pferd hervorgezogen und nach Hause getragen hatte. Ihr Bein war an zwei Stellen gebrochen gewesen, die Hüfte an einer. Niemand dachte, sie würde jemals wieder gehen können, auch wenn Lady Mary sie Tag und Nacht pflegte. Aber die mütterliche Fürsorge und Megans tapferer Kampf gegen die Schmerzen und die Verzweiflung führten zum Erfolg. Zunächst lernte die Patientin stehen, dann gehen. Die Muskeln in ihrem Schenkel hatten die ursprüngliche Kraft indes nie mehr zurückgewonnen.
Während Chrissy nun sah, wie das Mädchen über den strohbedeckten Stallboden stelzte, konnte sie nur mühsam ihre Tränen unterdrücken. „Ja, sehr gut“, würgte sie hervor, als Megan ihr über die Schulter einen Blick zuwarf. „Hoffentlich weiß Ross Carmichael die Früchte deines Eifers zu schätzen.“
„Oh ja, ganz gewiss. Er ist nicht der Mann, der mich wegen meines verkrüppelten Beins zurückweisen würde.“ So wie Comyn. Nach dem Unfall hatte ihr erster Verlobter sie verlassen. Aber Ross muss mich lieben, sagte sie sich. Nicht nur, weil sie ihn bewunderte, seit Lion von seinem jüngeren Bruder geschwärmt hatte, sondern weil dieser Mann ihre letzte Hoffnung war. Nur er konnte ihr den Wunsch erfüllen, in einem eigenen Heim zu leben, eine Familie zu gründen.
„Meg? Du hast gestöhnt. Alles in Ordnung?“
„Natürlich“, log Megan und zwang sich zu lächeln. Eigentlich war es keine Lüge, denn es gehörte zu ihrem Wesen, andere Menschen nicht mit ihren Problemen zu belasten.
„Dann gehen wir hinein und kleiden uns fürs Essen um.“ Chrissy zog das schwere Stalltor auf, und sie eilten hinaus – direkt vor die Hufe kraftvoller Streitrösser.
„Achtung!“, rief eine tiefe Stimme. Pferde wieherten schrill, Männer fluchten, zerrten hastig an den Zügeln, um den beiden Mädchen auszuweichen.
Megan versuchte, seitwärts zu springen, aber ihr linkes Bein knickte ein, und sie fiel hin, schlug so hart auf dem gepflasterten Boden auf, dass ihr die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Halb benommen starrte sie das Pferd an, das sich über ihr aufbäumte. Nun glaubte sie, ihren Unfall noch einmal zu erleben. Ihr Mund wurde trocken, reglos lag sie da, wartete auf das erdrückende Gewicht des Tieres, das bald auf sie herabsinken würde. Ein grausiger Aufprall, dann die Ohnmacht, ein schwarzer Abgrund, endlose Schmerzen …
Fluchend riss der Reiter das Pferd zur Seite, sicher setzte es die Vorderhufe auf, ohne Megan Schaden zuzufügen.
Sie holte tief Atem, Staubwolken verschleierten ihr den Blick. In das Dröhnen, das ihre Ohren erfüllte, mischten sich gellende Schreie, lautes Wiehern. Aber sie war unverletzt. Neben ihr stand ein Mann in schimmernder Rüstung. „Ist Euch etwas zugestoßen?“ Besorgt neigte er sich zu ihr hinab.
Angstvoll zuckte sie zurück, denn sie hielt ihn für Comyn.
„Glaubt mir, ich wollte Euch nichts zuleide tun.“ Der Mann klappte das Visier seines Helms hoch, dann nahm er ihn ab und übergab ihn einem Knappen. „Seid Ihr in Ordnung?“ Ungeduldig strich er sein schwarzes Haar aus der gebräunten Stirn.
Lion, war ihr erster Gedanke. Nein, dieser Mann hatte blaue Augen. Ross Carmichael.
Oh Gott, er war so schön, wie ein Erzengel, aus lichten Höhen zur Erde herabgestiegen … Schwarze Locken umrahmten das Gesicht mit den hohen Backenknochen, dem markanten, von dunklen Bartstoppeln bedeckten Kinn. Seine Lippen, sorgenvoll zusammengepresst, bildeten eine schmale Linie. Aber es waren die Augen, die Megan fesselten – von warmem Glanz beseelt, klar und strahlend blau wie der Sommerhimmel.
„Könnt Ihr sprechen?“ Seine Stimme klang so sanft, dass sie sich fragte, ob er vielleicht nur ein Traum war. Sie wollte ihn berühren, dann merkte sie, dass ihre Hände immer noch in den Stofffiguren steckten, und zog sie rasch zurück.
Doch er war schneller und umklammerte ihre Handgelenke. „Was ist das? Besondere Handschuhe? Eine neue Mode im schottischen Hochland?“
„Das ist Lady Fiona.“ Ihre Wangen brannten wie Feuer.
Sein Lächeln ließ ihr Herz schneller schlagen. „Puppen? Zum Theaterspielen?“
„Damit vertreibe ich den Kindern die Zeit.“
„Oh, das würde meinen Schwestern gewiss gefallen.“
Vier Schwestern. Das wusste sie von Lion. Sie hatte überlegt, wie sie in einer Burg voller Menschen leben sollte, die ihrer Familie die Schuld an Lions Tod gaben. Nun sah sie eine Möglichkeit, die Zuneigung der Carmichaels zu gewinnen. „Ich würde sehr gern für sie spielen …“
„Oh Megan!“ Aufgeregt drängte sich Chrissy zwischen den neugierigen Zuschauern hindurch. „Bist du verletzt?“
„Ihr seid Megan Sutherland?“, fragte Ross, und sie nickte. Abrupt ließ er ihre Hand los, als hätte er sich verbrannt, und trat zurück. Seine Augen wirkten plötzlich so kalt wie ein Bergsee im Winter und jagten ihr einen eisigen Schauer über den Rücken. „Sollen sich die Sutherlands um ihresgleichen kümmern!“, stieß er hervor, machte auf dem Absatz kehrt und ging davon.
Stöhnend schloss Megan die Augen.
„Bist du verletzt?“, wiederholte Chrissy.
„Mein Herz – es ist zerbrochen …“
„Spiel nicht Theater!“
„Ich wünschte, es wäre so.“ Megan richtete sich auf und starrte Ross nach. „Er mag mich nicht. Er wird mich niemals lieben.“
2. KAPITEL
Zum Teufel mit meinem rachsüchtigen Vater, dachte Ross, während er Zeus striegelte, zum Teufel mit dem kupplerischen König und Megan Sutherland. Zur Hölle mit ihren leuchtenden braunen Augen, ihrem scheuen Lächeln – und ihren Puppen …
Wieso spielte eine erwachsene Frau mit Puppen? War sie nicht ganz richtig im Kopf? Ross striegelte das Fell seines Hengstes noch heftiger. Versuchte der tückische Eammon, ihm eine schwachsinnige Braut anzudrehen, um den Carmichaels die wütenden Angriffe heimzuzahlen? „Ich soll wohl dieses zurückgebliebene Mädchen heiraten und meine Familie mit geistesgestörten Kindern besudeln“, murmelte Ross und vergaß, dass er ohnehin schon beschlossen hatte, diese Ehe abzulehnen.
„Warum lasst Ihr Eure Wut an dem armen Zeus aus?“, fragte Owain trocken.
„Tut mir leid, alter Junge“, entschuldigte Ross sich bei dem Hengst und tätschelte das seidige Fell. Das große graue Streitross, in England gezüchtet, verdiente es wirklich nicht, so schmählich behandelt zu werden, nur weil er sich über Megan Sutherland ärgerte.
Eigentlich grollte er sich selbst, wegen des tiefen Kummers in ihren braunen Augen. Warum hatte er sie so schroff zurückgewiesen, wo er doch versucht gewesen war, die Frau zu trösten, die er verachtete? Weil sie so schön war …
Nicht nur schön – verführerisch. Die mandelförmigen, schräg gestellten Augen unter den sanft geschwungenen Brauen verliehen dem zarten Gesicht eine berückende sinnliche Ausstrahlung. Im schattigen Burghof hatten sie fast schwarz geschimmert. Solche Augen konnten einen Mann verleiten, seine Pflicht und seine Ehre zu missachten.
Er hatte sie sofort begehrt – ohne ihren Namen zu kennen. Das erschreckte ihn. Seit Rhiannons Verrat hatte er sich gelobt, jene heiße, gefährliche Leidenschaft zu bezähmen, die seine kühle Vernunft gelegentlich zu übermannen drohte. Aber offenbar konnte er diese angeborene Lust ebenso wenig verleugnen wie seine Haarfarbe.
„Der Fluch der Carmichaels“, flüsterte er.
Diese glühenden Gefühle hatten seine Eltern verbunden und Lion besiegt, als er Siusan bei jener unheilvollen Clanversammlung begegnet war. „Sie macht mich ganz verrückt“, hatte er erklärt, seinem Vater getrotzt und den Rat des Bruders verschmäht, um ins Verderben zu reiten.
Nur wegen eines Mädchens mit braunen Augen und einem Mund, wie geschaffen … Schaudernd riss Ross sich zusammen. Er musste Megan widerstehen, denn sie war genauso wie Rhiannon. Auch wenn sie sich äußerlich nicht glichen, beide besaßen rabenschwarze Seelen und versuchten, die Männer zu umgarnen, um ihre eigenen bösartigen Ziele zu verfolgen.
Aber das würde Megan nicht gelingen. Energisch bekämpfte Ross die unerwünschte Hitze in seinen Lenden.
„Die Sutherlands erwarten Euch sicher schon zum Essen“, bemerkte Owain.
„Sollen sie doch!“ Vor Stunden waren sie angekommen, und Ross hatte die Burg noch immer nicht betreten. Er schüttelte den Kopf, um Megans schönes Bild zu verscheuchen, und kümmerte sich wieder um Zeus.
„Wollt Ihr nicht mit ihnen speisen?“
„Nicht aus freien Stücken. Aber ich fürchte, Lord Nigel wird mich bald in die Halle führen.“ Welch großen Wert der König auf diese Ehe legte, die eine endlose Fehde der Clans verhindern sollte, hatte er mit der Anordnung bekräftigt, sein Onkel Nigel müsse den Bräutigam nach Curthill begleiten. Auf der Schiffsreise nach Norden versuchte der alte Mann, ein Loblied auf die Braut zu singen. Aber Ross hatte seine Ohren verschlossen. Er wollte sie nicht heiraten, also brauchte er nichts über sie zu wissen. Aber wie sollte er einen Ausweg aus der üblen Lage finden, wenn Seine Lordschaft ihm ständig über die Schulter spähte?
„Seltsam – Eammon Sutherland kam nicht in den Hafen, um uns zu begrüßen.“ Owain zupfte einen Strohhalm aus Zeus’ schwingendem Schweif.
„Sein Glück, sonst hätte ich ihn womöglich erwürgt.“
„Ihr verdächtigt ihn? Warum sollte er Lion töten, nachdem er der Eheschließung zugestimmt hatte und bereit gewesen war, seinen armseligen Fischerclan mit den mächtigen Carmichaels zu verbinden?“
Diese Frage stellte sich Ross immer wieder. Was hatte Eammon zu gewinnen erhofft? „Auch er muss wahnsinnig sein. Kein Mann im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte legt sich mutwillig mit Lionel Carmichael an. Vielleicht hat Wat inzwischen irgendwas herausgefunden.“ Seit dem verhängnisvollen Waliser Hinterhalt, der ihn hundert Krieger gekostet hatte, pflegte er jedes Gebiet gründlich zu erkunden, ehe er sich hineinwagte. Und so hatte er den listenreichen kleinen Mann nach Curthill vorausgeschickt, wo er einen fahrenden Händler mimte. „Bevor ich an der Tafel meiner Feinde speise, werde ich mit Wat reden.“
Als hätte dieser Entschluss den flinken Schotten heraufbeschworen, erschien er im Stall. „Hier bin ich, Herr.“ Sein schmales, wettergegerbtes Gesicht verzog sich zu einem zahnlosen Grinsen.
„Hat es Ärger gegeben?“
„Gewissermaßen.“ Wat schaute sich vorsichtig um. „Hier können wir nicht reden.“
„Wir sind unter uns.“
„Man kann nie wissen … Einem Gerücht zufolge ist Eammon ziemlich unberechenbar geworden.“
Ein sonderbares Unbehagen erfasste Ross, während er mit Wat und Owain den Hof durchquerte. Die alten, halb verfallenen Wehrtürme und die mit Lehm beworfenen Gebäude ringsum wirkten vernachlässigt und beleidigten seine Ordnungsliebe. Eine Schweinefamilie tummelte sich in einem Abfallhaufen, so hoch wie das Backhaus. Schubkarren, Fässer und andere Gerätschaften bildeten ein wildes Durcheinander. Sogar die Außenmauer zerbröckelte. Hätte sein Vater an Land gehen können, wäre es ihm leichtgefallen, diese schwachen Verteidigungsbastionen niederzureißen.
Zum ersten Mal war Ross so weit in den Norden vorgedrungen. Offenbar entsprachen die Geschichten über die barbarischen Hochländer der Wahrheit. Kein zivilisiertes Volk würde in einem solchen Schmutz leben. Wie hatte Ross jemals glauben können, eine Frau, die hier aufgewachsen war, würde sich zur Herrin von Carmichael Castle eignen? Weil er nicht mit seinem Hirn geurteilt hatte, sondern mit einem ganz anderen Körperteil …
Glücklicherweise werde ich nicht in diese Falle tappen, dachte Ross. So verführerisch Megan Sutherland auch aussehen mochte, er würde ihr widerstehen. Und wenn er in Versuchung geriet, brauchte er sich nur zu entsinnen, was ihm das heiße Verlangen nach Rhiannons weichem Fleisch eingebracht hatte. Diesmal würde er einen klaren Kopf und kaltes Blut bewahren.
An einer schulterhohen Mauer blieben sie stehen, und Ross atmete tief die frische Salzluft ein. Wenigstens hier wurde sie nicht von menschlichem und tierischem Gestank verunreinigt. „Nun, was gibt’s, Wat?“
„Als Lion letztes Jahr hier eintraf, weigerte sich Laird Eammon, seine Tochter Siusan mit ihm zu vermählen.“
„Was? Aber warum …“
„Er besann sich anders. Seit sein einziger Sohn vor zwei Jahren gestorben ist, geschehen angeblich seltsame Dinge. Eammon verlässt kaum noch seinen Turm, wo er mit seiner Hure zusammenlebt, und kümmert sich nicht um das Wohl seines Clans.“
Nur zu gut wusste Ross, wie der Tod eines Sohnes einen Vater verändern konnte, aber er verspürte kein Mitleid mit seinem Feind. „Sicher hat Lion um seine Braut gekämpft – und damit seinen Tod besiegelt.“
„Vielleicht. Ich verteilte ein paar Münzen, und da erfuhr ich, Lion sei gar nicht mehr bei der Jagdgesellschaft gewesen, als er starb.“
„Während einer Jagd kann sich eine Truppe leicht zersplittern“, warf Owain ein, und Wat nickte.
„Soviel ich weiß, erhielt er eine Nachricht, die ihn von den anderen weglockte.“
Aufgeregt packte Ross die knochigen Schultern des kleinen Mannes. „Kannst du das beweisen?“
„Nein. Der Gastwirt hörte von einem Jäger, im selben Augenblick, wo man den Hirsch gesichtet habe, sei ein junger Bursche zu Lion gelaufen, um ihm was zuzuflüstern. Lion grinste und ritt davon, ohne irgendjemandem ein Wort zu sagen. Leider ist dieser Bote verschwunden.“
„Könnte er gestorben sein?“
Wat kratzte sein schütteres Haar unter der Wollmütze, die er im Winter und im Sommer trug. „Keine Ahnung. Jedenfalls verließ der Junge das Dorf, zwei Wochen nach Lions Tod.“
Verwundert runzelte Ross die Stirn. „Wer ist dieser geheimnisvolle Bursche?“
„Er heißt Lucais. Sein Vater ist der Dorfschmied. Aber als ich in die Werkstatt ging und Fragen stellte, wollte der alte Mann den Mund nicht aufmachen.“
„Wies irgendetwas darauf hin, dass Eammon hinter Lions Tod und Lucais’ Verschwinden stecken könnte?“
„Nein.“ Wat spuckte über die Mauer. „Mag Eammon auch so unberechenbar sein wie ein Sommergewitter, er ist nun mal der Laird von Curthill. Aber alle Leute loben Mistress Megan über den grünen Klee.“ Mit einem Seitenblick auf Ross fügte er hinzu: „Offensichtlich werdet Ihr einen Engel heiraten.“
Eher eine Hexe, dachte Ross. Eine wunderschöne, verlockende Hexe. „Nein, ich werde sie nicht heiraten“, erwiderte er, ohne Wats Überraschung zu beachten. „Glaubst du, Eammon hat diesen Lucais getötet, um ihn zum Schweigen zu bringen?“
„Nichts deutet darauf hin, aber ich wette, in Curthill spielen sich merkwürdige Dinge ab. Ich bin noch nicht lange genug hier, um das alles zu durchschauen. Jedenfalls spüre ich, dass da irgendwas nicht stimmt.“
„Heute Abend reiten wir ins Dorf“, entschied Ross. „Seht zu, Owain …“
„Ah, Ross, da seid Ihr ja!“ Lord Nigel näherte sich keuchend. Der rundliche ältere Mann hatte nur ungern die Annehmlichkeiten des schottischen Königshofs verlassen, wo er von der Großzügigkeit seines Neffen lebte. „Die Sutherlands erwarten Euch bei Tisch. Ich weiß, diese Heirat missfällt Euch, aber immerhin ist die junge Frau so hübsch, wie Eammon es behauptet. Außerdem habt Ihr keine Wahl.“
Das werden wir noch sehen, dachte Ross. Er brauchte nur Lucais aufzuspüren und diesen fetten alten Narren zu überzeugen, dass Lion ermordet worden war, dann würde er der Ehe mit Eammons wahnwitziger Tochter entrinnen. „Vorher muss ich sehen, wie meine Männer untergebracht sind.“ Der Gedanke, mit dem Laird von Curthill zu speisen, verdarb ihm den Appetit, obwohl er sich vier Tage lang von kargen Schiffsrationen ernährt hatte.
„Sicher kann sich Euer Hauptmann darum kümmern.“ Lord Nigel musterte den Müll, der den Hof übersäte. „Allzu lange möchte ich hier nicht herumtrödeln. Nach der Mahlzeit werdet Ihr den Ehevertrag unterschreiben, und in drei Tagen wird Hochzeit gefeiert.“
„In drei Tagen!“ Ross hatte das Gefühl, eine eiserne Faust würde seine Kehle umschließen. „Schon so bald?“
„Mein lieber Junge, Ihr führt Euch ja auf wie eine jungfräuliche Braut!“
Eine jungfräuliche Braut? Wahrscheinlich war Megan Sutherland gar keine Jungfrau mehr. Mit einer Frau, die mit achtzehn Jahren noch immer nicht geheiratet hatte, konnte irgendetwas nicht stimmen. Sollte er das herausfinden, würde er sie abweisen. „Und was sagt meine Braut zu dieser überstürzten Trauung?“
„Warum sollte ich sie nach ihrer Meinung fragen?“ Lord Nigel blinzelte erstaunt. „Jedenfalls möchte Lord Eammon das alles möglichst schnell erledigen, und nur das zählt.“
So leicht will ich’s dem Laird nicht machen, beschloss Ross. Ich habe ein kleines Heer im Rücken, und im Gegensatz zu meinem Bruder, der damals in sein Unglück rannte, wird mein Verstand nicht von heißer Leidenschaft benebelt. „Ich will nicht mit diesem Mann an einem Tisch sitzen.“
„Ganz, wie es Euch beliebt … Aber Eammon wird sich ohnehin nicht zu uns gesellen. Es geht ihm nicht gut. Seine Felis scheint ihn viel Kraft zu kosten. Was muss das für eine Frau sein, die ihn nach zwei Jahren immer noch reizt …“ Lord Nigel rückte seinen engen goldenen Gürtel zurecht und wandte sich ab. „Wenn Ihr schon nicht mit uns essen wollt – kommt wenigstens in die Halle und unterzeichnet den Vertrag. Pater Simon hat Eammons Unterschrift schon bestätigt.“
Ross folgte ihm widerstrebend, mit schleppenden Schritten, wie ein Mann, der zum Galgenbaum geführt wurde. Drei Tage … Die Zeit war knapp, aber er würde diesen Lucais finden und dieser unseligen Heirat entrinnen.
„Glaubst du, er wird nicht kommen?“, fragte Megan angstvoll.
Ihre Mutter beugte sich über den leeren Stuhl hinweg, der für Ross bestimmt war, und tätschelte Megans zusammengepresste Hände. „Wahrscheinlich möchte er sich nach der langen Reise nur waschen und umkleiden.“ Sie saßen allein an der langen Tafel auf dem Podest und erwarteten die Männer.
„Das Bad, das ich für ihn vorbereiten ließ, wollte er nicht annehmen“, berichtete Megan ärgerlich. Eine Stunde lang hatte sie in der Gästekammer auf ihren Verlobten gewartet und immer wieder das Kaminfeuer geschürt, aber er war nicht erschienen. Während das Wasser in den Holzeimern erkaltete, wuchs ihr Unmut. So viel gab es zu tun, und da saß sie sinnlos herum, den Launen dieses Mannes ausgeliefert. Schließlich beauftragte sie eine Dienerin nach seinem Verbleib zu fragen, und erfuhr, er wünsche nicht zu baden. Mit keinem Wort hatte er sich entschuldigt.
„Dieser unhöfliche Rüpel …“
„Wer, meine Liebe?“, erkundigte sich ihre Mutter.
Darauf gab Megan keine Antwort. Sie wollte ihre Mutter, die eine unglückliche Ehe führte und der Männerwelt grollte, nicht gegen Ross einnehmen. „Waschen sich die Leute aus dem Tiefland nicht?“
„Die meisten baden sogar hin und wieder.“
„Erzähl mir doch noch einmal, wie du im Tiefland aufgewachsen bist.“
Ein sanftes Lächeln erhellte Lady Marys müdes Gesicht und erinnerte an die Schönheit, die sie gewesen war, bevor Eammon ihr Herz gebrochen hatte. „Das Leben in Peebles ist – anders. Die meisten Menschen besitzen ein ruhiges, ausgeglichenes Gemüt, sanft gerundete Hügel reihen sich aneinander, keine schroffen, zerklüfteten Felsen wie im Hochland. Aber auch dort regieren die Männer, genau wie hier“, fügte sie bitter hinzu.
Wehmütig entsann sich Megan früherer Zeiten, wo der Vater ein fröhlicher Mann gewesen war, nicht dieser launische Einsiedler, dessen Befehle in krassem Widerspruch zu allem standen, worauf er zuvor Wert gelegt hatte. Seit dem Unfall, der Megan verstümmelt und ihren einzigen Bruder Ewan getötet hatte, war der Laird völlig verändert. Würde sein Sohn noch leben, wäre Lion vielleicht nicht gestorben. Und Siusan müsste sich nicht im Hochland verstecken und um ihr Leben bangen.
Und ich bin schuld an Ewans Tod, dachte Megan fröstelnd.
„Gräm dich nicht, mein Liebes“, redete ihr die Mutter zu. „Du weiß doch, was der arme Lion sagte. Sein Bruder ist ein gütiger, kluger Mann.“
Mit Augen wie Eissplitter … Wieder erschauerte Megan. „Heute im Hof hat er sich geweigert, mir beizustehen.“
Lady Mary seufzte. „Du hättest den Schleier nehmen sollen. Besser hinter Klostermauern gefangen – als einem Manne ausgeliefert …“
„Oh, ich heirate Ross Carmichael sehr gern“, beteuerte Megan mit einem erzwungenen Lächeln und ergriff die Hand der Frau, die so viel für ihre Kinder geopfert hatte. „Und ich will ihm eine gute Frau sein. Wenn er es gestattet.“
„Er muss dich heiraten, weil ihm gar nichts anderes übrigbleibt.“
„Ich sähe es lieber, es wäre sein Wunsch. Noch bevor ich Ross kannte, verliebte ich mich in ihn, weil Lion so viele wunderbare Geschichten über ihn erzählte. Und als er in Fleisch und Blut vor mir stand …“
„Oh Meggie!“
„Er ist genauso, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Der größte, stärkste, schönste Ritter der Welt, mit strahlend blauen Augen …“
„Er wird dein Herz brechen und all deine Hoffnungen enttäuschen.“
„Es tut mir leid, dass Papa dir so wehgetan hat, Mama. Vor Ewans Tod war er ein guter Mann.“
„Auch ich trauere um Ewan, aber nicht einmal der Tod eines Sohnes kann entschuldigen, was dein Vater mir zugemutet hat. In meinem eigenen Haus lebt er mit seiner Buhle zusammen! Und der Clan Sutherland bedeutet ihm überhaupt nichts mehr.“
„Nun, er mischt sich nicht unter seine Leute, aber seine Geschäfte haben unserem Clan ein größeres Einkommen verschafft als zuvor die Fischerei.“
„Aye, und bekommen unsere fleißigen Leute irgendetwas von diesem Gewinn? Oder wird die Burg instand gesetzt? Nein!“
Liebevoll streichelte Megan die Hand ihrer Mutter. Die Gute verstand die Welt jenseits ihrer Küche und ihres Gemüsegartens nicht. Doch die Tochter fühlte sich verpflichtet, die Lücke zu füllen, die Ewans Tod und die folgenschwere Veränderung ihres Vaters hinterlassen hatten. Oft ging sie ins Dorf hinab, erkundigte sich nach den Sorgen der Handwerker und Fischer, bot ihnen Rat und Hilfe an. „Vater hat erklärt, vorerst müsse das Geld verwendet werden, um weitere Handelsgüter zu kaufen.“
„Das hat Archie erklärt. Eammon kann sie doch nicht lange genug allein lassen, um unseren Leuten zu erzählen, warum sie immer noch so arm sind. Und sieh dir die Halle an.“ Mit einer weit ausholenden Geste zeigte sie in den trostlosen Raum, auf die grölenden Männer an den unteren Tischen. „Jahrelang habe ich mich bemüht, Curthill so schön zu gestalten wie das Heim meiner Kindheit. Aber da der Laird nicht für Ordnung sorgt, hausen seine Männer in dieser Burg wie wilde Barbaren und lassen alles verkommen.“
„Ich beklage den Tag, wo Comyn MacDonell diese Felis hierherbrachte.“
„Comyn trifft keine Schuld. Nach deinem Unfall bat ich ihn, eine heilkundige Frau aus Edinburgh hierherzuholen. Niemand konnte ahnen, dass Felis sich in Eammons Bett einnisten würde.“
Während die Mutter Nacht für Nacht am Lager der kranken Tochter gesessen hatte … Megans Herz krampfte sich zusammen. Trotzdem – wenn sie sich besser mit Felis verstünde, könnte sie sich in der Kunst unterweisen lassen, wie man einen Mann verführte. Eine fachkundigere Lehrerin als die kleine rothaarige Frau würde sie nicht finden.
„Megan, was hast du vor?“, fragte Lady Mary mit scharfer Stimme.
„Nichts, Mama.“
„Oh, ich kenne diesen Blick. So schaust du immer drein, wenn du irgendeinen Unsinn ausdenkst.“
Megan seufzte. Wenn sie auch gelernt hatte, ihre Gedanken zu verbergen – die Mutter konnte sie manchmal immer noch lesen. Wahrheitsgemäß erwiderte sie: „Ich habe mir überlegt, wie ich Ross Carmichael verführen soll.“
„Um Himmels willen! Bedenk doch, was der armen Siusan zugestoßen ist!“
Tag und Nacht dachte Megan an ihre Schwester, die gezwungen worden war, aus ihrem Heim zu fliehen, ihr unseliges Geheimnis zu hüten. Und um Siusan zu helfen, brauchte Megan eine Soldatentruppe und einen Ritter, der sie anführte. Einen Mann, dem sie rückhaltlos vertrauen konnte. „So weit will ich es nicht kommen lassen.“
„Sobald in einem Mann die Lust erwacht, kann man ihn nicht mehr leiten“, entgegnete Lady Mar
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