TANYA ANNE CROSBY
Der Kuss des Prinzen
Chloe erbebt, als der vermeintliche Räuber Merrick Melbourne
seine heißen Lippen auf ihre senkt! Nie zuvor hat ein Mann
derartige Gefühle in ihr geweckt, und im Rausch der Sinne
gibt sie sich ihm hin. Doch in Wahrheit ist Merrick kein armer
Vagabund, sondern der zukünftige König! Chloe ist verzweifelt,
denn eine gemeinsame Zukunft scheint unmöglich …
RUTH LANGAN
Meer der Sehnsucht
Kapitän Riordan Spencer ist fasziniert: In kostbaren Roben
macht die temperamentvolle Ambrosia eine ebenso gute Figur
wie beim Fechten und am Ruder seines Schiffs! Betört von der
rassigen Schönheit, verführt er sie. Aber als sie von Piraten
überfallen werden, begreift Riordan, dass er Ambrosia gehen
lassen muss – sein Leben ist zu gefährlich für sie!
KAT MARTIN
Perlen für die Braut
„Elender Lustmolch!“ Um ihre Schwester zu schützen, schlägt
Victoria ihren Stiefvater nieder und flüchtet nach London.
Als Hausmädchen getarnt, sucht sie Unterschlupf bei Cordell
Easton. Verzückt vom Charme des attraktiven Gentlemans, lässt
sich Victoria auf seine verlockenden Avancen ein. Doch was
geschieht, wenn er ihre falsche Identität aufdeckt?
Der Kuss des Prinzen
PROLOG
Nordschottland, 1831
Ganz in Schwarz gekleidet saßen die sieben Männer in ihren Verstecken und erwarteten das Zeichen ihres Anführers zum Losschlagen, sobald das unbekannte Gefährt wieder näher kam – bereits zum dritten Mal.
Sie brauchten die Beute. Trotzdem war dem Anführer nicht wohl. Die Kutsche trug kein herrschaftliches Wappen. Vornehm hingegen war sie, und es kam ihm seltsam vor, dass sie ohne Eskorte unterwegs sein sollte. Ihr Passagier musste ein Dummkopf sein – oder ein erbärmlicher Hund, der verloren war. Vielleicht war das Ganze auch eine Falle. Ian MacEwen führte die Hand zum Mund, um das Zeichen zu geben … und blieb stumm.
„Seine Anweisungen sind auch nicht besser als das Haggis von meiner Minny“, bemerkte einer der Männer.
„Vor einer Woche hätt’ ich meine Manneskraft für ’ne Portion von diesem Zeug gegeben“, sagte ein anderer. Seine Stimme war kaum lauter als ein Blätterrascheln.
Trotzdem hörten ihn alle.
Welche Worte fand man für einen Vater, der bei seiner jüngsten Tochter den Kampf gegen den Hunger verloren hatte? Süß und scheu war sie gewesen, mit feinen roten Locken und einer Stupsnase. Alle verstanden, warum Rusty Broun heute Nacht mitmachte. Bei ihm zu Hause warteten noch drei Kinder, deren Bäuche so leer waren wie die Schatztruhen in Glen Abbey, und die gefüttert werden wollten.
„Vertraut mir“, sagte Ian, wohl wissend, dass sie es taten. Sie folgten ihm blind. Es waren gute Männer, jeder Einzelne von ihnen. Wenn sie könnten, würden sie fortgehen von hier. Doch wohin sollten sie ziehen? Nach London? Wer würde sie aufnehmen mit ihren Frauen und Kindern? Sie müssten auf der Straße leben und sich von Abfällen ernähren.
Nein, es lag an ihm, die Verhältnisse zu ändern. Aber was sollte er tun?
Die Antwort war Stille, eine lastende, vielsagende Stille. Sie wurde durchbrochen vom Geräusch knackender Äste und Zweige und von Räderrollen auf trockenem Laub. Wie der dichte Nebel, der zwischen den Bäumen herabsank, machten sich Nervosität und Anspannung breit.
Bis zum heutigen Tag hatten sie niemals getötet, um Beute zu machen. In dieser Nacht wurden sie aber womöglich zum Waffengebrauch gezwungen, sollte sich herausstellen, dass die näher kommende Kutsche eine Falle war.
Dann könnte ein Mensch sein Leben verlieren.
Andererseits, wie viele Kinder würden noch sterben, wenn keine Hilfe da war?
Wieder sah er im Geiste das vom Leiden gezeichnete Gesicht der kleinen Ailsa vor sich. Dieses Bild vertrieb alle Bedenken. „Kiak-kiak-keiek-keiek!“ Ian ahmte den schrillen Ruf des Würgefalken nach und rief seine Männer zur Tat. Die Folgen würden sie später bedenken.
Im nächsten Moment rollte unter ihnen die Kutsche heran.
Er ließ sich als Erster fallen und landete zielgenau auf dem Verdeck. Bevor der Kutscher einen Warnruf ausstoßen konnte, hatte Ian dem asiatisch aussehenden Mann die blanke Messerschneide an die Kehle gesetzt. Rusty Broun kam genau hinter Ian auf dem Kutschendach auf und übernahm den Kutscher, damit Ian ins Innere des Gefährts klettern konnte. Die restlichen Männer ließen sich von den Bäumen fallen und umringten die Kutsche, um sie zum Anhalten zu zwingen. Sie geriet bedrohlich ins Schwanken, und Ian hätte beinahe das Gleichgewicht verloren, doch schließlich gelang es ihm, die Tür zu öffnen.
Vollkommen verblüfft sprang er zu Boden und starrte in die Kutsche.
Jeglicher Gedanke an den Raubüberfall war wie ausgelöscht.
Er hatte das Gefühl, als sähe er in einen Spiegel.
Dieser Moment des Zögerns brachte ihm einen kräftigen Kinnhaken ein. Ian ignorierte den jähen Schmerz und stürzte sich auf den Fremden. Er stieß ihn zurück und schlug ihm das Messer aus der Hand, das nach oben flog, gegen das Verdeck prallte und beim Herunterfallen den Kopf des Fremden streifte.
Mit einem plötzlichen Ruck setzte sich die Kutsche wieder in Bewegung. Ian hatte den Mann zu Fall gebracht und stieß dessen Kopf auf den Boden des Gefährts. Er versuchte, ihm klarzumachen, dass er aufhören sollte sich zu wehren, damit er die Kapuze abnehmen und sich zu erkennen geben konnte, aber der Fremde kämpfte wie ein Löwe.
Gereizt stieß Ian voller Wucht mit seinem Kopf gegen den des anderen Mannes. „Aufhören!“, brüllte er ihn an.
Der Widerstand des Fremden ließ wenigstens so weit nach, dass Ian sich die Kapuze herunterreißen konnte.
Die Zeit schien stillzustehen, als er in zwei Augen sah, die ihm auf unheimliche Weise vertraut vorkamen. Verdammt, der Mann hätte sein Zwillingsbruder sein können! Das war doch einfach nicht möglich. „Wer sind Sie?“, fragte Ian verwirrt.
„Wer sind Sie?“, konterte der andere. Ohne Vorwarnung bäumte er sich auf und fing wieder an zu kämpfen. Ian blieb nichts anderes übrig, als ihm einen erneuten Kopfstoß zu versetzen.
Der Mann verdrehte die Augen, und seine Glieder erschlafften augenblicklich. Besorgt tastete Ian nach seinem Puls und atmete erleichtert auf, als er ihn kräftig und gleichmäßig spüren konnte. Es würde nicht lange dauern, bis der Mann das Bewusstsein wiedererlangte. Was sollte er jetzt bloß tun?
Ian war sich sicher, dass ihre außerordentliche Ähnlichkeit kein Zufall war. Blitzschnell zog er dem Fremden Mantel, Weste und Hemd aus und tauschte mit ihm die Kleidung, während die Kutsche weiter über den unebenen Waldboden holperte. Anschließend öffnete er die Tür und rief dem Kutscher zu, er solle anhalten.
Der Mann gehorchte sofort. Ian zerrte den ursprünglichen Passagier der Kutsche ins Freie und bettete ihn ins Gras am Wegesrand.
„Sie sind also doch nicht tot, Merricksan!“, ertönte eine ihm unvertraute Stimme, in der unverhohlene Erleichterung mitschwang.
Ian sah den Kutscher an. Irgendwie war es der kleinen Ratte gelungen, Rusty und seinem Messer zu entkommen. Er ließ sich Zeit mit der Antwort.
Die Rufe seiner Männer waren jetzt deutlicher zu hören. Seine Leute würden den Fremden finden, davon war er überzeugt, und ganz gleich, ob der Mann sich zu erkennen gab oder nicht – Rusty würde schon wissen, was er mit ihm zu tun hatte.
„Lassen Sie uns nach Hause zurückfahren, denka-sama!“, drängte der Kutscher. „Wir hätten niemals herkommen dürfen.“
Zu Hause.
Das war der Ort, wo die Antwort auf alle Fragen Ians wartete. Er wusste es sofort. Dennoch starrte er weiter unschlüssig auf den Bewusstlosen.
„Lebt er noch?“, wollte der Kutscher wissen.
„Er ist so lebendig wie du und ich.“
„Dann lassen Sie uns rasch weiterfahren!“, beharrte der andere. „Sonst nimmt das hier kein gutes Ende.“
„Hier herüber!“, hörte Ian Rusty Broun rufen. Seine Männer stießen einen wilden Schlachtruf aus, und Ian war klar, dass sie ihn entdeckt hatten.
Er sprang in die Kutsche. „Los!“, brüllte er dem Kutscher zu. Ian blickte sich nicht mehr um, als sie Fahrt aufnahmen. Es gab kein Zurück. Er ahnte mit großer Sicherheit, dass er den Grund für alle Schwierigkeiten in Glen Abbey am Ende dieser Reise finden würde.
1. KAPITEL
Eine Woche später
Die Tür zum Pfandleihhaus stand halb offen, wie um die Zögernden einzuladen, doch näher zu treten. Auf dem sacht im Wind schwingenden Holzschild darüber stand: Wir zahlen bar für Juwelen, Kleidung und Wertgegenstände aller Art.
In dem großen Schaufenster war nur eine magere Auswahl der drinnen zum Verkauf angebotenen Waren ausgestellt. Zu den heutigen Lockangeboten zählten ein vornehm wirkendes Porträt von einem älteren, Pfeife rauchenden Herrn, ein paar Gebetbücher, einige nicht zusammenpassende fächerförmig ausgelegte Löffel sowie eine ganze Anzahl von Broschen.
Claire Wentworth stand vor dem kleinen Laden und presste die schwere Holzkiste an sich, in der sich das gute Tafelsilber ihrer Großmutter befand. Unschlüssig verharrte sie vor dem Schaufenster und betrachtete eine alte Brosche. Auch diese hatte einst ihrer Großmutter gehört, ebenso wie eines der pyramidenförmig aufgestapelten Gebetbücher. Claire war nicht in der Lage gewesen, die Stücke wieder auszulösen, und nun warteten sie auf einen neuen Besitzer.
Nun, es half alles nichts.
Ihr Bruder war das Einzige, was ihr auf der Welt geblieben war. Kein Geld und kein Besitz vermochten seinen Tod aufzuwiegen. Das Tafelsilber ließ sich irgendwann ersetzen; die Erinnerungen, die damit verbunden waren, blieben ihr ja.
Aber es gab nur einen Ben.
Entschlossen atmete sie tief durch und betrat den ihr mittlerweile vertraut gewordenen Laden. Wie das Schild versprochen hatte, war er vollgestellt mit den unterschiedlichsten Waren: Möbel, Wandteppiche, Schnupftabakdosen, Schmuck, Decken, eine Ansammlung schon leicht verstaubter Hüte und sogar ein altes Schwert, das irgendjemandes edler Vorfahr vor Urzeiten in einer Schlacht geschwungen haben musste. Das Heft war abgegriffen bis auf das nackte Holz, und die Klinge war versehen mit unzähligen Kerben – die Geschichte eines Menschen, verkauft, um für eine Woche die Miete aufbringen zu können. Der Gedanke machte Claire wütend, aber so war das Leben nun einmal, und es hatte wenig Sinn, dass sie ihre widrigen Umstände beklagte.
Kein frommes Wunschdenken und kein Gebet konnten etwas an den Tatsachen ändern – ihr Vater hatte ihnen nach seinem Tod nichts als Schulden hinterlassen. Ben hatte vorgehabt, diese Schulden irgendwie zu begleichen, allerdings hatte er dazu zu dem denkbar falschesten Mittel gegriffen – dem Glücksspiel. Auf die Art hatte er auch noch den Rest ihres Grundbesitzes verspielt und sich so in eine weitaus schlimmere Situation gebracht als im Schuldgefängnis zu landen.
Jetzt war Claire gefordert, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.
Quer durch den allgemein zugänglichen Teil des Ladens strebte sie auf die diskret vom Raum abgeteilten Schalter für besondere Fälle zu und wählte die vorletzte Kammer – die Letzte war offensichtlich besetzt, da die Tür geschlossen war. Sie trat ein, verriegelte die Tür hinter sich und fühlte sich gleich etwas sicherer, obwohl sie wusste, dass das nur Illusion war. Seufzend stellte sie die Kiste mit dem Tafelsilber auf den Ladentresen und wartete auf den Angestellten.
Mindestens vier Gaslampen brannten in dem verstaubten Laden, aber ihr Licht reichte nicht bis in diesen abgeteilten Bereich. Die Waren, die hier angeboten wurden, lagen im Schatten, ebenso wie die Gesichter ihrer Besitzer. Entweder schämten sie sich ihrer misslichen Lage, oder es handelte sich um Diebe, die hier ihre Beute zu Geld machen wollten.
Der Angestellte war gerade mit jemandem in der letzten Kabine beschäftigt. Claire vernahm ein leises Weinen. Glücklicherweise schien dieser Angestellte der mitfühlendste der drei zu sein – Claire erkannte ihn an der Stimme wieder –, und er sprach sehr freundlich mit dem Mädchen.
„Welchen Namen soll ich eintragen?“
Das Mädchen schwieg. Claire vermutete, dass es schluckte. Als sie selbst das erste Mal hier gewesen war, hatte sie auch erst keinen Ton hervorgebracht.
„Sarah … Sarah Jones.“
Der Name sagte Claire nichts, aber schließlich nannte sie auch nie ihren richtigen Namen.
Sobald Claires Eigentum erst einmal im Warenlager des Pfandleihhauses gelandet war, würde sie es nie mehr zurückbekommen. Selbst wenn es ihr gelingen sollte, das nötige Geld aufzubringen, würde sie es niemals rechtzeitig schaffen, ihr Hab und Gut wieder auszulösen, dessen war sie sich ziemlich sicher.
„Ist das Ihr Eigentum?“, hörte sie den Angestellten fragen.
Diese Frage war Vorschrift, aber normalerweise nahm man es hier nicht so genau damit. Sie hatte bereits bemerkt, was für zwielichtige Gestalten das Pfandleihhaus aufsuchten, und noch nie hatten die Angestellten einen Eigentumsnachweis verlangt, auch von ihr nicht. Claire hätte die Gegenstände genauso gut von einem Arbeitgeber gestohlen haben können.
Das Mädchen antwortete leise. „Ja, natürlich.“
„Drei Shillings“, bot der Angestellte an.
Claire fragte sich, was das Mädchen da wohl verkaufen wollte.
Die andere rang erschrocken nach Luft. „Aber Sir! Das ist ganz feiner …“
„Dreieinhalb“, blaffte der Angestellte, und Claire erkannte, dass das sein letztes Angebot sein würde.
„Bitte … sehen Sie sich doch nur die feine Stickerei an!“, beharrte das Mädchen. „Das Kleid wurde in einem der teuersten Geschäfte Londons …“
„Meine Kunden zahlen aber nicht mehr dafür“, unterbrach der Mann unbeeindruckt. „Dreieinhalb. Nehmen Sie das Geld, oder lassen Sie es.“
Stille.
Er würde nicht mehr bieten. Claire hatte dem Mann schon mehr als genug verkauft, um zu wissen, wann die Verhandlungen beendet waren. Bestimmt stand er jetzt mit unbeweglicher Miene da und wartete schweigend auf eine Entscheidung.
„Also gut“, gab das Mädchen niedergeschlagen nach. „Dreieinhalb.“
Als hätte er schon mit dieser Antwort gerechnet, zählte der Mann umgehend die Münzen auf den Tresen. Die Kabinentür ging auf und wieder zu, und die Schritte des Mädchens verhallten.
Claire wartete geduldig. Sie kannte ihren Rang in der Hierarchie des Pfandleihhauses. Hier regierte der Pfandleiher, und vornehme Leute wurden nicht anders behandelt als Gestrauchelte.
Zum Glück musste sie nicht lange warten. Der Angestellte erschien sofort; graues Haar fiel ihm ins Gesicht und verdeckte halb die dicken, schmutzigen Brillengläser. Er schob die fettigen Strähnen nach hinten und nickte ihr kurz zu, weil er sie erkannt hatte. Natürlich kannte er sie, schließlich besaß er mittlerweile die Hälfte ihres Eigentums! Schweren Herzens öffnete Claire den Schnappverschluss der Kiste und klappte den Deckel auf.
„Prachtvoll!“, rief er aus, ohne sich mit Höflichkeitsfloskeln aufzuhalten. Dann warf er ihr einen abschätzenden Blick zu. „Und Sie sind sich ganz sicher, dass Sie sich davon trennen wollen?“
Claire zuckte die Achseln. Sicher war für sie einzig, dass sie sich in einer schrecklichen Notlage befand.
Er schien eine Weile nachzudenken. „Acht Guineas“, bot er schließlich an.
Claire sah ihn entgeistert an. „Acht Guineas!“, wiederholte sie entsetzt.
Seine anfängliche Begeisterung über das wertvolle Silber verschwand hinter seiner üblichen Maske der Gleichgültigkeit.
Claire hob eine Augenbraue an. Sie wusste, dass es wenig Sinn hatte, mit ihm zu verhandeln, aber sie konnte nicht anders. Ihr Stolz war ihr wenigstens noch geblieben. „Sie meinen gewiss acht Guineas nur für die Kiste, Sir!“ Tatsächlich war die Kiste allein viel mehr wert, da der Deckel mit Elfenbeinintarsien verziert war.
Der Mann grinste belustigt. „Nein. Wissen Sie, ich habe ohnehin schon viel zu viel Silberbestecke im Lager, ich werde das Ganze kaum los. Acht Guineas.“
Claire versuchte, ihn zur Vernunft zu bringen. „Aber das ist reines Silber!“, erklärte sie und legte die Hand schützend auf die Erbstücke ihrer Großmutter.
Seine Miene blieb unerschütterlich.
Claire beschloss, seine eigene Taktik zu übernehmen, und schwieg ebenfalls. Ihr war klar, derjenige, der jetzt zuerst das Schweigen brach, hatte verloren. Es klappte nicht ganz so gut, wie sie erhofft hatte.
„Pah!“, rief der Angestellte aus. „Silber ist auch nicht mehr so viel wert wie früher einmal. Neun Guineas, das ist mein letztes Angebot.“
Claire kniff die Augen zusammen. „Für neun Guineas bekomme ich nicht einmal einen Hut und ein verdammtes Paar Schuhe!“, fuhr sie ihn an und ließ den Deckel der Kiste zuklappen. Eine Dame drückte sich eigentlich nicht so ordinär aus, aber sie konnte einfach nicht anders. „Nein, vielen Dank, Sir!“ Hoch erhobenen Hauptes hob sie die Kiste vom Tresen und bereitete sich innerlich darauf vor, sie den ganzen Weg nach Hause zurückzuschleppen. Aber für so ein unverschämtes Angebot hätte sie sie sogar bis ins Grab mitgeschleppt! Neun Guineas waren wie ein Tropfen auf den heißen Stein, angesichts der restlichen hundertfünfzigtausend Pfund Lösegeld, die sie noch für Ben aufbringen musste.
„Bis zum nächsten Mal!“, meinte der Angestellte süffisant.
Claire war so wütend, dass sie ohne ein Wort die Kabine verließ. Sie stürmte durch den Laden und geradewegs zur Tür hinaus. In ihren Augen brannten Tränen.
Was sollte sie jetzt bloß tun? Sie hatte fast ihr ganzes Hab und Gut veräußert, und doch hatte sie nicht annähernd das Geld zusammen, mit dem sie Bens Schulden begleichen konnte. Für manche Menschen mochten zweihunderttausend Pfund eine Kleinigkeit sein, aber sie hatte kaum fünfzigtausend zusammenbekommen, obwohl sie dafür fast alles veräußert hatte, was sie besaß. Hundertfünfzigtausend, die sie noch auftreiben musste … Ein Ding der Unmöglichkeit.
Was für ein trüber Tag – genauso trüb wie ihre Stimmung. Claire verfluchte den Nebel und machte sich tief in Gedanken versunken auf den Heimweg. Als sie die Drury Lane erreichte, hatte sie plötzlich das Gefühl, verfolgt zu werden. Sie drehte sich um und entdeckte ungefähr zwanzig Schritte hinter sich einen Fremden, der den Blick eindeutig auf ihre Kiste gerichtet hielt. Mit seinem dunklen Mantel und dem breitkrempigen Hut wirkte er irgendwie unheimlich, außerdem schien er sich Claire erschreckend zielstrebig zu nähern.
Voller Angst beschleunigte sie ihre Schritte.
Konnte das einer von Bens Entführern sein, der ihr gefolgt war, um sich zu vergewissern, dass sie ihre Forderungen auch erfüllte?
Wahrscheinlicher war allerdings, dass es sich um einen gemeinen Dieb handelte.
Sie versuchte sich zu erinnern, ob sie den Mann vielleicht im Pfandleihhaus gesehen hatte, aber da war niemand gewesen außer dem weinenden Mädchen und dem Angestellten.
War ihr der Mann zum Leihhaus gefolgt und hatte draußen gewartet, bis sie ihre Angelegenheiten erledigt hatte? Nein, das glaubte sie nicht. Er war ihr vorher nicht aufgefallen, und so misstrauisch wie sie mittlerweile schon geworden war, wäre er ihr bestimmt nicht entgangen.
Ihr Herz setzte einen Schlag aus.
Er konnte durchaus schon im Pfandleihhaus gewesen sein – in einer der Kabinen. Dann hätte er alles mitanhören können, was gesprochen worden war. Neun Guineas mochten für sie kein Anreiz sein, das gute Tafelsilber ihrer Großmutter zu verkaufen, aber ein Dieb sah das vielleicht anders. Für den waren neun Guineas sicher durchaus reizvoll.
Oder hatte der Pfandleiher den Mann auf sie angesetzt? Dieser Tage traute sie niemandem mehr. Es schien ihr geraten, allzeit wachsam zu sein.
Der Nebel ging in Regen über. Claire konnte die Schritte des Mannes schon hinter sich hören, aber sie hatte Angst davor, sich umzudrehen. Atemlos eilte sie weiter durch die Menge. Bitte, lieber Gott, mach, dass er nicht hinter mir her ist! betete sie stumm. Waren die Schritte leiser geworden? Schwer zu sagen bei dem Regen, der ihr auf den Kopf prasselte. Ihre Frisur musste inzwischen furchtbar aussehen, die nassen Locken klebten an ihren Wangen.
Beruhige dich, Claire, ermahnte sie sich. Versuche, vernünftig zu denken. Vielleicht verfolgte er sie ja gar nicht, und sie bildete sich das alles nur ein. Allmählich fing sie an, hinter jeder Ecke einen Verschwörer zu vermuten.
Sie verfluchte Bens verhängnisvolle Spielleidenschaft und sandte im selben Moment ein Stoßgebet zum Himmel, dass es ihm gut gehen möge, wo immer er auch sein mochte. Seit dem Morgen seines Verschwindens hatte sie nicht mehr mit ihm gesprochen. Sein Entführer hatte sie nur wissen lassen, dass er lebte und wohlauf war.
Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, einen Privatdetektiv einzuschalten, aber wovon hätte sie ihn bezahlen sollen? Und selbst wenn es gelang, Ben zu finden und ihn zu befreien – wer gab ihr die Garantie, dass sich die Verbrecher nicht erneut an seine Fersen hefteten? Immerhin schuldete er ihnen ja nach wie vor viel Geld.
Der Regen hatte sie inzwischen völlig durchnässt, und sie blies ein paar nasse Haarsträhnen von ihren Lippen. Sie ärgerte sich, dass sie nicht wenigstens einen guten Hut behalten hatte. Während sie sich unter aufgespannten Schirmen hindurch duckte, presste sie die Kiste mit dem Silber fester an ihre Brust und hielt Ausschau nach einer Droschke, doch nirgends war eine zu sehen.
In diesem Moment bedauerte sie es zutiefst, dass sie nicht den letzten, ihr noch verbliebenen Jagdwagen genommen hatte, auch wenn er bereits sehr klapperig war und sie noch nie ein solches Gefährt gelenkt hatte. Es war ein weiter Weg bis zum Grosvenor Square – und eindeutig zu weit, um im strömenden Regen dauernd Straßenräubern ausweichen zu müssen. Bei allem Lob auf die neue Metropolitan Police in London, aber wenn man schon einmal einen Bobby brauchte, war natürlich keiner zur Stelle!
2. KAPITEL
Eigentlich hätte die Reise nach London länger dauern müssen, aber sie waren von Kleinstadt zu Kleinstadt geprescht und hatten nur angehalten, wenn die Erschöpfung ihren Tribut gefordert hatte.
Nachdem Ian eine Woche lang nichts anderes als das blausamtene Innere der Kutsche gesehen hatte, sehnte er sich jetzt beinahe verzweifelt nach einem Bett, einem heißen Bad und sauberer Kleidung – in genau dieser Reihenfolge.
Endlich waren sie in London, und trotz seiner Müdigkeit wurde er zunehmend angespannter. Die Antworten, nach denen er suchte, waren in greifbare Nähe gerückt.
Er sah aus dem Fenster auf die vorbeihastende Menschenmenge und das Meer von schwarzen Regenschirmen. Wenn die Sonne wirklich jemals in dieser schmutzigen Stadt geschienen hatte, dann befand sie sich jetzt wohl endgültig auf dem Rückzug und verschwand rasch hinter den rußgeschwärzten Häusern.
Er war erst ein einziges Mal in London gewesen, mit siebzehn, aber in den elf Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte die Stadt sich nicht sehr verändert. In den Straßen wimmelte es noch immer von Menschen, und die Themse stank faulig wie eh und je. Obwohl er noch weit von ihr entfernt war, konnte er ihren typischen Geruch wahrnehmen. Es war Ian ein Rätsel, was die Menschen in diese hässliche Stadt zog. Schon jetzt sehnte er sich wieder nach der frischen schottischen Luft und den grünen Hügeln von Glen Abbey. Für das Stadtleben war er einfach nicht geschaffen, und er hatte auch nicht vor, sich hier lange aufzuhalten – nur gerade so lange, wie er brauchte, seine Angelegenheiten zu erledigen.
Er lehnte sich zurück und zog erneut den Brief hervor, den er in seinem neu erworbenen Mantel gefunden hatte, und las ihn zum wiederholten Mal, um die darin enthaltenen Informationen zu verdauen.
Meine liebste Fiona,
Es handelte sich offensichtlich um einen Brief an seine Mutter. Der Verfasser musste sie jedoch sehr gut gekannt haben, wie die höchst vertrauliche Anrede bewies.
Bitte erlaube mir, Dir mein Beileid zum Verlust Deines Vaters auszusprechen.
Das war wohl irgendwann nach dem Tod seines Großvaters geschrieben worden.
Er war ein Ehrenmann. Diejenigen, die ihn bewundert haben – ich selbst eingeschlossen –, werden ihn schmerzlich vermissen.
Als Ian auf das vergilbte Pergament starrte, empfand er plötzlich große Trauer, dass er seinen Großvater nie kennengelernt hatte. Es gab kaum einen Menschen, der ihm begegnet war und nicht ein freundliches Wort für ihn übrig gehabt hätte.
Wie gut hatte der Verfasser des Briefs ihn gekannt? Er dachte über den Mann nach, dem die Kutsche und der Mantel gehörten. Ian war sich sicher, dass sie irgendwie verwandtschaftlich miteinander verbunden waren. Es konnte doch kein Zufall sein, dass sie sich so verblüffend ähnlich sahen.
Ein bisschen plagte ihn das schlechte Gewissen, dass er den Mann so behandelt hatte, aber nur ein bisschen. Achselzuckend verdrängte er das Gefühl, er war überzeugt davon, das Richtige zu tun. Merrick würde sein altes Leben schon früh genug wiederbekommen. Bis dahin wollte Ian alle erdenkbaren Mittel ausschöpfen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar und las weiter. Was nun folgte, war um einiges rätselhafter und bezog sich nur ganz vage auf verschiedene Ereignisse, sodass man nur Vermutungen anstellen konnte.
Inzwischen wirst Du erkannt haben, was ich vorhabe.
Was genau, bitte, hatte der Verfasser denn vor?
Zu Deinem eigenen Wohl und zum Wohl meines Sohnes halte ich es gegenwärtig nicht für gerechtfertigt, es Dir zu überlassen, damit Du nicht irgendeinem kaltherzigen Opportunisten zum Opfer fällst.
Dieser Absatz verstörte Ian mehr als jeder andere. Seine Mutter hatte ihm erzählt, sein Vater wäre kurz vor seiner Geburt ermordet worden. Wer war dann dieser Sohn, den der Mann erwähnte?
Merrick.
Konnte es sein, dass …?
Er schüttelte den Kopf, er war außer Stande, diese schockierende Möglichkeit in Betracht zu ziehen.
Und doch, wer war dieser Mann, der sich genötigt fühlte, seine Mutter vor irgendwelchen kaltherzigen Opportunisten beschützen zu müssen?
Was verbarg sich hinter diesem „es“, das er ihr nicht überlassen konnte?
Glen Abbey Manor?
Das würde einiges erklären, aber wie sollte der Mann überhaupt erst einmal in den Besitz dieses Anwesens gelangt sein, wenn es doch schon seit fast fünfhundert Jahren den MacEwens gehörte?
Der restliche Brief beinhaltete nur noch leeres Gerede, als sei der Verfasser nicht ganz bei Trost gewesen – betrunken vielleicht. Nur noch ein Absatz stach besonders hervor. Die Worte waren auf die Rückseite des Briefes gekritzelt worden, fast wie ein nachträglicher Gedanke.
Das Geräusch, das ein Kuss verursacht, mag nicht so laut sein wie der Schuss aus einer Kanone, aber sein Echo hallt viel länger nach. Ich leide an einem Ohrgeräusch, das nicht aufhören will, mich zu quälen.
Der Brief war ganz schlicht unterschrieben mit J.
J. hatte diesen Brief offensichtlich niemals abgeschickt. Hatte Merrick nach all diesen Jahren vorgehabt, ihn seiner Mutter auszuhändigen?
Warum gerade jetzt?
Die Antwort schien klar auf der Hand zu liegen, obwohl Ian noch nicht darauf vorbereitet war, sie zu akzeptieren. Dass er nämlich in all den Jahren möglicherweise einen Bruder gehabt haben könnte – und vielleicht sogar einen Vater. Dass seine Mutter ihn angelogen haben könnte. Dass sie eines ihrer Kinder im Stich gelassen haben könnte …
All das reichte aus, um seine Laune noch weiter zu verschlechtern, wenn das angesichts dieses alles durchdringenden Nebels überhaupt noch möglich war.
Er faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder in die Manteltasche. Anschließend zog er das goldene Visitenkartenetui aus der Westentasche, entnahm ihr eine einzelne Karte und betrachtete sie wohl zum hundertsten Mal. Die Buchstaben J.M.W. waren in den Deckel des Etuis graviert. Auf der Karte selbst stand: J. Merrick Welbourne III., Seine Königliche Hoheit, Kronprinz von Meridian.
Das J. hatte er höchstwahrscheinlich geerbt, denn die Karte deutete auf eine dritte Generation hin. Also trug J., der Sohn, einen Brief von J., dem Vater, bei sich, und die Empfängerin sollte seine Mutter sein. Darüber hinaus trug J., der Sohn, den Titel einer königlichen Hoheit, und wurde als Kronprinz von Meridian ausgewiesen … Wurde dadurch J., der Vater, zum – König von Meridian?
Ian lehnte sich zurück, um diese überwältigenden Hinweise zu verarbeiten. So haarsträubend das alles zu sein schien, so gab es doch eins, was nicht bestritten werden konnte – die unglaubliche Ähnlichkeit von Ian und Merrick.
Plötzlich hatte Ian das Gefühl, als bestände sein ganzes Leben nur aus einem Geflecht von Lügen. Unbestritten hingegen war, dass seine Mutter tatsächlich Geheimnisse vor ihm gehabt hatte, und dass diese Geheimnisse Auswirkungen auf jeden einzelnen Menschen in Glen Abbey gezeigt hatten.
Dieses Wissen entmutigte Ian zutiefst.
Sie näherten sich allmählich ihrem Ziel; Ian konnte förmlich die Erleichterung des Kutschers an der Art spüren, wie er das Tempo noch einmal beschleunigte. Ian hatte während der ganzen Reise kaum mit ihm gesprochen und nur geantwortet, wenn es absolut nötig gewesen war, dennoch hatte er das leise Gefühl, dass der Kutscher einen Verdacht hegte. Es lag ihm auf der Zunge, dem Mann zu befehlen, langsamer zu fahren, doch dann jagte ihm der Schrei einer Frau einen Schauer über den Rücken.
Sofort geriet die Kutsche ins Schlingern, weil der Kutscher versuchte, die Pferde ruckartig zum Stehen zu bringen. Ian prallte erst gegen das Fenster und landete schließlich auf dem gegenüberliegenden Sitz. Er brauchte nur einen kurzen Moment, um sich zu besinnen, dann sprang er auch schon aus dem Gefährt. Beim Anblick, der sich ihm bot, wurde ihm ganz schlecht.
Seine schlimmste Befürchtung hatte sich bewahrheitet – sie hatten eine Frau angefahren. Mit dem Gesicht nach unten lag sie mitten auf der Straße, und einen entsetzlichen Augenblick lang bewegte sie sich nicht.
Ian stürzte zu ihr und kniete sich neben sie. Ihr langes tiefschwarzes Haar hatte sich aus den Klammern und Nadeln gelöst und fiel ihr über die blasse Wange. Eine Holzkiste war ihr aus den Händen gerutscht und in zwei Teile zerbrochen, als sie dicht neben der Frau auf das Pflaster geprallt war. Das Tafelsilber darin ergoss sich über die Straße wie ein silberner Fluss.
Ian entdeckte kein Blut, was zumindest ermutigend war, aber bewegt hatte sie sich immer noch nicht. Dann stöhnte sie jedoch leise, und Ian atmete erleichtert auf.
Der Kutscher eilte an seine Seite. „Wir haben sie nicht angefahren!“, beteuerte er.
Ian warf ihm einen unwilligen Blick zu. Natürlich hatten sie das, verdammt! Dafür sprach doch wohl ihre Bewusstlosigkeit, nicht wahr!
Stimmen wurden laut, als sich immer mehr Neugierige um sie scharten.
Claire brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass sie mitten auf der Drury Lane im Dreck lag. Wie außerordentlich demütigend! Wieder stöhnte sie, allerdings weniger vor Schmerz als vor Verlegenheit, denn als sie versuchte, aufzustehen, musste sie feststellen, dass sie unwillkommene Zuschauer hatte.
Ein Mann kniete neben ihr und starrte sie fasziniert an. Sein Anblick löste einen Anflug von Gereiztheit in ihr aus. Ihr war klar, dass er ihr helfen wollte, aber seine Aufmerksamkeit trieb ihr nur das Blut in die Wangen.
Er sah auf irritierende Weise gut aus, mit seinem sonnengebleichten Haar und den hohen Wangenknochen. Claire wollte lieber gar nicht erst wissen, welche Farbe seine Augen hatten. Das war sicherlich nicht der richtige Zeitpunkt, ein Paar blaue Augen zu bewundern, auch wenn sie ein so bemerkenswertes Blau noch nie gesehen hatte.
„Gott sei Dank, Sie sind nicht verletzt!“, rief der Mann erleichtert aus.
Seine Stimme jagte ihr unerwartet einen Schauer über den Rücken. Nein, das musste am kalten Regen liegen. Bestimmt war sie nach dem Sturz ein wenig durcheinander, denn derart beunruhigende Gedanken waren ihr noch nie durch den Kopf gegangen. Sie wünschte, er würde den Blick von ihr abwenden.
Aufgewühlt durch den Sturz und die Aufmerksamkeit des Unbekannten, betrachtete sie ihre aufgeschürften Hände. Erst dann fiel ihr wieder der Straßenräuber ein, und sie ließ hastig den Blick über die um sie herumstehenden Menschen schweifen. Sie entdeckte ihn nicht auf Anhieb, aber sie wollte auch nicht darauf warten, dass er auftauchte. Unverzüglich begann sie, das überall verstreute Tafelsilber ihrer Großmutter einzusammeln.
Der Kutscher schimpfte unterdessen weiter und wies jede Schuld an dem Zwischenfall von sich. „Sie ist uns genau vor die Kutsche gelaufen!“, erklärte er seinem Herrn. „Wir haben sie nicht angefahren, denka, sie ist von allein gefallen!“
Claire warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Wie konnte er es wagen, ihr allein die Schuld zu geben! Sie hatte nicht richtig aufgepasst, wo sie hinging, zugegeben. Trotzdem hätte er wirklich vorsichtiger fahren müssen, schließlich war das hier London, und die Straßen waren voll von Frauen und Kindern – auch wenn manche dieser Kinder fast ebenso gefährlich waren wie Erwachsene.
Mit einem Löffel fuchtelte sie vor seinem Gesicht herum. „Sie, Sir, sind für diese Verhältnisse viel zu schnell gefahren!“, warf sie ihm vor. Empört griff sie nach der unteren Hälfte der Kiste, knallte sie vor sich auf das Pflaster und warf dem Kutscher einen vernichtenden Blick zu.
Er sah unglücklich zu Boden.
Claire ignorierte das sich flüchtig regende Schuldgefühl. Ihre Kiste war zerstört, ihr Silber überall verstreut, und er besaß die Dreistigkeit, völlig zerknirscht auszusehen! So leicht würde sie es ihm nicht machen. „Irgendein Kind hätte Ihnen vor die Kutsche laufen können! Wie hätten Sie sich denn dann gefühlt?“
„Kaum elender als jetzt“, kam sein Herr ihm zu Hilfe.
Claire fuhr fort, ihr Silber einzusammeln und war froh über ihren Zorn, der sie ablenkte. Sie warf die einzelnen Stücke in die zerbrochene Kiste. Es reizte sie bis zur Weißglut, dass beide Männer tatenlos herumstanden und keine Anstalten machten, ihr zu helfen.
Wie übrigens auch sonst niemand aus der Menge. Die Leute steckten die Köpfe zusammen und gafften sie einfach nur an.
„Wie außerordentlich unhöflich!“, rief Claire erbost. Einfach stehen zu bleiben und sie neugierig anzustarren! Sie hätte ihnen am liebsten gesagt, sie sollten verschwinden und sich um ihre eigenen elenden Angelegenheiten kümmern, aber ihr war klar, dass das reine Zeitverschwendung sein würde.
Sie ließ ihren Zorn am Kutscher aus, weil der sie lange nicht so in Verwirrung stürzte wie sein Herr. „Wenn Sie auch nur ansatzweise ein schlechtes Gewissen hätten, weil Sie mich angefahren haben, Sir, dann wären Sie vielleicht eher geneigt, mir beim Einsammeln meiner Sachen zu helfen!“
Beiden Männern schien jetzt erst aufzufallen, dass sie die Einzige war, die das von ihnen angerichtete glitzernde Chaos auf der Straße beseitigte. Inzwischen stauten sich die Kutschen hinter ihnen bis zum Theater an der Ecke.
„Verzeihung … Gestatten Sie mir, Ihnen behilflich zu sein“, bot der Unbekannte an.
Sein Kutscher ließ sich sofort auf die Knie fallen und schob mit den Armen ihr Silber zu einem Haufen vor sich zusammen, wobei er mit Sicherheit die Politur zerkratzte. Sie hätte ihm gern zugerufen, er solle ein wenig aufpassen, aber es war ihr ehrlich gesagt wichtiger, dass er sich beeilte. Was bedeuteten schon ein paar Kratzer auf dem Silber, wenn es um Menschenleben ging?
Die Menge um sie herum löste sich allmählich auf, offenbar gelangweilt, weil kein Blut geflossen war. Claire suchte unter den wenigen verbliebenen Gesichtern nach dem des Mannes, der sie verfolgt hatte.
„Beeilen Sie sich!“, rief sie energisch, aber nicht unfreundlich. „Ich muss weiter! Es ist schon spät!“
„Eine Dame sollte ohnehin nicht mehr um diese Uhrzeit durch die Straßen laufen“, bemerkte der Unbekannte zu ihrem Ärger.
Sicher hatte er es nicht so gemeint, wie es sich angehört hatte, aber Claire war trotzdem beleidigt. „Ich muss doch sehr bitten! Ich laufe wohl kaum einfach so durch die Straßen, Sir!“
Er zuckte leicht zusammen, ihm war wohl klar geworden, wie ungeschickt er sich ausgedrückt hatte. „Ich wollte damit nur sagen, dass es nicht unbedingt sicher für eine Frau ist, so spät noch unterwegs zu sein.“
Als wüsste sie das nicht selbst. „Ich war auf dem Weg nach Hause, bis Sie mich aufgehalten haben!“ Claire achtete nicht auf den Regen, der ihr ins Gesicht prasselte. Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, die Tropfen wegzuwischen. Ihre Frisur war zweifellos ruiniert, wenn schon nicht durch den Sturz, dann auf jeden Fall durch den Regen.
Am liebsten hätte sie die beiden Männer dorthin geschickt, wo der Pfeffer wuchs! Der blonde Mann konnte gar nicht ahnen, in welch inneren Aufruhr er sie versetzt hatte.
Die Dämmerung nahte, und Claire hatte in der Tat noch einen sehr weiten Weg vor sich, falls sie keine Droschke auftreiben konnte.
Großer Gott, was war, wenn sie wirklich keine fand? Wenn es dunkel wurde, bevor sie ihr sicheres Zuhause erreichte? Panik stieg in ihr auf. Beruhige dich, dachte sie. Der Straßenräuber hatte sich bestimmt mittlerweile verzogen. Überhaupt – der Mann hat mich ja eigentlich gar nicht verfolgt, versuchte sie, sich einzureden.
„Wenn Sie uns das Vergnügen Ihrer Gesellschaft machen wollen, bieten wir Ihnen gern an, Sie nach Hause zu fahren“, schlug der Blonde vor.
Claire warf eine erbärmlich verkrümmte Gabel in die Kiste. Eine Fahrt mit zwei völlig fremden Männern war das Letzte, was sie sich im Moment vorstellen konnte. Soweit sie wusste, war schließlich ihr Bruder auf diese Weise verschwunden. „Ich komme allein zurecht, vielen Dank.“
In diesem Moment entdeckte sie den Mann, der ihr seit dem Pfandleihhaus gefolgt war. Er stand in einem kleinen Laden an der gegenüberliegenden Straßenseite. Wartend starrte er durch das Schaufenster.
Claires Herz setzte einen Schlag aus. Er hatte sie also doch verfolgt!
„Nun, dann … Bitte, nehmen Sie unsere aufrichtige Entschuldigung entgegen. Wir werden uns nun auch besser auf den Weg machen.“
Claire klaubte das letzte Silber auf, hob die Kiste hoch und warf sie dem Blonden in die Arme. „Seien Sie ein Gentleman“, forderte sie ihn auf. „Tragen Sie meine Kiste in die Kutsche.“ Aus Angst, die beiden könnten es sich anders überlegen, eilte sie ohne ein weiteres Wort auf die Kutsche zu.
3. KAPITEL
Ian sah ihr nach, als sie, ohne auf Hilfe zu warten, kurzerhand in die Kutsche stieg. Offenbar hatte sie ihn für das kleinere Übel gehalten.
Bei diesem Gedanken musste er ein wenig schmunzeln. Es gab eine ganze Reihe von Leuten, die das anders sahen.
Prüfend blickte er über seine Schulter, um herauszufinden, was sie wohl gesehen haben mochte, dass sie so plötzlich ihre Meinung geändert hatte. Ihm fiel nichts Verdächtiges auf.
Auch Ryo wirkte ein wenig ratlos. Er kratzte sich am Kopf, und beide Männer tauschten einen verwirrten Blick, ehe Ian Ryo bedeutete, wieder auf dem Kutschbock Platz zu nehmen.
Ian hatte kaum den Fuß auf das Trittbrett der Kutsche gesetzt, da entriss ihm seine kleine kratzbürstige Mitreisende die Kiste und stellte sie sich auf den Schoß.
„Zum Grosvenor Square, vielen Dank“, teilte sie ihm schnippisch mit. In kerzengerader Haltung saß sie da und ignorierte ihn geflissentlich, ihr hübsches Gesicht glich einer Maske. Nur ihre starr nach vorn blickenden grünen Augen verrieten, dass sie Angst hatte.
Ian versuchte, Blickkontakt zu ihr aufzunehmen, aber sie ließ sich nicht darauf ein. Bis auf den frischen Kratzer an ihrem Kinn war ihre Haut makellos. Es bedrückte ihn, mit dafür verantwortlich zu sein, dass ihr sonst so vollkommener Teint verunziert worden war.
Er sah auf die Kiste, die sie auf den Knien balancierte. Trotz ihrer Bemühungen, den Inhalt unauffällig darin zu verstauen, ragte hier und da ein Löffelstiel hervor. Ian fragte sich, wem das Silber wohl gehören mochte.
Diebesgut?
Dass Frauen zu Dieben wurden, war gar kein so abwegiger Gedanke, aber diese hier kam ihm eigentlich nicht so vor. Und gerade er sollte doch wohl erkennen können, wann er einen Dieb vor sich hatte.
Wer war also dieser kleine Drachen, der sich so angestrengt bemühte, ihn nicht zu beachten?
Man brauchte kein gebürtiger Londoner zu sein, um zu wissen, dass die Adresse, die sie ihm genannt hatte, erstklassig war. Aber warum sollte eine Frau ihres Standes vollkommen unbegleitet mit einer Kiste voller Silber in London unterwegs sein?
Handelte es sich bei dem Silber um eine Neuanschaffung, dann wäre die Kiste vom Geschäft zu ihr nach Hause geliefert worden. Kein anständiger Händler hätte eine vornehme Dame so gedankenlos einer Gefahr ausgesetzt.
Er betrachtete sie, während sie ihm weiterhin die kalte Schulter zeigte. Ihr dunkelgraues Kleid war ordentlich gebügelt, aber Stoff und Schnitt hätten wohl bei den wenigsten bessergestellten Damen Begeisterung hervorgerufen. Es war so bescheiden wie die Kleider, die die Pflegerin seiner Mutter häufig trug, und mit dem mageren Gehalt, das Chloe in Glen Abbey Manor gezahlt wurde, konnte sie sich wahrlich keine Extravaganzen leisten. War seine unnahbare Mitreisende vielleicht nur irgendjemandes Zofe?
Wie dem auch immer sein mochte – auf jeden Fall war sie das reizvollste weibliche Wesen, das er je gesehen hatte.
Ihm war klar, dass es unklug war, aber er konnte es sich nicht verkneifen, sie ein wenig zu provozieren. „Die meisten anständigen Händler liefern ihre Waren ins Haus“, wagte er sich vor und wartete ab, wie sie wohl reagieren würde.
Sie durchschaute die Doppeldeutigkeit sofort – was für eine kluge kleine Person. Ihre smaragdgrünen Augen begannen zu funkeln, und sie hob entrüstet das Kinn. „Wollen Sie damit etwa andeuten, Sir, dass ich unanständigen Geschäften nachgehe?“ Sie verteidigte sich wie ein in die Enge getriebener Fuchs.
Ian betrachtete sie prüfend und wich ihrem Blick nicht aus. Ihre grünen Augen waren in der Tat bemerkenswert, kleine goldene Einsprengsel ließen sie noch leuchtender wirken.
Faszinierend.
Ihre Wangen röteten sich unter seinem forschenden Blick, aber sie geriet nicht ins Wanken; auch schien sie nicht gewillt, ihm die Herkunft des Silbers zu erklären. Im Gegenteil, sie straffte sich, und sofort wurde seine Aufmerksamkeit auf ihren wohlgeformten Busen gelenkt, dessen Spitzen sich unter dem engen Mieder ihres Kleides abzeichneten.
Ein unerwartetes Verlangen durchzuckte ihn, ein so heftiges Gefühl, dass ihn ein Schauer überlief. Ihm war klar, dass sie auf eine Antwort wartete, und er brauchte eine Weile, sich darauf zu besinnen, worüber sie geredet hatten. Er war sich nur allzu deutlich bewusst, wie fehl am Platze seine plötzliche Erregung war, und zwang sich, den Blick wieder auf ihr Gesicht zu richten. Zum ersten Mal in seinem Leben brachte ihn seine Reaktion auf eine Frau völlig aus der Fassung. Und jetzt errötete er ihretwegen sogar! Ganz sicher war er seit seiner frühen Jugend wegen so etwas nicht mehr rot geworden.
„Ich … ich habe gar nichts angedeutet“, log er und veränderte seine Sitzhaltung, um seinen wenig schicklichen Zustand zu verbergen.
Sie hob eine anmutig geschwungene Augenbraue; offensichtlich entging ihr seine missliche Lage. „Ich glaube, das haben Sie sehr wohl getan“, gab sie zurück. „Und ich versichere Ihnen, dass das sehr unhöflich war.“
Ganz Dame ließ sie den Blick nicht eine Sekunde von seinem Gesicht weiter nach unten wandern. Aber ihr Mund … dieser Mund lud förmlich zum Küssen ein! Trotz aller eisernen Vorsätze geriet er schon wieder ins Träumen. Verdammt, so ging das nicht weiter. Er gab sich innerlich einen Ruck und lächelte gezwungen. „Ich wollte damit nur sagen, dass es für eine hübsche Dame nicht ungefährlich ist, etwas so Wertvolles bei sich zu haben. Es ist sehr nachlässig von Ihrem … Händler, Sie damit ohne entsprechende Eskorte nach Hause gehen zu lassen.“
Sie überhörte das verschleierte Kompliment. „Was Sie sagen wollten, hat wohl kaum etwas mit dem zu tun, was Sie stillschweigend angedeutet haben. Ich habe den Eindruck, Sir, dass Sie sich in der Kunst der höflichen Konversation noch etwas üben müssen. Darüber hinaus“, fügte sie hinzu, „geht es Sie gar nichts an, warum ich etwas bei mir habe, ganz gleich, ob es wertvoll ist oder nicht!“
Mit ihrem Zorn tat sie ihm unbewusst einen großen Gefallen. Seine Erregung fiel schlagartig in sich zusammen. Was für ein zickiges Frauenzimmer! Und er sah ihr an, dass sie noch nicht mit ihm fertig war.
„Erst fahren Sie mich mit Ihrer Kutsche an“, stellte sie kühl und beinahe verächtlich fest. „Dann zweifeln Sie an meinem Charakter. Was kommt als Nächstes?“ Sie klopfte gereizt auf die hölzerne Kiste. „Werden Sie mich jetzt etwa ausrauben?“
Nur mit Mühe unterdrückte Ian ein verblüfftes Lachen. Sie hatte ja keine Ahnung, wie nahe sie der Wahrheit über sein eigentliches Naturell gekommen war. Der Wert des Inhalts dieser Kiste würde wahrscheinlich ausreichen, um eine vierköpfige Familie ein Leben lang zu ernähren und einzukleiden.
Sie hob fragend die Augenbrauen. „Nun? Soll ich Ihnen das Silber jetzt gleich übergeben, damit wir uns weitere Unannehmlichkeiten ersparen können?“
Wenn nur alle seine Opfer so entgegenkommend gewesen wären.
Normalerweise hätte er alle möglichen geistreichen Bemerkungen dazu parat gehabt – wenn das ein anderer Zeitpunkt und sie eine andere Frau gewesen wäre. So aber fühlte er sich zu müde für ein Geplänkel.
Belustigt stellte er fest, dass sie gar keine Anstalten machte, ihm die Kiste auszuhändigen. Im Gegenteil, sie zog sie noch fester zu sich heran und sah so aus, als würde sie ihn in Stücke reißen, sobald er auch nur einen kleinen Finger nach ihr ausstreckte. Fast rechnete er damit, dass sie ihn jeden Moment auffordern würde, die Kutsche augenblicklich anhalten zu lassen, ganz gleich, was er ihr antwortete.
Trotz seiner Erfolge bei den Damen war es schon einige Zeit her, seit ihm eine Frau den Kopf verdreht, geschweige denn sein Bett gewärmt hatte. Aber weiß Gott, noch nie hatte es eine Frau fertig gebracht, ihn erst zum Erröten zu bringen, seine Leidenschaft zu wecken und ihn dann so eiskalt abblitzen zu lassen.
Er betrachtete ihre steife Sitzhaltung und fragte sich, ob sie wohl noch unschuldig war. Kein sehr schicklicher Gedankengang, aber er hatte schon vor langer Zeit aufgehört, irgendetwas zu heucheln, was er nicht empfand. Man konnte schließlich nicht Straßenräuber sein – aus welch edlen Beweggründen auch immer – und trotzdem durch und durch Gentleman bleiben.
Dennoch sagte man ihm nach, dass er recht charmant sein konnte. Daher schlug er nun seinen entwaffnendsten Tonfall an, in der Hoffnung, sie damit wenigstens halbwegs versöhnlich zu stimmen.
Gleichzeitig streckte er die Hand aus. Eine vermessene Geste, aber er musste unbedingt herausfinden, wie sich ihre Haut anfühlte. „Madam, mir scheint, ich muss mich ständig bei Ihnen entschuldigen.“
Sie beäugte seine Hand, als handelte es sich dabei um eine giftige Schlange.
Ian gab nicht nach. „Lassen Sie uns noch einmal ganz von vorn anfangen, Miss …?“
Sie sagte kein Wort, umklammerte nur ihre Kiste noch fester und sah ihn finster an.
„Wie dürfen Ihre Freunde Sie denn anreden?“, fragte er kühn.
Sie bedachte ihn mit einem süffisanten Blick. „Wenn Sie ein Freund wären, wüssten Sie das ja wohl, Sir.“ Zur Bekräftigung ließ sie ein hochmütiges Kopfnicken folgen.
Ian hatte mit allem Möglichen gerechnet, aber nicht mit dieser Antwort. Stirnrunzelnd zog er seine Hand zurück. Diese Frau hatte eindeutig nicht das geringste Interesse daran, ihre Bekanntschaft zu vertiefen. Verdammt. Offensichtlich war er der Einzige, der irgendeine Anziehungskraft zwischen ihnen zu spüren glaubte. Sie jedenfalls war so eiskalt wie die schottische Luft im Winter. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt von einer Frau derart entschieden zurückgewiesen worden war.
Da sie sich weigerte, ihm ihren Namen zu verraten, sah er ebenfalls keinen Grund, sich vorzustellen. Es war ohnehin eine fragliche Sache, denn er war ja nicht der, für den er sich ausgab. Abgesehen davon würde er gar nicht lang genug in London sein, um neue Freundschaften zu schließen, selbst wenn die kleine Furie, die ihm jetzt gegenübersaß, das nervtötendste, zauberhafteste Geschöpf war, das er je gesehen hatte.
Resigniert schenkte er ihr ein gezwungenes Lächeln. Sie erwiderte es ebenso aufgesetzt und ihre Miene verriet, dass ihre Geduld mit ihm ein Ende hatte. Dann wandte sie sich ab und sah angestrengt zum Fenster hinaus.
Schweigend setzten sie die Fahrt fort, bis sie sich dem Grosvenor Square näherten. Ian erkannte die vornehmen Gebäude längs der Straße wieder. Seine Mitreisende beugte sich nach vorn, so als wollte sie sofort aus der Kutsche springen, wenn diese anhielt. Er konnte es ihr nicht verübeln, die Spannung zwischen ihnen war mittlerweile fast mit den Händen greifbar.
Dennoch empfand er ein Gefühl der Verantwortung für sie. Er hatte sie ja nun in der Tat fast überfahren, und er hatte ihre Ehrbarkeit infrage gestellt. Daher zog er jetzt ein Taschentuch aus seinem Mantel und hielt es ihr hin. Ganz gleich, was er von ihr hielt, aber er konnte nicht zulassen, dass sie ihrem Arbeitgeber mit so schmutzigem, blutverschmiertem Gesicht gegenübertrat.
Mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen betrachtete sie das Tuch. „Sehe ich etwa so aus, als weinte ich?“, fragte sie, ohne es anzunehmen.
Ian runzelte verständnislos die Stirn.
Sie reckte das Kinn noch höher. „Nur weil ich eine Frau bin, heißt das noch lange nicht, dass ich beim kleinsten Ungemach sofort in Tränen ausbreche. Mir geht es gut, vielen Dank.“
Obwohl er sich große Mühe gab, sich nichts von seiner Belustigung anmerken zu lassen, konnte er ein Schmunzeln nicht unterdrücken. „Sie bluten am Kinn“, bemerkte er und registrierte mit ganz und gar nicht ehrenhafter Befriedigung, wie sich ihr Gesichtsausdruck schlagartig veränderte.
„Oh!“ Sie riss ihm das Taschentuch aus der Hand. „Das habe ich gar nicht bemerkt“, fügte sie kleinlaut hinzu. „Vielen Dank.“ Der Blick, den sie ihm zuwarf, wirkte einen flüchtigen Moment lang für seinen Geschmack viel zu verletzlich, und zum ersten Mal im Leben hatte er keine Ahnung, wie er reagieren sollte.
Die Kutsche hielt an, und der Blick verschwand so rasch wie er gekommen war. Sie nahm ihre Kiste und stieß die Tür auf, noch ehe Ian oder Ryo ihr zu Hilfe kommen konnten. „Vielen Dank!“, sagte sie noch einmal beim Aussteigen. „Sie brauchen mich nicht bis zum Eingang zu begleiten.“ Damit schlug sie die Tür zu, als er sich gerade erhob, um ihr zu folgen. Nur einen halben Schritt weiter, und er hätte sich die Nase gebrochen. So starrte er lediglich die blaue Samtverkleidung an.
Als sich die Kutsche mit einem Ruck wieder in Bewegung setzte, kam sie Ian plötzlich leerer vor als zuvor. Draußen fing es an zu donnern, schwere Regentropfen prasselten auf das Verdeck.
Aber vielleicht hatte es schon die ganze Zeit geregnet, denn in diesem Augenblick erkannte Ian, dass er in ihrer Gesellschaft nichts anderes mehr wahrgenommen hatte außer ihr.
4. KAPITEL
Die kostbare Kiste mit dem Silber fest an sich gepresst, wartete Claire, bis die Kutsche weitergefahren war, ehe sie zur Haustür eilte und sie hastig hinter sich ins Schloss zog, um vor dem Regen und den neugierigen Blicken der Nachbarn geschützt zu sein.
Von außen mochte das Haus am Grosvenor Square so ehrwürdig erscheinen wie eh und je, aber im Grunde war es eine leere Hülle. Ein Zimmer nach dem anderen von Highbury Hall war seiner Würde beraubt worden – die Wände zierten keine Bilder mehr, es gab kaum noch Vasen oder Möbel.
Nur der Salon war unangetastet geblieben, eine Fassade für Gäste, die Claire gar nicht mehr empfing. Sie hätte sich zu sehr geschämt, wenn jemand Zeuge davon geworden wäre, wie sehr das Haus seit dem Tod ihres Vaters heruntergekommen war. Um ihren guten Namen war es bestimmt als Nächstes geschehen.
Niemand begrüßte sie, als sie die einst so prachtvolle Eingangshalle betrat. Die meisten der Bediensteten hatten sie längst verlassen. Jasper, die treue alte Seele, war geblieben, trotz der Tatsache, dass sie ihn nicht bezahlen konnte. Der alte Butler und seine Frau waren schon im Haus, seit Claire denken konnte, aber weder Jasper noch Mrs Tandy vermochten es, etwas Leben ins Haus zu bringen.
Claire ging ins Esszimmer und stellte die Kiste mit dem Silber auf den Tisch. Sie klopfte noch einmal liebevoll auf den Deckel, dann wandte sie sich ab und überließ alles wieder dem Staub.
Im Salon ließ sie sich in den Lieblingssessel ihres Vaters fallen und kuschelte sich in die Kuhle, die sein Körper in dem weichen Polster hinterlassen hatte. Noch immer konnte Claire den tröstlichen Duft seiner Pfeife wahrnehmen, selbst nach all diesen Monaten. Ihre Sitzhaltung war nicht gerade damenhaft, aber das war ihr an diesem Tag gleichgültig.
„Ist alles wie gewünscht verlaufen, Madam?“
Claire sah auf und entdeckte Jasper in der offenen Tür. Mit einem bedauernden Lächeln schüttelte sie den Kopf.
„Das tut mir leid, Madam.“
„Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?“, erkundigte Claire sich, obwohl sie Angst vor der Antwort hatte.
„Nein, Madam. Heute war alles ruhig.“
Es war immer ruhig. Kein Männerlachen mehr in den Gängen, kein Gekicher von Dienstmädchen. Claire seufzte. Nun, keine Neuigkeiten waren wenigstens besser als schlechte.
Jasper kam jetzt ganz ins Zimmer, nahm eine zusammengefaltete Decke vom Sofa und breitete sie über Claires Schoß aus. „Sie werden sich noch erkälten“, meinte er tadelnd.
Seine Fürsorglichkeit tröstete sie, aber sie erwiderte nichts darauf. So todmüde hatte sie sich noch nie gefühlt.
„Ich weiß nicht, was wir machen sollen“, meinte sie nach einer Weile niedergeschlagen.
Jasper antwortete nicht. Über negative Dinge hatte er noch nie gern gesprochen, andererseits gab es aber auch nichts Positives, das er hätte sagen können. Er nahm die Times vom Tisch und hielt sie ihr hin. Als Claire sie ihm abnahm, klopfte er ihr leicht auf die Schulter. „Ich werde Mrs Tandy bitten, Ihnen etwas Tee zu bringen“, bot er ihr an.
Es amüsierte sie immer wieder, wenn er so förmlich von seiner Frau sprach. Eigentlich wollte sie ihm sagen, er sollte sich nicht bemühen. Jasper und seine herzensgute Frau arbeiteten ohnehin schon viel zu viel, und es war bereits spät. Doch im Grunde sehnte sie sich geradezu nach einem Schluck Tee. „Vielen Dank“, willigte sie ein.
Jasper ließ sie allein, damit sie in Ruhe die Zeitung lesen konnte. Obwohl es unsinnig war, beachtete sie die Schlagzeilen auf der Titelseite nicht. Sie konnte es nicht ertragen, etwas zu lesen, das sie unnötig noch weiter belastete. Stattdessen wandte sie sich den Gesellschaftsseiten zu und verdrehte die Augen über die frivolen Artikelüberschriften, die sie dort fand.
Lord Burton war mit Emma Percy durchgebrannt, einer einfachen Kaufmannstochter. Alle regten sich furchtbar darüber auf, aber Claire dachte, dass es Schlimmeres gab. Erst den Vater und dann den Bruder zu verlieren, zum Beispiel.
Ihre Augen fingen zu brennen an, als sie an die Tränen ihres Vaters kurz vor seinem Ende zurückdachte. Er hatte noch nicht sterben wollen, aber er hatte erkannt, dass es zu Ende ging, und ganz fest ihre Hand gedrückt. Selbst jetzt, ungefähr vier Monate später, verfolgte sie die Erinnerung an seine letzten Atemzüge noch bis in ihre Albträume. Er war nicht friedlich eingeschlafen. Gequält von unsäglichen Schmerzen, war ihm das Atmen bis zum Schluss schwergefallen.
Claire verdrängte diese Bilder aus ihrem Kopf und suchte in der Zeitung nach irgendetwas, das sie aufmuntern konnte. Sie wurde bald fündig.
Seine Königliche Hoheit, der Kronprinz von Meridian, war kurz nach seiner viel umjubelten Ankunft in London verschwunden. Es gingen Gerüchte um, dass sein vornehmer Vater von ihm erwartete, sich eine standesgemäße Braut zu suchen, und dass der Sohn dazu offenbar keine Lust hatte. Also war er wie so manch anderer verwöhnter, in die Enge getriebener Aristokrat einfach aus London geflohen.
Wie schade.
Claire verdrehte erneut die Augen. Wer interessierte sich schon für einen undankbaren Prinzen aus irgendeinem unbedeutenden kleinen Fürstentum? Sie war ihm nie persönlich begegnet, aber sie konnte sich noch gut an das Theater nach seinem ersten Besuch in London vor etwa drei Jahren erinnern. Ihre gute Freundin Alexandra, die zu einer königlichen Soiree zu Ehren des Prinzen eingeladen worden war, hatte ihr danach erzählt, der Prinz wäre arrogant und von allen, außer ihm selbst, gelangweilt gewesen. Sie hatte ihn über alle Maßen ungezogen gefunden, da er jeden Versuch von ihr, höflich mit ihm Konversation zu betreiben, sofort abgewehrt hatte. Dabei war Alexandra eigentlich erst unsterblich in ihn verliebt gewesen – bis sie das Pech gehabt hatte, mit ihm tanzen zu müssen. Alexandras Mutter, Lady Huntington, hatte das eingefädelt, und der Prinz schwieg den ganzen Tanz über eisern, bis er Alexandra dann wortlos wieder bei ihrer Mutter ablieferte. Vor Scham hatte Alexandra zwei Tage lang geweint.
Angewidert warf Claire die Zeitung zur Seite, ohne sich Gedanken darüber zu machen, dass die Druckerschwärze den feinen elfenbeinfarbenen Bezug des Sessels beschmutzen könnte.
Weiß Gott, es war ihr völlig gleichgültig, wer was mit wem anstellte. Hatten die Leute denn keine anderen Sorgen? Alles Gute für Emma Percy, sollte sie doch glücklich werden bis ans Ende ihres Lebens! Und dieser Ausreißerprinz würde schon wieder zurückkommen, wenn sein hochwohlgeborener Papa ihm erst einmal den Geldhahn zudrehte. Bis dahin – wie sollte Claire nun das restliche Geld auftreiben, damit ihr Bruder wieder sicher nach Hause zurückkehrte?
Plötzlich erschien Jasper, allerdings ohne den Tee. In der rechten Hand hielt er ein kleines Päckchen. Er blieb in der offenen Tür stehen, mit aschfahlem Gesicht und einem entsetzten Ausdruck in den Augen. Mrs Tandy spähte ihm über die Schulter.
Claire setzte sich aufrecht hin, und ein Schauer der Furcht überlief sie. „Was ist passiert, Jasper?“
Einen Augenblick lang schien der alte Butler unfähig zu sprechen. Mit zitternder Hand hielt er Claire das Päckchen entgegen, brachte es aber nicht über sich, näher zu kommen. „Verzeihen Sie, Madam, ich … ich hätte Ihnen das gern erspart, aber … ich fürchte, es ist wichtig.“
Claire sprang auf und ging mit klopfendem Herzen auf den Butler zu. Wortlos nahm sie ihm das Holzkästchen aus der Hand und klappte den Deckel auf.
Mit einem Seufzer wurde sie ohnmächtig.
Noch ehe die Kutsche endgültig zum Stehen gekommen war, schien sie von halb London umringt worden zu sein. Nie im Leben hatte Ian so viele Lakaien gesehen, die sich nun an seine Fersen hefteten.
Ryo stieg nicht vom Kutschbock. Der ältere Mann verfolgte von oben, wie die Bediensteten Ian begrüßten und ihn dann ins Haus führten. Emsig polierten sie ihm dabei die Stiefel, bürsteten seinen Mantel ab und plapperten währenddessen unentwegt über irgendwelche verpassten Termine mit Leuten, deren Namen ihm gar nichts sagten.
Der Lakai, der sich gerade mit Ians Stiefeln beschäftigte, hielt inne und sah neugierig zu ihm auf. Es war Ians bestes Paar Stiefel, aber sie waren abgenutzt und staubig von zu vielen Tagen auf zu vielen Straßen. Er hatte nicht die Zeit gehabt, mit Merrick die Schuhe zu tauschen. Er hatte ihn mit dessen eigener Hose und den eigenen Stiefeln zurückgelassen und sich nur mit Mantel, Weste und anderen Kleinigkeiten aus dem Staub gemacht.
Ian sah sich noch einmal nach Ryo um, während er weggezerrt wurde, und fragte sich, wie viel der Kutscher wohl wissen mochte. Irgendetwas am Blick des Asiaten machte ihn stutzig.
So etwas wie das Innere des Hauses hatte Ian noch nie gesehen – das hatte nichts gemeinsam mit dem alten, vernachlässigten Glen Abbey Manor. Von der Straße aus hatte das Haus am Berkeley Square vielleicht so ausgesehen wie die meisten anderen Herrenhäuser in London auch. Sobald man aber nur einen Fuß hineinsetzte, stieß man auf eine Ausstattung, die schon beinahe ans Bombastische grenzte. In mediterranem Stil gehalten, vermittelte sie den Eindruck von geradezu unverschämtem Reichtum.
Während in Glen Abbey Manor verblasste und verschlissene Gardinen vor den Fenstern hingen, fand man hier schwere, makellose Vorhänge aus goldfarbenem Samt. Nicht das kleinste Staubkörnchen war auf den Gemälden und Möbeln zu sehen, wobei letztere vorwiegend aus mit Goldfarbe veredeltem Holz bestanden. Das Foyer selbst war riesig, über ihm wölbte sich eine hohe Kuppeldecke mit Engelsfresken, die Ian an ein Gemälde erinnerte, das er einmal von der Sixtinischen Kapelle im Vatikan gesehen hatte.
Dicht beim Eingang stand ein übergroßer Tisch mit Klauenfüßen, und darauf befand sich ein goldener Kelch, von dem Ian annahm, es sollte sich um eine Nachbildung des Heiligen Grals handeln. Er war reich verziert mit Weinranken, zwischen denen an Stelle von Trauben Edelsteine funkelten. Wenn diese Steine tatsächlich echt waren, konnte jeder Einzelne von ihnen die Bewohner einer mittleren Kleinstadt ein Jahr lang ernähren.
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