1. KAPITEL
Bordeaux, Oktober 1226
Nebelschwaden wälzten sich träge die Hügel hinauf. Magisch angezogen von den Lockungen der sanften Anhöhe vor ihr, erschauerte Sophie unter einem gespannten Frösteln, das ihr nur zu vertraut war. Je näher sie kam, desto deutlicher hoben sich die verschwommenen Umrisse hünenhafter Gebilde aus dem milchigen Dunst. Die ganze Zeit hatte Sophie gewusst, dass die Gestalten da waren und lautlos in der Dämmerung auf sie warteten. Wie üblich hüllte der Nebel sie ein, sodass Sophie ihre Gegenwart eher ahnte denn wirklich sah. Als sie sich zögernd in ihre Mitte vorwagte, erfasste sie, umfangen vom eisigen Hauch jener Wesen, ein kaltes Grausen, das ihr eine Gänsehaut über den Körper jagte.
Wieder wurde Sophie von einem Schauder erfasst, sowohl vor Kälte als auch vor banger Erwartung dessen, was geschehen würde. Doch ihre Neugier zwang sie vorwärts. So weit das Auge reichte, lag die Landschaft in schattenhafte Blau-, Grün- und Grautöne getaucht, umwallt von einem geheimnisvollen Schleier aus geisterhaften Schwaden. In ihrer gespannten Erwartung war Sophie jedoch nicht allein. Es war, als halte die Erde selbst den Atem an und warte darauf, dass etwas Entscheidendes geschehe – auf dieser Lichtung, in dieser Nacht.
Sophie horchte. Vom nahen Ufer dröhnte das eintönige Tosen der See herüber, das Donnern der Wellen, die gegen die Klippen brandeten, und irgendwie hatte sie das Gefühl, als könne sie das Salz bereits riechen. Auf dem Hügelkamm hielt sie inne und stellte fest, dass sie im Mittelpunkt eines Kreises aus riesenhaften Schemen stand. Sie schluckte bei dem Gedanken an das, was sie nun tun musste. Verzweifelt bemüht, ihr wachsendes Grauen zu unterdrücken, drehte sie sich langsam um, wohl wissend, welcher Anblick sich ihren Augen bieten würde.
Erwartet hatte sie eine bestimmte Gestalt, eine, die stets wachsam und geduldig auf Sophies Erkennungszeichen harrte. Umso größer war Sophies Bestürzung, als plötzlich diese rätselhafte Erscheinung dort stand, gehüllt in einen kuttenartigen Überwurf. Kein Wort des Grußes wurde Sophie zuteil, sondern allein die Wucht des Blickes, als jenes Wesen sie schweigend musterte. Sophie sah hinunter auf das heruntergebrannte Kohlefeuer, das zwischen ihnen glomm. Dann schaute sie zaudernd wieder auf, bemüht, die im Schatten der Kapuze halb verborgenen Augen ihres Gegenübers zu erkennen, jedoch ohne Erfolg.
Ihr Herz pochte rasend, als sie sah, wie die reglose Gestalt zum Leben erwachte und vortrat. Zielstrebig schritt sie durch die Nebelschwaden auf Sophie zu, erhellt vom Schimmer der verlöschenden Glut – ein warmer, güldener Schein in den sonst dumpfen Blau- und Grauschatten der Umgebung.
Erstickt hielt Sophie den Atem an, als ihr die kaum wahrnehmbare Veränderung auffiel. Das Wesen, das auf sie zukam, war viel größer als sonst und konnte unmöglich die Frauengestalt sein, für die sie es stets gehalten hatte. Je kürzer die Distanz zwischen ihnen wurde, je mehr Sophie sich bemühte, diesen unerwarteten Wandel zu begreifen, desto energischer musste sie sich zwingen, auszuharren und abzuwarten, auch wenn sie sich noch so sehr ängstigte.
Der schwere wollene Mantel bauschte sich, als sich das Wesen näherte. Sophies Herzschlag ging immer rascher und pochte bald im Takt mit den sich nähernden Schritten, bis ihr der Puls so in den Ohren dröhnte, dass er sogar das Brausen der Brandung übertönte. An Flucht jedoch war nicht zu denken, denn Sophie stand wie vom Donner gerührt, reglos wie die Riesenschatten ringsum. Immer näher kam die stumme Gestalt, die Züge nach wie vor im Dunkel der Haube verborgen. Fröstelnd krallte Sophie die Finger in ihren Überwurf.
Auf Armeslänge von ihr entfernt blieb das Wesen plötzlich stehen. Die breiten Schultern, hervorgehoben vor dem inzwischen nicht mehr sichtbaren Feuer, tauchten Sophie in einen eisigen Schatten. Sie erschauerte unter seinem Blick und konnte den langen, spannungsvollen Moment nur mit Mühe ertragen. Turmhoch ragte die Gestalt über ihr auf, dunkel wie die Schatten all der geheimnisvollen, in ihre Nebelschleier gehüllten Figuren um sie herum. Allmählich aber spürte Sophie die Hitze, die von ihm ausging.
Es war eine zutiefst menschliche Wärme, ganz anders als die schaurige Kälte jener steinernen Formen, und zum ersten Mal fürchtete Sophie sich nicht vor dem, was da womöglich ihrer harrte. Doch dieses ihr unbekannte Gefühl konnte sie nur kurz genießen, denn einen Herzschlag später hob sich auch schon eine behandschuhte Hand zum Saum der Haube.
Aufs Neue wurde Sophie von Entsetzen gepackt, war sie doch fest davon überzeugt, dass sie den Anblick nicht würde ertragen können. Neugier und Furcht kämpften in ihr, während ihr das Herz bis zum Hals schlug. Sie wollte sich schon abwenden, als sie sich dazu durchrang, ein letztes, quälendes Mal zurückzuschauen. Sie erhaschte gerade noch einen flüchtigen Blick auf dichtes lohfarbenes Haar und ein blaues scharfsinniges Augenpaar. Dann rannte sie davon.
Mit einem erstickten Schreckenslaut fuhr sie abrupt auf. Ihr Herz hämmerte, als sei sie den ganzen Weg vom Stadttor bis hierher gelaufen. Der Atem stockte ihr qualvoll in der Brust, während die geisterhaften Schemen zerflossen und übergingen in die wohlvertrauten Konturen ihrer Kammer.
Sie war daheim. Außer Gefahr.
Wieder einmal war es nichts weiter als jener Traum gewesen.
Sophie stieß die angehaltene Luft aus und nahm einen tiefen, stockenden Atemzug. Während sie ihre verkrampften Finger von den Laken löste, ließ sie rasch den Blick durch den vertrauten Raum schweifen. Die Truhe, der Schrank, das spitz zulaufende Dach mit den massigen, dunklen Balken – alles war wie immer.
Daheim. Auch wenn es finster war, war doch alles ruhig und gelassen.
Sie schlang die Arme um die angewinkelten Beine, schloss erleichtert die Augen und überließ sich der schützenden Aura einer schlafenden Stadt, in der sich jeglicher Schrecken rasch auflöste. Die Stirn auf die Knie gebettet, spürte sie, wie ihr Herzschlag allmählich langsamer wurde, und fühlte die Feuchte der eigenen Tränen auf ihrer Haut. Ihr Magen rumorte bedrohlich, wie immer nach Begegnungen dieser Art, und während ihre Melancholie allmählich wieder die Oberhand gewann, seufzte Sophie resigniert auf.
Eines Tages würde der Sinn sich ihr offenbaren, das fühlte sie tief in ihrem Herzen. Dann und nur dann würde der Traum sie nicht länger quälen. Aber wie sollte sie das Warten aushalten? Sie könnte es nicht ertragen, diesen Albtraum auch weiterhin erleben zu müssen, denn sie war überzeugt, dass sie daran vorzeitig altern würde.
Warum aber war es in dieser Nacht anders gewesen?
Mit gerunzelter Stirn hob sie den Kopf von den Knien und spähte ins Dunkel. Denn anders war es tatsächlich. In ihren vorherigen Träumen war die Gestalt stets weiblich gewesen; daran gab es für sie nicht den geringsten Zweifel. Wieso hatte die Geschichte sich diesmal geändert, nachdem sie in so vielen Nächten immer dieselbe gewesen war?
Ob du wohl je erfährst, was dahintersteckt?
Fröstelnd in der herbstlichen Kühle erhob Sophie sich vom Lager, um die Fensterläden zu schließen. Als sie in den Schimmer des Mondlichts trat, das in ihre Kemenate fiel, hätte sie schwören können, dass sein Schein ihre Haut berührte. Bestürzt und fasziniert zugleich betrachtete sie, wie sich ihre Arme unter dem silbernen Licht mit einer Gänsehaut überzogen. In einem plötzlichen Anfall unerklärlicher Angst zog sie hastig die Läden zu, um das wissende Auge des Mondes auszuschließen.
Es stimmte, dass die Träume sie in eine schwermütige Stimmung versetzten, wie es ihre Mutter von Anfang an behauptet hatte. Bedrückt und wankelmütig. Das ziemte sich nicht für eine erwachsene Frau, erst recht nicht für eine aus einer fleißigen und bodenständigen Familie wie der ihren. Erneut schloss sie die Augen und zwang sich, gleichmäßig zu atmen. Ach, könnte ich doch den Traum einfach vergessen und ihm befehlen, er möge mich nicht mehr heimsuchen, dachte sie und wusste, dass sie in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden würde.
Vielleicht, so überlegte sie, ist ja noch jemand wach. Als sie die Ohren spitzte, war ihr, als höre sie Stimmengewirr von unten aus der Küche.
Hastig legte sie sich den Umhang über die Schultern und trat hinaus in den stillen Gang. Von unten drang beruhigend das vertraute Gemurmel von gutmütig streitenden Männerstimmen, und Sophie eilte die Treppe hinunter, zu der tröstlichen Geborgenheit menschlichen Beisammenseins.
„Fürs Geschäft verheißt das nichts Gutes“, nörgelte gerade jemand, als Sophie die unterste Treppenstufe erreichte. Ging man nach ihrem ältesten Bruder, war immer alles schlecht fürs Geschäft. Ausnahmsweise verzichtete Sophie auf einen Seitenhieb. Lieber überließ sie sich den angenehm alltäglichen, irdischen Angelegenheiten, um sich nicht weiter mit ihrem so rätselhaften Traum befassen zu müssen.
Irgendetwas musste anscheinend im Gange sein, dass ihre vier Brüder nebst Sophies Eltern zu dieser späten Stunde noch um den Tisch zusammensaßen. Leise schlüpfte Sophie auf ihren angestammten Platz und hörte dem Gespräch zu.
„Hauptsache, die Franken mischen sich nicht in den Transport ein“,knurrte ihr Vater vom Kopfende des Tisches her.
„Das werden sie gleich als Erstes tun, falls sie nur einen Funken Verstand haben“, entgegnete sein Erstgeborener lakonisch, was ihr Vater Gaillard missmutig mit einem schiefen Blick in seine Richtung quittierte.
„Vermutlich verwüsten sie erst die Weinberge“, bekundete ein weiterer Sohn, ehe Gaillard etwas erwidern konnte.
Der Älteste hob seinen Becher. „Das würden sie nicht wagen“, verkündete er, wenn auch mit wenig Überzeugung in der Stimme.
„Was ist denn geschehen?“, fragte Sophie, worauf sechs helle Augenpaare sich auf sie richteten. Alles redete gleichzeitig los, und nur ihrer jahrelangen Erfahrung mit dieser lebhaften Familie verdankte es Sophie, dass sie der Diskussion überhaupt zu folgen vermochte. Einmal in Fahrt, ließen sich ihre Brüder nämlich nur schwer unterbrechen, sodass man stets auf eine günstige Gelegenheit lauern musste, wollte man etwas sagen.
„Hat sich die neueste Kunde etwa noch nicht zu dir herumgesprochen?“
„Ach, unsere Sophie! Wieder einmal versunken in ihren Tagträumereien!“
„Sophie“, mahnte ihr Vater tadelnd, „wann nimmst du endlich mehr Notiz von dem, was um dich herum vorgeht? Louis VIII Capet ist tot, und sein Kind wird nun König werden.“
„Ich glaube eher, dass seine Gemahlin Regentin wird.“
„Was meinst du – ob sie sich uns nun vorknöpfen wird?“ Gelächter brandete auf bei dieser Bemerkung.
„Ich gestehe, dass ich noch immer nicht begreife, um was es geht“, warf Sophie ein.
„Die ganze Stadt redet doch schon darüber, Sophie.“
„Was hast du denn getrieben den lieben langen Tag?“
„Die Zeit vertrödelt, möchte man meinen. Wahrscheinlich mit Gérard, dem Steinmetz, was?“
Gaillard horchte auf. „Ein Steinmetz?“, fragte er aufbrausend.
„Man sollte meinen, bei ihrem Aussehen wäre ihr so ein Meißelklopfer nicht gut genug.“
„Aber auf diesen hier haben sämtliche Weibsleute ein Auge geworfen.“
„Er ist ein fleißiger junger Mann, dieser Gérard“, bemerkte ihre Mutter kühl und sorgte mit ihrem sachlichen Ton dafür, dass mit einem Schlag wieder Ordnung eintrat. Bewusst streng knallte sie einen irdenen Weinkrug in die Mitte des Tisches und musterte ihre Lieben dabei mit einem herrischen Blick. „Von dem könntet ihr Bande euch allesamt eine Scheibe abschneiden.“ Für einen Moment herrschte Stille, bis Gaillard sich verlegen auf seinem Sitz wand und stirnrunzelnd den Holztisch anstarrte.
„Ein gutes Auskommen haben diese Steinmetze allemal“, räumte er mit offensichtlichem Widerwillen ein.
„Sind aber häufig auf Wanderschaft. Nichts Festes für Haus und Herd.“
„Und Arbeit finden sie nur, wenn die Zeiten gut sind.“
„Anders als Weinhändler, denn deren Geschäft floriert in guten sowie in schlechten Zeiten.“
„Wahrhaftig. Entweder gibt es was zu feiern, oder die Leute ersäufen ihren Kummer.“
„Ihr braucht euch nicht den Kopf zu zerbrechen, denn zwischen mir und Gérard ist nichts“, protestierte Sophie, wenngleich ihr Einwand nichts nutzen würde, wie sie aus Erfahrung wusste.
„Nichts?“
„Oho! Vielleicht liegt da der Hase im Pfeffer!“
„Aber ausgerechnet ein Steinmetz?“
„Freilich, so eine Hübsche, die hätte wirklich einen Besseren verdient. Trotz all ihrer Mängel.“
„Dir ist doch wohl klar, dass Papa eine bessere Partie für dich findet als einen Steinmetz?“, fragte ihr ältester Bruder.
Gaillard wirkte bestürzt. „Du hast dich doch nicht etwa zum Gespött gemacht?“, forschte er streng.
Die bloße Vorstellung allein ließ alle verstummen, und Sophie spürte, wie sämtliche Blicke sich auf sie richteten. Bemüht, sich nicht verlegen zu winden, da ihr dies ohnehin nur falsch ausgelegt werden würde, hielt sie der Musterung ihres Vaters entschlossen stand und achtete nicht auf ihre Brüder.
„Selbstverständlich nicht“, versetzte sie kühl, worauf die Schultern ihres Vaters sich sichtbar entspannten, so überzeugend wirkten ihre Worte. „Würdet ihr mir endlich einmal zuhören, so wüsstet ihr, dass mir an dem Kerl nicht das Geringste liegt.“
„Ach ja?“ Gaillard warf ihr einen eindringlichen Blick zu, doch Sophie zuckte nicht einmal mit der Wimper.
„Solltest du wirklich etwas finden an diesem Steinmetz, so wäre jetzt die Gelegenheit, es freiheraus zu sagen“, riet ihre Mutter Hélène im Flüsterton.
Sophie wehrte kopfschüttelnd ab. „Er bedeutet mir tatsächlich nichts“, erwiderte sie leise, was ihre Mutter mit bedächtigem Nicken quittierte. Sophie wurde das ungute Gefühl nicht los, dass irgendetwas in der Luft lag. Doch ehe sie ihre Mutter um eine Erklärung bitten konnte, wandte die sich schon ab, während ihr Vater sich wieder den zuvor besprochenen Problemen widmete.
„Vielleicht wär’s für euch alle zum Besten, wenn ihr euch für die Sache der Normannen einsetzt“, gab er den Söhnen zu bedenken.
Als Antwort erntete er von allen Protestgestöhn. „Wir placken uns doch schon den ganzen Tag“, maulte der Jüngste und drehte die Handflächen nach oben, um seine Schwielen zu zeigen.
„Und diese Woche sollen wieder die Rebstöcke beschnitten werden.“
„Ganz recht“, unterstrich Gaillard munter. „Und eure Unterstützung wird bestimmt noch erforderlich werden, verlasst euch darauf.“
„Hilfe von uns? Wie denn?“
„Was könnten wir schon ausrichten?“
„Morgen Abend weiß ich Näheres“, fuhr Gaillard unbeirrt fort. „Nach der Sitzung des Stadtmagistrats.“
„Also gehe ich mit dir dorthin“, folgerte der Älteste mit einem knappen Nicken.
Zu aller Überraschung schüttelte der Vater energisch den Kopf. „Nein. Es wird Sophie sein, die mich begleitet.“
Verblüfft schaute Sophie auf. Während rings um den Tisch alles empört aufbegehrte, sah sie dem Vater schon an den Augen an, dass er sich nicht würde umstimmen lassen. Wieso hob man sie auf diese Weise heraus? Als dann ihre Mutter auch noch über den Tisch fasste und ihr die Hände tätschelte, schwante Sophie aufs Neue, dass etwas im Gange war.
„Genug!“ Mit einem Wink wehrte Gaillard weitere Fragen der Söhne ab. „Es ist beschlossene Sache. Außerdem wird es Zeit, dass ihr euch aufs Ohr legt. Schließlich erwarte ich, dass ihr ab morgen früh den ganzen Tag euren Mann steht. Wie Bernhard schon sagte, müssen die Rebstöcke gestutzt werden, und bis zum Ende der Woche muss der gesamte Weinberg fertig sein.“
Sophies Brüder stöhnten übertrieben, als sie sich hochstemmten. Der Jüngste warf seiner Schwester über den Tisch einen schrägen Blick zu. „Du hast es gut, du bist als Mädchen geboren“, brummte er, was Sophie mit einem Schmunzeln quittierte. Beiden entging jedoch, wie ihre Mutter scharf einatmete.
„Irgendeinen Ausgleich muss es ja geben, wenn man Brüder wie euch hat“, frotzelte sie, worauf er mit einem spitzbübischen Grinsen reagierte.
Als sie sich umdrehte, um ihrer Mutter etwas zu sagen, stellte sie verwundert fest, dass diese verschwunden war.
Vor der Kirche, in welcher der Magistrat der Stadt seine Sitzungen abhielt, schwang Hugues sich aus dem Sattel seines Schlachtrosses und überließ dem Knappen die Zügel. Obwohl er so tat, als könne ihn kein Wässerchen trüben, war ihm durchaus bewusst, dass man ihm seine Nervosität an der Nasenspitze ansehen musste. Während er sich in aller Seelenruhe die Handschuhe abstreifte, gestattete er sich einen beiläufigen Blick zu dem allmählich dunkler werdenden Himmel über den schindelgedeckten Dächern, als würde ihn nichts bekümmern.
Doch das stimmt nicht, gestand er sich ein. Denn mit einer noch vertrackteren Mission hätte Reine Blanche de Castille, Witwe des verstorbenen Königs und Mutter des Thronfolgers, ihn kaum betrauen können. Kam er doch mit dem Auftrag, diesen misstrauischen Städtern eine Unterstützungsverpflichtung abzuringen. Deshalb sah Hugues einem Treffen mit den Stadtoberen nicht eben in froher Erwartung entgegen. Warum hatte das Weib sich statt seiner nicht einen diplomatisch geschulten Schranzen aus ihrem Gefolge ausgesucht? Warum ausgerechnet ihn, einen einfachen Rittersmann, der sich doch am allerwenigsten für eine derart heikle Aufgabe eignete?
Politik war hier in der Gascogne eine verzwickte Angelegenheit. Während der Adel noch halbwegs die alten Bindungen an die Capetinger und deren unmittelbare Krongüter aufrechterhielt, stand die Stadtbevölkerung naturgemäß unter dem mächtigen Einfluss der engen Verbindungen zwischen ihren Weinregionen und dem normannischen Königshof. Die „Normannen“ – das war das englische Königsgeschlecht der Plantagenet. Schon seit dem vorigen Jahrhundert befanden sich große Teile Westfrankreichs unter englischer Herrschaft, darunter auch die Weinbaugebiete um Bordeaux herum. Im Grunde genommen waren sie englische Lehen.
Es sah diesen englischen Normannen ähnlich, dass sie versuchen würden, gleich Kapital aus Louis’ Ableben zu schlagen und sich die Oberhoheit über diesen Landesteil unter den Nagel zu reißen. Offenbar kannten sie aber Blanche von Kastilien schlecht, sollten sie glauben, dass sie eine leichtere Gegnerin sei als ihr verstorbener Gatte. Daraus die entsprechenden Lehren zu ziehen, hatten wohl auch die Edlen von Gascogne versäumt, denn auch sie trieben in letzter Zeit allerlei Spielchen mit ihren Treueverpflichtungen – eine Erkenntnis, bei der Hugues schmerzhaft das Gesicht verzog.
Jedenfalls war ihm klar, dass er sich diesen Schwierigkeiten stellen musste, egal, ob es ihm nun passte oder nicht. Wenn es darum ging, die Klinge zu kreuzen, war er in seinem Element, im Kreise von Politikern hingegen verloren wie in einem Labyrinth. Aus diesen Schwächen hatte er auch keineswegs einen Hehl gemacht, was seine Regentin anscheinend für übertriebene Bescheidenheit hielt. Diese Fehleinschätzung, so seine Vermutung, würde ihr schon bald bewusst werden.
Während des ganzen Marsches von Paris bis hierher hatte er sich das Hirn zermartert in der vergeblichen Hoffnung, ein katastrophaler Treuebruch gegenüber Louis’ Witwe ließe sich vielleicht doch noch vermeiden. Dennoch war ihm bislang kein überzeugendes Argument eingefallen, mit dem man die Bewohner von Bordeaux dazu hätte bewegen können, der normannischen Krone abzuschwören und sich stattdessen hinter den französischen Thron zu scharen. Stirnrunzelnd blickte er zum Himmel hinauf und brummte seinem Knappen eine belanglose Bemerkung über das Wetter zu, wobei er nur beten konnte, dass niemand merkte, wie ihm der Schweiß bereits den Rücken herunterrann.
Für die Normannen sprach ferner nicht nur die bloße Tradition, denn der französische Hof zu Paris hatte vor Jahresfrist erst eine schmerzhaft spürbare Steuer erhoben. Daher wusste Hugues, dass die Städter ganz selbstverständlich eine Steuerbefreiung für mindestens ein Jahr erwarten würden. Es war allerdings eher unwahrscheinlich, dass die Capetinger dieser Forderung nachkommen würden. Das Verlockende an den Städten war ja gerade die Tatsache, dass sie das Steueraufkommen erhöhten, so es einem Herrscherhaus gelang, sie auf seine Seite zu ziehen.
Ja, da hätte es den buchstäblich bankrotten Normannen schon einfallen müssen, einen Gesandten zu diesen wohlhabenden Städtern zu schicken und noch eine weitere Steuer zu fordern. Nur in dem Fall hätte die Seite von Reine Blanche wohl eher mit einem geneigten Empfang rechnen dürfen.
Hugues trat vor, hielt aber jäh auf der Schwelle des Gotteshauses inne, denn plötzlich wurde ihm die Bedeutsamkeit dieses letzten Gedankens bewusst. Nachdem er sich die Möglichkeiten geraume Zeit durch den Kopf hatte gehen lassen, gelangte er zu dem Schluss, dass es sich vielleicht bewerkstelligen ließ. Früher oder später mussten die Normannen ohnehin zu Kreuze kriechen und um Geld betteln, denn sie waren ständig klamm. Vielleicht ließ es sich arrangieren, dass man ihren Abgesandten nicht kurzerhand hinter Schloss und Riegel sperrte. Hugues erlaubte sich den Anflug eines Schmunzelns und schlug sich vergnügt mit seinem Lederhandschuh gegen den Oberschenkel.
Es würde klappen, da war er sicher. Und hoffentlich auch zeitig genug, sodass er bald wieder nach Paris zurückkonnte und von dort heim nach Pontesse, ehe seine vermaledeite Schwester Justine wieder etwas anrichten konnte.
Als Sophie schließlich hinter ihrem Vater die Kirche betrat, hatte sie schon über ein Dutzend Anlässe nachgedacht, welche Gaillard dazu bewogen haben mochten, sich ausgerechnet von ihr begleiten zu lassen. Keiner dieser Gründe aber sagte ihr zu oder konnte all ihre Fragen befriedigend beantworten. Auch ihre Eltern schienen wenig geneigt, sie aufzuklären, und deshalb gelang es ihr auch nicht, jenes ungute Gefühl zu zerstreuen, das noch von der vorigen Nacht herrührte. Lag es wohl nur an den Nachwirkungen ihres Traums, oder reagierte sie deshalb so überempfindlich auf den leisesten Ansatz von Kuppelei, weil ihre Familie sich so eingehend über Gérard ausgelassen hatte?
„Kopf hoch, Kind“, mahnte ihr Vater leise, während sie sich dem Kirchenportal näherten. Sophie wurde das mulmige Gefühl nicht los, dass ihre Ahnungen sie nicht trogen, und ihr wurde bang ums Herz.
„Und trage das Haar offen!“ Die Weisung beseitigte Sophies letzte Zweifel, denn in dieser südlichen Stadt waren ihre blonden Flechten ihr wertvollstes Kapital auf dem Brautmarkt.
Ihr Vater, so ihre Befürchtung, hatte sie hergeführt, um sie jemandem vorzustellen. Mit ihren achtzehn Jahren entwuchs sie allmählich dem heiratsfähigen Alter, das wusste sie. Dennoch empfand sie es als ungerecht, dass sie als Einzige auf diese Weise verheiratet werden sollte. Von ihren Brüdern hingegen, allesamt älter als sie, war lediglich der Älteste inzwischen verlobt. Und was musste das für ein Bewerber sein, der sich ein Rendezvous vom Brautvater arrangieren ließ, anstatt persönlich bei ihr anzufragen? So einer, das stand für Sophie fest, konnte ihr gestohlen bleiben.
Auf den herrischen Blick ihres Vaters hin reckte sie stolz das Kinn, lächelte aber nicht, was ihr ein missbilligendes Aufblitzen seiner Augen einbrachte.
Als ein Jüngling schüchtern vorsprang, um ihr die Flügeltüren zu öffnen, schenkte Sophie ihm ein verhaltenes Lächeln und bemerkte die Zügel, die er in der anderen Hand hielt. Ihr Blick glitt an den langen Lederriemen hinauf, und sie entdeckte den gewaltigsten Grauschimmel, den sie je gesehen hatte. Verdattert starrte sie das Tier einen Moment lang an, voller Staunen, dass ein Pferd dermaßen groß sein konnte, die Decke so üppig und die Schabracke so außergewöhnlich reich verziert. Dann schob ihr Vater sie mit einem ungeduldigen Stupser über die Kirchenschwelle.
Wie üblich war es im Inneren des Gotteshauses dämmrig und staubig. Schräg fielen die letzten Strahlen Tageslicht durch die Buntglasfenster; der kratzige Hauch von Weihrauch, der täglich seit der Fenstereinsegnung verbrannt wurde, schwebte noch in der Luft. Gemeinsam mit ihrem Vater beugte Sophie das Knie, ehe sie sich einer Gruppe von Männern zuwandten, die dicht gedrängt im Halbdunkel des hinteren Kirchenschiffes standen.
Dort befand sich eine Art Alkoven, der häufig für derlei Zusammenkünfte genutzt wurde. Reihen einfacher Stühle säumten die Wände. Als Sophie sich umdrehte, entzündete gerade einer der Männer eine Talgkerze, welche die Nische mit goldenem Schein erhellte. Sophie half dabei, im ganzen Rund flackernde Kerzen zu verteilen, wobei sie kopfnickend etliche ihr bekannte Weinhändler begrüßte, die sich regelmäßig mit ihrem Vater hier in der Kirche zusammenfanden, um über Sonne und Regen, Bodenbeschaffenheit und Seuchen zu palavern. Die Männer wirkten stiller, als sie es erwartet hätte, sodass Sophie sich bereits fragte, ob ihnen wohl ebenso unwohl zumute war wie ihr.
„Wir müssen beginnen, so wir die Sache abhandeln wollen“, verkündete der Bürgermeister, worauf alle hastig Platz nahmen. Auch Sophie setzte sich vorsichtig auf einen Stuhl neben ihrem Vater und hielt den Blick bewusst zu Boden gesenkt.
„Am heutigen Abend haben wir die Ehre, in unserer Mitte Hugues de Pontesse begrüßen zu dürfen, persönlicher Abgesandter der Regentin“, fuhr der Bürgermeister fort, nachdem endlich Ruhe eingekehrt war. „Ich bitte darum, seine Worte sorgsam zu bedenken, ehe ihr darauf eingeht.“
Verhaltenes Raunen erklang in dem Halbkreis aus dreizehn Männern. Zu gern hätte Sophie gewusst, welchem davon ihr Vater sie vorzustellen gedachte.
Doch nicht etwa Odet, dem in die Jahre gekommenen Bürgermeister? Der war bereits Witwer, so lange sie zurückdenken konnte. Und die losen Weiber drüben am Osttor haben allein schon an ihm blendend verdient, fuhr es ihr durch den Kopf. Wenn sie an all die Gerüchte dachte, die in der Stadt die Runde machten, konnte sie sich nur mit Mühe ein Schmunzeln verkneifen.
Und Pascal mit den dicken, behaarten Armen doch sicherlich auch nicht! Es hieß, sein ganzer Rücken sei behaart – eine schreckliche Vorstellung. Hoffentlich nicht ihm!
„Ich danke Euch, dass Ihr Euch heute Abend hier versammelt habt, damit ich Euch das Angebot meiner Regentin unterbreiten kann“, erklang jetzt eine tiefe Stimme von der anderen Seite der Nische. Eher beiläufig schaute Sophie auf. Mit einem Schlag vergaß sie ihre Grübeleien, als sie sich der in den Umhang gehüllten Gestalt aus ihrem Traum gegenübersah.
Es war Schicksal. Eine andere Erklärung konnte es nicht dafür geben, dass er ihr sowohl hier als auch im Traum erschien.
Vor Aufregung verschlug es ihr schier den Atem. Sie musterte ihn flüchtig, um sich vorsichtshalber das zu bestätigen, was für sie ohnehin feststand. Er war hochgewachsen und breitschultrig, genau so, wie sie ihn gerade eine Nacht zuvor gesehen hatte, das Haar im Nacken gestutzt in einem widerspenstigen Wirbel in Lohfarben und Goldblond. Seine Haut war gebräunt, die Brauen schimmerten leicht golden, und angesichts seiner Größe, der Haarfarbe und der tiefen, grollenden Stimme schien es Sophie fast, als sei er so etwas wie ein Wappenlöwe vom Banner eines Herzogs, der vor ihren Augen zum Leben erwacht war.
Ungeduldig wartete sie auf ein Zeichen, und schließlich sah er wie zufällig zu ihr herüber.
Als ihre Blicke sich begegneten, fühlte Sophie, wie jede Faser ihres Seins schlagartig erwachte. Sie waren füreinander bestimmt; auch seine Miene, da gab es für sie keinen Zweifel, spiegelte diese Erkenntnis. Kühn hielt sie ihm stand – eine Ewigkeit, wie es ihr schien. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, doch dann glitt sein Blick über sie hinweg, als sei sie ebenso nebensächlich wie eine Fliege an der Wand.
Das liegt nur an der Gesellschaft hier, schloss sie, und ihr Herz schwang sich empor bei diesem Gedanken, während ihr Blick rasch über die versammelten Männer schweifte. Dies war nun einmal nicht der rechte Ort, um darüber zu sprechen, wie das Schicksal sie hier zusammengeführt hatte.
Als sie den Sachverhalt vollends begriff, nickte sie kaum merklich, heilfroh darüber, dass er so geistesgegenwärtig gewesen war, sich an die geltenden Konventionen zu halten. Vor Stolz erglühte ihr Herz, dass solch ein Mann ausgerechnet für sie ausersehen war. Nur mühsam bezwang sie ein siegesgewisses Lächeln, das sich bereits auf ihre Lippen gestohlen hatte.
Sie faltete die Hände im Schoß und gab sich der Stimme ihres Ritters hin, während sie ihn gründlich studierte und dabei feststellte, dass er haargenau mit dem Bild aus ihrem Traum übereinstimmte – bis hin zu den winzigsten Einzelheiten. Die nahezu träge Art, mit der er beim Sprechen gestikulierte, erinnerte sie an die Weise, in der dieselbe Hand den Saum der Haube gelüftet hatte. Seine flüssige, redegewandte Sprache gemahnte sie an das scharfsinnige Funkeln, das sie im Traum kurz in seinen Augen gesehen hatte.
Wie oft war sie der Verzweiflung nahe bei dem Gedanken, sie müsse womöglich alt werden ohne einen Ehegefährten! Nun sah es so aus, als seien all diese Sorgen unbegründet gewesen. Tatsächlich hatte sie nur darauf gewartet, dass das Schicksal ihr den Ehemann schenkte, der ihr zustand.
Jetzt war er da. Und ihre Zukunft sollte mit ihm beginnen.
Auch wenn er nicht mehr in ihre Richtung sah, nahm Sophie ihm das nicht weiter übel. Ihr war nicht entgangen, wie fahrig er war, was wohl an ihrer Anwesenheit lag. Nach der Ratssitzung, so ihr Vorsatz, mussten sie sich unbedingt wiederbegegnen. Also bereitete sie sich in Gedanken auf diesen unausweichlichen Moment vor, in dem sie ihm Auge in Auge gegenüberstehen sollte.
Was fiel dem Kerl bloß ein, zu solch einer Versammlung sein Weib mitzubringen?
Hugues zwang sich dazu, sich auf seinen sorgfältig eingeübten Vorschlag zu konzentrieren und während des Vortrags einem Ratsmitglied nach dem anderen scharf ins Auge zu schauen. Trotzdem sträubten sich ihm die Nackenhaare, weil ihm bewusst war, dass dieses Frauenzimmer ihm gegenüber ihn wie zuvor aufmerksam beäugte. Immer noch zog sich alles in ihm zusammen, denn der Blick aus diesen ungewöhnlich veilchenblauen Augen vorhin hatte ihn getroffen wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Nur – wozu mochte ihr Ehemann sie bloß hergeschleppt haben? Denn falls sie alle männlichen Wesen auf diese Weise mit Blicken verschlang, dann tat der Gatte gut daran, sie tunlichst nicht aus den Augen zu lassen. Als Hugues noch einmal unauffällig zu ihr hinüberschielte, fiel ihm erneut der erhebliche Altersunterschied zwischen den beiden auf, und dass ihm dieser Umstand missfiel, gab ihm doch sehr zu denken. Was geht es dich an?, schalt er sich unwirsch und widmete sich wieder bewusst seinem Vortrag, mit dem er der Versammlung den Vorschlag der Regentin schmackhaft zu machen suchte.
Wie würde der Magistrat das Angebot wohl aufnehmen? Hugues vermochte es beim besten Willen nicht zu sagen, so sehr kreisten seine Gedanken weiter um die ihm vis-à-vis sitzende Dame und ihren verzückten Blick. Und was war mit diesem ältlichen Hagestolz, der da so ungeniert neben ihr thronte? Dass die zwei offensichtlich altersmäßig weit auseinanderlagen – hatte Hugues das etwa zu interessieren?
Sicher nicht. So wurden derlei Verbindungen nun einmal geregelt, insbesondere in kleineren Städten wie dieser hier. Hugues selbst hatte derartigen Bräuchen allerdings noch nie viel abgewinnen können. Er gab sich vielmehr der Hoffnung hin, noch in verhältnismäßig jungen Jahren heiraten und sich ein ungefähr gleichaltriges Eheweib auserwählen zu können.
Hugues wusste, dass kein Anlass bestand, sich darüber jetzt Gedanken zu machen, weil sein Vater, zwar noch rüstig, nicht ganz gesund war. Und erst recht waren solche Überlegungen an diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt völlig unangemessen. Bewusst wich er dem weiblichen Augenpaar aus und ließ noch einmal den Blick über die Versammlung schweifen. Zu seinem Unbehagen stellte er fest, dass seine Offerte doch nicht so ernsthaft in Betracht gezogen wurde, wie er es sich erhofft hatte.
Verdammtes Weibsbild! Bringt das Frauenzimmer dich doch völlig durcheinander, ausgerechnet jetzt, wo so viel auf dem Spiel steht! Das sah den Weibsleuten ähnlich, dass sie einem mit ihrem Unfug in gewichtige Angelegenheiten hineinpfuschten! Stirnrunzelnd wandte er sich an einen Ratsherrn, der am wenigsten überzeugt wirkte. Ihm trug er mit ganz besonderem Nachdruck noch einmal seine Beweggründe vor, wobei er nur hoffen konnte, dass es noch nicht zu spät war, den Magistrat zum Umdenken zu bewegen.
Als Sophie schon glaubte, nicht mehr länger warten zu können, wurde die Sitzung des Stadtrats doch endlich geschlossen. Die Stadtväter wirkten zutiefst verstimmt, wenngleich Sophie nicht die leiseste Ahnung hatte, warum. Ganz und gar in die Betrachtung ihres Ritters vertieft, hatte sie vollkommen überhört, was eigentlich erörtert wurde.
Ach, doch nur Politik, dachte sie abfällig. Sie sah, wie der Ritter dem Bürgermeister noch eine Frage beantwortete, während die übrigen Ratsmitglieder nach und nach die Kirche verließen und sich dabei heftig stritten. Der Bürgermeister quittierte die Antwort des Ritters mit einem bedächtigen Nicken und wandte sich ab, worauf der Ritter mit einem raschen Wink seinen Knappen herbeibeorderte.
Er will aufbrechen! Beim bloßen Gedanken, er könne womöglich abreisen, ohne ein Wort mit ihr gewechselt zu haben, brach Sophie beinahe der Angstschweiß aus. Traute er sich etwa nicht, sie vor aller Augen anzusprechen? Vor ihrem Vater? Wo aber sollte sie ihn finden, falls er davonritt, ohne ihr zu verraten, wohin? Die Furcht verlieh ihr eine ungewöhnliche Kühnheit, und daher stahl sie sich, als ihr Vater sich gerade mit einem Ratsmitglied unterhielt, heimlich von seiner Seite.
„Pardon, Milord – auf ein Wort!“
Ohne sich umzudrehen, wusste Hugues sofort, dass es dieses Frauenzimmer war, das ihn ansprach. Deshalb machte er sich schon darauf gefasst, dass sie ihn wieder auf diese dreiste Weise ansehen würde. Was sie wohl von ihm wollte?
Er drehte sich um. „Zu Diensten“, erwiderte er mit einer artigen Verbeugung. Als er merkte, dass sie allein vor ihm stand, tat sein Herz einen hektischen Sprung. Rasch schweifte sein Blick durch das inzwischen menschenleere Kirchenschiff. Keine Spur von dem Ehemann, wie Hugues zu seinem wachsenden Entsetzen feststellte. Ob das ein abgekartetes Spiel war? Wollte man ihn als Vertreter der Krone öffentlich blamieren?
Argwöhnisch musterte er die Frau, doch in ihrer Miene stand keine Arglist. Sie lächelte ihm sogar scheu zu, sodass er verwirrt überlegte, ob sie sich vielleicht einmal begegnet waren und er sich nur nicht an sie erinnern konnte.
Wieder sah er sie genau an, ob sich wohl ein Hinweis fände, der seinem Erinnerungsvermögen auf die Sprünge helfen würde. Erst jetzt bemerkte er den honiggoldenen Ton ihrer Haut, die schlanke Figur unter dem Gewand, die feingliedrigen Hände, die so gar nicht zu der gesunden Bräune passten, die nur von der Arbeit bei Wind und Wetter herrühren konnte. Als er den Blick wieder zu ihrem Gesicht hob, bemerkte er zwar das energisch gereckte Kinn, auch die Entschlossenheit in den veilchenblauen Augen, doch all das kam ihm nicht im Geringsten bekannt vor.
„Hatten wir vielleicht schon einmal das Vergnügen?“, fragte er schließlich, als sie stumm blieb. Fast schien es ihm, als müsse sie sich ein Lächeln verkneifen, aber dann schüttelte sie den Kopf, was seine Verwirrung nur noch steigerte.
„Nein, das nicht“, entgegnete sie schlicht. „Doch wäre es möglicherweise höchste Zeit dafür.“
Vergebens versuchte Hugues, dieser Erwiderung einen Sinn abzugewinnen. Wäre das Frauenzimmer da vor ihm irgendeine Spelunkendirne gewesen, hätte er genau gewusst, wie die Bemerkung gemeint war.
Allmählich beschlich ihn das mulmige Gefühl, dass ihm wohl eine entscheidende Kleinigkeit in diesem Austausch entgangen sein musste. Deshalb wagte er noch einen Blick, sah allerdings bloß, dass sie mit ihrer Enttäuschung kämpfte. Er wand sich unbehaglich, unerklärlicherweise geplagt von Gewissensbissen, obgleich er nicht die geringste Ahnung hatte, was sie eigentlich von ihm wollte.
„Ihr habt doch nicht etwa die Absicht, es zu leugnen?“,forschte sie unsicher. Hugues wäre nicht er selbst gewesen, hätte er angesichts ihrer tränenumflorten Augen nicht am liebsten die Flucht ergriffen.
„Leugnen? Was denn leugnen?“, fragte er hilflos. Hätte er bloß gewusst, um was es eigentlich ging!
„Das fragt Ihr noch?“, versetzte sie aufgebracht, wobei ihr eine Träne über die Wange lief. Bedrückt nagte sie an ihrer Unterlippe und wandte sich einen Augenblick ab. Hugues hoffte, sie endlich abgewimmelt zu haben, doch unter Aufbietung aller Kräfte drehte sie sich noch einmal zu ihm um und blitzte ihn erbost an.
„Was denn leugnen, fragt Ihr? Als wäre nichts zwischen uns gewesen?“, fauchte sie, was in Hugues jene dumpfe Ahnung, er müsse etwas Wichtiges überhört haben, nur noch verstärkte.
„Ich weiß nicht, auf was Ihr hinauswollt“, wandte er kleinlaut ein. Allerdings war diese Antwort wohl nicht das, was sie erwartete. Verächtlich schnaubend bohrte sie ihm den schlanken Finger in die Brust, sodass die eisernen Gliederringe seines Kettenhemds sich unerwartet tief in die Haut gruben. Hugues stand reglos da und ließ ihre Tirade schweigend über sich ergehen.
„Was fällt Euch ein, die Gunst des Schicksals dermaßen leichtfertig zu vertun?“, herrschte sie ihn an, während Hugues sie nur verblüfft ansehen konnte.
„Treibt keine Spielchen mit mir!“, mahnte sie, schon etwas gefasster, und als sie sich vorbeugte, sah er wieder Tränen in ihren Augen schimmern. „Erkennt ihr denn nicht, dass wir füreinander bestimmt sind?“, setzte sie noch hinzu, was Hugues in seinem Entschluss festigte, Bordeaux schleunigst den Rücken zu kehren.
„Ich wollte Euch nicht zu nahe treten, Gnädigste“, wandte er hastig ein und trat einen Schritt zurück, um etwas Abstand zu ihr zu gewinnen, denn sie presste ihm gerade auf höchst unziemliche Weise die Hand auf seine Brust. „Doch mir scheint, Ihr täuscht Euch.“ Jetzt hätte zu seinem Glück nur noch gefehlt, dass der Ehemann auftauchte und seine Gattin in dieser verfänglichen Situation überraschte! Zu Hugues’ Bestürzung setzte sie aber gleich nach und machte einen Schritt nach vorn, sodass sie sich beide wieder viel zu nah gegenüberstanden.
„Ich täusche mich keineswegs, und das wisst Ihr nur zu gut“, versicherte sie mit leiser Stimme.
Abwehrend verschränkte Hugues die Arme vor der Brust. „Dann sagt mir klipp und klar, was Ihr meint“, forderte er sie auf. Dass er damit zu weit gegangen war, merkte er erst bei dem Ausdruck der Bestürzung, der sich über ihre Züge legte, ehe sie sich hastig wieder fing. Doch es gab keinen anderen Weg, die ganze Geschichte zu erfahren. Offensichtlich ging die Frau davon aus, dass er etwas wusste, wovon er aber nicht die leiseste Ahnung hatte. Und dass er etwas derart Außergewöhnliches wie dieses aufdringliche Weib vergessen haben sollte, schien ihm unwahrscheinlich, auch wenn ihm wahrlich gewichtigere Dinge auf der Seele lasteten. Allmählich begann er sich zu fragen, ob sie möglicherweise nicht ganz richtig im Kopf war.
„Wir sind füreinander bestimmt, denn so erschien es mir in einem Traum“, flüsterte sie mit weit aufgerissenen Augen. Hugues wurde direkt unheimlich angesichts der Erkenntnis, dass seine Ahnung ihn wohl nicht trog. Sie war tatsächlich nicht ganz bei Sinnen. Auf einmal verspürte er sogar so etwas wie Mitleid mit dem Gatten. Anscheinend durfte er ihr nicht von der Seite weichen.
„Ihr glaubt mir nicht“, stieß sie bestürzt hervor und riss Hugues mit ihrer leisen Stimme aus seinen Gedanken.
„Allerdings nicht, Verehrteste“, bekräftigte er liebenswürdig. Innerlich jedoch krampfte sich wieder alles in ihm zusammen, denn abermals kämpfte sie sichtlich mit den Tränen.
„Aber Ihr könnt es doch unmöglich abstreiten“, erregte sie sich. „Tief im Herzen weiß ich, dass es die Wahrheit ist. Also müsst doch auch Ihr es in Eurem fühlen.“
„Auf das Herz sollte man lieber nicht setzen“, betonte Hugues energisch, heilfroh darüber, dass die Diskussion nunmehr in vertraute Bahnen geriet. „Bestenfalls ist es ein wankelmütiger Ratgeber.“
„Es ist doch die einzige Stimme, auf die man sich verlassen kann“, konterte sie entgeistert. „Denn das Herz allein spricht die Wahrheit.“
Darüber konnte Hugues nur den Kopf schütteln. Sich auf das Herz und seine Torheiten verlassen? Diesen Weg einzuschlagen, lief auf pure Dummheit hinaus und zog nichts als Ungemach nach sich. Einerlei, wie hartnäckig diese gertenschlanke Blonde auf ihrer Meinung beharren mochte – sie würde ihn keinesfalls eines Besseren belehren.
„Es ist der Verstand, auf den man sich verlassen muss. Auf nichts anderes“, betonte er. „Denn nur das Denkvermögen gewährt uns Einsicht in die tiefere Wahrheit.“
Bei seinen Worten blinzelte sie fassungslos. „Mein Herz spricht mir von einer größeren Wahrheit zwischen uns“, entgegnete sie beinahe ehrfürchtig im Flüsterton.
Hugues aber wehrte erneut kopfschüttelnd ab, entschlossen, ihr ein für alle Mal diese Flausen auszutreiben. „Das Herz ist ein leichtfertiger Schwindler. Ihr tätet gut daran, auf seine Hirngespinste nicht einzugehen“, gab er zurück, ohne seinen Triumph auskosten zu können. Denn im Handumdrehen überwand sie den noch verbliebenen Abstand zwischen ihnen und lehnte sich mit einer Zutraulichkeit, die ihn zutiefst erschreckte, an seine Brust.
In ihren Augen bemerkte er ein entschlossenes Funkeln, während ihm gleichzeitig ihr Duft in die Nase stieg – ein Geruch nach Sonne, vermischt mit einem süßen Hauch. Er stutzte nur einen Moment, musste jedoch zu seinem Leidwesen erkennen, dass sie sein kurzes Zögern sofort zu ihren Zwecken nutzte.
„Eure Logik ist es vielmehr, die Lügengeschichten erfindet, werter Herr Ritter, denn dies ist eine Wahrheit, die sich nicht leugnen lässt“, flüsterte sie, indem sie sich noch näher an ihn schmiegte. Hugues war so gebannt von der Verheißung, die in ihren Worten schwang, dass er sich nicht von ihr loszureißen vermochte.
Als er dann endlich begriff, auf was sie es anlegte, gelang es ihm noch mit knapper Not, das Gesicht abzuwenden, sodass ihre Lippen auf seinem Mundwinkel landeten. Ihre sanfte Berührung, der Ansturm ihres Duftes, all das wäre ihm um ein Haar zum Verhängnis geworden. Er wollte das aufdringliche Wesen schon von sich stoßen, doch stattdessen schlossen sich seine Finger besitzergreifend um ihre Oberarme, so machtvoll war die Kraft, die von ihr ausging.
Er fühlte sich an seine geliebten Weiden von Pontesse erinnert, die so rank und biegsam und doch unglaublich kräftig waren. Und ehe er wusste, wie ihm geschah, wandte er ihr das Gesicht zu und gab sich ganz ihrem Kuss hin.
Dass er sich ihr zugewandt hatte, entlockte ihr einen leisen Laut der Genugtuung. Ihrem feurigen Ungestüm hatte Hugues nichts entgegenzusetzen, im Gegenteil: sein eigenes Verlangen flammte hell lodernd auf. Fast war ihm, als wolle sie ihn mit Haut und Haaren verschlingen, und Hugues reagierte auf ihre Lockungen, indem er sie heftig an sich zog. Sie war keineswegs eine von jenen verzärtelten Hofdamen, die sich zuerst nach allen Regeln der Liebeskunst hofieren ließen, um ihrem Verehrer am Ende doch die erwartete Gunst zu versagen. Nein, dieses Weib hier würde genau jener Verheißung, die schon das Feuer in Hugues Lenden entzündete, gerecht werden und einen Bewerber bestimmt nicht vertrösten.
Er musste auch nicht befürchten, sie womöglich zu grob anzufassen, denn sie war nicht so verweichlicht wie die Hofdamen zu Paris, die sich nur mit Sticken die Zeit vertrieben. Ein Bild stieg in ihm auf, wie sie sich ihm in herrlicher Nacktheit darbot. Wider besseres Wissen ließ er es zu, dass seine Hände dieser Vorstellung folgten, denn seine Rechte glitt hinunter zum Schwung ihrer Taille, während sich die Linke um das feste Rund des Hinterteils legte, wodurch er sie unmerklich näher an sich zog.
„Sophie!“, rief da eine barsche Männerstimme vom Kirchenportal her. Erschrocken ließ Hugues die Frau los. Ein Blick hinüber bestätigte ihm, dass es der Ehegemahl war, der wohl sein Weib holen wollte. Nur mühsam konnte Hugues ein Stöhnen unterdrücken.
Was hast du dir bloß dabei gedacht? Allerdings hatte er in seiner augenblicklichen Verfassung gar nichts gedacht. Er warf dem Frauenzimmer, das dafür verantwortlich war, einen Seitenblick zu. Anscheinend war sie ebenso durcheinander wie er, wie Hugues zu seiner Erleichterung bemerkte. Also stand er zumindest darin nicht allein.
Zu seiner Bestürzung legte sie ihm aber trotzdem in einer überaus verschwörerischen Weise die Hand auf den Arm. „Das wisst Ihr auch mit all Eurer Logik nicht zu erklären“, flüsterte sie leicht stockend. Ehe Hugues darauf einzugehen vermochte, hörte er, wie der Mann am Portal sich entrüstet räusperte.
„Morgen, zur Prim, am Osttor“, flüsterte sie und schwebte davon, ehe Hugues noch zustimmen oder einen Einwand erheben konnte.
Erstaunlicherweise machte der Ehemann keinerlei Anstalten, auch Hugues nach draußen zu bitten, zumindest vorerst nicht. Stattdessen gingen die zwei rasch davon. Hugues lag nicht das Geringste daran, mitzuerleben, wie dieser Frau einmal ordentlich der Kopf gewaschen wurde, was sie zweifellos auch verdiente. Dennoch meldete sich, als er sich ermattet auf seinen Stuhl sinken ließ, sein schlechtes Gewissen.
Er selbst trug ebenfalls ein gerüttelt Maß Schuld daran, dass die Dinge diese Wendung genommen hatten. Hätte er sich etwas mehr im Zaum gehalten, hätte der Kuss bei Weitem nicht so lange gedauert.
Der Kuss … Gab es kein anderes Wort für das, was sich da soeben zugetragen hatte? Denn für diese Umarmung, für dieses Wechselbad aus Hochgefühl und nachfolgender Ernüchterung, für dieses Sehnen, es noch einmal auskosten zu dürfen – für all das war der Begriff schlichtweg zu oberflächlich.
Sophie! Schon rätselte er darüber nach, wie ihm der Name wohl über die Lippen gleiten würde, sollte er ihn einmal aussprechen wollen. Abrupt verwarf er aber diesen leichtsinnigen Gedanken.
Er raffte sich auf, fuhr sich verdrossen mit den Fingern durchs Haar und musste sich widerwillig eingestehen, dass er sie womöglich noch mehr in Schwierigkeiten bringen würde, falls er an diesem Abend noch vor ihrem Gemahl für sie eintrat. Es schien ihm das Beste, sich in seine Herbergskammer zurückzuziehen und die Sache auf sich beruhen zu lassen.
Nachdem er die Kerzen ausgeblasen hatte, schlenderte er zwar zum Ausgang, mochte sich aber noch nicht recht dazu durchringen, diesen Ort zu verlassen. Auf einmal fielen ihm ihre Abschiedsworte ein. Angesichts ihrer Verheißung auf ein Wiedersehen erwachten schlagartig wieder seine Lebensgeister. Dann aber unterdrückte er seine aufflammende Leidenschaft. Eine solche Begegnung würde für sie alles nur noch erschweren, und das durfte er nicht zulassen, auch wenn seine niederen Gelüste das Gegenteil verlangten.
„Und du siehst gefälligst zu, dass du heute Nacht ordentlich schläfst“, befahl er streng seinem Knappen, der am Kirchenportal wartete. „Wir brechen in aller Herrgottsfrühe auf und verlassen Bordeaux spätestens zum Laudes-Gebet.“ Dass der Junge angesichts der Aussicht auf arg verkürzte Nachtruhe ein langes Gesicht zog, kümmerte Hugues nicht weiter.
„Aber Milord, das ist ja noch vor Sonnenaufgang!“, jammerte Luc, was ihm einen scharfen Blick seines Herrn eintrug. „Bedenkt doch – wenn wir erst zur Prim aufbrächen, würde der Morgen gerade dämmern, und trotzdem bliebe uns noch ein ganzer Reisetag.“
„Es bleibt bei den Laudes, basta“, wiederholte Hugues energisch, und seine Brauen zogen sich verärgert zusammen. „Und stelle in Zukunft lieber nicht mit deinen Widerworten meine Geduld auf die Probe!“
2. KAPITEL
Gaillard donnerte die Küchentür derart heftig hinter sich und seiner Tochter zu, dass Sophie erschrocken zusammenzuckte und über die Schulter sah. Die Brauen düster zusammengezogen, blickte ihr Vater so finster drein wie eine Gewitterwolke. Ihre Mutter Hélène sah überrascht von ihren ewigen Stopfarbeiten auf und ließ den Blick ihrer braunen Augen sorgenvoll zwischen Tochter und Ehegemahl hin und her wandern. Hastig floh Sophie an ihre Seite.
„Von einem Walpurgiskind kann ja nichts Gutes kommen“, knurrte ihr Vater in Richtung seiner Ehefrau. Den ganzen Heimweg über hatte er so vor sich hingewettert, wenngleich Sophie aus seinem rätselhaften Geschimpfe nicht schlau wurde. „Das sagte ich dir bereits vor achtzehn Jahren. Aber du hast meinen Rat ja in den Wind geschlagen.“
„Was hast du angestellt, Kind?“, fragte Hélène knapp.
Sophie konnte nur mit den Schultern zucken. „Ich weiß es nicht.“
„Sie weiß es nicht!“, brummte Gaillard sarkastisch. Er ließ sich am Tisch auf seinen Stammplatz fallen und schenkte sich einen Becher Wein aus dem Krug ein, der dort stets griffbereit stand. „Was glaubst du wohl, warum ich dich heute Abend zur Sitzung des Stadtrats mitgenommen habe?“, fragte er schneidend und sah seine Tochter scharf an, ehe er einen kräftigen Schluck nahm.
„Woher soll ich das wissen?“, erwiderte sie kleinlaut. Aus Angst, sie könne sich womöglich irren, wagte sie nicht, ihren Verdacht zu äußern. Ihr Vater schüttelte den Kopf, als habe er einen besonders begriffsstutzigen Tölpel vor sich. Sophie spürte, dass sich da gewaltiger Ärger mit ihrem Vater anbahnte.
„War Gérard auch da?“, forschte ihre Mutter leise, was Sophies Befürchtungen nur verstärkte.
Doch einmal mehr wehrte Gaillard nur kopfschüttelnd ab. „Nein, aber er hätte getrost da sein können. Bei der Missachtung, die diese da dem Rustengo gegenüber an den Tag legte.“
„Rustengo?“, wiederholte Sophie fassungslos.
„Jawohl, Rustengo“,raunzte ihr Vater mit unheilvollem Blick. „Ein treffliches Mannsbild ist er. Bei seinem florierenden Gewerbe würde ihm jedes Weib mit Freuden zur Seite stehen wollen.“
„Du würdest mich Rustengo de Cambris zur Frau geben?“
Als sie die bejahende Miene ihres Vaters bemerkte, nahm sie niedergeschlagen ihm gegenüber am Tisch Platz. Also hatte sie seine Absichten tatsächlich richtig eingeschätzt.
„Der ist doch zu alt für mich“,raunte sie, worauf ihr Vater ein verächtliches Schnauben hören ließ.
„Nach diesem Abend brauchst du wohl kaum zu befürchten, dass er um deine Hand anhält“, polterte er und genehmigte sich noch einen Schluck.
„Was, in aller Welt, soll das denn heißen?“, erkundigte sich Hélène, legte ihre Nadelarbeit beiseite und beugte sich mit wachsender Besorgnis zu ihrem Mann herüber.
„Diese Göre hatte nur Augen für den Ritter der Regentin“, schimpfte Gaillard und beschrieb dabei einen solch schwungvollen Bogen mit seinem Becher, dass der Inhalt über den Rand schwappte. „Achtzehn Lenze schon – und trotzdem gibt sie sämtlichen Bewerbern einen Korb.“
„Sophie!“, sagte ihre Mutter tadelnd. „Du hast Rustengo doch nicht die kalte Schulter gezeigt?“
„Wer konnte denn ahnen, dass ich mit ihm sprechen sollte?“, versetzte Sophie. „Da hättet ihr mich eben vorher über eure Absichten ins Bild setzen müssen.“
„Ach, papperlapapp“, schnaubte der Vater abfällig. „Wärest du dann etwa freiwillig mitgegangen?“ Sophie musste den Blick niederschlagen, denn wo ihr Vater recht hatte, da hatte er recht. „Himmelt da derart unverblümt einen ausgewachsenen Ritter an, als wäre sie die Maienkönigin persönlich“, erklärte er seiner Gattin, wobei er seinen Groll mit dem nächsten Schluck Wein hinunterspülte. „Und ein einfacher hiesiger Adeliger, der tut’s ja nicht für unsere Sophie, oh nein! Da muss schon einer aus dem persönlichen Gefolge der Regentin her!“
„Sophie, was hat das zu bedeuten?“, erkundigte sich ihre Mutter, derweil Gaillard sich anscheinend mehr für den Boden seines Weinbechers interessierte als für weitere Mitteilungen.
„Da war tatsächlich ein Rittersmann vom Hof der Regentin“, bestätigte Sophie widerstrebend, wenig erpicht darauf, zu erklären, dass sie ihn als ihren Traumritter erkannt hatte. „Einen so fein gekleideten habe ich noch nie zuvor gesehen“, fuhr sie fort. Kaum waren die Worte heraus, merkte sie auch schon, wie albern dieser Hinweis klang. „Und was für ein herrliches Schlachtross. So eines habe ich noch nie zu Gesicht bekommen.“
Hélène schürzte die Lippen und musterte ihre Tochter nachdenklich, ehe sie erneut ihren Gemahl ansprach. „Nach meinem Gefühl erklärt das die Sache hinreichend“, bekundete sie milde, was ihr jedoch auch nur ein verächtliches Schnauben ihres Mannes eintrug.
„Schön und gut“, räumte Gaillard ein. Er wandte sich wieder an seine Tochter, die sich unter dem wissenden Blick in seinen Augen wand. „Aber es war mehr als das. Habe ich recht, Sophie? Kaum hattest du ihn erspäht, hast du nicht mehr rechts noch links geguckt. Seltsam, dass der Kerl so gar nicht auf dein Gaffen einging.“
„Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.“
„So?“, fragte er süffisant, wobei er sich entschlossen erhob. „Nun, dafür weiß ich es umso besser. Das gleicht es für uns alle aus. Vor achtzehn Jahren warst du schon ein Kind der Walpurgisnacht, und du bist es auch nach wie vor. Jetzt setzt sich deine wahre Natur durch, denn eine von meinem eigenen Fleisch und Blut würde sich niemals so schamlos benehmen.“
Damit wandte er sich zur Tür, doch so leicht ließ Sophie ihn nicht davonkommen. Er hatte eben etwas Wichtiges angedeutet, und bevor er sich davonmachte, musste die Wahrheit auf den Tisch.
Auch sie sprang auf. „Was willst du damit sagen?“, rief sie ihm energisch nach.
„Was ich damit sagen will?“, wiederholte ihr Vater fassungslos und wirbelte zu ihr herum. „Willst du’s wirklich wissen? Gut, dann lass dir reinen Wein einschenken, damit zwischen uns keine Frage mehr offenbleibt.“ Seine Stimme senkte sich unheilvoll, sodass Sophie schon überlegte, ob sie die Wahrheit wirklich von ihm hören wollte.
„Du bist nicht von mir gezeugt“, verkündete er, die Augen zu splitterschmalen Schlitzen verengt. „Du bist vielmehr ein Kind der Walpurgisnacht, gezeugt beim Tanz in den Mai. Geboren aus Ungemach und dazu bestimmt, nichts weiter als Unheil zu bringen. Das sagte ich Hélène schon damals.“
Fest legte er seiner Frau die Hand auf die Schulter. Sophie sah ihre Mutter an, überzeugt, dass diese es abstreiten werde, doch deren Blick war zu Boden gesenkt – ein stummes Zeichen der Bestätigung. „Hélène hatte schon immer ein weiches Herz“, fuhr Gaillard fort. „Und sie sehnte sich nach einer Tochter, die uns bis dahin versagt geblieben war. Aus reiner Barmherzigkeit lauschte sie den Ammenmärchen, die deine leibliche Mutter ihr vorjammerte. Aus lauter Mitleid hat sie dich als Säugling in unsere Heimstatt aufgenommen, all meinen Bedenken zum Trotz.“
Er stellte sich hinter seine Frau und packte ihre Schultern fest mit beiden Händen. Allmählich verrauchte wohl sein Zorn, denn Sophie sah, wie er fast geistesabwesend ihren Nacken mit den Daumen liebkoste. Mit stockendem Atem begriff sie, dass sie nie ein ererbtes Recht auf die Liebe gehabt hatte, die in diesen vier Wänden wohnte.
„Ja, Mitleid, dass es kaum noch zu ertragen war“, sinnierte Gaillard und durchbohrte Sophie plötzlich mit einem Blick, der bis auf den Grund ihrer Seele drang. „Doch liegt es dir wohl im Blut, Kind, dass du den Männern die Köpfe verdrehst. So wie das Weib, das dich empfing, einen Mann verhexte und seinen Samen raubte.“
„Ihr … ihr seid nicht meine Eltern?“, stammelte Sophie und kämpfte mühsam gegen die Tränen an, die sie schier zu ersticken drohten. Als Gaillard ihre Frage mit einem knappen Nicken bejahte, fing sie jedoch an zu schluchzen.
„In deinen Adern fließt nicht unser Blut“, bekräftigte er tonlos.
„Und die anderen?“, würgte sie hervor.
„Meine Söhne sind mein eigen Fleisch und Blut“, entgegnete er und bestätigte damit nur, was Sophie ohnehin bereits klar war. In Tränen aufgelöst floh sie aus der Küche.
„Sophie!“, rief Hélène ihr noch nach, doch sie hörte nicht mehr. Ihr schwirrte der Kopf vor lauter Fragen, auf die es keine Antwort gab. Je deutlicher ihr bewusst wurde, wie sich die Teile zu einem Ganzen zusammenfügten, desto mehr kam sie zu der Erkenntnis, dass Gaillard ihr die Wahrheit gesagt hatte. Nun hatte sie bloß noch einen Gedanken: Fort, nur fort, um Zeit zu gewinnen und nachzudenken. In ihrer Mansarde angelangt, schlug sie erleichtert die Tür hinter sich zu und warf sich haltlos weinend aufs Lager.
Als ihr Schluchzen endlich verebbte, lag die Kammer bereis in völlige Dunkelheit gehüllt. Langsam richtete Sophie sich auf und wischte sich die letzten Tränenspuren von den Wangen. Während sie den Blick durch das vertraute Zimmer streifen ließ, dachte sie abermals darüber nach, was es für sie bedeutete, nicht in diese Familie hineingeboren zu sein.
Unterschied sie sich denn wirklich so sehr von den übrigen Familienmitgliedern, obwohl sie unter ihnen aufgewachsen war? Wieder und wieder hatte sie über die Jahre das unbestimmte Gefühl gehabt, dass sie nicht so recht dazugehörte. Jetzt fragte sie sich, ob diese Ahnung bloße Einbildung war oder eine Tatsache.
Foppte Ramonet sie denn nicht unaufhörlich damit, sie verliere sich dauernd in Tagträumereien, einer Beschäftigung, die allen anderen, eher praktisch veranlagten Mitgliedern dieses Haushalts fremd war? Jetzt konnte sie auch nachvollziehen, wieso ihre Mutter so bestürzt dreinschaute, als Sophie ihr zum ersten Malden Trauman vertraut hatte. Setzte sich nun tatsächlich ihre wahre Natur durch, so wie Gaillard es behauptete?
Sie warf das Haar über die Schulter und verzog das Gesicht, als sie an die weizenblonde Farbe dachte. Was war sie töricht gewesen! An sich hätte sie doch von selbst darauf kommen müssen, dass irgendetwas mit ihrer Herkunft nicht stimmte. Wie sonst ließ sich erklären, dass sie als Einzige in der Familie blonde Haare hatte? Dass alle anderen diese blitzenden dunklen Augen hatten – nur sie nicht?
Versonnen starrte sie auf ihr Bettzeug und grübelte darüber nach, was ihre Abstammung ihr außer den blonden Haaren wohl sonst noch mitgegeben haben mochte. Jene sonderbare Gewissheit, dass bestimmte, ganz unerwartet auftretende Eingebungen der Wahrheit entsprachen – war etwa auch das ein Makel ihres Blutes? Oder lediglich ein Hinweis darauf, dass sie selbst nicht mit ihrer Vergangenheit im Reinen war?
Plötzlich fühlte Sophie sich verloren in einer ihr fremden Welt, steuerlos wie ein Schiff ohne Ruder, denn eines stand für sie fest: Weder gehörte sie hierher, in diese behagliche Geborgenheit, die ihr zur Gewohnheit geworden war, noch zu jenen Eltern, die sie vor achtzehn Jahren verstoßen hatten. Wie ein Kind rollte sie sich auf ihrem Bett zusammen und ließ diese entsetzliche Erkenntnis auf sich einwirken, nach Kräften bemüht, neue Ordnung in ihr Dasein zu bringen. Hieß das wohl, dass sie von nun an auf sich allein gestellt sein würde?
Und falls sie hier nicht länger willkommen war – wohin sollte sie sich wenden?
Ehe sie noch weiter über diese Frage nachsinnen konnte, ertönte von der Tür her ein sachtes Pochen. Als Sophie sich umdrehte, sah sie Hélène im Türrahmen stehen, das lange Haar entflochten und wie einen dunklen Schleier über die Schulter geworfen; eine Hand hatte sie schützend um eine flackernde Kerzenflamme gelegt.
„Ich wusste, dass du kein Licht hast“, sagte sie nach einer verlegenen Pause zur Erklärung.
Geraume Zeit schwebte der leise gesprochene Satz zwischen den beiden, während jede stumm zu ergründen versuchte, was die andere wohl gerade fühlte. Obwohl Gaillard nicht da war, klangen Sophie seine Worte so klar und deutlich im Ohr, als sagte er sie gerade ein zweites Mal. Sie zog die Knie an die Brust, unfähig, zu der Frau zu gehen, die sie so lang schon Maman nannte.
Hélène schien Sophies Gedanken erraten zu haben, denn ihre Augen schimmerten feucht im Kerzenschein. Wie zur Entschuldigung hob sie die Schultern, als ringe sie vergebens nach Worten. Diese hilflose Geste ließ Sophie aufs Neue in Tränen ausbrechen. Dennoch konnte sie sich nicht rühren.
„Dass du die Wahrheit auf diese Weise erfahren musst, hätte ich dir von Herzen gern erspart“, murmelte Hélène stockend.
Sophie presste fest die Augen zusammen, weil sie bei diesem Geständnis von einer wahren Flut von Gefühlen erfasst wurde. Es stimmte also tatsächlich, sodass Sophie nun auch die letzte Hoffnung fahren ließ, Gaillard könne womöglich nur im Zorn gesprochen haben.
„Auf Dauer lässt sich die Wahrheit ohnehin nicht verheimlichen“, entgegnete sie mit einer Stimme, die auch nicht fester war als die der Älteren.
Noch einmal trafen sich beider Blicke für einen Wimpernschlag. Dann stand Sophie auf und streckte der Mutter die Hände entgegen. Rasch stellte Hélène die Kerze zu Boden, und Sophie warf sich in ihre Arme. Der Duft ihrer Haut rief eine Fülle von Kindheitserinnerungen wach. Dass diese Mutterliebe ihr von Stund an versagt sein sollte, ging über Sophies Kraft, und so weinte sie wie ein Kind. Denn jene Erinnerungen machten die Erkenntnis, das alles vorbei sein sollte, schier unerträglich.
„Ach, wie oft wollte ich es dir schon sagen“, flüsterte Hélène, wobei sie Sophie übers Haar strich und niedergeschlagen den Kopf schüttelte. „Doch ich wusste einfach nicht die rechten Worte zu finden.“ Sie löste sich, umfasste Sophies Kinn und blickte ihr in die Augen, als wolle sie sie zwingen, nicht beiseitezuschauen, trotz ihrer Tränen.
„Ich weiß, dass dir im Augenblick die Wahrheit von großer Tragweite erscheint“, fuhr sie mit sanfter Stimme fort, in der jedoch ein entschlossener Unterton mitschwang. „