Der Ritter und die falsche Nonne

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England, 1265. Wagemutig befreit die junge Lady Alinor ihre Freundin Bianca aus den Fängen einer mordlustigen Verwandten und bringt sie in Sicherheit. Aber dafür muss sie Biancas Bruder Guilhem, Duc d’Attalens, Rede und Antwort stehen. Der französische Ritter erfüllt sie mit vager Unruhe, die sie aus ihrem Kloster nicht kennt! Und als Guilhem ihr hilft, den Übergriffen ihres entsetzlichen Stiefbruders zu entkommen, ist Alinors Schicksal endgültig besiegelt: Sie verrät ihm, wo Bianca ist. Aber auf ihrem Weg dorthin lauern nicht nur Intrigen, Fallen und Verderben. Auch Alinors Herz gerät mit jedem Kuss ihres Retters in höchste Gefahr …


  • Erscheinungstag 02.01.2018
  • Bandnummer 338
  • ISBN / Artikelnummer 9783733733759
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Wiltshire, England – Oktober 1265

Danke, dass du heute mitkommst, Ralph“, sagte Alinor of Claverstock zu dem stämmigen Mann, der neben ihr auf dem Bock saß, und schenkte ihm ein Lächeln. Ein Hauch von Erleichterung schwang in ihrer Stimme mit. Obwohl die Oktobersonne immer noch ein wenig Wärme spendete, fröstelte Alinor.

„Alles ist mir lieber, als den Acker umzupflügen, Herrin“, erwiderte Ralph und grinste flüchtig, dann ließ er die Zügel geschickt auf die Rücken der beiden Ochsen hinabsausen, weil sie langsamer geworden waren. Seine Haut war gerötet, die ständige Arbeit in der Sonne hatte sie mit der Zeit verbrannt. „Der Markttag in Knighton ist viel interessanter.“

„Ich hätte es vermutlich auch allein erledigen können“, behauptete Alinor und betrachtete den zerfurchten Weg vor ihnen und wünschte sich, die Ochsen würden etwas mehr als dieses Schneckentempo schaffen. Der Wagen rumpelte in Richtung des Talgrunds. Sie drückte sich gegen die Holzlehne in ihrem Rücken. „Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich dich von deinen anderen Aufgaben abhalte. Zu dieser Jahreszeit gibt es im Kloster noch so viel zu tun.“

Ralph setzte nun ein breites Grinsen auf und deutete mit dem Kopf auf die Getreidesäcke, die sich hinter ihm auf dem Karren stapelten. „Ich hätte gern zugesehen, wie Ihr diese Säcke zum Wagen schleppt und aufladet, Herrin. Außerdem ist das alles nicht richtig. Eine Dame von Eurem …“

„Das haben wir doch längst besprochen, Ralph“, unterbrach Alinor ihn. „Die Nonnen benötigen meine Hilfe, und ich freue mich, dass ich ihnen helfen kann.“ Sie zog den schiefen Saum ihres zweckmäßigen Kleids über die Stiefel, die dunkle Flecken vom Morgentau aufwiesen. Durch ihre Seidenstrümpfe hindurch konnte sie den kratzenden, groben Wollstoff ihres Kittels an den Oberschenkeln spüren. Dort, wo das weite Gewand von einem Gürtel auf den Hüften gehalten wurde, sorgte der raue Wollstoff für einen beharrlichen Juckreiz. Sie sah hinauf zum Himmel, wo die Sonne sich durch eine blassgraue Wolke zu kämpfen versuchte. Als die Strahlen endlich freie Bahn hatten, verbreiteten sie schnell angenehme Wärme. Die Grashalme mit ihren unzähligen Tautropfen funkelten wie Silber.

„Nun, Ihr tut etwas wirklich Gutes, Mylady.“ Der Wagen holperte über eine tiefe ausgetrocknete Furche im Weg. Als eines der Räder unheilvoll zu quietschen begann, legte Ralph die Stirn in Falten. „Ich wusste, ich hätte das Rad noch einmal schmieren sollen, bevor wir uns auf den Weg gemacht haben“, murmelte er.

„Wird uns das Problem mit dem Rad langsamer vorankommen lassen?“, fragte Alinor sofort, biss sich aber sogleich auf die Lippe und hoffte, dass Ralph ihren drängenden Tonfall nicht bemerkt hatte. Niemand durfte etwas ahnen. Für gewöhnlich nahm sie sich den ganzen Tag Zeit, um den Markt in Knighton zu besuchen und das Getreide zu verkaufen, ehe sie die Dinge erwarb, von denen sie glaubte, die Nonnen könnten sie gut gebrauchen. Heute dagegen wollte sie so schnell wie möglich zum Kloster zurückkehren. Weder Ralph noch die Nonnen wussten etwas von dem, was sie getan hatte. Und wenn niemandem die Existenz der jungen Frau bekannt war, dann war sie umso sicherer aufgehoben. Nur sie selbst kannte das Versteck. Sie atmete tief durch und versuchte, ihr Herz dazu zu bringen, nicht länger so zu rasen. Je eher sie der armen Frau helfen konnte, das Land zu verlassen, umso besser für sie.

„Ganz bestimmt werden wir es bis zum Markt schaffen“, versicherte Ralph ihr. „Dann werde ich die Zeit nutzen, um das Rad zu reparieren.“ Während sie quietschend an einem einsamen Strauch vorbeikamen, dessen Zweige voll mit roten Beeren waren, flogen drei Elstern hoch und keckerten entrüstet. Die schwarz-blauen Federn glänzten in der Sonne, an den dunklen Schwanzfedern blitzte Weiß auf.

Mit einem Finger strich Alinor am Rand der eng anliegenden Haube entlang und versuchte, den Stoff am Hals und an den Schläfen ein wenig zu lockern. Das feste weiße Leinen umgab ihren Hals und rahmte ihr Gesicht ein, sodass alle Haare darunter verborgen blieben. Darüber trug sie ein beigefarbenes Tuch, das als Schleier herhalten musste. Auch jetzt hallten noch immer die spöttischen Worte ihrer Stiefmutter durch ihren Kopf. Wilhelma konnte einfach nicht begreifen, warum ihre Stieftochter aus freien Stücken etwas so Schlichtes trug: ein Kleid aus grober Wolle, dazu einen erdfarbenen Schleier. Andererseits kann sie noch weniger verstehen, warum ich den Nonnen überhaupt helfen will, dachte Alinor. Ihrer Stiefmutter käme es nie in den Sinn, irgendjemandem zu helfen, außer es ging um ihren wundervollen Sohn Eustace. Sofort lief ihr ein Schauer über den Rücken, und sie nahm sich vor, weder an ihre Stiefmutter noch an das zu denken, was diese hatte tun wollen. Bilder aus jener entsetzlichen Nacht auf Claverstock gingen ihr durch den Kopf, verzweifelte, zerrissene Bilder, die sie vor Angst erzittern ließen. Mit beiden Händen strich sie den Stoff über ihren Knien glatt, dann zupfte sie an einem Faden. Sie zwang sich, mit den Gedanken in das Hier und Jetzt zurückzukehren und sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die sie heute zu erledigen hatte. Der Markt. Der Verkauf des Getreides mit genügend Gewinn, der an die Nonnen gehen würde. Die Schwestern benötigten das Geld, um über den Winter zu kommen. Nur das war jetzt wichtig. Der auffrischende Wind kündete von der bevorstehenden kalten Jahreszeit.

„Bald sind wir da, Herrin“, sagte Ralph. „Man hört schon das Rauschen des Flusses.“

Alinor erschauerte.

Und dann erreichten sie den Fluss, den erschreckenden Fluss. In der Mitte war er sehr tief, die Strömung so schnell, dass ein Durchqueren für Ross und Reiter gleichermaßen gefährlich war. Eine schmale Brücke für Lastpferde und Karren überspannte ihn. Zur Mitte hin stieg sie steil an, damit sie bei Überschwemmungen nicht überflutet werden konnte.

„Schnell, überquere die Brücke, ehe jemand aus der anderen Richtung kommt“, drängte Alinor und griff nach Ralphs Arm. „Ich will so bald wie möglich den Markt erreichen.“

„Hier ist sonst niemand unterwegs, Herrin“, erwiderte Ralph und strich ein paar Strähnen seines kastanienbraunen Haars nach hinten, die ihm immer wieder ins Gesicht fielen. „Für die meisten ist es noch viel zu früh am Tag.“ Er lenkte die Ochsen zur Brücke. Ihre Hufe rutschten auf den glitschigen Pflastersteinen immer wieder weg, als sie die steile Zufahrt zu bewältigen versuchten. Beharrlich und geduldig trieb er seine Tiere weiter voran.

Sie hatten eben den Scheitelpunkt der Brücke erreicht, da ging von dem quietschenden Rad ein unheilvolles Knacken aus, fast unmittelbar gefolgt von dem Geräusch, wie es zerbrechendes Holz verursachte. Der Wagen neigte sich abrupt nach rechts und kippte ein Stück weit zur Seite.

„Oh!“ Alinor ruderte mit den Armen, um irgendwo Halt zu finden, da sie zur Seite wegrutschte. Einen Moment lang fürchtete sie, das Gleichgewicht zu verlieren und über die niedrige Brüstung in den reißenden Fluss zu stürzen. Doch Ralph bekam ihren Arm zu fassen und zog sie zurück.

„Verdammt!“, fluchte er. „Wartet hier, Mylady, und haltet die Zügel fest, während ich nachsehe, was geschehen ist.“ Er zwängte seinen stämmigen Körper zwischen dem Steingeländer und dem Wagen hindurch und beugte sich über das Rad.

Erneut stieß er einen Fluch aus. „Die Achse ist gebrochen, Mylady!“, rief er ihr zu und kam wieder nach vorn. „Ich muss Hilfe holen, damit wir den Wagen von hier wegschaffen können.“

„Ich komme mit“, sagte Alinor und rutschte an den Rand des Bocks.

Ralph hob eine Hand, um sie an ihrem Vorhaben zu hindern. „Wahrscheinlich ist es besser, wenn Ihr bleibt, Mylady.“ Er betrachtete ihre zierliche Gestalt. „Bei allem Respekt, aber ich komme allein schneller voran. Außerdem muss jemand beim Wagen bleiben. Dieses Getreide ist viel Geld wert.“

„Genug Geld für einen ganzen Winter“, stimmte Alinor ihm zu.

„Kommt Ihr hier allein zurecht, Mylady? Ich werde nicht lange weg sein. Vor Kurzem sind wir an einem Gehöft vorbeigekommen.“

„Natürlich komme ich zurecht“, antwortete sie überzeugt. „Ich habe schließlich meinen Dolch.“ Sie berührte die Lederscheide, die an ihrem Gürtel hing. „Außerdem würde es niemand wagen, eine Ordensschwester anzugreifen, auch nicht, wenn sie sich bloß als solche gekleidet hat.“

Ralph musste lachen. „Es sei denn, derjenige will es wagen, für alle Ewigkeit in die Hölle verbannt zu werden!“ Er winkte ihr zu und eilte in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren.

Alinor seufzte und ließ die Zügel neben sich auf den Boden fallen. Aus Gewohnheit massierte sie ihren linken Unterarm, um den ständigen leichten Schmerz zu lindern, der ihr seit ihrem Unfall zu schaffen machte. Dabei zog sie die Augenbrauen ein wenig zusammen.

Die Ochsen standen geduldig auf der Brücke und ließen die Köpfe hängen.

Alinor schloss die Augen und genoss die sanfte Wärme der Herbstsonne. Wenn sie doch nur wenigstens für einen Moment vergessen könnte, was beinahe passiert wäre. Die gehetzte Eile, als sie der jungen Frau beim Anziehen geholfen hatte, die überstürzte Flucht über das in Mondschein getauchte Land, eng aneinander gedrückt, beide in Umhängen mit Kapuzen, immer darauf bedacht, sich wie Diebe hinter Bäumen zu verstecken und in Gräben Schutz zu suchen. Unwillkürlich musste sie angesichts ihres Wagemuts nach Luft schnappen. Alinor wusste nicht, was ihre Stiefmutter tun würde, sollte sie die Wahrheit über ihr Handeln herausfinden.

„Im Namen von Prinz Edward, macht Platz!“ Eine schroffe, laute Stimme unterbrach ihre Überlegungen. Erschrocken riss sie die Augen auf und zuckte zusammen. Ihr Magen verkrampfte sich vor Angst. Am anderen Ende der Brücke hatten sich mehrere Reiter eingefunden, nein, nicht bloß Reiter, sondern Ritter, erkannte sie, da sie Helme und Kettenhemden trugen. Auf ihren roten Waffenröcken prangten drei goldene Löwen als Symbol für den König und seinen Sohn Prinz Edward!

Vor Schreck setzte ihr Herz einen Schlag lang aus, ihre Beine fühlten sich zittrig an. Gott im Himmel, woher waren diese Ritter so plötzlich gekommen? Warum hatte sie keinen Hufschlag gehört? Sie hatten sich ihr so leise genähert, als hätten sie wie Geister erst unmittelbar vor ihr Gestalt angenommen!

„Wir müssen diese Brücke überqueren!“, herrschte einer der Männer sie an, der einen glänzenden Helm trug. „Fahr den Karren weg, Schwester!“

Schwester? Ja, natürlich. Wegen ihrer Kleidung hielten sie sie für eine Nonne. Entsetzt starrte Alinor die Reiter an, während sie versuchte, Mut zu fassen und die richtigen Worte zu finden, um etwas zu erwidern. Gut ein Dutzend Männer standen ihr gegenüber, die Kettenhemden funkelten und glitzerten im Sonnenschein. Sie waren bewaffnet: mit Schwertern, Piken und Streitkolben. Der Anführer der Gruppe hielt das rote Banner des Königs hoch. Alinor schluckte. Ihr Mund und ihre Kehle waren wie ausgedörrt. Was würden diese Soldaten des Königs wohl mit ihr machen? „Das … das kann ich nicht“, brachte sie schließlich flüsternd heraus.

„Sprich lauter, Frau“, brüllte der Soldat sie an und beugte sich in seinem Sattel nach vorn. „Was fehlt dir? Warum machst du uns nicht Platz?“ Dann rief er seinen Kameraden etwas zu, die daraufhin lachten.

Alinor errötete. Zweifellos war es etwas Abfälliges gewesen. Sie räusperte sich und holte tief Luft, um den Mut zu fassen, ihre Stimme zu erheben. Was war nur los mit ihr? Sie ließ sich doch sonst nicht von Rittern einschüchtern. Sie entstammte einer bedeutenden Familie, die den König und die Königin mitsamt deren Gefolge bei verschiedenen Anlässen empfangen hatte. Es war ihr gutes Recht, hier auf der Brücke zu stehen, schließlich konnte jeden einmal ein Unglück ereilen.

„Die Achse an meinem Wagen ist gebrochen“, entgegnete sie laut und deutlich. Dabei hob sie das Kinn noch ein wenig an und hoffte, herablassend zu wirken. „Der Diener ist unterwegs, um Hilfe zu holen. Er wird bald wieder hier sein.“ Vom Stoff ihres Kleids bedeckt, drückte sie die Daumen, dass es auch so kommen möge.

„Dann haben wir ein Problem“, gab der untersetzte Soldat zurück und saß ab, um sich der Brücke zu nähern. „Prinz Edward befindet sich dicht hinter uns, und er erwartet von seiner Vorhut, dass der Weg für ihn freigemacht wird. Er ist in Eile, Schwester, und er mag es nicht, wenn er aufgehalten wird.“

Alinor reagierte mit einer hilflosen Geste. „Was soll ich machen?“, entgegnete sie. „Allein kann ich den Wagen nicht von der Stelle bewegen.“

„Dann werden wir dir dabei helfen.“ Der Soldat kam mit forschen Schritten auf sie zu. „Erst einmal müssen wir den Wagen von seiner Last erleichtern.“

„Die Säcke sind ziemlich schwer“, sagte Alinor. „Aber zu zweit werdet Ihr sie wohl tragen können …“ Sie musste daran denken, wie Ralph und seine jüngeren Brüder den Wagen beladen hatten. Immer zwei waren nötig gewesen, um einen einzigen Sack hochzuheben …

„Ich habe nicht vor, deine Säcke irgendwo hinzutragen“, konterte der Ritter. Er zwängte sich an den Ochsen vorbei, zog sein Kurzschwert und stach die Klinge in den ersten Sack, um ihn der Länge nach aufzuschneiden. Das Getreide quoll heraus und ergoss sich über die niedrige Mauer in den Fluss. Ein ganzes Feld war für diesen Sack abgeerntet worden!

„Was macht Ihr denn da?“, rief sie ungläubig. Wut stieg in ihr auf, gleichzeitig wurde ihre Angst noch stärker. Aber sie musste Herr über diese Angst werden, denn sie durfte nicht zulassen, dass dieser Grobian sich so betrug. Sie konnte nicht tatenlos zusehen, wie die Nonnen um den dringend benötigten Erlös für das Getreide gebracht wurden. „Wie könnt Ihr es wagen?“ Der Soldat nahm den inzwischen fast leeren Beutel und warf ihn über die Mauer, dann ging er zum nächsten. Wenn er so weitermachte, würden die Nonnen im Handumdrehen alles verlieren!

„Kommt her, Männer!“ Der Soldat nahm von ihren Worten keine Notiz, sondern winkte seine Leute zu sich. „Kommt her und helft mir!“

„Nein, nein, aufhören! Das könnt Ihr nicht machen! Dazu habt Ihr kein Recht!“, schrie Alinor den Mann an und sprang vom Wagen. Dabei fasste sie nach dem Arm des Soldaten, damit er nicht auch noch einen zweiten Sack aufschlitzte. Der Mann wirbelte herum und hielt ihr die Klinge vor das Gesicht.

„Vorsicht, Schwester“, warnte er sie. „Für gewöhnlich töte ich keine unschuldigen Nonnen, aber ich kann ganz bestimmt auch einmal eine Ausnahme machen, solltest du noch weiter meine Geduld strapazieren.“

Wie einfach wäre es doch, einfach wegzulaufen, einfach die Angst herrschen zu lassen, von der sie heimgesucht wurde. Sie konnte davonlaufen, verfolgt von dem höhnischen Gelächter der Soldaten. Aber es war nicht ihre Art, sich von solchen Leuten herumkommandieren zu lassen. Das waren Großmäuler, die sich Schwächeren gegenüber aufspielten, doch das würde sie ihnen nicht durchgehen lassen.

„Ihr macht mir keine Angst“, entgegnete sie verächtlich. „Ich bin davon überzeugt, Eurem Prinzen würde nicht gefallen, was Ihr hier macht!“ Ihre Finger tasteten nach dem Heft ihres Dolchs.

Der Mann knurrte ihr zu: „Den Prinzen interessiert nur, den Rebellen Simon de Montfort vernichtend zu schlagen. Wie ihm das gelingen wird, ist ihm völlig egal. Für Leute wie dich hat er überhaupt nichts übrig. Und jetzt geh zur Seite, Schwester, damit ich meine Arbeit erledigen kann.“

Er wandte sich ab, um den nächsten Sack aufzuschneiden.

Wut kochte in Alinor so hoch, dass sie nicht anders konnte, als den Dolch zu ziehen und auf die Hand des Soldaten zu zielen. Als die Klinge in die schwielige Handfläche drang, schrie er vor Schmerzen auf. Blut strömte aus der Wunde. Ihr Angriff war so unerwartet erfolgt, dass der Mann vor Schreck sein Kurzschwert losließ. Es landete scheppernd auf dem Pflaster, und sofort trat Alinor es unter den Wagen. Im gleichen Moment fiel ihr Blick auf das Heft seines Schwerts, das in der Scheide an seinem Gürtel steckte. Ihr blieb keine Zeit zum Überlegen, sie musste sofort handeln. Mit beiden Händen umfasste sie das Heft und zog das Schwert heraus. Gleichzeitig machte sie einen Schritt nach hinten und hob die lange glänzende Klinge hoch, bis die Spitze sich gefährlich nahe an der Kehle des Soldaten befand. Sie hatte ihrem Vater oft genug dabei zugesehen, wie er sich von seinem Knappen das Kettenhemd anlegen ließ, dass sie die Schwachstellen kannte, an denen eine stählerne Klinge es durchbohren konnte, um dann ins Fleisch getrieben zu werden.

„In Gottes Namen, geht weg vom Wagen!“ Alinor musste sich bemühen, ihre Stimme fest und energisch klingen zu lassen. Sie hatte den Mann zwar davon abgehalten, weitere Säcke aufzuschneiden, aber wie sollte es weitergehen? Ein kurzer Blick über die Schulter zeigte ihr, dass keiner der anderen Soldaten versuchte, sich an sie heranzuschleichen. Die Gruppe stand noch immer am Fuß der Brücke und zeigte lachend auf den glücklosen Kameraden. Offenbar glaubte niemand von ihnen, dass er ihre Hilfe brauchte. Sie schienen davon überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er sie überwältigte.

Der Soldat hielt seine blutende Hand fest und warf ihr einen vernichtenden Blick zu. „Gib endlich auf, Schwester. Und gib mir mein Schwert zurück. Du musst erst noch ein Dutzend meiner Männer besiegen, bevor du gewonnen hast. Gebete sind bedeutungslos, dein Gott kann dir jetzt auch nicht mehr helfen.“

Das war es! Das war die Lösung! Sollten sie doch glauben, dass sie jetzt nicht mehr Gott, sondern düstere Wesen zu Hilfe rief. Mit einer Hand griff sie nach dem mit Perlen besetzten Kreuz, das an einer Halskette aus winzigen Holzkugeln hing, und hielt es hoch. Dabei kniff sie die Augen so zusammen, dass das Ganze hoffentlich nach einer bedrohlichen Miene aussah. „Ich muss Euch zustimmen“, sagte sie und senkte ihre Stimme zu einem tiefen Zischen. „Aber ich werde stattdessen den Teufel herbeirufen, damit er mir hilft.“ Sie begann auf Latein zu murmeln, zuerst leise, dann immer lauter und lauter. Sofern dieser Soldat nicht zufällig ein Gelehrter der lateinischen Sprache war, würde er nicht wissen, dass sie völligen Unsinn redete. Es war pures Glück, dass sich in diesem Augenblick eine riesige schwarze Wolke vor die Sonne schob und die Landschaft in Dämmerlicht tauchte. Gleichzeitig kam Wind auf, der Staub und trockenes Laub entlang des Flussufers aufwirbelte. Die Soldaten verstummten und beobachteten sie voller Entsetzen. Sie wurden totenbleich, als ihnen klar wurde, was sie da tat. Während Alinor redete, stieß sie mit dem Schwert den Soldaten an, der sich ganz langsam zurückzog. Auf der anderen Seite des Wagens angekommen, rannte er schnell zu seinen Leuten zurück.

„Sie hat mich verflucht!“, hörte Alinor den Mann rufen, während er auf sie zeigte. Ihr Handgelenk schmerzte davon, das schwere Schwert hochzuhalten, doch sie wollte den Arm auf keinen Fall sinken lassen. Beinahe hätte sie beim Anblick des verschreckten Mannes gelacht, und es kostete sie viel Mühe, sich davon abzuhalten. Denn die Soldaten sollten ruhig weiter daran glauben, dass sie den bösen Blick aufgesetzt hatte. Solange sie das glaubten, waren sie und das Getreide sicher. Dennoch schaute sie kurz zum Himmel und betete, Ralph möge schnell zu ihr zurückkehren.

Mit einem Mal kam sie sich sehr einsam und verlassen vor.

„Wo in drei Teufels Namen sind wir, Guilhem?“ Edward, der Sohn von Henry III., schlug mit dem Schwert ungeduldig die dichten Büsche zur Seite, dann endlich gelangte sein Pferd auf eine kleine Lichtung mitten im Buchenwald. Wütend riss er sich den Helm vom Kopf. Unter der Kettenhaube lugten ein paar blonde Strähnen heraus. „Und wo sind meine Vorreiter? Ich dachte, die wären keine halbe Meile voraus! Eigentlich sollten sie zu uns zurückkehren und uns den Weg zeigen!“ Er setzte eine finstere Miene auf und zog einem ungezogenen Dreijährigen gleich die Mundwinkel nach unten.

Guilhem, der Duc d’Attalens, hob seine breiten Schultern und brachte sein stattliches Schlachtross neben dem von Edward zum Stehen. Die drei in seinen Waffenrock eingestickten goldenen Löwen glänzten im Sonnenschein. Er zog die Lederhandschuhe aus und steckte sie vor sich unter den Sattel, dann nahm er ebenfalls den Helm ab, schob die Kettenhaube nach hinten und schüttelte das volle dunkelblonde Haar. Er genoss die kühle Brise, die seine heiße Kopfhaut kühlte.

„Also?“ Edward sah ihn gereizt an und schlug nach einer Fliege, die vor seinem Gesicht hin und her schwirrte.

„Das weiß ich so wenig wie du!“, gab Guilhem zurück und ließ eine Schulter in der Hoffnung kreisen, so das Jucken unter dem Kettenhemd zu lindern. „Aber da wir die halbe Nacht durchgeritten sind, könnte es sein, dass sie die Gelegenheit genutzt haben, um eine kurze Rast einzulegen.“

„Wir haben keine Zeit für eine Rast!“, knurrte Edward und zerrte an den Zügeln seines Pferds, das unruhig auf der Stelle trat. „Die Gerüchte besagen, dass de Montfort den Severn überquert haben soll. Falls das stimmt, sind sie bereits in Richtung Osten unterwegs, während wir uns hier noch unterhalten.“

„Ich weiß. Aber das sind nur Gerüchte, Edward. Wenn die Männer müde sind, werden sie nicht kämpfen können, und dann verlieren wir so oder so.“ Gelassen sah Guilhem den Prinzen an. Er war mit den Launen seines Freundes genauso vertraut wie mit seiner Energie, mit der es nur wenige Männer aufnehmen konnten. Hinzu kam, dass er auf dem Schlachtfeld ein erstaunliches Durchhaltevermögen besaß.

„Ich könnte jetzt kämpfen“, brummte Edward mürrisch. „Und du würdest es auch wollen.“

Ja, er hätte jetzt kämpfen können. Aber das konnte er sowieso, ob am Tag oder in der Nacht. Er schien nie Kälte, Hunger oder Müdigkeit zu spüren. Der Kampf passte zu ihm. In einer Schlacht zu stecken und unablässig vorzurücken, ohne dass Zeit blieb, über Dinge nachzudenken, das passte zu ihm – weil es so für ihn besser war.

„Das könnten wir beide, Edward, aber ich vermute, wir sind in der Minderheit. Die Soldaten müssen sich ausruhen.“ Dabei warf er einen kurzen Blick zu den übrigen Reitern und dem Fußvolk von Edwards Truppen, die sich am Rand der Lichtung einfanden. Jedem von ihnen war die Erschöpfung deutlich anzusehen. „Ich schlage vor, du bringst die Männer zum Palast deiner Mutter in Knighton und bittest dort um Verpflegung und Unterkunft für sie. Die Rebellen können noch warten.“ Er legte den Kopf ein wenig schräg. „Was hältst du davon?“

„Du schlägst mir vor, dass ich die Männer mitnehme? Wieso? Was hast du denn vor?“

Guilhem seufzte leise. „Ich habe meiner Mutter versprochen, meine Schwester zu besuchen. Sie ist hergereist, um einen englischen Edelmann zu heiraten. Wenn ich mich nicht irre, ist seine Burg nicht weit von hier entfernt.“ Er grinste, als Edward die Mundwinkel noch weiter nach unten zog. „Es ist ja nur für eine Nacht, und dann treffen wir uns in Knighton.“

„Du musst dich auch ausruhen. Warum kommst du nicht mit uns? Anschließend kannst du deine Schwester immer noch besuchen.“

„Na gut“, stimmte Guilhem ihm zu und lauschte aufmerksam. „Da kommt jemand“, sagte er leise und zog das Schwert aus der Scheide. Mit seinen Blicken suchte er das Grün ringsum ab, beugte sich leicht vor und saß angespannt da. Von der anderen Seite der Lichtung war Hufgetrappel ebenso zu hören wie das Knacken kleiner Zweige, die von Ross und Reiter abgerissen wurden. Einer von Edwards Vorreitern preschte auf die Lichtung. Er trug keinen Helm, sein Gesicht war rot, und er riss so brutal an den Zügeln seines Pferds, dass das die Augen verdrehte, während es schlitternd zum Stehen kam. „Wir haben ein Problem!“, brachte der Mann keuchend heraus.

2. KAPITEL

Das einzige Problem, das Guilhem erkennen konnte, war eine Nonne von zierlicher Statur, gekleidet in einen sackförmigen grauen Kittel, die ein großes Schwert hochhielt, das vermutlich nicht ihr gehörte. Sie stand breitbeinig auf dem höchsten Punkt einer schmalen Brücke, hinter ihr sah er einen beladenen Ochsenkarren, der sich bedenklich zur Seite neigte. Von Zeit zu Zeit fuchtelte sie mit dem Schwert auf eine Weise, die wohl bedrohlich wirken sollte. Soweit er das beurteilen konnte, hatte nicht ein einziger Soldat versucht, sie zu überwältigen. Stattdessen stand die klägliche Gruppe am Flussufer und hatte die Helme abgenommen, während die Pferde am dürren Gras zupften. Warum blieben sie alle auf Abstand? Es konnte doch nicht so schwer sein, diese Frau niederzuringen!

„Was ist hier los?“, wollte Edward wissen und saß ab. Verständnislos zog er die rotblonden Augenbrauen zusammen.

„Nun … ähm, diese … diese Schwester …“, begann einer der Soldaten, der seine Hand umklammert hielt. Die anderen Männer kamen dazu und nickten ihrem Kameraden ermutigend zu.

„Blutest du?“, fragte Edward, zog die Hand des Mannes zu sich heran und betrachtete das Blut, das aus einer Schnittwunde quer über die Handfläche lief.

Der Soldat wurde rot. „Das ist ihr Werk.“ Mit einem Nicken deutete er auf die Frau.

Edward kniff die Augen zusammen. „Ihr Werk? Willst du mir erzählen, dass du von einer Nonne angegriffen wurdest? Gott im Himmel! So was will ein Ritter sein?“

„Seht sie Euch an, Sire. Sie verflucht uns mit dem bösen Blick, und dabei murmelt sie gottverbotene Worte vor sich hin. Worte des Teufels. Wir wollten, dass sie ihren Wagen von der Stelle bewegt, aber dann hat sie mir in die Hand geschnitten und mir das Schwert abgenommen! Dann hat sie nach ihrem Kreuz gegriffen und uns … und uns mit einem Fluch belegt! Ich schwöre, das ist die Wahrheit, Sire. Wir wagen es nicht, sie anzurühren.“

„Was für ein blanker Unsinn“, gab Edward zurück. „Lass mich das regeln.“

„Wenn du erlaubst“, warf Guilhem ein und hielt den Freund mit dem rechten Arm zurück. Seinen Helm drückte er einem Soldaten in die Hand, dann schob er die Kettenhaube nach hinten. „Es würde sich nicht gut machen, wenn der Sohn des Königs von einer Frau niedergestochen wird.“

„Von einer Frau. Niemals!“, schnaubte Edward, blieb aber stehen und beschrieb mit einem Arm eine spöttische Geste. „Allerdings möchte ich auch nicht verflucht werden. Ich lasse dir also gern den Vortritt.“

Der Ritter, der sich ihr näherte, war von großer Statur, hatte breite Schultern und einen kräftigen Oberkörper. Trotz seiner Größe bewegte er sich mit geschmeidiger Leichtigkeit und erinnerte an ein starkes Raubtier, das seine Beute nicht entkommen lassen würde. Unter dem ärmellosen roten Waffenrock trug er ein Kettenhemd. Eine hellbraune Hose umschloss eng seine langen Beine, die in hohen Stiefeln steckten. Die Kettenhaube hatte er nach hinten geschoben, sodass sie sein dichtes, zerzaustes Haar sehen konnte, das mehr dunkelblond als braun war und ein schmales, gebräuntes Gesicht mit markanten Wangenknochen einrahmte.

Alinor fuhr sich mit der Zunge über ihre Lippen. Sie sehnte sich nach einem Becher Wasser – und etwas, das gegen die wachsende Furcht half, die auf ihre Brust drückte und sie zu kurzen, hastigen Atemzügen zwang. Ihre Handgelenke schmerzten, da sie immer noch das riesige Schwert festhielt. Durch die Narbe an ihrem linken Arm jagten Stiche. Wo war dieser Mann so plötzlich hergekommen? Da war ihr ja der kleine, dickliche Soldat noch lieber, der sich ihr als Erster genähert hatte, wenn sie ihn mit diesem Hünen verglich! Alles an ihm jagte ihr Angst ein, von den durchdringend blickenden nachtblauen Augen über den mürrisch verzogenen Mund bis hin zu dieser mehr als beeindruckenden Größe. Alles zusammen rief bei ihr eine innere Unruhe hervor, es ließ ihr Herz wie wild schlagen. Sie ermahnte sich, ihren Mut zusammenzunehmen. Sie hatte so lange durchgehalten, dann würde sie das auch noch länger schaffen. Schließlich war dies nicht ihr Getreide, und die Nonnen benötigten die Einnahmen aus dem Verkauf, um den Winter überleben zu können. Wenn sie jetzt aufgab, würden sie alles verlieren.

Der Ritter war bis zu den Ochsen gekommen.

Das Blut pochte laut in ihren Ohren. „Geht weg!“, brachte sie heraus und richtete das Schwert drohend auf seine Brust. Die in den roten Stoff eingestickten goldenen Löwen tanzten vor ihren Augen. „Olim erat urbs magna, nomine altum est!“ Die lateinischen Worte, die keinen Sinn ergaben, sprudelten aus ihr heraus.

Zu ihrer Verwunderung fing der Ritter an zu lachen. „Eure Verwünschungen machen mir keine Angst, Schwester. Ich glaube weder an Gott noch an den Teufel. Wir wollen Euch nichts tun, wir wollen nur die Brücke überqueren, die von Eurem Wagen blockiert wird.“

„Die Achse ist gebrochen“, erwiderte Alinor mit viel zu hoher Stimme. „Euren Männern ist das längst bekannt! Und dieser dort …“, mit dem Schwert zeigte sie auf den Soldaten, der sich ihr als Erster genähert hatte, „… fing daraufhin an, die Säcke aufzuschneiden, wodurch das Getreide hinausquoll und im Fluss landete!“

Der Ritter schob die Daumen unter seinen Gürtel. Das geschmeidige Leder betonte seine schmalen Hüften. Er legte die Stirn in Falten und musterte die beschädigten Säcke. Eine dunkelblonde Locke fiel ihm in die sonnengebräunte Stirn. „Dafür kann ich mich nur entschuldigen“, erwiderte er. „Der Mann ist zu weit gegangen, aber ich denke, er hat dafür auch angemessen bezahlt. Ihr habt ihm eine ziemlich böse Schnittwunde zugefügt.“

„Er hatte es nicht anders verdient!“ Alinor wurde rot. „Ich dachte, er hilft mir, aber dann … wie kann man nur kostbares Getreide so vergeuden!“

Guilhem fand, dass ihre Augen eine höchst erstaunliche Farbe hatten. Die Nonnenhaube, die ihr perfektes ovales Gesicht einrahmte, schien das klare, leuchtende Grün dieser Augen zu unterstreichen. Unerwartet stieg Verlangen in ihm auf.

„Gebt mir einfach das Schwert, Schwester“, forderte er sie ungehalten auf, während er sich über diese unerwünschte Regung in seinen Lenden ärgerte. Um Himmels willen, sie war eine Nonne! Was war nur in ihn gefahren? Sie hatte nichts, was einen zweiten Blick wert gewesen wäre. Sie war klein, unter dem unförmigen Kittel steckte mit Sicherheit ein genauso unförmiger Körper, und zudem war ihr Kopf ganz bestimmt kahl geschoren. Eine Braut Christi. Eine Frau, die er nicht begehren durfte. Das war das Einzige, was ihn kümmern sollte.

„Niemals!“, fauchte Alinor ihn an. „Warum sollte ich darauf vertrauen, dass Ihr … oder einer von den anderen …“, sie nickte spöttisch den anderen Männern zu, „… dass Ihr das Richtige tun werdet? Euer Ruf … Euer schlechter Ruf eilt Euch voraus! Jeder weiß, wie Prinz Edward ist! Er ist ein Teufel und ein Schurke, und das gilt auch für jeden, der ihm dient! Ich bleibe hier. Ich werde mich nicht von der Stelle rühren, bis mein Begleiter zurückkehrt und Hilfe mitbringt, um die Achse zu reparieren.“

Ihr unverschämter Tonfall ließ ihn mit Verärgerung reagieren. „Hütet Euch, Mädchen!“ Seine Stimme nahm einen warnenden Unterton an. „Eure Anschuldigungen kommen Hochverrat gleich und beruhen auf nichts anderem als auf Unwissenheit. Ihr solltet Euch lieber vor Augen halten, mit wem Ihr es zu tun habt, ob Ihr nun eine Ordensschwester sein mögt oder auch nicht. Edward ist nicht gut auf die zu sprechen, die ihm Widerworte geben.“ Er musterte sie von Kopf bis Fuß. „Und ich bin in diesem Punkt nicht anders als er.“

Als er einen Satz auf sie zu machte, wich Alinor erschrocken zurück. Mühelos zog er das Schwert aus ihrer Umklammerung, das gleich darauf auf der Brücke landete und auf dem glatten Kopfsteinpflaster davonrutschte. „Nein … nein … nein“, protestierte sie mit schwacher Stimme. Vor ihren Augen begann sich alles so zu drehen, dass sie fürchten musste, ohnmächtig zu werden. Hastig klammerte sie sich an das Zaumzeug des Ochsen gleich neben ihr, damit man sie nicht von hier wegbringen konnte.

„Vergebt mir, Schwester“, sagte der Ritter in einem Tonfall, der klarmachte, dass es ihm eigentlich gar nicht um Vergebung ging. „Aber wenn Ihr Euch weigert, uns Platz zu machen, werde ich Euch packen müssen, um Euch von hier wegzubringen.“

Als er ihr seine starken Arme um die Taille legte und sie an sich zog, konnte Alinor nur mit einer Mischung aus Entsetzen und Empörung nach Luft schnappen. Mühelos hob er sie so hoch, dass sie den Boden unter den Füßen verlor, und drückte sie gegen sich, damit er sie wegtragen konnte. Sein harter Oberkörper drückte gegen ihre zarten Brüste, als sie schließlich auf Augenhöhe mit ihm war. Ihre Hüften rieben sich bei jeder Bewegung an ihm, was dafür sorgte, dass sie augenblicklich heftig errötete und sich wünschte zu sterben, damit diese Schmach ein Ende hatte. Noch nie in ihrem ganzen Leben war sie einem Mann so nahe gewesen wie in diesem Moment!

„Lasst mich los! Auf der Stelle!“, verlangte sie, da Wut und Verlegenheit stärker waren als ihre Angst. Mit ihren kleinen Fäusten trommelte sie auf seine Schultern, gleichzeitig trat sie nach ihm, aber ihre Zehen trafen überall nur auf unnachgiebige Muskeln. „Dafür werdet Ihr teuer bezahlen! Setzt mich ab!“ Bei jedem Schlag auf seine Schultern konnte sie durch den Stoff seines Waffenrocks hindurch die eisernen Glieder seines Kettenhemds spüren.

Ein tiefes, amüsiertes Lachen entstieg seiner Kehle. „Für jemanden aus dem Haus Gottes und zudem noch für eine Frau sprecht Ihr sehr viele Drohungen aus.“

Alinor bekam von seinen Worten nichts mit, sondern schrie weiter: „Lasst mich los! Lasst mich los!“ Die Vernunft setzte schlagartig aus, und sie wollte sich nur noch mit aller Macht aus dieser Umklammerung befreien. Sie beugte sich vor, machte den Mund auf und biss in das Ohrläppchen des Mannes. Gleichzeitig lauerte sie darauf, dass sich der Griff um ihre Taille ein wenig lockerte und sie die Gelegenheit bekam, um sich herauszuwinden.

Nichts geschah.

„Was soll denn das!“, brüllte Guilhem, ohne allerdings den Griff zu lockern. „Ihr habt mich gebissen!“

Ihr Selbstvertrauen schwand dahin. Sie hatte erwartet, dass er sie nach dem Biss loslassen würde. Deshalb hatte sie sich keine Gedanken darüber gemacht, was sein würde, wenn ihr Plan fehlschlagen sollte. Warum hatte sie sich nicht einfach schwächlich und unterwürfig verhalten? Wie dumm von ihr! Was würden sie jetzt mit ihr anstellen, der einzigen Frau inmitten eines Trupps Soldaten? Nein, sie wollte sich das gar nicht erst ausmalen! Vor Entsetzen über ihre Situation begann sie zu kreischen, da sie keinen klaren Gedanken mehr fassen und keinen vernünftigen Satz mehr zustande bringen konnte.

Ihre schrillen, gequälten Schreie taten Guilhem in den Ohren weh. Er trug die Frau von der Brücke und wollte ihr sagen, dass ihr nichts passieren würde, doch er wusste, damit würde er nicht weit kommen. Angesichts dieser gellenden Schreie würde sie ja nicht einmal etwas davon mitkriegen, wenn er mit ihr redete.

„Gott im Himmel! Hört dieses Geheul endlich auf?“, beschwerte sich Edward, der zu ihnen kam. „Ich habe jetzt wirklich genug davon, Weib!“

Sein Fausthieb kam wie aus dem Nichts und traf die junge Nonne, die er auf die Arme gehoben hatte, an der Wange. Die Wucht des Schlags war so groß, dass ihr Kopf zur Seite geschleudert wurde und dann gegen seine Schulter sank. Ihr ganzer Körper erschlaffte. Edward hatte so unerwartet zugeschlagen, dass Guilhem die Frau nicht mehr davor hatte bewahren können.

„Das tut mir leid“, sagte Edward und sah betroffen die bewusstlose Frau an. „Aber dieses infernalische Schreien hat mich wahnsinnig gemacht.“

„Ist das wahr?“, gab Guilhem zynisch zurück. Himmel, wann würde Edward endlich lernen, sein Temperament zu zügeln? Er schob die Frau in seinen Armen ein wenig zur Seite, damit er sie besser halten konnte. Dabei fiel ihm auf, dass sich unter dem weiten, auftragenden Stoff eine Frau von weitaus zierlicherer Statur befinden musste. „Das war völlig unnötig, eine Frau zu schlagen, Edward“, entrüstete er sich. „Noch dazu eine Nonne!“

„Jaja, ich weiß.“ Edward schaute zerknirscht drein. „Ich habe nicht nachgedacht.“

Mit finsterer Miene sah Guilhem auf das Mal, das sich auf der Wange der Frau abzeichnete. Ein kleines Rinnsal Blut kam in Berührung mit der Haube, wurde von dem weißen Stoff aufgesogen und bildete einen roten Fleck, der schnell größer wurde. Die Augen hatte sie geschlossen, sodass er gut ihre langen Wimpern sehen konnte. Glücklicherweise ging ihr Atem regelmäßig. Ohne sich um Edward zu kümmern, trug er die Frau zu einer Buche und legte sie in deren Schatten behutsam ins Gras.

Dann begab er sich zu den anderen Soldaten und half ihnen, die Säcke mit Getreide vom Wagen zu schaffen und seitlich vor der Brücke ordentlich abzulegen. Sie lösten das Geschirr der Ochsen und führten die Tiere zu den Bäumen, wo sie an starken Ästen festgebunden wurden. Edward beobachtete mit grimmigem Blick, wie sie den beschädigten Wagen von der Brücke schoben und ihn sicher am Straßenrand abstellten.

„Ich verstehe nur nicht, wieso dieses dumme Weib allein hier war“, sagte Edward auf einmal. „In diesen gefährlichen Zeiten ohne Begleitung unterwegs zu sein ist einfach nur dumm.“

„Da muss ich dir zustimmen“, erklärte Guilhem. „Allerdings hat sie den Soldaten gesagt, dass ihr Begleiter losgegangen ist, um wegen der gebrochenen Achse Hilfe zu holen.“ Er drehte den Kopf zur Seite und musterte die reglos daliegende Frau mit dem kreidebleichen Gesicht.

„Meine Mutter würde mir die Hölle heißmachen, wenn sie wüsste, dass ich eine Frau geschlagen habe“, stellte Edward fest.

„Das möchte ich bezweifeln“, konterte Guilhem. „Die Königin himmelt dich an, und das weißt du sehr wohl. Sie würde vielmehr dieser jungen Frau die Schuld geben und sagen, dass sie deine Reaktion herausgefordert hat.“

Edward reagierte mit einem schiefen Grinsen. „Nun, ihr Verhalten war ja auch völlig unangemessen …“

„Es war zumindest … ungewöhnlich“, musste Guilhem einräumen. Die meisten anderen Frauen wären beim Anblick der Soldaten davongelaufen, anstatt eine Wagenladung Getreide zu beschützen. Sie war völlig verängstigt gewesen, und trotzdem hatte sie sich nicht von der Stelle gerührt, sondern gekämpft wie ein wildes Tier, das sich in die Ecke getrieben fühlte. Gegen seinen Willen weckte das bei ihm Bewunderung. So dumm ihr Verhalten auch gewesen sein mochte, es hatte großen Mut erfordert, derart standhaft zu bleiben.

„Na gut …“ Edward zog seine Lederhandschuhe zurecht. „Reiten wir weiter. Wir haben hier schon genug Zeit verloren. Reiten wir nach Knighton. Zum Palast.“ Er schaute sich um und stellte zufrieden fest, dass alle seine Soldaten aufsaßen. „Wo ist dein Pferd?“

„Ich komme später nach“, antwortete Guilhem.

„W…was? Sag mir bitte nicht, dass du dich um eine gewöhnliche Nonne kümmern willst. Ihr Diener wird sicher bald wieder hier sein.“

Guilhem tätschelte den Hals von Edwards Pferd. „Ich will mich vergewissern, dass es ihr gut geht.“

„Was ist los, Guilhem? Hast du meinetwegen ein schlechtes Gewissen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Nein, ich bin nur besorgt.“ Ein schlechtes Gewissen war für ihn nichts Neues, sondern ein ständiger Begleiter. „Sie ist bewusstlos und liegt da völlig schutzlos im Gras.“

„Um Gottes willen, lass sie einfach da liegen und komm jetzt mit.“

„Ich folge Euch später.“

Edward machte eine enttäuschte Miene. „Du bist weichherzig geworden, Guilhem“, stellte er verbittert fest. „Seit jenem Tag in Fremont …“

Guilhem schüttelte energisch den Kopf, damit Edward aufhörte zu reden. Er wollte nicht an diesen schlimmen Tag erinnert werden. Die brennende Burg … das Kind …

„Lass das nicht so auf dich wirken, Guilhem“, redete Edward auf seinen Freund ein. „Du hast bereits dafür bezahlt.“

„Ich habe das Feuer gelegt, das den Jungen getötet hat“, erwiderte er tonlos. Ein Kind hatte durch gedankenloses Handeln sein Leben verloren. „Ich komme nach.“

Edward nickte. Guilhem war für ihn unverzichtbar, doch der Mann stand nicht in seinem Sold, daher konnte er ihm nicht vorschreiben, was er zu tun hatte. Er war keiner von seinen Rittern, er war ein wohlhabender Adliger, der aus Loyalität und Freundschaft beschlossen hatte, mit ihm zu reiten und ihm zu helfen, weil er ihm geholfen und ihn gerettet hatte. „Wenn du es unbedingt willst“, lenkte Edward schließlich ein und gab seinen Soldaten das Zeichen ihm zu folgen, bevor er über die Brücke ritt.

Die Sonne war wieder hinter den Wolken verschwunden, die Stelle, an der die Nonne im Gras lag, war in tiefe Schatten getaucht. Guilhem hockte sich neben die junge Frau, die in einem Bett aus welkem Laub lag. Durch den Stoff ihres Kleids zeichnete sich ihr zierlicher Körper ab. Unter dem Saum ragten Stiefelspitzen heraus, und an ihrem Gürtel trug sie in einer Lederscheide einen Dolch mit sich. Wie seltsam, dass eine Nonne eine Klinge bei sich führte, wenn sie doch eigentlich daran glauben sollte, dass Gebete und das Kreuz um ihren Hals sie vor jedem Unheil schützten. Offenbar hatte diese Nonne ganz andere Vorstellungen.

Er kniete sich ins trockene kupferfarbene Laub und sah, wie ein einzelnes orangerotes Blatt durch die Luft wirbelte und genau auf ihrem Bauch landete. Unwillkürlich ballte er die Fäuste so fest, dass sich die Fingernägel in die Handfläche bohrten, um der Versuchung zu entgehen, das Blatt wegzunehmen.

„Kommt schon“, sagte er mit schroffer Stimme und strich über ihre Wange. Sein Atem stockte, als er merkte, dass sich ihre zarte helle Haut so weich wie Daunen anfühlte. Er hatte sich halb über sie gebeugt, und es kam ihm ungehörig und schamlos vor. Fast fühlte er sich wie ein Riese, der im Begriff war, sich über seine Beute herzumachen. Viele Jahre seines Lebens hatte er damit verbracht, Soldaten anzubrüllen, sie zu Kämpfern auszubilden, damit sie härter, schneller und ausdauernder attackieren konnten. Er kämpfte schon seit so langer Zeit, dass er sich nicht daran erinnern konnte, wann er das letzte Mal die Gesellschaft einer Frau genossen hatte. Dadurch war ihm auch völlig entfallen, wie er mit einer Frau umgehen musste. „Kommt schon“, wiederholte er etwas lauter. Er beugte sich weiter vor, fasste sie an den Schultern und schüttelte sie. Ihr Kopf fiel nach hinten, ein leises Stöhnen kam über ihre Lippen.

Langsam schlug sie die Augen auf.

Im ersten Moment sah Alinor alles nur verschwommen. Über ihr raschelte das welkende Laub, als eine Brise durch die Baumkrone wehte. Wo war sie? Wieso lag sie hier? Feuchtigkeit stieg vom Boden auf und durchdrang den Stoff ihres Kleids. Ihre Wange schmerzte. Zaghaft strich sie mit den Fingern über die Stelle.

„Nein“, hörte sie einen Mann mit schroffer Stimme sagen. „Lasst das bleiben.“ Jemand fasste ihre Hand und zog sie weg.

Sofort verkrampfte sich ihr Magen. O Gott, nicht schon wieder er! Der Mann kniete neben ihr und hatte sich über sie gebeugt. Seine Miene wirkte hart, seine Augen blickten kalt. Angst ließ sie erzittern. Sie wollte aufstehen, sich vor ihm in Sicherheit bringen, aber sie konnte sich nicht von der Stelle bewegen, weil ihr Kleid unter seinen Knien feststeckte. „Geht weg“, brachte sie angestrengt heraus. „Lasst mich in Ruhe, Barbar!“

Zu ihrer Verwunderung begann er zu lachen. „Ich werde Euch nichts tun“, sagte er mit seiner tiefen Stimme.

„Ihr habt mich geschlagen“, warf sie ihm wütend vor.

„Das war ich nicht“, erklärte er ruhig. „Das war der Prinz. Ihr wolltet einfach nicht aufhören zu schreien.“

„Und das genügt als Grund?“, warf sie ihm an den Kopf. „Es ist also richtig, eine Frau zu schlagen, wenn sie zu viel Lärm macht?“ Die Angst hatte ihr Herz fest im Griff. Sie wünschte, sie hätte die Kraft, um den Mann zur Seite zu stoßen und aufzuspringen.

„Ich bin nicht damit einverstanden, was er getan hat“, sagte er. „Aber Ihr müsst auch zugeben, dass Euer Verhalten sehr unhöflich war. Es ist üblich, Mitgliedern der königlichen Familie mit Respekt zu begegnen. Doch Ihr habt das genaue Gegenteil davon gemacht.“ Mit seinen Augen, die beinahe so dunkel waren wie der Nachthimmel, musterte er sie eindringlich.

„Ich musste verhindern, dass sie das Getreide in den Fluss warfen“, murmelte sie. Auf einmal spürte sie seine Knie an ihrer Hüfte. Er war viel zu nahe! Was dachte sie sich auch dabei, wie von Wollust getrieben im Gras zu liegen? Ihr Herzschlag begann sogleich zu rasen. „Ich muss mich hinsetzen“, sagte sie. „Aber Ihr kniet auf meinem Kleid.“

Er blickte hinunter, sah, was sie meinte, und rutschte ein Stück zur Seite. Diese junge Nonne war überaus eigensinnig, wies jegliche von ihm angebotene Hilfe zurück. Dabei sollte sie doch erfreut sein, dass er hier bei ihr geblieben war. Anstatt etwas zu sagen, legte er die Finger um ihren Ellenbogen.

„Das kann ich auch allein!“, zischte sie ihn an und zuckte vor seiner Berührung zurück. Aber er ließ sie erst los, als sie aufrecht dasaß. Zunächst verschwamm alles vor ihren Augen, doch sie zwang sich dazu, sich ganz auf das zu konzentrieren, was sie sehen konnte: sein Pferd, die Brücke, die geduldig wartenden Ochsen.

„Was habt Ihr mit meinem Getreide gemacht?“, wollte sie wissen und zog die Beine an, um trotz ihres Schwindelgefühls aufzustehen. „Wenn Ihr es ausgekippt habt, werdet Ihr … oh!“ Sie fiel nach hinten und hielt sich die Hand vor den Mund. „Ich kann nicht …“

Autor

Meriel Fuller
Meriel Fuller verbrachte ihre frühe Kindheit als echte Leseratte. Nach der Schule ging sie stets in die Stadtbücherei, wo ihre Mutter als Bibliothekarin arbeitete und las sich fröhlich durch die historischen Liebesromane. Ihre Liebe zur Vergangenheit hat sie von ihrem Vater, ein eifriger Hobby-Historiker, der Meriel und ihre Schwester auf...
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