Der Ritter und die schöne Sklavin

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Clare spürte den brennenden Wunsch, sich mit dem Kopf an seine breite, vom Kettenhemd geschützte Brust anzulehnen. Champagne, 1174: Sklavenhändler in der Stadt! Die junge Clare ist außer sich vor Angst. Aus Apulien ist sie vor ihnen geflohen, hat gegen einen den Dolch erhoben. Haben sie sie gefunden? Clare entkommt aus Troyes. Doch ein tapferer Ritter holt sie ein: Sir Arthur Ferrer, der sie bei den Rittersspielen erblickt hat, glaubt, sie sei die Tochter des Comte Myrrdin de Fontaine, Herrscher über Ländereien in der Bretagne. Er soll die Fliehende zu ihrem Vater bringen, den sie nie kennengelernt hat. Für Clare beginnt eine schicksalhafte Reise an der Seite des hochgewachsenen Ritters, dessen Berührungen eine brennende Sehnsucht in ihr wecken …


  • Erscheinungstag 12.02.2019
  • Bandnummer 348
  • ISBN / Artikelnummer 9783733736903
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Januar 1174 – ein Haus im Händlerviertel von Troyes, Champagne

Die Temperaturen waren mild für Januar und die Fensterläden standen offen, damit möglichst viel Licht ins Haus gelangen konnte. Als Clare Nicola half, von ihrer Liege zur Bank am Tisch zu gehen, erhielt sie ein liebevolles Lächeln von der mütterlichen Freundin, das ihr Herz erwärmte. Nicola war schwach und krank, und ihr Lächeln war kostbar.

„Ich sehe, du hattest Besuch, während ich auf dem Markt war“, sagte Clare.

Nicola ließ sich stöhnend nieder und lehnte sich an die Holzwand. „In der Tat. Und zwar nicht irgendeinen Besucher, sondern einen Edelmann mit einem Geschenk. Leider kann ich damit nichts anfangen, daher habe ich an dich und Nell gedacht. Aber bevor ich Nell davon erzähle, wollte ich mit dir sprechen. Wir müssen sie nämlich gar nicht erst in Aufregung versetzen, wenn du dich weigerst, sie zu begleiten. Und ich weiß, wie ungern du das Haus verlässt.“

„Ein Geschenk?“ Clare legte Nicola eine Decke über die Knie. Wer auch immer Nicolas geheimnisvoller Besucher gewesen sein mochte – ob es Comte Lucien war? –, er hatte ihr auf jeden Fall gutgetan. Ihre Augen strahlten wie seit Monaten nicht. Clare wusste, dass Nicola nicht lange mit dem Namen des Besuchers hinterm Berg halten würde. Seit Geoffrey gestorben war, hatten sie keine Geheimnisse mehr voreinander. „Hast du es bequem? Ich kann die Fensterläden schließen, falls es zieht.“

„Bloß nicht. So wenig Licht, wie es zu dieser Jahreszeit gibt.“

Clare nahm den schlichten Leinenschleier ab, den sie immer trug, wenn sie auf den Markt ging, und hängte ihn an den Haken über ihren Umhang. Eine kupferfarbene Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht. Als sie diese wieder in den Zopf flocht, fiel Ihr Blick auf den dünnen blauen Rauchfaden, der sich von der Feuerstelle zu einer Öffnung im Dach kringelte „Soll ich das Feuer anfachen?“

„Mir ist nicht kalt. Spar das Holz lieber für heute Abend auf.“

Clare nickte und hob einen Korb auf den Tisch, um ihn auszupacken. Mehl. Käse. Eine Handvoll verhutzelter Birnen. Zwiebeln. Trockene Bohnen. Und dank der Großzügigkeit von Geoffreys Herrn, Comte Lucien, etwas gepökeltes Schweinefleisch und Trockenfisch.

„Keine Eier?“, fragte Nicola.

„Der Preis war der reine Wahnsinn. Ich probiere es morgen noch einmal, aber ich fürchte, bis zum Frühjahr werden sie nicht mehr billiger.“ Sie schaute zu Nicola. „Also? Was ist das für ein geheimnisvolles Geschenk?“

Nicola kramte in ihrem Beutel und ließ eine Münze auf den Tisch fallen.

„Geld.“ Clare holte tief Luft. „Der Comte d’Aveyron war wieder hier.“

Bei dem Gedanken an Lucien Vernon, dem Comte d’Aveyron, kam Clare unweigerlich Geoffreys Torheit in den Sinn. Draufgängerisch hatte er sich auf eine Diebesbande eingelassen. Sie wusste, dass er nur seiner Mutter hatte helfen wollen – er hatte es Clare vor seinem Tod gestanden. Er hatte seine Taten bitter bereut und alles wiedergutmachen wollen, aber in dem Moment, da er sich von den Banditen lossagte, hatte er sein eigenes Todesurteil unterzeichnet. Sie hatten ihn ermordet.

Auch Comte Lucien waren Geoffreys Beziehungen zu den Gesetzlosen nicht verborgen geblieben. Nicola jedoch wusste zum Glück nichts vom fatalen Fehltritt ihres Sohnes. Und wenn es nach Clare ging, würde das auch so bleiben. Von ihr würde Nicola nichts über Geoffreys schändliches Verhalten erfahren, denn bei Nicolas Zustand konnte sie das umbringen. Und obwohl Comte Lucien noch nie ein Wort über Geoffreys Fehltritt verloren hatte, war Clare wegen seiner Besuche unbehaglich zumute. Geoffrey war einer von Comte Luciens Hofrittern gewesen, und Clare fürchtete, dass dem Comte eines Tages eine Bemerkung entschlüpfen könnte.

Nicola holte Clare aus ihren Gedanken. „Du brauchst gar nicht so zu schauen. Der Comte ist ein guter Mann, der sich im Gedenken an Geoffrey nun um dessen Mutter kümmert.“ Sie schob Clare die Münze zu. „Es ist kein Geld. Sieh es dir genauer an.“

Clare legte die Birnen in einer Holzschale ab und griff nach dem Metallstück. In der Tat war es größer als ein Pfennig und aus Blei, nicht aus Silber. „Eine Münze ja, aber kein Geld.“

„Genau.“

Die eine Seite der Münze zeigte die Burg von Troyes, die andere das Bild eines Ritters, der mit angelegter Lanze voranstürmte. Clares Magen zog sich zusammen, und energisch schnippte sie die Münze zurück auf den Tisch. „Ich hoffe, es ist nicht das, wofür ich es halte.“

Nicolas Gesichtszüge wirkten plötzlich wieder angespannt und der Glanz in ihren Augen büßte an Lebendigkeit ein. „Diese Münze gewährt bei der Dreikönigs-Tjost Zutritt zur Tribüne, und zwar zu den Sitzplätzen der Edeldamen. Clare, ich dachte …“, Nicola machte eine kurze Pause, „… ich habe gehofft, du würdest dorthin gehen. Vor allem, weil du bei den Edeldamen sitzen kannst. Dort kann dir nichts passieren.“

Clare konnte den Blick nicht von der Münze abwenden. Die Dreikönigs-Tjost. Seit dem Jahreswechsel kannte die Stadt kaum noch ein anderes Thema. „Ich kann nicht.“

„Es würde dir guttun. Du verlässt das Haus nur noch, um zum Markt zu gehen. Ich dachte –“

„Nicola, ich gehe nur zum Markt, damit wir nicht verhungern. Und nicht etwa, weil es mir Spaß macht.“

„Du hast Angst, nach draußen zu gehen. Selbst nach all der Zeit noch.“

Clare streckte das Kinn nach vorne. „Würde es dir nicht genauso gehen?“

Nicola schüttelte den Kopf und seufzte. „Ja. Nein. Ich weiß nicht.“ Sie sah Clare eindringlich an. „Aber du bist jung und kannst dich nicht auf immer verstecken. Ich dachte, du wärest hier glücklich.“

„Das bin ich, aber –“

„Hier ist dein zu Hause. In Troyes kann dir nichts passieren.“

Clare pochte mit dem Fingernagel auf die Münze. „Danke, dass du an mich gedacht hast. Aber ich werde nicht gehen. Du könntest eine hübsche Summe für die Eintrittsmünze bekommen. Die Menschen werden sie dir aus der Hand reißen.“

Nicolas Augen füllten sich mit Tränen. „Nell würde nur zu gerne zu der Dreikönigs-Tjost gehen. Du weißt, wie gerne sie den Rittern zuschaut, weil sie dabei an Geoffrey denkt.“

Clare kniff die Augen zusammen. Das war unfair, und Nicola wusste das. „Nell könnte mit jemand anderem gehen. Wo ist sie eigentlich?“

„Sie bringt Aimée Garn.“

„Könnte nicht Aimée sie zu der Tjost begleiten?“

Nicola sah sie bittend an. „Ich fände es viel schöner, wenn sie mit dir gehen würde. Clare, bitte. Ich habe Angst, dass Nell Geoffrey vergessen haben wird, bis sie erwachsen ist. Aber die Tjost wird ihre Erinnerung stärken.“

„Ihre Erinnerung stärken?“

„Du könntest ihr von ihm erzählen. Ihr erklären, was passiert ist. Sodass sie versteht, dass sie stolz auf ihren Bruder sein kann – einen ganz normalen Jungen, der sich seine Sporen verdient hat. Ich möchte, dass sie sich an ihn erinnert, als ihren Bruder, der seine Mutter in der Stunde der Not nicht vergessen hat.“

Die Bleimünze lag schimmernd wie ein unheilvolles Auge auf dem Tisch. Clares Zunge schien vor Mitleid und Kummer wie gelähmt. Sie musste daran denken, wie stolz Geoffrey auf die Sporen gewesen war. Männer, die in den Ritterstand aufgenommen wurden, erhielten Sporen als Erkennungszeichen. Was für eine verfahrene Situation. Nicola war nicht viel mehr als der Stolz auf ihren Sohn geblieben. Niemals würde sie ihr den nehmen. Sie spürte, wie sie innerlich nachzugeben begann.

Geoffrey hatte in seinem Leben viele Fehler gemacht, aber für Clare war er ein barmherziger Samariter. Er hatte ihr – einer vollkommen Fremden – ein Dach über dem Kopf gegeben und ihr die Pflege seiner Mutter anvertraut. Und auch wenn Geoffrey Fehler gehabt haben mochte, seine Mutter hatte er von Herzen geliebt. Hätte er nicht von Clare erwartet, die Wünsche seiner Mutter zu erfüllen?

Nell zur Dreikönigs-Tjost zu begleiten war auf den ersten Blick ein völlig unbedeutender Gefallen. Auf den ersten Blick …

„Nicola, bist du dir sicher, dass die Tjost etwas für Nell ist? Was, wenn Blut fließt?“ Clare unterdrückte einen Schauder. Natürlich war die Dreikönigs-Tjost mehr Spektakel als tatsächlicher Kampf. Ein Schauspiel für die Edeldamen der Champagne. Aber es war immer noch eine Tjost. Die Ritter würden kämpfen, und Clare ertrug den Anblick von Blut nicht. Schon bei dem Gedanken daran stiegen in ihr dunkle Erinnerungen auf. Sie schluckte schwer, dann erst konnte sie weitersprechen. „Was, wenn Nell sich erinnert, dass ihr Bruder im Laufe eines Turniers umgekommen ist?“

„Aber Geoffrey starb nicht direkt auf dem Turnierplatz. Comte Lucien hat erklärt, dass Geoffrey einen Angriff auf Comtesse Isobel verhindert hat und dabei getötet wurde. Nell versteht diesen Unterschied. Bitte, Clare, geh mit ihr. Sie würde sich so darüber freuen.“

„Die Dreikönigs-Tjost“, murmelte Clare und schüttelte den Kopf. „Heilige Jungfrau, gib mir Kraft.“ Nicola bat sie um nichts Geringes. Es ging nicht nur darum, dass sie nicht gerne das Haus verließ. Sie wusste nicht, ob sie sich selbst trauen konnte, falls die Gewalt aus dem Ruder lief. Ein Bild der blutgetränkten Tunika eines Ritters überkam sie. Sie könnte in Ohnmacht fallen. Oder sich übergeben müssen. Auf jeden Fall würde sie die Aufmerksamkeit der Leute auf sich ziehen, und das durfte sie nicht.

„Bitte, Clare. Bitte.“

Clare griff nach der Münze und ließ sie mit wild pochendem Herzen in ihrer Tasche verschwinden. „Also gut, dir zuliebe werde ich mit Nell zu der Tjost gehen.“

Nicola strahlte. „Danke, meine Liebe. Ich bin mir sicher, dass du dich amüsieren wirst. Könntest du mir meine Spindel und die Wolle reichen? Ich hasse es, untätig herumzusitzen.“

Schon bald darauf erfüllte das leise Rasseln und Sirren einer Handspindel den Raum. Doch Nicolas Finger waren nicht mehr allzu beweglich, und sie war schnell erschöpft. Das fertige Garn würde viele Unebenheiten und Fehlstellen haben, aber Nicola fand Trost in der Arbeit. Und das Garn war keineswegs vollkommen nutzlos. Nicolas Nachbarin Aimée webte einen verblüffend nützlichen Stoff daraus. Natürlich war das nichts im Vergleich zum Alexandriner Brokat, aber die Unregelmäßigkeit von Nicolas Garn verlieh dem Stoff eine außergewöhnliche Struktur. Wenn die Edeldamen auf der Tribüne den Stoff zu sehen bekamen, würden sie vermutlich die Nase rümpfen, aber Clare trug ihn sehr gerne.

Clare beobachtete Nicola, wie sie mit ihren alt gewordenen Fingern das Garn drehte, und ihr kam ein merkwürdiger Gedanke: Wenn alles Unvollkommene von der Erde getilgt würde, wäre sie ein sehr viel ärmerer Ort.

Ritter Arthur Ferrer, Hauptmann der Wachritter von Comte Henry, stand in seinem grünen Zelt und ließ sich von seinem Knappen den Gambeson binden, das abgesteppte Gewand, das er unter der Rüstung trug. Er seufzte. So viele Jahre hatte er auf ein eigenes Zelt gewartet, und nun, da er es endlich bekommen hatte, vermisste er die Gesellschaft der anderen Ritter, die gegenseitigen Scherze und Rivalitäten.

„Verflucht“, stieß er hervor und strich sich durch das dunkle Haar.

Sein Knappe sah auf. „Zu eng, mein Herr?“

Arthur ließ die Schultern kreisen und lächelte. „Nein, genau richtig. Danke, Ivo.“

Nach der Wintermesse, eine internationale Handelsmesse, auf der sich Kaufleute aus allen Handelszentren des Abendlandes einfanden, hatte sich die Stadt geleert, und es trieben sich weniger Störenfriede herum. Dennoch spürte er ein zunehmendes Unwohlsein, das er sich nicht erklären konnte. Es war nicht so, dass er wenig zu tun hatte. Und er wäre der Letzte, der behauptete, dass die Straßen von Troyes völlig sicher und frei von zwielichtigen Gestalten waren.

Die Zeltklappe wurde zurückgeschlagen, und in der Öffnung erschien ein Blondschopf.

„Gawain!“ Arthurs Stimmung hellte sich auf, und er winkte den Ritter herein. „Sei gegrüßt!“

Gawain bückte sich, um durch die Öffnung zu kommen. Er trat zum Waffengestell und begutachtete die Waffen. „Als ich das Einhorn auf dem Wimpel sah, wusste ich, dass ich dich hier finden würde.“ Wie beiläufig nahm er Arthurs Damaszenerschwert und wog es in der Hand. „Stammt das noch von deinem Vater?“

Arthur erstarrte. Doch Gawain war ein Freund und würde ihn nicht mit seiner Herkunft aufziehen wollen. „Ja.“

„Ein wunderschönes Schwert, und es liegt wundervoll in der Hand. Hast du vor, es zu benutzen?“

„Nicht heute. Das hebe ich mir für den echten Kampf auf. Bist du beim Turnier dabei, Gawain? Ich habe dein Zelt gar nicht gesehen.“

„Ich habe mich bei Lucien einquartiert, aber das hätte ich lieber bleiben lassen sollen. Die Leute drängen sich da nur so.“

„Wenn du keinen gesteigerten Wert auf hochfeine Gesellschaft legst, kannst du auch zu mir kommen.“

„Gerne! Ich muss nur meinen Knappen finden.“

Gawain verließ das Zelt und kehrte mit seinem Knappen im Schlepptau zurück, noch bevor Arthur sein Schwert angelegt hatte.

„Ich konnte noch nicht mit Lucien reden“, sagte Arthur, während Ivo auf dem Waffengestell Platz für Gawain machte. „Wie steht es auf Ravenshold? Ist alles in Ordnung?“

Gawain war der Verwalter von Ravenshold, der nah gelegenen Burg von Comte Lucien d’Aveyron. Eine Position, die bis vor Kurzem noch Arthur innegehabt hatte, bevor er zu den Wachrittern gewechselt war.

„Wir kommen zurecht.“ Gawain klang unbekümmert, doch seine heruntergezogenen Mundwinkel entlarvten ihn als Lügner.

Arthur musterte ihn nachdenklich. Sein Nachfolger schien seit Tagen nicht geschlafen zu haben. „Ich habe gehört, dass die edle Isobel die Turnierkönigin ist.“

„Ja, sie wird die Preise verleihen“, erwiderte Gawain und blickte verdrossen zum Kampfplatz. „Vielleicht habe ich dich das schon gefragt, aber du hast nicht zufällig Comtesse Isobels Magd gesehen? Elise?“

„Elise? Ich glaube nicht, dass ich sie kenne.“

Gawain fluchte leise. „Eine Dunkelhaarige. Ein schüchternes Mädchen.“

„Es sieht dir nicht ähnlich, dass dir ein Mädchen verloren geht.“ Arthur hatte noch weitere Bemerkungen auf den Lippen, doch Gawains Miene hielt ihn zurück.

Arthur hatte Gawain noch nie mit solch finsterem Ausdruck gesehen. Er war doch nicht etwa verrückt nach einer Magd? „Was du jetzt brauchst, ist ein Besuch im Schwarzen Eber. Sie haben dort ein neues Mädel. Gabrielle –“

Gawain lachte. Allerdings klang es in Arthurs Ohren ein wenig gezwungen. „Du kennst ihren Namen? Dann muss sie gut sein.“

„Ich kann dir sagen, Gawain, sie ist wunderbar. Kommt immer mit etwas Neuem. Das Essen dagegen ist so furchtbar wie immer, aber gerade wurde ein Fass Wein aus Comte Henrys Weinbergen geliefert. Ich habe noch nie etwas Besseres getrunken.“

Gawain nickte. „Also heute Abend im Schwarzen Eber? Sehr schön.“

„Die übliche Abmachung?“

„Genau. Derjenige von uns beiden, der am Ende der Tjost weniger Punkte hat, zahlt.“

Arthur grinste. „Ich kann es gar nicht erwarten, deine Börse zu erleichtern.“

Clare nahm Nell bei der Hand, als man die beiden auf die Tribüne ließ. Auf der anderen Seite des Kampfplatzes erhoben sich die vom Frost glitzernden Mauern der Burg von Troyes wie eine Felswand. Der Himmel war klar, die Luft frisch. Ein Taubenschwarm flatterte um die Flaggen in Comte Henrys Farben – Blau, Weiß und Gold –, die über den Zinnen der Burg wehten, wo Wachen Posten bezogen hatten. Einige Männer quetschten sich in die Aussparungen zwischen den Zinnen und spähten von dort auf den Turnierplatz.

„Damit habt Ihr Anrecht auf einen Platz in der ersten Reihe, ma Demoiselle“, sagte der Junge, der Clares Münze entgegennahm. Er trug eine blaue Tunika mit einem weißen Diagonalstreifen. Goldene Stickereien zierten die Aufschläge seiner Ärmel. Auch hier also die Farben von Comte Henry. Auf der Tribüne waren weitere Jungen in derselben Tracht.

Clare schob sich durch die Reihen und nahm Platz auf einer Bank. Neben ihr hüpfte Nell auf und ab. Clare fürchtete, dass Nell das Gewand ihrer Nachbarin in Unordnung bringen könnte, daher wandte sie sich der Frau zu und murmelte eine Entschuldigung.

Zu ihrer Überraschung lächelte die Frau Nell warmherzig an. „Ihre erste Tjost?“

„Ja.“ Clare unterhielt sich nicht gerne mit Fremden. Allzu oft musste sie sich dann Bemerkungen wegen ihrer ungewöhnlichen Augen anhören, manchmal auch Fragen, auf die sie keine Antwort hatte. Deshalb lächelte sie und richtete ihren Blick auf den Turnierplatz.

Die Zelte der Ritter standen an beiden Enden der Kampfbahn eng aneinandergedrängt. Die in den Boden gerammten Lanzen glichen einem Stangenwald. An den Spitzen flatterten die Pennons, die ritterlichen Wimpel, im Wind: Blau, Grün, Rot, Lila … Die Ritter zu ihrer Rechten bildeten die Heimmannschaft aus Troyes, während die Equipe links von ihr aus Comte Henrys Gästen bestand, ergänzt um ein paar Freiwillige aus den Reihen seiner Gefolgsleute. Ein aufdringlicher süßlicher Duft lag in der Luft und vermischte sich mit dem Geruch von Schweiß, Rauch und gebratenem Fleisch.

Nell stieß Clare in die Rippen. „Das blaue Zelt, gehört das dem Comte d’Aveyron?“

Clare nickte und machte Nell auf den Pennon aufmerksam, der über dem blauen Zelt im Wind flatterte. „Siehst du den schwarzen Raben auf Comte Luciens Pennon? Jeder Ritter hat seine eigenen Farben und Symbole. Damit sie sich auch bei geschlossenem Visier erkennen.“

„Sieh nur, auf dem Pennon am Zelt daneben ist ein Wolf. Und da ist ein grüner Pennon mit Einhorn. Von wem ist der? Ich liebe Einhörner.“ Nell stieß mit dem Zeigefinger hierhin und dorthin.

„Den Namen des Ritters kenne ich nicht, aber ich habe seine Farben schon in der Stadt gesehen. Vielleicht ist er einer von Comte Henrys Wachrittern.“

„Geoffreys Pennon war blau, und weiße Zacken waren darauf“, erklärte Nell wehmütig. „Er hat gesagt, dass das Weiß eigentlich Silber ist.“

Clare umarmte sie kurz. „Heute bei der Tjost kämpfen seine Freunde.“

Nell verfiel in Schweigen, doch schon kurz darauf lächelte sie wieder und ließ ihren Blick aufgeregt umherschweifen. Nichts sollte ihr entgehen. Die beiden Mannschaften versammelten sich an den Enden der Kampfbahn.

„Da kommen die Pferde! Sieh nur, Clare, sie sind auch geschmückt.“

„Und zwar passend zu ihren Reitern.“

Nell war vollkommen hingerissen und so glücklich, dass es Clare bei ihrem Anblick die Brust zusammenzog.

„Mein Bruder war ein Ritter.“ Nell hüpfte erneut auf und ab, sich am Geländer festhaltend. Sie platzte schier vor Stolz und Freude.

Wie großartig Kinder doch waren, dachte Clare. Oft konnten sie viel besser mit dem Tod umgehen als Erwachsene. Zumindest äußerlich. Mit Gottes Hilfe würde Geoffreys Tod seine kleine Schwester nicht allzu sehr belasten. Zum Glück sind wir hergekommen. Es ist gut, dass sie das hier sieht. Nicola hatte recht, dass sie darauf bestanden hat.

Arthur nahm die Zügel seines Pferdes und tätschelte Silberstreifs weißen Hals. Nichts munterte ihn mehr auf als eine Tjost. Das triste Gefühl verflüchtigte sich im Handumdrehen, wie immer, wenn er sich in den Sattel schwang. Blut würde an diesem Tag nicht fließen, zumindest so gut wie keines. Ganz zu schweigen davon, dass Schlimmeres geschah. Comte Henry hatte angeordnet, dass die Dreikönigs-Tjost ganz dem Vergnügen der Damen dienen sollte. Aber selbst ein harmloses Turnier wie dieses war noch besser als nichts, schließlich war es eine Gelegenheit zum Training.

Ein leises Klingeln erregte Arthurs Aufmerksamkeit. Sein Blick wanderte zu einem von Comte Henrys Hausrittern, Ritter Gérard, der die Reihen der Gegner auffüllte. Glöckchen? War das wirklich möglich? In der Tat, Gérard hatte kleine Glöckchen an der Mähne seines Pferdes angebracht. Arthur unterdrückte ein Lachen. Aber die Damenwelt der Champagne war ganz vernarrt in Gérard.

Auf ein Zeichen des Hofmarschalls versammelten die Fanfaren die Ritter zur Parade. Vor der Haupttribüne, auf der Comtesse Marie de Champagne und Comtesse Isobel d’Aveyron saßen, ließ Gérard sein Pferd tänzeln und einen Bogensprung vollführen.

Die anwesenden Damen tuschelten und seufzten bei seinem Anblick. Arthur und Gawain sahen sich augenrollend an. Gérard hatte die Koketterie mit den Edeldamen zu einer Kunst erhoben und würde sich niemals eine Gelegenheit entgehen lassen, sich vor ihnen aufzuspielen.

Comtesse Isobel trug die prunkvolle Krone der Turnierkönigin. Eine Krone, die wie die gesamte Dreikönigs-Tjost nicht echt war, sondern nur Schau. Bei jeder Bewegung der Comtesse glitzerten und blinkten die farbigen Glassteine, die falschen Perlen schimmerten. Doch trotz des falschen Schmucks war Comtesse Isobel wunderschön. Rein wie ein Engel. Der Comte d’Aveyron konnte wahrlich stolz sein auf seine neue Frau.

Ein Trommelwirbel ließ die Menge in erwartungsvollen Jubel ausbrechen, was Arthur in Erinnerung rief, dass das Turnier nicht zuletzt das einfache Volk unterhalten sollte. Er warf den Menschen einen Blick zu, die sich gegenüber der Tribüne hinter Seilen drängten.

„Comte Henry hätte Kaufmann werden sollen“, murmelte er.

Gawain runzelte die Stirn. „Wieso das?“

„Kaum ist die Stadt nach der Wintermesse wieder leer, organisiert er eine Tjost. Er weiß, dass dadurch Besucher und Handel wieder nach Troyes zurückgelockt werden. Sehr gewieft.“

Die Glöckchen in der Mähne von Gérards Pferd klingelten. Die Damen giggelten. Arthur nahm aus den Augenwinkeln einen blauen Schal auf den Tribünen wahr.

„Ritter Gérard, bitte, nehmt meine Huld entgegen.“

„Nein, Ritter, bitte, nehmt meine.“

„Nein, nein. Meinen.“

Auf der Tribüne giggelten die Damen erneut. Die klingelnden Glöckchen blitzten in der Sonne auf. Arthur schüttelte den Kopf über Gérard, aber dann sagte er sich, dass die Damen schließlich unterhalten werden wollten.

In dem Moment, als der Fanfarenstoß zur Parade schmetterte, lief ein Mann auf die Vorderseite der Tribüne mit den Damen zu. Arthur lenkte Silberstreif in die Aufstellung der Pferde und musterte dabei den Fremden. Seine Kleidung war edel, er trug einen pelzbesetzten Umhang und eine Tunika, die sich über seinen imposanten Bauch spannte. Vermutlich ein Händler. Da er seine Kapuze abgestreift hatte, sah man an seinem Hinterkopf eine schimmernde kahle Stelle. Wer auch immer der Mann sein mochte, er hatte nichts auf dem Kampfplatz zu suchen. Ein Diener war auf ihn aufmerksam geworden und rief ihm zu:

„Herr! Herr! Runter vom Turnierplatz!“

Der Händler beachtete ihn nicht, sondern steuerte geradewegs auf eine junge Frau in einfacher Kleidung in der ersten Reihe zu. Irgendwie kam sie Arthur bekannt vor. Da sie nur ein paar Plätze von Comtesse Isobel entfernt saß, musste sie eine Verbindung mit Comte Lucien haben, dennoch konnte Arthur die Frau nicht einordnen.

Die Fanfaren erschallten. Arthur presste seinem Hengst die Beine in die Flanken und defilierte entlang der Tribüne. Der Herold rief den Namen und den Rang der Ritter aus. Gawain gesellte sich zu Arthur.

Arthur sah zurück zur Tribüne. Zwei Diener hatten sich neben dem Händler aufgebaut und wollten ihn vom Kampfplatz zerren. Doch der Händler schüttelte sie ab, nahm die Hand der jungen Frau und sprach auf sie ein. Arthur beobachtete das Geschehen genau. Die Frau riss ihre Hand los und legte den Arm um das Mädchen neben sich, als würde sie die Kleine schützen wollen. Sie wollte nichts von dem hören, was der Mann sagte.

„Ritter Arthur Ferrer!“ Der Aufruf des Herolds brachte Arthurs Aufmerksamkeit wieder zum Wesentlichen zurück.

Er hob die Hand zum Gruß, und die Menschen jubelten ihm zu. Gérard mochte der Liebling der Frauen sein, aber Arthur war überzeugt, größere Unterstützung bei den Massen zu genießen. Als er von seinem Defilee über die Kampfbahnen zur Tribüne zurückkehrte, war von dem Händler nichts mehr zu sehen. Die Burschen mussten ihn überwältigt haben.

Aufgewühlt zog Clare Nell an sich und hielt den Blick blind nach vorne gerichtet, wo die Kämpfer paradierten. Der Ritter mit dem Einhorn auf dem Pennon näherte sich der Tribüne, um die Turnierkönigin zu begrüßen. Nell beobachtete ihn mit leuchtenden Augen. Wie Clare zufrieden feststellte, war der Mann zweifellos Nells Favorit und dürfte sie von dem Wortwechsel mit dem Händler abgelenkt haben. Ein Ritter auf einem mit grünem Seidentuch geschmückten Schimmel war für die Kleine weitaus interessanter als Clares Gespräch mit einem Fremden. Gott sei Dank.

Paolo da Lucca – so hieß der Händler – war wieder in den Zuschauerreihen auf der anderen Seite der Kampfbahn verschwunden. Es war freundlich von ihm gewesen, sie zu warnen, auch wenn sie gehofft hatte, ihn nie mehr zu sehen. Ein Satz von ihm hatte gereicht, um ihr das Blut in den Adern gefrieren zu lassen.

„In Troyes wurden Sklavenhändler gesehen.“

Sklavenhändler. Werde ich jemals frei sein?

Es schien nicht so. Clare hatte Paolo das letzte Mal gesehen, als er sie auf einem seiner Fuhrwerke mit apulischen Waren mitgenommen hatte. Sein Weg hatte ihn damals nach Paris geführt, und vor den Toren von Troyes hatten sie sich voneinander verabschiedet. Zu ihrem Glück war sie dann dem jungen Ritter Geoffrey von Troyes begegnet. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, welches Schicksal ihr sonst geblüht hätte, ohne Geld und ohne Freunde. Nicolas Wohnung war zu ihrem Zuhause geworden, ihrem ersten richtigen Zuhause. Aber wenn tatsächlich Sklavenhändler in Troyes waren, würde sie wieder aufbrechen müssen.

Ich will nicht weg!

Es war eine unerträgliche Vorstellung, Nicola und Nell verlassen zu müssen.

Nell schwenkte einen Stoffstreifen, um den Ritter im grünen Waffenkleid auf sich aufmerksam zu machen. Und obwohl Streifen in allen Farben des Regenbogens geschwenkt wurden, fiel ausgerechnet Nell dem Ritter auf.

Clare spürte seinen Blick über sich gleiten. Sein Schlachtross hatte sich in ihre Richtung gewandt.

„Er hat mich gesehen!“ Nell war vor Aufregung außer sich. „Er kommt zu uns.“

Sie hüpfte auf und ab und winkte mit Aimées Stoff wie eine Edeldame, die ihrem auserwählten Ritter ihre Gunst erweist. „Edler Ritter! Nehmt meine Huld entgegen.“

Clare seufzte. Ein Ritter wie dieser würde doch gewiss kein kleines Mädchen beachten? Er würde die seidene Huld einer der Adelsdamen, die hinter ihnen saßen, in Empfang nehmen, während sie den Rest des Tages Nells Tränen trocknen musste.

Zu ihrer Verwunderung steuerte das weiße Pferd jedoch geradewegs auf sie zu, oder vielmehr der Graue, denn Clare glaubte sich zu erinnern, dass die Ritter ihre weißen Pferde als Graue bezeichneten. Die Rüstung des Ritters knarzte und sein grüner Pennon flatterte im Wind, während das Einhorn auf seinem Schild leuchtete.

„Edler Ritter?“, sagte Nell schüchtern und ohne den Blick von den geblähten Nüstern des Streitrosses abzuwenden. Sie streckte ihm den Stoffstreifen entgegen. Ein einfacher, ganz gewöhnlicher Stoff, der an den Rändern ausfranste.

Das Visier des Ritters war geöffnet, und er neigte den Kopf vor Clare. So nahe war er, dass sie seine Augen ausmachen konnte. Dunkel wie Schlehen. Er lächelte Nell zu und nahm den Stoff mit einer raschen Bewegung entgegen.

„Edle Dame“, sagte der Ritter, beugte sich hinab und hielt ihr den Arm hin. „Würdet Ihr mir behilflich sein?“

Ich bin keine Edeldame. Dennoch nickte Clare und band ihm den Stoff um den gepanzerten Arm.

„Habt Dank“, sagte der Ritter und betrachtete sie eingehend. Vor allem ihre Augen. Wie es jeder tat.

Seine Sporen blitzten auf, als der Mann sein Pferd zurück auf den Kampfplatz trieb. Hinter Clare erklärte eine Frau seufzend: „Von mir hat Ritter Arthur noch nie die Huld entgegengenommen. Und jetzt von einem Kind.“

Nell zerrte aufgeregt an Clares Kleid: „Er trägt meine Huld. Er trägt meine Huld.“ Ihr Blick folgte dem Ritter. „Ist er ein Freund von Geoffrey?“

„Vermutlich. Ich glaube, er ist ein Wachritter, ein bedeutender Mann.“ Geoffrey hatte einmal einen Ritter namens Arthur erwähnt und erzählt, dass dieser früher Ravenshold verwaltet hatte. Das musste der Mann sein. Gut möglich, dass Comte Lucien ihm den Auftrag gegeben hatte, nach ihnen Ausschau zu halten.

„Wer er wohl ist?“, sagte Nell.

„Du musst dem Herold lauschen, dann erfährst du die Namen der Ritter. Der Herold hat ihn als Ritter Arthur Ferrer ausgerufen.“

Unter dem Klang der Fanfaren zogen die Ritter einer nach dem anderen vorbei. Huldbezeugungen wechselten den Besitzer. Comte Lucien steuerte sein Pferd vor die Tribüne, um seine Gemahlin zu grüßen, die Turnierkönigin.

„Nell, siehst du? Geoffreys Lehnsherr.“

„Er wird von Comtesse Isobel die Huld entgegennehmen“, erklärte Nell überzeugt.

Clare pflichtete ihr bei, während sie den Blick über die Ritter hinweg zu den Menschen gegenüber, hinter dem Seil, wandern ließ. War Paolo da Lucca unter ihnen? Einige Gesichter waren ihr bekannt, aber den Händler sah sie nirgends. Sie hätte ihn wegen der Sklavenhändler ausfragen sollen, aber sie hatte einfach keinen klaren Gedanken fassen können. Und nun war es zu spät. Niemals würde sie ihn ausfindig machen, denn sie hatte keine Ahnung, wo er untergebracht sein könnte.

Sie bekam kaum mit, wie Comte Lucien vorbeiritt und Nell knapp grüßte. Das Mädchen quietschte und kicherte, und ihre Wangen glühten vor Aufregung. Clare erwiderte das Lächeln des Comte. Wie reizend er doch war, dass er Geoffreys Schwester einen Platz auf der Tribüne der Damen reserviert hatte.

Die Ritter nahmen links und rechts von der Tribüne Aufstellung und bereiteten sich auf die ersten Proben ihrer Reitkunst vor. Clare ließ ihren Blick über die Besucher aus der Stadt schweifen, die gegenüberstanden.

Wenn sie doch nur Paolo entdecken würde.

Sie seufzte. Troyes war ihr zu einem Zuhause geworden. Sie hatte genug davon, sich ständig umzuschauen, aus Sorge, dass ihr jemand die Hand auf die Schultern legen könnte und ihre Tage in Freiheit vorbei wären.

Als Sklavin war sie angekommen, und wie es schien, war sie es immer noch. Würde sie jemals frei sein? Manchmal zweifelte Clare daran, so auch in diesem Moment. Sie mochte versuchen vollkommen unauffällig zu leben, nur würde ihr das nie gelingen. Immer würden die Menschen auf ihre Augen aufmerksam werden.

Sie konnte schließlich nicht verbergen, dass ihre Augen von unterschiedlicher Farbe waren. Das eine war grau, das andere grün.

2. KAPITEL

Arthur ließ Silberstreif anhalten und betrachtete den Kampfplatz. Im Augenblick stand es unentschieden. Seine Mannschaft einheimischer Ritter unter Comte Lucien hatte ebenso viele Punkte errungen wie die Besucher mit Gérard. Es standen nur noch die entscheidenden Tjost-Duelle an. Die Lanzen waren stumpf, denn aus Rücksicht auf die Damen sollte kein Blut fließen. Comte Henry hatte erklärt, Comtesse Marie sei zu empfindlich dafür, was Gerüchte zur Folge hatte, sie würde ein Kind erwarten.

Arthur erwartete gespannt, gegen wen er in der nächsten Runde gelost worden war. Grinsend verfolgte er, wie Gérard auf den Kampfplatz ritt, sein Knappe die Lanze aus dem Gestell holte und sie ihm reichte. Arthur freute sich schon jetzt auf Gérards Reaktion, wenn er ihn vom Pferd hob und der Schönling mit seiner eleganten Rüstung im Dreck landete. Wer zuerst zweimal gewann, hatte die Runde gewonnen.

Arthur wartete auf das Zeichen des Marshalls, und er hätte schwören können, dass am anderen Ende der Kampfbahn die Glöckchen klingelten. Aus dem Augenwinkel sah er auf der Damentribüne das aufgeregte kleine Mädchen auf und ab hüpfen, deren Huld er trug. Er warf ihr einen Kuss zu. Für dich, meine Kleine. Dem Mädchen schoss die Röte ins Gesicht, und sie klammerte sich am Handlauf fest, als würde ihr Leben davon abhängen. Was für ein Schatz, sie wollte unbedingt, dass er gewann.

Einen winzigen Moment lang sah er wieder die bezaubernden, verschiedenfarbigen Augen ihrer Begleiterin vor sich. Eines grau, eines grün. So etwas hatte er noch nie gesehen. Außer… In den Tiefen seines Gedächtnisses tauchte eine undeutliche Erinnerung auf.

Genau, einmal habe ich solche Augen schon gesehen. Und zwar bei –

Das Bild in seiner Erinnerung wollte nicht deutlicher werden. Und doch war er sicher, dass er sich nicht täuschte. Noch während er sich zu erinnern suchte, ertönte das Signal des Hofmarschalls.

Arthur packte die Lanze und konzentrierte sich nur noch auf die Tjost. Die Fanfaren erschallten, und Silberstreif galoppierte los. Arthur wollte gleich den ersten Versuch für sich entscheiden und Gérard aus dem Sattel heben. Die eisenbeschlagenen Hufe trommelten über den Boden. Arthur war sich bewusst, dass die Damen auf den Rängen seinem Gegner zujubelten, doch er hielt seinen Blick fest auf sein Ziel gerichtet. Noch zehn Schritt, fünf …

Seine Lanze prallte auf Gérards Schild und zerbrach in tausend Splitter. Gérard hatte Arthur mit seiner Lanze verfehlt und suchte sein Gleichgewicht wiederzufinden. Die Rufe der Damen lenkten ihn ab.

„Der Punkt dürfte an mich gehen“, murmelte Arthur.

Er bremste am Ende der Bahn abrupt ab und ließ Silberstreif herumwirbeln. Sein Knappe reichte ihm eine neue Lanze, und schon einen Herzschlag später galoppierte er wieder auf Gérard zu. Erde und Grasklumpen spritzten in alle Richtungen davon. Der erste Stoß hatte bei Gérard Wirkung hinterlassen. Sein Schild vibrierte noch, und die silbernen Glöckchen schaukelten hin und her.

Arthur kannte kein Pardon und traf abermals Gérards Schild. Das Ganze war beinahe zu leicht. Gérard flog aus dem Sattel und landete krachend auf dem Boden. Sein Pferd stob davon, begleitet vom Klingeln der Glöckchen.

Die eine Hälfte der Zuschauer stöhnte auf, die andere jubelte. Gérard mochte ein Liebling der Hofdamen sein, aber die einfachen Leute waren ihm nicht wohlgesonnen und jubelten stattdessen Arthur zu. Da für einen Sieg zwei erfolgreiche Versuche nötig waren, war Gérards Niederlage besiegelt. Er setzte sich ächzend auf, zerrte den Helm vom Kopf und warf ihn beiseite.

Arthur schob sein Visier nach oben und hob zum Dank die Hand. Hinter den Seilen stampften die Bewohner von Troyes mit den Füßen auf, pfiffen und jauchzten. Aber auch auf der Tribüne der Damen musste Arthur nicht ganz auf Unterstützer verzichten. Das kleine Mädchen jubelte laut vor Entzücken und hüpfte wild, lächelnd von der Frau mit den verschiedenfarbigen Augen beobachtet. Die Dame warf ihm einen kurzen Blick zu und hob ihre Hände zum Applaus. Auf die Entfernung waren ihre eigenartigen Augen nicht zu sehen, aber eine Windbrise hob den Rand ihres Schleiers und entblößte ihr Haar. In der Wintersonne glänzte es wie Kupfer.

Wer ist das bloß? Ich weiß, dass ich ihr noch nie begegnet bin, und trotzdem kommen mir ihre Augen bekannt vor.

Die Turnierkönigin erhob sich, um die Preise zu verleihen. Doch Arthurs einziger Gedanke galt der Frage, wo er die junge Frau schon einmal gesehen hatte. Genau, bei Geoffreys Beerdigung. Endlich war es ihm wieder eingefallen.

Geoffrey war einer von Comte Luciens Hausrittern gewesen, daher hatte Arthur ihn sehr gut gekannt. Doch viel zu jung hatte der Ritter sein Leben lassen müssen, angeblich, als er Comtesse Isobel bei einem Turnier auf dem Champ des Oiseaux hatte schützen wollen. Und bei seiner Beerdigung hatte Arthur die junge Frau gesehen. Als Letzte hatte sie mit gesenktem Kopf am Grab ausgeharrt, noch nachdem Geoffrey der Erde übergeben worden war, eine schlanke Frau mit kupferrotem Haar, ihre Kleidung aus einfacher, selbst gewebter Wolle. Während der Begräbnisriten hatte er den Eindruck gehabt, sie wäre am liebsten weggelaufen.

Doch bei der Bestattung hatte Arthur sie nicht aus der Nähe gesehen und daher nicht ihre verschiedenfarbigen Augen bemerkt. Dass sie ihm nun so bekannt vorgekommen war, musste an ihrem Haar liegen. Es musste dieselbe Frau sein. Von Comte Lucien hatte Arthur erfahren, dass sie nicht mit Geoffrey verwandt war. Ob sie und Geoffrey ein Paar gewesen waren?

Arthur kam wieder der eigentümliche Vorfall in den Sinn, der sich vor Turnierbeginn zugetragen hatte. Der Händler hatte ihr irgendetwas gesagt, was sie zutiefst aufgewühlt hatte. Nur was? Hatte der Mann ihr gedroht? Und wenn ja, wieso? Arthur hätte den Sold eines Tages dafür gegeben, um zu erfahren, was zwischen ihnen vorgefallen war. Hing es in irgendeiner Weise mit Geoffreys Tod zusammen?

Comte Lucien hatte Zweifel an Geoffreys Ehrlichkeit gehabt und vor Weihnachten den Verdacht geäußert, dass Geoffrey am Diebstahl einer Reliquie aus der Abtei beteiligt gewesen war. Arthur hatte dem damals keine Aufmerksamkeit geschenkt. Hätte er es nur getan. Eine Bande von Gesetzlosen machte die Gegend unsicher, und die junge Frau könnte eine Verbindung zu den Männern haben. Falls dem so war, würde Arthur als Hauptmann von Comte Henrys Wachrittern dem nachgehen müssen. Der Comte duldete keine Gesetzlosen in der Champagne und hatte aus genau diesem Grund die Wachritter ins Leben gerufen. Arthurs oberste Pflicht war es, dafür zu sorgen, dass die ehrlichen Leute auf Wegen und Straßen nicht behelligt wurden.

Da die Wintermesse vorbei war und nach dem Turnier wieder alles seinen gewohnten Gang gehen würde, war die Gelegenheit günstig, das Übel ein für alle Mal auszurotten. Falls die junge Frau etwas mit den Leuten zu tun hatte, musste Arthur es wissen. Er beschloss, sie sobald wie möglich aufzusuchen, um herauszufinden, ob es irgendeine Verbindung von ihr zu den Banditen gab. Nichts anderes würde Comte Henry vom Hauptmann seiner Wachritter erwarten.

Eine Fanfare übertönte die schwatzende Menge und riss Arthur aus seinen Gedanken. Der Kampfplatz war voller blauer Fahnen, und Comtesse Isobel machte sich bereit, ihren Gemahl, Comte Lucien, als besten Kämpfer und seine einheimische Mannschaft als Sieger auszuzeichnen.

Comte Lucien ritt auf seine Comtesse mit der funkelnden Krone zu. Arthur stimmte in den Jubel der anderen ein. Es fühlte sich immer gut an, auf der siegreichen Seite zu sein. Später im Schwarzen Eber würde er den Erfolg noch ausgiebig mit Gawain begießen.

Spät am folgenden Vormittag dämmerte Nicola auf ihrer Liege beim Feuer. Clare hatte Nell gebeten, Aimée einen weiteren Stoß Wolle zu liefern, und das Kind war schon eine ganze Weile fort. Aimée hatte zwei Mädchen, daher blieb Nell gerne ein bisschen länger bei ihnen. Nicht sonderlich besorgt spähte Clare durch die Fensterläden, ob die Kinder auf der Straße spielten. Eigentlich war Nell immer rechtzeitig zum Mittagsmahl zurück.

Eine Bewegung links erregte ihre Aufmerksamkeit. Ein grüner Umhang kündigte Besuch an. Clares Finger bohrten sich in ihre Handflächen, und als es laut an der Tür klopfte, fuhr sie zusammen. Mit wild pochendem Herzen legte sie eine Hand an das Holz und spähte durch ein Astloch.

„Wer da?“

Eine cremefarbene Tunika spannte sich über einer breiten Brust, darüber hielt eine silberne Kleiderspange einen grünen Umhang. „Seid gegrüßt, Madame. Ritter Arthur Ferrer zu Eurer Verfügung.“

Nells Held. Clare warf einen Blick zur Liege. Nicola atmete ruhig und gleichmäßig. Ein Segen, da sie nur selten gut schlief. Daher wollte Clare sie auf keinen Fall stören.

Sie hatte sich am Vorabend noch nach Ritter Arthur erkundigt und erfahren, dass er tatsächlich in Diensten von Comte Lucien gestanden hatte, bevor er Hauptmann der Wachritter geworden war. Arthur hatte Geoffrey gekannt, also sollte ihr keine Gefahr von ihm drohen. Sie konnte draußen mit ihm sprechen. Zudem würde er kaum wissen, wieso sie nach Troyes gekommen war. Sie nahm ihren Umhang vom Haken und öffnete den Türriegel. Sie trug keinen Schleier, aber schließlich würde sie nicht lange wegbleiben.

„Seid gegrüßt, Ritter Arthur.“ Sie verneigte sich rasch vor ihm. Arthurs Haare waren braun, kräftig und glänzend. Er hatte sein Schwert umgegürtet, allerdings war er ohne seinen Knappen und sein weißes Streitross gekommen. Ganz spontan hatte er sich aus dem Lager auf den kurzen Weg gemacht.

„Entschuldigt, Herr, dass ich Euch nicht hereinbitte, aber unser Haus besteht nur aus einem Zimmer. Und Nicola schläft.“

„Geoffreys Mutter?“

„Richtig. Sie schläft meist so schlecht, dass ich sie nicht wecken will.“

Clare hielt inne und hoffte, dass er gleich zur Sache kommen würde. Ängstlich bemerkte sie, wie sein dunkler Blick von ihren Augen zu ihrem Haar wanderte. Mit einer raschen Bewegung streifte sie die Kapuze über. Herr im Himmel, ihr Aussehen war wirklich ein Fluch. Gott schien einen seltsamen Humor zu haben. Er gibt mir allen Grund, jede Aufmerksamkeit zu scheuen, aber dann verflucht er mich mit leuchtend roten Haaren und seltsamen Augen.

„Hat Comte Lucien Euch zu uns geschickt?“

Er schaute ihr in die Augen. „Wie heißt Ihr?“

„Man nennt mich Clare.“ Soweit sie wusste, war sie nicht getauft worden. Den Namen Clare hatte sie selbst ausgesucht, nachdem sie aus Apulien geflohen war.

„Clare“, murmelte Arthur und musterte ihre Augen. Er schüttelte den Kopf. „Ich hätte gedacht, dass Euer Name etwas bedeuten würde, aber …“

„Mein Herr?“

In seiner Wange zuckte ein Muskel. „Ich bin Ritter, Mademoiselle, kein Edelmann.“

„Herr?“

„Wie Ihr wollt.“ Mit dem Daumen trommelte er auf den Griff seines Schwertes. „Euer Akzent klingt fremd. Ihr wurdet wohl nicht in Troyes geboren?“

„Nein, Herr.“

Er musterte sie mit seinen dunklen Augen. Verblüfft registrierte sie, wie er ihr seinen Arm hinhielt. „Begleitet mich ein Stück.“

Clare zögerte. Sollte sie mit einem Ritter der Wachtruppe gehen? Ganz abgesehen davon, dass sie keinem Mann über den Weg traute. Allerdings war ihr sein befehlender Unterton nicht entgangen. Und ein Ritter, der Comte Henry Gefolgschaft geschworen hatte, würde sie wohl kaum im hellen Tageslicht verschleppen. Sie legte ihre Hand leicht auf seinen Arm, und er schlug den Weg zum Marktplatz ein.

Lieber Gott, lass Paolo sich geirrt haben. Wenn tatsächlich Sklavenhändler in der Stadt sein sollten und sie entdecken würden …

„Ich kann nicht lange fortbleiben, Herr. Falls Nell zurückkommt, dann …“

„Nell?“ Seine attraktiven Züge entspannten sich. „Das kleine Mädchen, das mir ihre Huld schenkte?“

„Ja.“

„Wir werden nicht weit gehen. Es gibt etwas, worüber ich mit Euch sprechen möchte, irgendwo, wo uns Geoffreys Mutter nicht hört.“

Clares Angst brach sich Bahn, und in ihren Ohren begann das Blut zu pochen. Ging es um Geoffrey? Hatte Arthur ihr Geheimnis entdeckt? Oder hatte ihr apulischer Herr ihren Aufenthaltsort herausgefunden?

Doch in der Champagne war Sklaverei nicht erlaubt. Genau deswegen war Clare nach Troyes gekommen. Aber Geoffreys Schicksal hatte ihr einmal mehr die allgegenwärtige Ungerechtigkeit vor Augen geführt. Ständig fürchtete sie, der als der Veroneser bekannte Sklavenhändler könnte sie aufgestöbert haben und jeden Moment an ihre Tür klopfen.

Niemals werde ich zurückgehen. Niemals!

„Arthur, Ihr…“, sie atmete tief ein, „… Ihr seid Hauptmann der Wachritter, richtig?“ Nicola hatte das am Vorabend erzählt, als Clare mit einer völlig aufgedrehten Nell nach Hause gekommen war. Das Mädchen hatte die ganze Zeit von „meinem Ritter, Ritter Arthur“ geplappert.

Arthur nickte, und Clare redete sich immer wieder gut zu, dass sie nichts von ihm zu befürchten hatte. Aber es war alles andere als leicht, sich selbst davon zu überzeugen. Der Mann war ein Fremder, und mit Fremden hatte sie immer schlechte Erfahrungen gemacht. Zumindest, bis Geoffrey sie in das Haus seiner Mutter mitgenommen hatte.

Vor ihnen tat sich der so gut wie menschenleere Platz auf. Ein paar Hühner scharrten vor der Schenke im Dreck, und zwei Frauen legten vor einem der großen Holzhäuser Laken zusammen. Ein Junge schwankte unter dem Gewicht eines großen Eimers, aus dem immer wieder Wasser herausschwappte.

„Wart Ihr mit Geoffrey verheiratet?“, fragte Arthur ohne Umschweife.

Clare kniff die Augen zusammen. „Nein.“ Geoffrey war immer gut zu ihr gewesen. Mehr als gut. Er hätte sie sogar geheiratet, zu ihrem Schutz, falls der Veroneser sie aufspüren sollte. Aber er hatte auch ihr Zögern verstanden. In Clares Augen war die Ehe kaum besser als die Sklaverei. Niemals würde sie heiraten. Auch wenn sie Geoffrey gemocht hatte.

„War er Euer Geliebter?“

Sie machte sich gerade und erwiderte seinen intensiven Blick. „Ich wüsste nicht, wieso ich Euch darauf antworten sollte, Herr. Das dürfte Euch kaum etwas angehen.“

Als er amüsiert die Lippen kräuselte, stockte ihr der Atem. Wenn sein Gesicht den ernsten Ausdruck verlor, sah Arthur einfach umwerfend aus.

„Vermutlich habt Ihr recht. Verzeiht, Madame – oder sollte ich eher Mademoiselle sagen?“

„So wie Ihr kein Edelmann seid, bin ich keine Edeldame. Nennt mich Clare.“

„Gut, dann also Clare. Gestern bei dem Turnier hat Euch ein Mann angesprochen. Könnt Ihr mir sagen, was er wollte?“

„Er… Ich…ich kenne ihn kaum, Herr.“

„Das kann alles und nichts heißen.“ Konzentrierte Anspannung lag in seinem Gesicht, und er wandte seine dunklen Augen nicht von ihr ab. „Es schien mir, als würdet Ihr Euch vor ihm fürchten.“

Clare biss sich auf die Lippe. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie diesem Ritter vertrauen konnte. Aber deshalb würde sie ihm noch lange nicht gestehen, dass sie eine entlaufene Sklavin war.

Vor allem aber würde sie ihm nicht von dem Vorfall mit Sandro erzählen.

„Der Mann schien ein weitgereister Händler zu sein“, sagte Arthur. „Ich wäre Euch sehr dankbar, wenn Ihr mir von seinem Anliegen erzählen würdet.“

„Sein Name ist Paolo, Paolo da Lucca, und er ist in der Tat ein Händler. Aber es gab nichts Wichtiges.“

Arthurs Gesicht wurde ernst. „Clare, wenn Ihr mir bitte alles erzählen würdet, was Ihr über den Mann wisst.“ Seine breiten Schultern hoben sich. „Sonst muss ich annehmen, dass Ihr etwas vor mir verbergen wollt.“

Clare schloss kurz die Augen, nur dass Arthur damit keineswegs verschwand. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass er sie beobachtete. Sie stieß mit der Schuhspitze einen Stein weg und wünschte sich, überzeugender lügen zu können. „Ich verberge nichts.“

„Weiß dieser Paolo da Lucca etwas von Geoffreys Beziehungen zu einer Diebesbande?“

„Ihr meint die Reliquie?“, fragte Clare. Offenkundig stellte Arthur ihr all diese Fragen aus einem ganz anderen Grund, als sie vermutete. Nicht etwa wegen der Sklavenhändler, vielmehr hatte er den Verdacht, sie würde etwas mit Gesetzlosen zu schaffen haben.

„Genau. Die Reliquie.“ Er kniff seine dunklen Augen zusammen. „Hat der Mann Euch bedroht?“

„Nein, Herr.“ Clare holte tief Luft, bevor sie den Blick hob. „Ich…ich kenne Paolo seit einigen Monaten. Ein freundlicher Mann, der mir niemals drohen würde.“

„Was hat er gesagt?“ Er sah sie aufmerksam an. „Mir ist bekannt, dass Geoffrey Kontakt mit einer Diebesbande hatte.“

Clare zog die Augenbrauen zusammen. „Comte Lucien hat geschworen, er würde das geheim halten. Ihr müsst verstehen, dass Nicola nichts davon erfahren darf. Sie ist so stolz, dass ihr Sohn in den Ritterstand erhoben wurde – es würde sie umbringen, dass ihr Sohn keineswegs ein Heiliger war.“

„Keine Sorge, Comte Lucien steht zu seinem Wort. Ich war es, der gestern Abend die Sache angesprochen hat. Der Comte hat ausdrücklich noch einmal Euren Wunsch erwähnt, Geoffreys guten Namen nicht zu beschmutzen.“

Inzwischen standen sie auf der anderen Seite des Platzes vor einer Taverne, dem Schwarzen Eber. Das Etablissement genoss einen zweifelhaften Ruf. Die Eingangstür öffnete sich und eine junge Frau trat nach draußen. Sie trug einen Holzeimer in der Hand, dessen Inhalt sie auf die Straße goss. Ihre Augen blitzten, und ein freches Lächeln umspielte ihre gefärbten Lippen, als sie Arthur erblickte. Kokett legte sie die freie Hand auf ihre Hüfte und präsentierte ihre reichlich vorhandenen Reize. Das Oberteil ihres Kleides betonte ihre vollen Brüste. Seitlich, unterhalb der Arme, war es bis zur Hüfte eng auf ihren Leib geschnürt. Sie lächelte Arthur an und lüftete behände ihr Kleid, um ihre schlanken Fesseln und wohlgeformten Waden vorzuzeigen.

„Guten Morgen, Ritter Arthur.“

Er grinste. „Guten Morgen, Gabrielle.“

Er kennt sie?

Gabrielle musterte Clare mit einem raschen Blick. „Sehen wir Euch später, Herr?“

Er hob eine seiner dunklen Augenbrauen und grinste immer noch. Clare wusste nicht, wo sie hinsehen sollte. Trotz ihrer schändlichen Vergangenheit war sie immer noch unberührt. Und genau das war der Auslöser für ihre Flucht aus Apulien gewesen: Der Sohn ihres Besitzers, Sandro, hatte sie mit Gewalt nehmen wollen. Sie hatte sich nur gewehrt. Sie zitterte und starrte auf ihre Hand, als würde sie Sandros Blut darauf erwarten. Niemals würde sie zur Hure werden, für keinen Mann.

Arthur räusperte sich, nahm Clares Hand, legte sie sich wieder auf den Arm und führte sie entschlossen an der Taverne vorbei. „Clare, bitte erzählt mir alles, was Ihr über die Diebesbande wisst. Comte Henry wird nicht eher ruhen, als bis die Banditen gefasst sind.“

Clare legte den Kopf in den Nacken, um seinen Blick zu erwidern. Ihr Magen rumorte. Nein, das war noch keine echte Angst, aber Comte Henrys Hauptmann ließ sie definitiv unruhig werden. Ihr Mund war trocken.

„Leider weiß ich fast nichts.“ Clare überlegte panisch, wie viel sie ihm verraten sollte. Am besten nur gerade so viel, dass er sie in Ruhe lassen würde. „Geoffrey war nicht gerade gesprächig, aber ich weiß, dass er etwas wieder gutmachen wollte. Er schämte sich für das, was er getan hat.“

„Zu recht. Ein Ritter, der sich mit Dieben einlässt, ist eine Schande.“

Clare biss sich auf die Lippe. Arthur war mit Geoffrey befreundet gewesen, und er sollte begreifen, weshalb Geoffrey seine Ehre aufs Spiel gesetzt hatte. Dass er es keineswegs leichten Herzens getan hatte. „Comte Lucien hat Euch vielleicht erzählt, dass Nicola, Geoffreys Mutter, krank ist. Und die Medizin ist teuer.“

„Sie hatten kein Geld mehr?“

Clare nickte. „Geoffrey hat seine Mutter geliebt und wollte das Beste für sie.“

Arthur fluchte. „Verdammt, ich hatte ihm doch schon mal ausgeholfen. Und ich hätte es wieder getan.“

„Ihm gefiel die Vorstellung nicht, jemandem etwas zu schulden.“

„Zu stolz?“ Arthur seufzte. „Das klingt ganz nach ihm. Geoffrey hasste es, eine Schwäche einzugestehen.“

Autor

Carol Townend

Carol Townend schreibt packende Romances, die im mittelalterlichen England und Europa spielen. Sie hat Geschichte an der Universität London studiert und liebt Recherchereisen nach Frankreich, Griechenland, Italien und in die Türkei – historische Stätten inspirieren sie. Ihr größter Traum ist, den Grundriss einer mittelalterlichen Stadt zu entdecken, die einzelnen Orte...

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