Die Sklavin des blonden Wikingers

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"Du gehörst mir." Ein Schauer überläuft die schöne Merewyn bei den Worten des hochgewachsenen Wikingers. Die Nordmänner haben ihre Siedlung an der Küste von Northumbria überfallen, und Merewyns intrigante Schwägerin hat sie dem Anführer Eirik als Sklavin überlassen! Ihr Schicksal ist besiegelt. Wenn es stimmt, was man über die grausamen Wikinger sagt, dann sollte Merewyn alles daran setzen zu fliehen, bevor Eirik sie auf seinem Langschiff über das Meer entführt! Stattdessen ist sie gebannt von dem blauen Feuer in seinen Augen, das etwas ganz anderes als ewige Verdammnis zu versprechen scheint …


  • Erscheinungstag 17.10.2017
  • Bandnummer 336
  • ISBN / Artikelnummer 9783733768133
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Northumbrien – 865 n. Chr.

Eirik hatte noch niemals eine Gefangene genommen. Doch die Vorstellung, dass sie ihm gehören könnte, war so verlockend, dass es ihm beinahe die Sinne raubte. Er schloss die Augen und versuchte, seine dunklen Gedanken wieder dorthin zurückzudrängen, von wo sie gekommen waren. Vergeblich. Sein Herz schlug immer schneller. Er spürte, wie das Verlangen sein Blut zum Rauschen brachte, sodass er nichts anderes mehr wahrnahm außer der Gestalt des Mädchens am Strand, als er die Augen wieder öffnete.

Er zwang sich, den Blick abzuwenden und nach Anzeichen, ob Feinde in der Nähe waren, Ausschau zu halten. Seit mittlerweile zwei Jahren war er Kommandant der Langschiffflotte. Zuvor hatte er bereits viele Jahre, noch unter dem Befehl seines Vaters, mit dem Drachenboot die entlegensten Küsten angesteuert. Er hatte ein untrügliches Gespür und die Fähigkeit, die unterschiedlichsten Zeichen richtig zu deuten, die andere nicht einmal bemerken würden. Er wusste, dass sein sechster Sinn ihn niemals täuschte, und das war auch der Grund, warum seine Männer ihm bedingungslos vertrauten. Und jetzt sagte ihm sein sechster Sinn ganz deutlich, dass er die junge Frau gefangen nehmen sollte.

Trotz des leichten Morgendunstes hätte sie die großen Drachenboote eigentlich längst bemerken müssen. Immerhin konnte er sie vom Bug seines Schiffes aus sehen. Unbekümmert tänzelte sie am Ufer entlang, als ob sie keinerlei Sorgen oder Gefahren kannte. Vielleicht hatten die Götter sie ja absichtlich an diesen Strand geschickt, nur für ihn. Er schob den Gedanken beiseite, als ihm auffiel, dass keine Signalfeuer brannten. Das bedeutete, dass die Wachen entweder schliefen oder dass es überhaupt keine gab. Eigentlich sollte jemand bei dem Mädchen sein und es begleiten, dachte er, doch es tanzte ganz allein im Sand umher. Die junge Angelsächsin war wie ein Geschenk, das nur darauf wartete, von jemandem mitgenommen zu werden.

Eirik blickte angestrengt den Strand auf und ab, um sich zu vergewissern, dass sie nicht doch auf einen Hinterhalt zusteuerten. Vielleicht hatte der Feind das Mädchen auch als Köder dort platziert. Womöglich stellte sie sogar eine Bedrohung ganz anderer Art dar. Er hatte bereits viele Geschichten über geheimnisvolle Sirenen gehört, die tapfere Männer in den sicheren Tod geführt hatten. Meist lebten sie auf verwunschenen Inseln, die, kaum waren sie aufgetaucht, sofort wieder vom Meer verschluckt wurden. Und wer wusste das schon, vielleicht gab es an der wilden Küste von Northumbrien ebenfalls schöne Sirenen. Noch immer war der Strand wie leergefegt. Eirik blickte zu seinen Männern, die unbeirrt weiterruderten, und stellte fest, dass außer ihm niemand so sehr von dem Mädchen in Bann gezogen wurde. Vielleicht war sie seine ganz persönliche Sirene, die nur für ihn bestimmt war.

Geschmeidig wiegte sie sich hin und her und war sich der Gefahr nicht im Geringsten bewusst. Sie übte einen unerklärlichen Zauber auf ihn aus, der immer stärker wurde, und ihn überkam der Drang, sich von seinen Pflichten und seiner Verantwortung zu befreien und seine dunkle Vergangenheit hinter sich zu lassen, die ihn noch immer mit ihren schmerzhaften Fesseln gefangen hielt. Wie gern würde er sie jetzt am Strand in die Arme ziehen und sich mit ihr im Kreis drehen! Doch sogleich wurde ihm bewusst, wie lächerlich dieser Gedanke war. Sie war nur ein Mädchen, genau wie alle anderen, die er auf seinen Reisen getroffen hatte. Und doch erinnerte er sich mit erstaunlicher Klarheit an den Augenblick, als er die junge Angelsächsin durch den Dunstschleier hindurch zum ersten Mal erblickt hatte, denn er hatte das Gefühl, ihr bereits einmal begegnet zu sein. Doch das konnte nicht sein, er war noch nie so weit in den Norden gesegelt. Dennoch war er sich sicher: Sie gehörte zu ihm.

Es würde ein Leichtes sein, das Mädchen an Bord zu bringen. Sein Herz klopfte schneller vor Vorfreude. Aber dann zwang er sich dazu, durchzuatmen und sich zu besinnen. Dies war eine reine Erkundungsreise. Es würde keine Gefangenen geben.

In diesem Moment erkannte das Mädchen offensichtlich die Gefahr, die von den Drachenbooten drohte, und rannte los. Sofort spürte er, wie ihm das Blut heiß durch die Adern schoss. Er musste die junge Angelsächsin aufhalten, bevor sie die anderen warnen konnte! Ohne zu zögern sprang er ins Wasser, und sofort ließen seine Männer die Ruder los und folgten ihm. Gemeinsam zogen sie das massige Schiff an den Strand.

In der Nacht hatte es heftig geregnet, doch das hielt Merewyn nicht davon ab, ihren morgendlichen Spaziergang zum Strand zu machen, wie jeden Tag. Wenn ihr Bruder es mit seinen Drohungen nicht geschafft hatte, dann würde sie sich auch von feuchtem Sand nicht davon abhalten lassen. Sie lebte für diese einsamen Morgenstunden, in denen sie weit weg vom Gutshaus war und ungestört den Sonnenaufgang betrachten konnte. Vielleicht war es albern, doch sie hatte in diesen Momenten das Gefühl, dass alles möglich war. Dass sich mit dem neuen Morgen die tägliche Schinderei in Luft auflösen würde und ihr Leben etwas anderes für sie bereithielt, als immer nur für die Kinder ihres Bruders zu sorgen und wie eine Dienerin zu schuften.

Sie liebte die Kinder von ganzem Herzen. Doch es waren nicht ihre eigenen. Blythe ließ sie täglich spüren, wer ihre wahre Mutter war und dass sie es war, die im Haus das Sagen hatte. Und damit hatte sie recht. Sie war Alfreds Ehefrau und trug damit auch die Verantwortung. Dennoch empfand Merewyn das Verhalten ihrer Schwägerin als ungerecht. Wenn sie jedoch am Strand war, fielen all diese Sorgen von ihr ab, und sie fühlte sich frei und leicht. Hier konnte ihr niemand Vorschriften machen.

Sie lächelte glücklich und drehte sich selbstvergessen in den zarten Nebelschleiern im Kreis. Der feine Dunst bildete kleine, leuchtende Kristalle auf ihren Haaren. Es war zwar kalt, doch sie streckte die Arme in die Höhe und hob den Fellumhang nach oben, damit sie den Wind auf ihrer Haut spüren konnte. Die salzige Brise roch nach Freiheit, ein unwiderstehlicher Geruch.

Im nächsten Moment sah sie ein riesiges Schiff im Dunst auftauchen. Der geschnitzte Drachenkopf am Bug blickte sie mit Furcht erregenden Augen an, und sie wusste, dass es für alle Zeiten vorbei war mit ihrer Freiheit. Das Maul des Monsters mit den scharfen Zähnen war zu einem grausamen Lachen verzogen, versprach Tod und Leid. Dann erblickte sie dahinter weitere Schiffe, und sie wirkten wie große schwarze Ungeheuer, die ganz langsam ihre Flügel ausbreiteten, um sich dann auf ihre Beute zu stürzen.

Auf dem hellen Untergrund des Sandstrands musste ihre Gestalt genauso hervorstechen wie die des großgewachsenen Nordländers, der am Bug des vordersten Schiffes stand und sie anstarrte. Er hatte sie eindeutig gesehen. Und er würde sie sich holen.

Alfred hatte sie immer gewarnt, dass sie bei ihren Spaziergängen in der Nähe des Hauses bleiben sollte, da die Nordländer auf dem Vormarsch waren. Aber sie hatte seine Warnungen für die Hirngespinste eines übervorsichtigen älteren Bruders gehalten. Doch er hatte recht gehabt, und nun gab es keine Rettung mehr. Schreckliche Geschichten über die Grausamkeit der Nordmänner schossen ihr plötzlich durch den Kopf, und sie war vor Angst wie gelähmt.

Aber dann riss sie sich zusammen und begann zu rennen. Zuerst waren ihre Beine zittrig und gaben nach, doch als sie ihr wieder gehorchten, machte sie eine halbe Drehung und rannte in langen Sätzen in Richtung des Dorfes. Nur mit Mühe hatte sie ihren Blick von dem Hünen auf dem vorderen Schiff losreißen können. Mit verschränkten Armen hatte er dagestanden, seine Haltung strahlte Überlegenheit und Macht aus. Sie hatte noch gesehen, wie er vom Boot gesprungen war.

Die Angst, dass er sie zu fassen bekommen würde, trieb sie an, immer schneller rannte sie auf das Haus ihres Bruders zu. Es lag eine halbe Meile landeinwärts. Vielleicht schaffte sie es wenigstens noch, die Bewohner vor den Eindringlingen zu warnen.

Ihre Füße kämpften sich durch den nassen Sand, ihr Blut pochte schmerzhaft in ihren Waden, und sie hatte heftige Seitenstiche. Doch Merewyn zwang sich dazu, immer weiterzulaufen. Das schreckliche Bild, wie der Wikinger mit wehendem Umhang auf dem Drachenboot gestanden hatte, verhalf ihr zu ungeahnten Kräften. Und tatsächlich erreichte sie den Hof ihres Bruders.

„Schließt die Tore! Die Nordländer sind hier!“ Nur mit Mühe brachte sie die Worte hervor, dann sank sie erschöpft auf die Knie und rang keuchend um Atem.

Jemand packte sie am Arm und zog sie wieder auf die Beine. Knarrend schlossen sich die Tore.

„Wie viele?“, rief eine Stimme, die Merewyn nicht zuordnen konnte.

„Fünf Schiffe, vielleicht mehr.“ Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. Die Angst hatte sie so betäubt, dass sie nicht gezählt hatte.

„Großer Gott! Sie werden uns überwältigen und als Sklaven verkaufen!“

Sie hörte laute Schreie. Das waren sie, diese Ungeheuer! Grausam und bestialisch drang ihr Kampfgebrüll zu ihnen herüber. Merewyn zitterte, und das Blut gefror ihr in den Adern. Die Verfolger waren ihr so dicht auf den Fersen gewesen, es grenzte an ein Wunder, dass sie es hinter die Palisaden geschafft hatte, ohne von ihnen gepackt zu werden. Sie stieß ein Stoßgebet aus und versuchte sich daran zu erinnern, was Alfred ihnen für den Fall eines Überfalls eingebläut hatte.

„Merewyn! Mein Gott! Was hast du getan?“

Sie drehte sich um. Blythe, Alfreds Gattin, kam auf sie zu gelaufen und blickte sie zornig und vorwurfsvoll an. „Die Wikinger sind hier“, rief Merewyn.

„Wie konntest du es wagen, sie direkt zu uns zu führen? Das haben wir nun von deinen Spaziergängen! Dabei hat Alfred es dir doch verboten.“

„Sie liefen direkt in diese Richtung. Sie wussten schon vorher, wo das Gutshaus ist.“

Blythes Handrücken traf sie so unerwartet, dass sie benommen nach hinten taumelte. Ihre Wange brannte wie Feuer, und sofort schossen ihr die Tränen in die Augen.

„Geh nach unten. Ich kümmere mich darum.“ Blythe blickte an ihr vorbei, in Richtung der Eingangstore.

„Was ist mit den Kindern?“

„Sie sind bei Alythe, nur Annis und Geoff sind in deine Kammer gelaufen. Nimm sie mit.“

Merewyn rannte sofort los, um die jüngsten Kinder ihres Bruders zu suchen. Sie war froh, sie nie mit auf ihre morgendlichen Runden genommen zu haben. Von außen wurde kraftvoll gegen die Tore geschlagen, das dicke Holz knarrte und krachte, noch schien es dem Angriff standzuhalten. Doch dann vernahm sie laute Axthiebe und hörte, wie die Tore zersplitterten. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie endgültig nachgeben würden.

Eirik stieß mit dem schweren Griff seines Schwerts die Tür auf. Eine weitere leere Kammer. Enttäuschung und Wut stiegen in ihm auf. Entschlossen steuerte er auf die Halle zu. Auch hier war kein einziger Angelsachse zu sehen, der Raum füllte sich jedoch mit seinen Kriegern. Die Herrin des Anwesens, mit der er zuvor gesprochen hatte, beobachtete ihn stolz und aufmerksam von einer entlegenen Ecke aus. Auf der anderen Seite der Halle knieten zwei Männer auf dem Boden, entwaffnet und gefesselt. Die Mägde und Knechte waren in den Hof des Gutes getrieben worden, junge Burschen, Frauen und alte Männer. Keiner von ihnen war in der Lage, echten Widerstand zu leisten. Die Einzigen, die noch fehlten, waren die Familienmitglieder. Er wusste, dass sie sich irgendwo versteckt hielten.

Doch es spielte keine Rolle, denn sie waren schließlich nicht hier, um Gefangene zu nehmen, sondern um sich ein Bild der Lage vor Ort zu machen. Die Küste war ein idealer Ausgangspunkt, um von hier aus die für das Frühjahr geplante Großinvasion zu starten. Eirik würde einige Männer losschicken, damit sie seinem Onkel, der weiter südlich von hier in seinem Feldlager überwinterte, Bericht erstatteten, und dann würde er sich auf den Weg nach Hause machen. Schon fast zwei Jahre war er nicht mehr dort gewesen. Obwohl er nicht vorhatte, die junge Angelsächsin mitzunehmen, erwischte er sich selbst dabei, dass er inständig hoffte, sie zu finden. Er hatte das dringende Bedürfnis, sie aus der Nähe zu betrachten, damit er verstand, warum er sich so von ihr angezogen gefühlt hatte. Es war nur reine Neugier – jedenfalls versuchte er, sich das einzureden.

Er schaute sich im Saal um, um einen Blick auf ihr blaues Gewand oder ihr rötlich-braunes Haar zu erhaschen. Es war hinter ihr her geweht, als sie vor ihm und seinen Männern geflohen war. Sie musste mit der restlichen Familie in einem Versteck sein. Doch ihnen blieb nicht viel Zeit zum Suchen. Eirik wusste nicht, was es zu bedeuten hatte, dass es keine Wachen gegeben hatte. Entweder war der Hausherr unvorsichtig, oder der König hatte alle kampffähigen Männer zu sich gerufen. Wenn sie Pech hatten, hatte es allerdings jemand geschafft, unbeobachtet von dem Gutshof zu entkommen, der jetzt bereits alle Bewohner in der Gegend mobilisierte, um ihnen zu helfen. Deshalb mussten sie sofort von hier verschwinden.

Erst musste er jedoch das Mädchen finden! Der Drang war so stark, dass ihm beinahe der Atem wegblieb. Es war verrückt, das wusste er, und er kämpfte verzweifelt dagegen an. Auf keinen Fall durfte er die Kontrolle verlieren.

Er umrundete die lange Tafel, auf der Schüsseln und Krüge standen, untrügliche Zeichen dafür, dass die Familie beim Frühmahl überrascht worden war, und baute sich vor der Hausherrin auf. Zwei gefüllte Truhen standen vor ihm auf dem Boden. „Das ist alles, was Ihr mir anbietet? Ihr habt mir doch erzählt, dass Ihr so gute Beziehungen zu Eurem König habt. Ist der Rang Eures Gatten so niedrig, dass der König sich ihm gegenüber nicht großzügiger zeigt?“ Verächtlich stieß er mit der Fußspitze gegen einen Altarkelch.

Wie schon zuvor zeigte die Frau sich nicht im Geringsten davon beeindruckt, dass er ihre Sprache beherrschte. Voller Abscheu sah sie ihn an, als wäre er nicht mehr als ein Sklave.

„Was wollt Ihr noch? Ihr Hundesöhne habt bereits unsere Kapelle geplündert.“

„Gut, dann nehmen wir eben Euer Getreide.“ Sie hatte ihm nicht mehr gegeben als unbedingt nötig. Ihr Gemahl, der Herr von Wexbrough Manor, hatte vor einigen Monaten einen blutigen Angriff gegen die Männer seines Onkels im Süden geführt. Eirik hatte also kein bisschen Mitleid mit ihr und ihrer Familie. Ihnen stand ein harter Winter bevor, wenn er ihnen das Getreide wegnahm. Er wiederholte in seiner eigenen Sprache, was er ihr gesagt hatte, und erntete dafür lautstarkes Missfallen von seinen Männern. Gold und Silber war ihnen wesentlich lieber als Getreide. Eirik lächelte und hob die Hand zum Befehl.

„Nein!“, schrie die Hausherrin, als die Männer sich auf den Weg zum Kornspeicher machen wollten.

Fast gleichzeitig war ein hoher Schrei zu hören. Sofort begann sein Herz schneller zu schlagen. Die Sirene vom Strand! Eirik wusste augenblicklich, dass sie es war, die geschrien hatte, ohne dass er hätte sagen können, woher diese Gewissheit kam. Sofort rannte er los in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war.

Er kam zu einer prall gefüllten Speisekammer. Schwere Eichenfässer standen aufgereiht an den Wänden, doch einige von ihnen waren zur Seite gerollt worden. Darunter befand sich eine Luke, die zu einem Geheimversteck führte. Die Luke stand offen, und darunter klaffte ein schwarzes Loch.

Jetzt stieg sein Halbbruder Gunnar daraus hervor. Eine zierliche Frau lag über seiner Schulter und kämpfte wie wild, um sich aus seinem Griff zu befreien.

„Was hast du gefunden?“ Eirik sah die zarte Gestalt an, die bäuchlings über der Schulter seines Bruders hing. Das kastanienbraune Haar fiel ihr ins Gesicht, und sie trommelte mit ihren Fäusten wie wild auf ihn ein. Der heiße, heftige Drang, sie besitzen zu wollen, stieg in ihm auf.

„Da drin ist nichts, nur Kinder und alte Frauen.“ Gunnar grinste. „Das ist der einzige Schatz da unten gewesen.“ Er legte eine Hand auf das Gesäß des Mädchens und drückte fest zu.

„Lass sie runter!“ Eirik stieß den Befehl mit solcher Bestimmtheit hervor, dass selbst die wütende junge Frau innehielt und den Kopf hob. Ihre dunklen Augen waren vor Schreck weit aufgerissen. Als er seinen Blick über ihren elfenbeinfarbenen zarten Hals gleiten ließ, konnte er sehen, dass sie vor Angst schluckte. Sie hatte ihn ebenfalls wiedererkannt. Eirik fühlte sich jetzt sogar noch stärker von ihr angezogen. Zornig presste er die Kiefer zusammen und befahl seinem Bruder, zu tun, was er sagte.

„Aber ich habe sie gefunden“, knurrte Gunnar empört. „Du hast schließlich Kadlin.“ Trotz seiner Wut ließ er seine Gefangene überraschend sanft zu Boden.

„Überlass sie mir, Gunnar.“

„Endlich, Bruder …“ Im Blick seines Bruders sah Eirik einen wissenden Ausdruck. Dachte er an das schreckliche Geschehen, das vor so vielen Jahren passiert war? Das Mädchen widersetzte sich nicht mehr, sondern schaute ihn flehend an.

„Nehmt sie Euch!“ Die Hausherrin klang ruhig und gefasst, als sie die Vorratskammer betrat.

Alle Blicke wanderten zu ihr. Eirik hätte schwören können, dass er hörte, wie das Mädchen vor Schreck die Luft einsog.

„Nehmt das Mädchen anstelle des Getreides“, fuhr die Lady fort.

„Ich könnte auch beides mitnehmen“, gab Eirik zurück und fragte sich, was die Frau im Schilde führte.

„Ja, aber für beides bleibt Euch keine Zeit.“ Ihr wissender Blick fiel zuerst auf ihn, dann auf das Mädchen. Abschätzig zog sie eine Augenbraue hoch. „Sie ist unverheiratet und hat noch keine Kinder geboren. Sie könnte Euch einen weit höheren Preis einbringen als unser gesamter Wintervorrat wert ist. Nehmt sie Euch und geht, so lange Ihr noch könnt.“

Eirik blieb keine Zeit abzuwägen, ob sie die Wahrheit sagte, denn im nächsten Moment machte das Mädchen einen Satz und lief davon.

Das Blut pochte in seinen Schläfen und schoss ihm heiß durch den ganzen Körper. Er durfte seine schöne Beute nicht entkommen lassen!

2. KAPITEL

Merewyn rannte, so schnell sie konnte, obwohl sie wusste, dass es aussichtslos war. Einer der Nordländer, an denen sie vorbei musste, würde sie packen und festhalten. Sie rannte, um den Gedanken daran zu vertreiben, von diesen Barbaren verschleppt zu werden. Sie rannte, um den Schmerz nicht mehr spüren zu müssen. Ihre Schwägerin hatte sie verraten.

Nehmt sie Euch! Wieder und wieder hallten diese Worte in ihrem Kopf wider. Wie ein Zauber! Ein Fluch! Sie würde sie niemals vergessen. Sie rannte, obwohl sie wusste, dass es keinen Ausweg gab.

Sie hatte schon viele Geschichten über die Nordländer gehört. Reisende hatten sie am Feuer in der Halle zum Besten gegeben. Sie machten ihre Gefangenen zu Sklaven und taten den Frauen Gewalt an. Ein eiskalter Schauer schüttelte sie. Wenn sie mit ihr fertig waren, dann würden sie sie auf einen der Märkte im Orient bringen und sie zum Kauf anbieten. Das durfte niemals geschehen. Sie wollte nicht als Sklavin enden.

Jemand rannte ihr nach. Vor ihrem inneren Auge sah sie wieder, wie der blonde Hüne sie vom Drachenschiff aus angestarrt hatte. Sie wusste, dass er es war, der ihr nachjagte. Sie hatte seine Worte zwar nicht verstanden, doch sie war sich sicher, dass er sie als Beute gefordert hatte. Schon unten am Strand hatte sie gespürt, dass er sie wollte, denn er hatte sie angesehen, als wäre sie sein Eigentum. Niemals durfte er sie in die Finger bekommen.

Doch sie hörte, wie seine Schritte näher und näher kamen. Sie würde es nicht schaffen. Schon konnte sie seine brennenden Blicke auf ihrem Rücken spüren, wie Flammen, die sich in ihr Gewand fraßen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und ihre Knie zitterten. Als sie glaubte, die Anspannung nicht mehr auszuhalten, weil er sie jeden Moment packen würde, suchte sie Deckung hinter dem großen steinernen Schmiedeofen. Doch der Wikinger stand bereits auf der anderen Seite und versperrte ihr den Weg. Sie war gefangen.

Groß und breit ragte er vor ihr auf, die Knie leicht gebeugt und die Hände vorgestreckt, um sie sich greifen zu können. Er war höher gewachsen als alle Männer, die sie kannte. Neben ihm wirkte sie noch zierlicher und zarter, als sie ohnehin schon war. Seine Augen leuchteten begierig, er wollte sie haben, und er würde sich nehmen, was er wollte! Sie hatte keine Wahl, sie musste kämpfen. Wenn er mit ihr fertig war, würde sie sich ohnehin den Tod herbeiwünschen. Dann konnte sie auch hier und jetzt sterben. Sie machte sich nichts vor, er würde sie ohne große Mühe totschlagen, wie ein lästiges Insekt. Mit einem Mal traf sie die bittere Erkenntnis, dass dies das Ende für sie war, und ihr wurde übel vor Angst. Eiskalte Gewissheit stieg in ihr auf. Es war vorbei! Sie würde sterben. In dem Moment, als sie die Ausweglosigkeit erkannte, wurde sie von einer Ruhe durchflutet, die sie so noch nie erlebt hatte.

Sie würde ihrem Schicksal nicht entkommen können, also schloss Merewyn die Finger fest um den Griff des Messers, das in ihrem Gürtel steckte, und zog es mit einem Ruck aus dem ledernen Futteral. Die lange, dünne Schneide würde gegen das Kettenhemd des Nordländers nicht viel ausrichten können, daher musste sie ihn weiter unten treffen … oder ihm die Kehle durchbohren. Während sie noch darüber nachdachte, streckte er die Arme nach ihr aus, um sie zu packen, und nahm ihr so die Entscheidung ab. Mit voller Wucht rammte sie die Klinge in seinen Arm. Sofort brüllte er vor Schmerz auf, und Merewyn zog das Messer wieder heraus, um noch einmal zuzustoßen, doch er gewann sogleich wieder die Beherrschung und stürzte sich auf sie.

Ohne hinzusehen fuhr sie mit erhobenem Messer herum, aber er bekam sie am Handgelenk zu fassen und verdrehte ihr den Arm hinter dem Rücken. Dann riss er ihr das Messer aus der Hand, griff sich ihr anderes Handgelenk und drückte sie gegen den großen Steinofen. Es ging alles so schnell, und noch bevor sie wusste, was geschah, war sein Gesicht schon direkt vor ihrem. Er starrte sie so durchdringend an, dass ihr vor Angst der Atem stockte.

Die Gnade eines schnellen Todes wurde ihr allem Anschein nach nicht gewährt. Ihr Herz schlug noch schneller, sodass ihr Blut in den Adern rauschte. Fieberhaft suchte sie nach einer Möglichkeit, sich zu befreien, doch sie saß in der Falle, und sie konnte nichts weiter tun, als abzuwarten, was er mit ihr vorhatte. Er musterte sie von oben bis unten, als würde er ihren Wert abschätzen. Womöglich dachte er darüber nach, ob es sich lohnte, sie auf dem Sklavenmarkt zu verkaufen, oder ob er sie besser gleich töten sollte.

Doch dann trafen sich ihre Blicke, und ihr wurde klar, dass sie sich geirrt hatte. Seine Augen glühten vor brennender Leidenschaft, sie hatte das Gefühl, als würden seine Blicke ihre Haut versengen. Er verströmte eine Hitze, die sich tief in ihr einbrannte. Nie zuvor hatte sie so viel Entschlossenheit bei jemandem gesehen. Er wollte sie für sich selbst, sie besitzen … er wollte ihr Gewalt antun. Schnell schloss sie die Augen, der Gedanke war zu entsetzlich.

Doch er blieb vollkommen reglos vor ihr stehen.

Seine breite Brust drückte gegen ihre, aber er kam ihr nicht näher. Sein Atem strich ihr über die Wange, er war ruhig und gleichmäßig, im Gegensatz zu ihrem eigenen, der raste. Er verströmte einen frischen Geruch, nach Winter und Kälte. Es roch fremd, doch nicht unangenehm. Sein Griff war fest, aber nicht grob. Es verlief alles ganz anders, als sie es befürchtet hatte.

Sein Verhalten verwirrte sie. Verwundert öffnete sie die Augen und sah, dass die Sonne durch die Wolken gebrochen war, und sein Kettenhemd schimmern ließ. Von dort ließ sie ihren Blick weiter auf seinen festen, muskulösen Hals und zu seinem Gesicht gleiten. Zu ihrer Überraschung war sein Bart ordentlich gestutzt. Waren die nordischen Barbaren nicht bekannt für ihr ungepflegtes Äußeres?

Sie betrachtete aufmerksam sein kantiges Kinn, seinen Mund und blickte dann hinauf zu seinen wie gemeißelten Wangenknochen. Wie ein heidnischer Gott. Sein einziger Makel war die Erhebung auf seinem Nasenrücken. Sie atmete tief durch, sammelte all ihren Mut und blickte ihm in die Augen. Sie waren von eisigem Blau. Ihr Magen krampfte sich zusammen, doch dann bemerkte sie, dass sein Blick frei von Grausamkeit war.

Er ist kein Gott, versuchte sie, sich selbst einzureden. Er hatte viele kleine Falten um die Augen, die wohl daher stammten, dass er oft in die Sonne geschaut hatte. Vielleicht war er aber auch jemand, der viel lachte. Merewyn atmete noch einmal tief ein und aus. Sein warmer Atem erfüllte nun ihre Lungen, und mit einem Mal ließ ihre Angst schlagartig nach. Er war ein Mensch aus Fleisch und Blut und kein Ungeheuer, das gekommen war, um ihr Leben, ihre Welt zu zerstören. Vielleicht konnte sie mit ihm reden.

„Ihr müsst mich nicht mitnehmen. Ich habe keine besonderen Fähigkeiten und wäre Euch zu nichts nutze.“ Die Worte waren aus ihr herausgeplatzt, ehe sie richtig darüber nachgedacht hatte. Sie hatte versucht, ihrer Stimme einen ruhigen Tonfall zu geben, aber gegen Ende hatte sie doch leicht gezittert. Erneut ließ er seinen Blick über ihren Körper schweifen. Es war eindeutig, wozu er sie haben wollte. Wieder wurde sie von eiskaltem Entsetzen gepackt, doch sie zwang sich dazu, es sich nicht anmerken zu lassen.

„Du willst hier bei deiner Familie bleiben, obwohl sie dich loswerden wollen?“

Er blickte auf ihre Wange. Bestimmt hatte sie dort einen roten Striemen von Blythes Schlag. Seine Stimme hatte leise geklungen, ohne jeden Anflug von Spott. Es war das erste Mal, dass er sie direkt angesprochen hatte. Seine raue Stimme brachte etwas in ihr zum Schwingen, etwas, von dem sie nicht sagen konnte, was es war. Ihr war, als ob sein tiefer Bass in sie hineindrang. Ihr Innerstes wurde davon ganz warm, als liebkoste er mit seiner Stimme eine Stelle, die noch nie zuvor von irgendjemandem berührt worden war. Erschrocken fuhr sie zusammen und schloss die Augen, um diese neuartige Empfindung abzuschütteln. Doch sofort erklangen Blythes Worte wieder in ihrem Kopf: ‚Nehmt sie Euch!‘ Merewyn konnte sie nicht vergessen. Selbst als sie mit dem Nordländer gekämpft hatte, hatte sie wieder und wieder ihr furchtbares Echo gehört. Was würde mit ihr passieren, wenn sie hierblieb? Konnte sie es überhaupt, jetzt, wo sie endgültig wusste, dass sie überflüssig und lästig war? Es war nicht das erste Mal gewesen, dass Blythe sie geschlagen hatte. Und es würde sicher nicht das letzte Mal sein. Aber konnte sie einfach gehen … freiwillig? Konnte sie ihren Bruder, die Kinder und alles, was sie kannte und liebte, verlassen? Nein! Sie durfte es nicht zulassen, dass dieser Barbar sie an sich riss. Sie konnte sich nicht für ein Leben entscheiden, in dem sie nichts wert war. Was auch immer mit ihr passierte, wenn sie hierblieb, es war immer noch besser, als mit ihm zu gehen.

„Lieber bleibe ich bei meiner Familie, als mit einem Wikinger zu gehen.“ Dieses Mal klang ihre Stimme stark und entschlossen.

Er sah sie schweigend an. Sein Blick glitt sanft über ihre Gesichtszüge und blieb bei dem roten Fleck auf ihrer Wange haften. Merewyn drehte sich weg, sodass ihr Haar darüber fiel. Es war ihr unangenehm, dass er sah, wie man hier mit ihr umging. Wieder schaute er ihr in die Augen. Sie hätte schwören können, dass er bis auf den Grund ihrer Seele blicken konnte, bis zu dem tief verborgenen Teil in ihr, den er zum Leben erweckt hatte. Es war ungerecht, dass er alles von ihr zu wissen schien, während sein Gesichtsausdruck nicht das Geringste preisgab.

„Wenn Ihr bleibt, dann werden sie Euch bei der nächsten Gelegenheit weggeben. An einen Wikinger, einen Angelsachsen.“ Die Überzeugung in seiner Stimme schmerzte. Ein weiterer Grund, ihn zu hassen.

Die Worte zerrissen ihr beinahe die Seele, und sie hatte Angst, den Verstand zu verlieren. Verzweifelt versuchte sie, seine Worte nicht an sich herankommen zu lassen und sich davon zu überzeugen, dass sie nicht der Wahrheit entsprachen. Doch tief in ihren Inneren wusste sie, dass er die Wahrheit gesagt hatte, so schrecklich sie auch war. Wenn man ihr gestern gesagt hätte, dass Blythe diese schrecklichen Worte sagen würde, die ihr Schicksal auf alle Zeiten besiegelten, sie hätte es nicht geglaubt. Doch der Gedanke, dass sie es wieder tun würde, war keineswegs abwegig.

Nein! Das würde Alfred nicht zulassen!

Aber Alfred war nicht hier, er konnte ihr nicht helfen. Sie wand ihre Handgelenke in dem verzweifelten Versuch, sich zu befreien, aber es gelang ihr nicht, und so trat sie dem Nordländer stattdessen fest gegen das Schienbein. Es war ein kläglicher Rettungsversuch, doch sie wollte ihn bestrafen und ihm beweisen, dass er sich irrte.

Sein Griff schloss sich noch fester um ihre Handgelenke, und er drehte sie um. Jetzt war sie in seinen Armen gefangen. Seine Brust drückte gegen ihren Rücken, und er presste sie fest gegen den Schmiedeofen. Die rauen Steine kratzten auf ihrer Wange. Es war sinnlos, sich zu wehren. Er war so groß gewachsen, dass sie vollkommen hinter ihm verschwand.

„Du weißt genau, dass ich die Wahrheit sage, auch wenn du es nicht wahrhaben willst.“ Seine Stimme erklang direkt an ihrem Ohr, sie war herrisch und kalt. Die Haare an ihrer Schläfe bewegten sich leicht durch den Hauch seines Atems. „Ich werde dir keine Gewalt antun. Und das ist mehr, als du von deiner Familie erwarten kannst.“

Merewyn biss sich auf die Unterlippe, um das Schluchzen zu unterdrücken, das in ihr aufstieg. Er irrte sich, verdammt nochmal! Mit einem letzten verzweifelten Aufbäumen versuchte sie, ihn nach hinten zu stoßen, doch er drückte sich noch fester an sie, sodass sie mit ihrer ganzen Länge gegen die Steine gedrückt wurde und durch seinen Körper vollkommen bewegungsunfähig war. Fieberhaft suchte sie nach einem Weg, sich aus seinem Griff zu befreien, irgendeinen Grund zu finden, warum er unverzüglich von hier verschwinden musste, damit alles wieder so war wie vorher, bevor sie heute früh an den Strand gegangen war. Doch es würde nie wieder so sein, selbst wenn der Wikinger nicht mehr hier war. Die schrecklichen Worte von Blythe würden sie auf ewig verfolgen und sie langsam von innen zerfressen.

Blythe hasste sie. Sie würde sie wieder misshandeln. Merewyn wusste, dass der Nordmann sie mitnehmen würde, mit oder ohne ihre Zustimmung. Wenn sie doch nur irgendwie Zeit gewinnen konnte! Vielleicht würde ihr dann eine Idee kommen, wie sie ihm entkommen konnte, bevor irgendetwas Schreckliches passierte. Während sie noch darüber nachdachte, bemerkte sie, dass sie sich auf seltsame Weise in seinen Armen sicher fühlte. Er war vollkommen ruhig und wirkte aufrichtig, sie glaubte ihm, dass er ihr nichts tun würde.

„Schwört Ihr es? Versprecht Ihr, mir nichts anzutun?“ Sie wollte die Worte von ihm hören, auch wenn er nur ein Barbar war.

Eirik spürte, wie ihr Herzschlag in ihrer Brust raste wie die Flügel eines winzigen Vogels, der in einen Käfig gesperrt worden war. Auch an ihren Handgelenken konnte er es spüren, denn er hielt sie fest umklammert, und er hätte schwören können, dass er es sogar durch das Kettenhemd auf seiner Brust fühlen konnte. Sie war so zierlich und zerbrechlich. Er konnte spüren, wie zart sie gebaut war, während er sie an sich drückte. Ihr Körper fühlte sich weich und angenehm an, und ihn überkam der heftige Wunsch, sie zu beschützen.

Er kannte das Gefühl der Angst und der Anspannung, wenn er einem feindlichen Krieger gegenüberstand, und wusste, wie sich der Triumph anfühlte, wenn er ihn schließlich niederstreckte. Doch noch nie hatte er etwas Ähnliches empfunden wie in diesem Moment. Das Triumphgefühl war da, keine Frage. Es durchströmte ihn mit solcher Heftigkeit, dass seine Ohren rauschten. Aber da war auch das Gefühl von Angst. Es hatte nichts mit der Angst zu tun, die er auf dem Schlachtfeld fühlte, wenn eine Axt ihm den Kopf zu spalten drohte. Und es war auch nichts im Vergleich mit der Angst vor der Verantwortung, wenn er einen Befehl aussprach, der seine Männer in den Tod führen konnte. Es war eine ihm völlig neue Angst. Es war diese unerklärliche Macht, die sie über ihn hatte, die ihn so erschreckte, und sein eigener Drang, sie unbedingt besitzen zu wollen. Er begehrte sie auf eine Art, die er sich nicht im Geringsten erklären konnte, er wollte ihr ganz nah sein, noch näher als jetzt … wenn das überhaupt möglich war.

Beim Anblick ihres verletzten Gesichts hatte er eiskalten Zorn gefühlt. Zuerst hatte er gedacht, dass Gunnar ihr das angetan hatte, als er sie aus dem Keller geholt hatte. Doch Gunnar war zwar ein gnadenloser Krieger, aber er hatte noch nie gesehen, dass er einer Frau etwas angetan hatte. Es musste die Hausherrin gewesen sein. Er zweifelte nicht einen Moment daran. Ohne es zu wollen, stieg das heftige Bedürfnis in ihm auf, die zarte Angelsächsin vor ihrer eigenen Familie zu schützen.

Ohne nachzudenken, ergriff er den Stoff ihres Gewandes, um die Wärme, die von ihr ausging, noch besser spüren zu können. Doch als er merkte, was er da tat, riss er sich gewaltsam von ihr los und versuchte, die Kontrolle über sich zurückzugewinnen, die ihm immer wieder abhanden gekommen war, seit er das Mädchen heute Morgen am Strand gesehen hatte. Das Verlangen, sie zu berühren, sie zu besitzen, ihr zu sagen, dass sie nur ihm gehörte, legte seinen Verstand lahm. Doch nun, da sie ohnehin ihm gehörte, konnte er seine Aufmerksamkeit wieder den wichtigen Dingen zuwenden. Er würde noch genug Zeit für sie haben. Jetzt galt es, dafür zu sorgen, dass seine Männer wieder zurück auf die Boote kamen, bevor die Angelsachsen eintrafen. Er und die Männer würden noch heute zurück in die Heimat segeln. Wenn sie dort angekommen waren, würde er sich Gedanken darüber machen, was er mit seiner hübschen Sklavin anstellen würde.

„Dir wird nichts zustoßen, solange du bei mir bist. Von heute an gehörst du mir.“

3. KAPITEL

Merewyn versuchte verzweifelt, klar zu denken und einen Weg zu finden, wie sie sich aus ihrer schrecklichen Lage befreien konnte. Sie konnte nicht verstehen, wie es dazu hatte kommen können, doch sie befand sich nun an Bord des feindlichen Schiffes, gefesselt und vollkommen durchnässt vom aufspritzenden Meerwasser. Immer wieder musste sie sich über die Bordwand beugen, um sich zu übergeben. Mit jedem Ruderschlag kam sie ihrer ungewissen Zukunft ein kleines Stück näher. Ein Grab auf hoher See fand sie allerdings nicht besonders ansprechend, daher wandte sie ihren Blick vom Meer ab und kauerte sich stattdessen, am ganzen Körper zitternd, gegen die Planken. Alles war besser, als ihn ansehen zu müssen.

Sie verachtete sich selbst für ihre wachsende Faszination für den Mann, der sie verschleppt hatte. Nachdem ihr klar geworden war, dass sie, seit sie das Schiff betreten hatten, nichts anderes getan hatte, als ihn zu beobachten, war ihr der Schrecken durch alle Glieder gefahren. Er war eindeutig der Anführer dieser Truppe. Selbst die Männer auf den anderen Schiffen schienen auf sein Kommando zu hören. Selbstbewusst schritt er durch die Reihen von Ruderern und gab hin und wieder einen Befehl. Er schien vollkommen unbeeindruckt von dem heftigen Schaukeln, das die Wellen erzeugten, wenn sie gegen den Schiffsrumpf schlugen. Er strahlte so viel Macht und Überlegenheit aus, dass sie sich seiner Anwesenheit noch bewusst war, selbst wenn sie die Augen schloss. Genau wie das Gefühl, wie er seine Brust gegen ihren Rücken gepresst hatte. Immer wieder musste sie daran denken.

Sie hörte laute Rufe und öffnete die Augen. Ein großes rotes Segel wurde gehisst und schließlich vom Wind aufgebläht. Sofort nahm das Langboot an Fahrt auf. Inzwischen waren sie auf dem offenen Meer. Schon lange war kein Land mehr in Sicht. Nichts verband sie mehr mit der Heimat.

Merewyn drehte sich um und sah noch einmal zurück in die Richtung, in der ihre heimatliche Küste lag. Doch es war nichts mehr zu erkennen. Sie war verloren. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie vollkommen auf sich allein gestellt, getrennt von den Menschen, die ihr lieb und wichtig waren. Blythe hatte nicht einmal zu ihr hingesehen, als die Nordländer sie auf das Schiff geführt hatten. Und die anderen hatten es ihr gleichgetan und die Gesichter abgewandt, jedoch aus Trauer und Scham, und nicht aus Hass und Verachtung wie Blythe.

Sie hatte sich nicht einmal von Sempa verabschieden können, ihrer alten Amme. Sie war die ganze Zeit über im Wald gewesen. Warum hatte Alfred ausgerechnet jetzt weggehen müssen? Er hätte sie beschützt. Oder nicht? Tief in ihrem Inneren bohrte die Frage in ihr, ob er wohl wütend auf seine Frau gewesen wäre oder ob er ihre Tat womöglich gutgeheißen hätte. Noch gestern wäre sie davon überzeugt gewesen, dass er Mitleid mit ihr gehabt hätte, doch nun stand ihre gesamte Welt auf dem Kopf, und sie wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Er hatte schon zuvor die dunklen Male von Blythes Schlägen in ihrem Gesicht gesehen und nichts dagegen unternommen.

Zum tausendsten Mal fragte sie sich, weshalb ihre Schwägerin es so eilig gehabt hatte, sie loszuwerden. Hätten sie wirklich hungern müssen, wenn sie das Getreide verloren hätten? Nein, es musste noch einen anderen Grund geben. Ein schrecklicher Gedanke stieg in ihr auf, und sie versuchte vergebens, ihn nicht an die Oberfläche dringen zu lassen. Doch seine bösartigen Klauen schlangen sich bereits um ihr Herz. Alythe würde bald das heiratsfähige Alter erreichen. Und wenn ich fort bin, muss das Mädchen keine Konkurrenz mehr fürchten, überlegte Merewyn. Auf diese Weise hätte Alythe die freie Wahl zwischen den heiratswilligen Männern und könnte sich die höchste Mitgift sichern. Bevor er aufgebrochen war, hatte ihr Bruder ihr zugesichert, dass er sie im neuen Jahr verheiraten würde. Hatte Blythe sie deswegen verstoßen? Weil sie die Zukunft ihrer Tochter um jeden Preis absichern wollte?

Beinahe wäre ihr ein bitteres Lachen entschlüpft, doch noch im selben Moment stiegen ihr die Tränen in den Augen. Im Gegensatz zu Alfred hatte Merewyn nie die Absicht gehabt, einen Ehemann zu finden, der zum engeren Gefolge des Königs gehörte. Ein Leben an der Seite eines mächtigen Edelmanns war ihr nie erstrebenswert erschienen. Sie hatte immer von einen ruhigen Leben geträumt, und davon, einen großen Haushalt zu führen. Und sie hatte sich einen Gemahl gewünscht, der aufmerksam war und sich liebevoll um die Familie kümmerte. Das hätte Blythe wissen können, wenn sie nicht den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen wäre, ihr das Leben schwer zu machen.

Ein schrilles Pfeifen holte sie in die Gegenwart zurück. Ihr Blick glitt über das Wasser und fiel schließlich auf den rotblonden Nordländer, der sie aus dem Keller geholt hatte. Er stand am Bug seines Schiffes und war mit seinem von der Sonne angeleuchteten Haar nicht zu übersehen. Mit zusammengekniffenen Augen sah er sie an. Obwohl er mindestens drei Bootslängen entfernt war, lief es ihr bei seinem Blick dennoch eiskalt den Rücken hinunter, und ihr fiel wieder ein, wie er sie dort unten im Keller angeschaut hatte.

Schnell senkte sie den Kopf, bevor irgendjemand die einsame Träne sah, die ihr langsam die Wange hinablief. Sie wollte auf gar keinen Fall vor diesen Heiden weinen, auch wenn sie sich noch so sehr vor ihnen fürchtete. Als sie wieder aufsah, fiel ihr Blick auf den blonden Hünen, der sie mitgenommen hatte und den seine Männer Eirik nannten. Auch ohne sein Kettenhemd wirkte er imponierend. Er war muskulös und kräftig, ganz anders als die schlanken und eher sehnigen Männer, die sie von zu Hause kannte.

Er starrte sie an, während er durch die schmale Gasse zwischen den Ruderern auf sie zu schritt. Ihr Herz fing so heftig an zu schlagen, dass sie fürchtete, es würde ihr aus der Brust springen. Doch mit der Angst stieg auch Wut in ihr auf. Womit verdiente sie ein solches Schicksal?

Eirik ging vor seiner Gefangenen in die Hocke. Sie beobachtete ihn und blitzte ihn wütend an. Doch zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass ihre Wangen blass vor Angst waren. Die Furcht würde sie davon abhalten, etwas Dummes zu tun. Er hatte in all den Jahren als Krieger gelernt, dass Angst das beste Mittel war, um Menschen ruhigzustellen, wesentlich effektiver als jede Fessel. Und er vermutete, dass es bei Frauen ebenso gut wirkte wie bei Männern.

„Wie heißt du, Mädchen?“, wandte er sich in ihrer Sprache an sie.

Doch anstatt zu antworten, spuckte sie ihm ins Gesicht.

Damit hatte er nicht gerechnet, und insgeheim bewunderte er ihren Kampfgeist. Einer seiner Mundwinkel begann zu zucken, fast hätte er bewundernd gelächelt, doch er war noch immer besorgt wegen des Blicks, den Gunnar ihr zugeworfen hatte. Sein Bruder und er waren seit ihrer Kindheit Rivalen, und er wusste, dass die gesamte Besatzung davon ausging, dass ein Kampf zwischen ihnen unvermeidbar war. Doch das Kräftemessen würde erst nach dem Tod ihres Vaters stattfinden, wenn es darum ging, wer von ihnen der nächste Jarl werden würde. Eirik würde nicht zulassen, dass sie sich wegen etwas so Lächerlichem wie einer Frau bekriegten, noch dazu einer Sklavin.

Er wischt sich den Speichel mit dem Handrücken aus dem Gesicht. Sie biss sich ängstlich auf die Unterlippe, wahrscheinlich bereute sie schon, dass sie so impulsiv reagiert hatte. Eigentlich müsste er sie für diese Respektlosigkeit bestrafen, doch das würde jetzt zu viel Aufsehen erregen. Wenn sie sich weiterhin so widersetzte, würde er noch genügend Gelegenheiten haben, sie zu maßregeln. „Wenn du mir nicht sagst, wie du heißt, muss ich dich Sklavin nennen.“

„Wenn Ihr mich wieder zurückbringt, müsst Ihr Euch keine Gedanken mehr über meine Umgangsformen machen.“

Erneut musste er sich ein Lächeln verkneifen. Es war erstaunlich. Noch vor wenigen Augenblicken war er so wütend gewesen, dass er sie am liebsten ins Meer geschleudert hätte. Wenn doch nur Gunnar keine Ansprüche auf sie stellen würde. Sie war einfach zu hübsch. Ihr Gesicht war zart, und ihre elfenbeinfarbene Haut wirkte weich wie Samt. Man sah, dass sie nie in der Sonne oder in kalter Winterluft gearbeitet hatte. Sie hatte eine hohe Stirn und große braune Augen. Doch es waren ihre vollen Lippen, von denen er den Blick einfach nicht abwenden konnte. Er konnte nicht genau sagen, ob es die Kälte war, die sie so rot färbten, oder ob es ihre natürliche Farbe war. Er verspürte den unbändigen Drang, herauszufinden, wie sie schmeckten.

Er atmete tief durch und zwang sich, an etwas anderes zu denken. Er spürte, dass seine sinnlichen Bedürfnisse versuchten, die Oberhand zu gewinnen. Doch hier auf See musste er die Kontrolle über sich behalten. Er packte ihre gefesselten Hände viel fester, als er vorgehabt hatte, aber ihr entfuhr kein einziger Ton. Sie zuckte nur leicht zusammen.

„Mein Bruder ist der Herr von Wexbrough Manor. Er wird Euch reich bezahlen, wenn Ihr mich zurückbringt.“

Er hatte bereits vermutet, dass sie adeliger Abstammung war, da sie edle Kleidung trug. Das dunkelblaue Gewand war aus feinster Wolle, und er vermutete, dass die bernsteinfarbene Borte an Hals und Ärmeln aus Seide war.

„Und womit würde er dich zurückkaufen, Sklavin? Ich habe alles mitgenommen.“ Eirik versuchte gar nicht erst, sie darauf hinzuweisen, dass es die Ehefrau ihres geschätzten Bruders gewesen war, die sie ihm gegeben hatte. Ihr Bruder würde also sicher nicht mit ihm verhandeln.

Doch er musste gar nichts sagen, an ihrem Gesicht war deutlich abzulesen, dass sie selbst nicht an ihre Geschichte glaubte. Kurz bevor sie den Blick von ihm abwandte, sah Eirik die Kränkung und die Verlassenheit in ihren dunklen Augen, und er wurde von einer unfassbaren Wut gepackt. Fluchend zog er das Messer aus seinem Stiefel. Sie zuckte vor Schreck zusammen und versuchte, ihre Hände wegzuziehen. Aber er schloss seine Finger noch fester um sie, sodass sie sich nicht bewegen konnte.

„Da ist das Meer.“ Er zeigte mit dem Messer aufs Wasser. „Und Gunnar ist dort.“ Ihr Blick schoss in die Richtung, in der sein Bruder stand, und richtete sich anschließend wieder auf ihn. „Wenn Euch die See oder eines ihrer Ungeheuer nicht zuerst holt, dann wird er es tun.“ Er wartete, dass die Bedeutung seiner Worte sie erreichte. Dann fuhr er fort: „Wenn du versuchst, Unheil zu stiften, dann dürfen meine Männer mit dir tun, was sie wollen. Hast du mich verstanden? Es gibt keine Möglichkeit, zu entkommen.“

„Ja.“ Sie presste das Wort zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Eirik sah erfreut, dass das Feuer der Wut wieder in ihren Augen brannte.

Ihre Hände entspannten sich, und er begann, ihre Fesseln durchzuschneiden. Er bemühte sich, es möglichst schnell zu erledigen, denn er fühlte, dass ihre Nähe ihn schwach machte. Ihm war, als ob ihm die Luft aus den Lungen gepresst würde. Sein Atem ging kurz und heftig. Sie verwirrte ihn, ein gefährlicher Zustand für einen Krieger. Niemand durfte solch eine Macht über ihn ausüben.

Er war Eirik, der Sohn von Jarl Hegard. Durch seine Beutezüge hatte er ein Vermögen angehäuft und seine Männer von einem Sieg zum nächsten geführt. Eines Tages würde er den Platz seines Vaters einnehmen und Jarl werden. Und wenn seine Zeit gekommen war und er seine Reise ins Totenreich antreten musste, dann würden die Skalden ruhmreiche Balladen über seine Heldentaten dichten.

Und seine Gefangene war nur ein Niemand. Wahrscheinlich war sie noch nie aus ihrer Siedlung hinausgekommen und beherrschte nichts anderes als ihre eigene plumpe Sprache. Erneut fragte er sich, warum sie eine solche Wirkung auf ihn ausübte.

Nachdem die Fesseln schließlich hinuntergefallen waren, warf er sie ins Wasser. Er hatte vorgehabt, das Mädchen dort am Heck sitzen zu lassen und zu gehen. Doch dann sah er die roten Abdrücke, die der Strick auf ihren Handgelenken hinterlassen hatte. Als sein Blick auf ihr Gesicht fiel, wurde ihm plötzlich klar, dass ihre Haut nicht so zart und elfenbeinfarben bleiben würde, wenn sie ununterbrochen der Sonne und dem rauen Wind ausgesetzt war.

Er stand auf und ging zu seiner Truhe am Bug des Schiffes. Ein paar seiner Männer beobachteten ihn, doch er versuchte, ihre neugierigen Blicke zu ignorieren, während er nach dem Wundbalsam suchte, und nicht weiter darüber nachzudenken, warum ihm ihr Wohlbefinden so wichtig war. Schließlich kehrte er mit einem Gefäß in der Hand zurück und ging erneut vor ihr in die Hocke. Sie sah ihm skeptisch dabei zu, wie er das Töpfchen öffnete und zwei Finger hineintauchte. Als er sie wieder herausholte, glänzten sie ölig von einer nach Fisch riechenden Paste. Voller Ekel wich sie zurück.

„Pfui Teufel! Was ist das?“

Autor

Harper St. George
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