Fast ein Gentleman

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Im Sturm verliert Clara ihr unschuldiges Herz an den umschwärmten Lord Mulholland. Doch eine Heirat ist aufgrund des Standesunterschiedes ausgeschlossen, und eine leichtfertige Romanze kommt für Clara nicht in Frage! Aber als der Lord sie galant auf seinen Landsitz einlädt, wird ihre Sehnsucht nach der Liebe übermächtig …


  • Erscheinungstag 01.09.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733760274
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

England, 1862

Wir müssten doch längst angekommen sein, oder?“ fragte Aurora Wells besorgt und spähte auf der Seite, auf der ihre Nichte saß, aus dem Fenster der Mietdroschke in die nebligen Londoner Straßen.

„Wir sind noch nicht lange genug unterwegs, Tantchen“, erwiderte Clara Wells geduldig. Verstohlen versuchte sie, den Rock ihres Kleides unter dem stämmigen Schenkel ihrer Tante hervorzuziehen, ehe die teure Seide hoffnungslos zerknittert war.

Tante Auroras goldfarbener Turban auf ihrem hennarot gefärbten Haar war über eines ihrer blassblauen Augen gerutscht und drohte in Claras Schoß zu purzeln.

„Ich bin mir sicher, dass es nicht so weit zu Lord Pimbletts Haus ist“, beharrte sie, diesmal an ihren Gatten gewandt. „Nicht mal dieser Nebel rechtfertigt solche Umwege. Ich fürchte, der Fahrer will uns betrügen!“

„‚O hätten wir doch alle Zeit der Welt‘“, rezitierte Onkel Byron auf dem Sitz gegenüber geistesabwesend, den Blick auf die Wasserflecken im Dach der kleinen zweirädrigen Kutsche geheftet.

Trotz seiner anscheinenden Zerstreutheit war er, wie Clara anerkennend feststellte, in angemessene Abendgarderobe gekleidet, ganz im Gegensatz zu Tante Aurora. Mit seiner glückseligen Miene und dem weißen Haar wirkte Onkel Byron stets freundlich und sogar irgendwie weise. Freundlich war er zweifellos, und weise wäre er vielleicht geworden, hätte seine Mutter nicht den fatalen Fehler begangen, ihn nach dem berühmten Dichter Byron zu nennen. Ihr Sohn war in dem Glauben befangen, bei diesem Namen müsste er Poet sein.

Die Tante war gekleidet, wie es vor fünfzig Jahren in Künstlerkreisen modern gewesen sein mochte. Ihr Kleid im Regency-Stil mit hoher Taille unter dem umfänglichen Busen bestand aus mehreren Lagen fließendem zartviolettem Musselin, der zumindest teuer, wenn auch ihrer Figur nicht sonderlich zuträglich war. Es sollte vom Stil her griechisch wirken. Über dem Kleid trug sie eine fließende, goldfarbene Taftstola, passend zu ihrem exotischen Kopfputz.

Tante Aurora rückte glücklicherweise etwas zur Seite, und Claras Kleid war für den Augenblick außer Gefahr.

Ohnehin hatte es weit mehr gekostet, als Clara zu zahlen bereit gewesen war. Sehr zu ihrem Leidwesen hatte Tante Aurora jedoch auf dem Kauf bestanden und, ungeachtet der übrigen Kundschaft im Atelier der Schneiderin, immer wieder darauf hingewiesen, Clara müsse sich kleiden, wie es ihrem Stand entspräche. Schließlich sei sie die Enkelin eines Grafen, auch wenn der alte Schurke ihre Mutter enterbt habe. Da nun endlich ihre Einführung in die Londoner Gesellschaft stattfinde, müsse sie eben beim Kauf ihrer Garderobe etwas tiefer in die Tasche greifen.

Nur weil Clara die Gedankengänge ihrer Tante kannte und ihr Verhalten voraussah, hatte sie verhindern können, zum Kauf eines auffallend königsblauen oder purpurroten Kleides mit passendem, blumenüberladenem Kopfputz genötigt zu werden.

Sie hatte Tante Aurora schließlich überzeugt, dass sie sich unauffällig und sehr zurückhaltend kleiden müsse. Sollte ihr Großvater von ihrer Anwesenheit auf dem Ball bei den Pimbletts erfahren, dürfe es nicht den geringsten Anlass zur Kritik an ihrer Aufmachung oder ihrem Auftreten geben. Glücklicherweise hatte die Tante das eingesehen. Somit war ihre Garderobe heute sehr schlicht, und sie brauchte sich keine Gedanken zu machen, dass sie damit unangenehm auffiel, vorausgesetzt natürlich, sie konnte verhindern, dass ihr Kleid völlig zerdrückt wurde.

„Vielleicht ist Lord Mulholland auch dort“, frohlockte Aurora Wells aufgeregt. „Wäre das nicht wundervoll? Wie man hört, ist er der bestaussehende Mann Englands! Was für ein Triumph wäre es für mich, wenn ich ihn porträtieren könnte!“

„Ich möchte annehmen, er besitzt genügend Bilder von sich, falls er der eingebildete Tunichtgut ist, für den ihn alle Welt hält“, erwiderte Clara. „Vermutlich ist er ein eitler Gockel ohne einen Funken Verstand in seinem hübschen Kopf“, schloss sie. Natürlich hatte sie schon von dem reichen Aristokraten gehört, dessen Vorname Paris anscheinend sein Verhalten vorbestimmte. Paris von Troja war der legendäre Verführer der schönen Helena von Sparta gewesen. Eine Verführung, die bekanntermaßen den Trojanischen Krieg auslöste.

Jemand, der, wie Lord Mulholland, diese Kombination von gutem Aussehen, Reichtum und Adelstitel auf sich vereinigte, war in London naturgemäß in aller Munde. Leider konnte sich Clara nur zu genau vorstellen, wie ein solcher Mann auf Tante Auroras Ansinnen reagieren würde.

„Ich bin absolut sicher, der Kutscher hat sich verfahren“, beharrte Aurora Wells und bemühte sich abermals hinauszusehen. „Ist das nicht Rotten Row? Wir dürften überhaupt nicht am Hyde Park sein! Ich bin sicher, er versucht, uns zu betrügen!“

„Nein, Tante“, widersprach Clara ruhig. „Er fährt die richtige Strecke.“

Der Anflug eines amüsierten Lächelns huschte über ihr Gesicht. Selbst wenn der Kutscher sie zu betrügen versuchte, würde Tante Aurora ihn nicht zur Rede stellen. Es oblag ihr, Clara, den Kutscher zu bezahlen, so wie sie für alle finanziellen Angelegenheiten im Haushalt ihrer beiden Vormünder zuständig war.

Sie hatte diese Aufgabe seit ihrem dreizehnten Lebensjahr übernommen, seit sie nach dem Tod der Eltern zu Onkel und Tante gezogen war. Damals bereits war ihr aufgefallen, dass Tante Aurora und Onkel Byron in höheren Sphären schwebten, hoch über den praktischen Dingen des Lebens. Zumindest waren sie selbst aufrichtig davon überzeugt, was naturgemäß gelegentlich zu nicht geringen Problemen in der Alltagsbewältigung führte.

Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte der Kutscher sich nicht zu beeilen brauchen, zur Londoner Residenz von Lord und Lady Pimblett zu gelangen. Die Distanz zwischen ihrer Wohnung in Bloomsbury und diesem exklusiven Teil Londons war gesellschaftlich noch weit größer als geographisch.

Clara war nicht mal sicher, wie und warum sie zu diesem Ball eingeladen worden waren. Es war im Britischen Museum geschehen, wo sie bei einer der dort ausgestellten Mumien verweilten. Plötzlich hatte sie bemerkt, dass sich ihre Tante einer äußerst gut gekleideten, sehr selbstsicher auftretenden Dame näherte und sie in ein Gespräch verwickelte.

Sie hatte schon das Schlimmste befürchtet: dass nämlich ihre Tante die Dame fragen würde, ob sie ihr Porträt malen dürfe.

Clara glaubte, sich nie daran zu gewöhnen, wenn ihre Tante, was oft geschah, völlig fremde Menschen um einen Malauftrag anging. In diesem Sommer war es besonders schlimm gewesen, und Clara fühlte sich in gewisser Weise dafür verantwortlich. Wenn sie nicht schon längst das Alter überschritten hätte, in dem man in die Gesellschaft eingeführt wird, wäre Tante Aurora weniger beharrlich auf Aufträge versessen gewesen. Seufzend wünschte sie, auf die Einführung in die Gesellschaft verzichten zu können, solange dazu solche … solche Kundenwerbungen vonnöten waren.

Sobald die Dame weiterging, war Tante Aurora zu ihr zurückgekehrt und hatte in dem ihr eigenen, ungehemmten Enthusiasmus verkündet, sie seien zum Ball bei den Pimbletts eingeladen.

„Denkt doch nur!“ begeisterte sich Tante Aurora und holte Clara aus ihren Gedanken in die Gegenwart zurück. Sie klatschte in die plumpen Hände, an deren Fingern Ringe mit falschen Steinen steckten, die sie für hübsch hielt. „Eine Einladung zu einem gesellschaftlichen Ereignis bei Lord und Lady Pimblett! Was für eine Freude! Was für ein Vergnügen! Ich wusste, dass es richtig war, sie im Museum anzusprechen! Die liebe Lady Pimblett! Was für eine Statur! Was für eine Figur!“

„Was für ein Korsett“, spottete Clara lächelnd. „Sie ist so eng geschnürt, dass sie einen Schwächeanfall erlitt, als sie im Museum versuchte, ihren Mann einzuholen. Vermutlich verbringt sie die meiste Zeit des Tages damit, auf dem Sofa zu liegen und sich für unpässlich zu halten.“

„Clara!“ ermahnte Tante Aurora sie, indem sie ihr mit dem Fächer auf den Arm tippte. Ein Fächer, der mit handgemalten Szenen halbnackter Nymphen und Dryaden verziert war, was in einer Stadtresidenz in Mayfair für empörtes Geflüster sorgen würde, dessen war Clara sicher. „Sie ist eine Frau von hohem Stand, und wir dürfen uns sehr geehrt fühlen, dass wir in ihr Haus eingeladen wurden. Ich muss dich bitten, das nicht zu vergessen.“

Clara nickte errötend, denn es geschah selten, dass die gutherzige Tante sie tadelte. Sie nahm sich vor, Ruhe und Geduld zu bewahren und Tante Auroras Verhalten mit Nachsicht hinzunehmen, obwohl sie genau wusste, was geschehen würde. Die Tante würde auf dem Ball umherwandern und jeden, dessen Blick sie auffangen konnte, fragen, ob er sich nicht von ihr porträtieren lassen wolle.

Clara fragte sich wohl zum hundertsten Male, warum sie sich von Tante Aurora hatte überreden lassen, sie auf den Ball in dieses Palais zu begleiten. Vermutlich würden lauter langweilige, uninteressante Leute dort sein, die nur auf sie herabsahen. Oder schlimmer noch, die sie betrachteten, als sei ihr ein unsittlicher Lebenswandel vorzuwerfen, nicht unähnlich dem der unglücklichen Frauen auf den Straßen.

Tante Aurora jedoch verfügte über die glückliche Gabe, die Reaktionen anderer Menschen weder zu fürchten noch zu bemerken, wie die des Kutschers beispielsweise, der sie geradezu mit offenem Mund angestarrt hatte, als sie sich seinem Gefährt näherte.

Aurora Wells grübelte stirnrunzelnd: „Vielleicht benötigt Lady Pimblett ein solches Kleidungsstück. Möglicherweise hat sie einen schwachen Rücken. Nicht jede Frau wurde von der Natur mit einer solchen Figur gesegnet wie du, Clara.“

„Und natürlich hat nicht jede Frau eine so liebenswerte und vorausschauende Tante, die so ein verachtenswertes Kleidungsstück aus ihrem Haus verbannte“, erwiderte Clara anerkennend.

„Hört! Hört!“ meldete sich Onkel Byron zu Wort, beugte sich vor und ergriff, während er sie verehrend ansah, Auroras Hände. „Meine Amazone! Meine Kriegerin, hatte je eine so viel

Sinn …“ Onkel Byron furchte die Stirn, seine grünen Augen wurden ernst, und er rieb sich das Kinn, während er seine Aufmerksamkeit wieder dem Kutschendach zu widmen schien. „Und wie weiter?“ murmelte er vor sich hin. „Kriegerin, Sinn, Kinn, Pin …?“

„Die Muse spricht!“ flüsterte Tante Aurora unnötigerweise und legte einen Finger an die Lippen, offenbar jedoch unfähig, trotz der imaginären Anwesenheit jener Muse selbst zu schweigen.

Clara wandte sich ab und blickte aus dem Fenster, um ihr Lächeln zu verbergen. Wenn die Muse sprach, schwieg sie besser. Das war immer noch der schnellste Weg, Onkel Byrons poetische Träumereien zu beenden.

Eine Reihe besonders schöner Stadthäuser mit hell erleuchteten Fenstern kam in Sicht. Die hohen weißen Gebäude schienen im Mondlicht zu strahlen, als würde selbst der Nebel abgeschreckt, wenn man nur reich genug war.

„Ich glaube, wir sind da“, sagte Clara leise und fühlte sich plötzlich beklommen.

Sie wusste nichts über diese Leute und wenig über die aristokratische Welt, in der sie lebten, denn ihre Mutter war bereits vor ihrer Geburt von ihrer adeligen Familie verstoßen worden. Was wussten diese Leute wiederum von ihrer Welt – davon, wie es war, jeden Penny umdrehen zu müssen, ehe man ihn ausgab? Was wussten sie von der kleinen, stickigen Wohnung, in der sie lebten, vom Krach der Nachbarn und der Straße? Was würden sie von ihr halten, einer Frau ohne sonderliche Schönheit, deren Mutter den Affront begangen hatte, sich in ihren Tanzlehrer zu verlieben und – Gipfel des schlechten Geschmacks und der schlechten Manieren – die Stirn besessen hatte, ihn zu heiraten? Wie hatten ihre Vormünder diese Einladung nur annehmen können? Wie hatten sie sich bewusst so blind stellen können?

Clara sah die beiden an, der Onkel nachdenklich das Haus betrachtend, die Tante atemlos vor Erwartung, und schämte sich. Andererseits – warum sollten sie nicht hier sein? Tante Aurora war der freundlichste, liebenswerteste Mensch, den sie kannte. Onkel Byron war ein intelligenter, belesener Mann, der auf vielen Gebieten hätte Erfolg haben können, wenn seine Mutter ihm nur einen anderen Namen gegeben hätte. Und schließlich war sie, Clara, die Tochter einer Lady, deren Adelsrang höher war als der von Lord und Lady Pimblett. Sie wollte sich an diese Dinge erinnern und den Kopf hochhalten.

Nachdem sie ausgestiegen waren, griff Clara in ihren Pompadour und holte das genau abgezählte Fahrgeld heraus, um den Kutscher zu entlohnen. Einen Betrag in ähnlicher Höhe hielt sie für die Rückfahrt zurück. Der Kutscher blinzelte auf die Münzen in seiner Hand, schnaubte verächtlich, schnalzte dann mit der Zunge, um die Pferde aufmerksam zu machen, und fuhr davon.

„Ich fürchte, dem Ärmsten fehlt es an Kunstverstand“, bemerkte Tante Aurora traurig, als litte der Mann unter einer ernsten Behinderung.

Danach ging sie mit Onkel Byron voraus, auf die Außentreppe der Stadtresidenz zu, was glücklicherweise zur Folge hatte, dass sie Claras deutlichen Mangel an Begeisterung über das gesellschaftliche Ereignis nicht bemerkten. Clara folgte langsamen Schrittes.

Sie hatten soeben die erste Stufe erreicht, als eine Privatkutsche mit Familienwappen auf der Tür ruckartig dort hielt, wo sie eben ausgestiegen waren. Clara blickte zurück, als sich der Wagenschlag öffnete. Zunächst erschien ein Zylinder, gefolgt von einem breitschultrigen, gut gekleideten Mann in Abendkleidung. Als er leichtfüßig aufs Trottoir sprang, blähte sich der dunkle Stoff seines Capes, und ein rotes Innenfutter kam zum Vorschein.

Der braucht nun wirklich kein Hilfsmittel wie ein knallrotes Futter, um Aufmerksamkeit zu erregen, dachte Clara und betrachtete im Lampenschein sein klassisches Profil.

Plötzlich und ohne dass es ihr jemand gesagt hätte, wusste sie, dass sie den bestaussehenden Mann Englands vor sich hatte – Lord Paris Mulholland. Es konnte keine zwei Männer mit dieser Statur und diesem Gesicht geben.

Er griff in seine Tasche und warf dem Kutscher eine Münze zu. „In drei Stunden, Jones“, wies er ihn gut gelaunt, mit tiefer Stimme an. Seine Sprechweise verriet Reichtum, Bildung und einen guten Schuss Humor. „Bedenke, dass ich sehr ungehalten werde, wenn du dich verspätest. Ich werde keine Entschuldigung gelten lassen! Von hier geht’s dann weiter zu White’s. Ich habe eine Wette mit dem armen Einfaltspinsel Boffington laufen, dass ich es schaffe, Ihre Ladyschaft mindestens fünfmal in Ohnmacht fallen zu lassen, bevor ich zu ihm komme. Die Wette ist wirklich sehr leicht zu gewinnen. Ich hätte auf zehnmal erhöhen sollen.“

Sein fröhlicher Befehlston faszinierte Clara. Sie wünschte teilzuhaben an der Wette, die er zweifellos gewinnen würde. Als Lord Mulholland sich ihr unvermutet zuwandte und sie betrachtete, fuhr sie jedoch erschrocken zusammen. Sie versuchte, ihre Verlegenheit und Überraschung zu überspielen, indem sie hüstelte – was leider zu einem Hustenanfall führte, der sie zu ersticken drohte.

Tante Aurora und Onkel Byron, die bei der Ankunft des Fremden ebenfalls stehen geblieben waren, eilten zu ihr. „Bist du wohlauf, liebes Kind?“ fragte die Tante.

Clara nickte, machte einen Schritt vorwärts und stolperte unglücklicherweise über den Saum ihres schönen neuen Kleides. Hastig rappelte sie sich hoch, doch ehe sie weitergehen konnte, war der Fremde neben ihr.

„Haucht da jemand gleich auf den Stufen sein Leben aus?“ erkundigte er sich und ergriff ihren Arm mit erstaunlicher Kraft.

Aus der Nähe betrachtet fand Clara bestätigt, dass er äußerst gut aussah. Die Augen von strahlendem Blau unter geschwungenen Brauen schienen vor Energie nur so zu sprühen. Er verzog die vollen, sinnlichen Lippen, und sein markantes Kinn zierte die Andeutung eines Grübchens.

Sie hatte erwartet, dass ein Mann seines Rufes aufgeputzt war wie ein eitler Pfau, doch ganz im Gegenteil verströmte Paris Mulholland eine Männlichkeit, die keiner zusätzlichen Zier bedurfte.

Wenn es eine Gnade unter dem Himmel gab, sollte sich der Boden öffnen und sie verschlingen!

„Ich bin gestolpert.“ Vor Verlegenheit machte sie eine strenge, abweisende Miene und zog sich von Lord Mulholland zu rück. „Es geht schon. Vielen Dank, Sir.“

Clara konnte tatsächlich eine so strenge Miene machen, dass es einen das Fürchten lehrte. Doch das schien den Mann nur zu amüsieren, der seinen Blick charmant lächelnd über die drei wandern ließ.

Es geht schon los, dachte Clara verächtlich. Unverschämtes Abschätzen. Sie wusste, was er denken würde, sobald er entdeckte, dass ihre Tante Malerin war und ihr Onkel Poet: dass sie, da sie mit solchen Leuten lebte, von laxer Moral war.

Clara straffte sich und maß ihn mit einem eisigen Blick. Da sie sittsam und unauffällig gekleidet war, bestand für ihn kein Grund, sie derart lange zu betrachten!

„Seid mir gegrüßt, Zechbruder. Seid Ihr gekommen, des Gelages teilhaftig zu werden?“ erkundigte sich Onkel Byron zur Begrüßung.

So mit einem Fremden zu sprechen, noch dazu in Mayfair! Würde Onkel Byron denn nie die Feinheiten der Etikette lernen?

Der Aristokrat zog seinen schwarzen Seidenzylinder und verneigte sich galant. Clara fielen sein blondes Haar und die langen schmalen Finger auf. „Gestatten Sie mir, mich vorzustellen. Ich bin Lord Mulholland.“

Aurora Wells warf Clara einen Blick zu, den man nur als beeindruckt und triumphierend bezeichnen konnte, und Onkel Byron hätte glatt seinen Hut gezogen, wenn er einen getragen hätte. Stattdessen machte er eine schwungvolle und tiefe Verneigung, wie Lord Mulholland sie bestenfalls auf einer Theaterbühne gesehen haben konnte.

„Byron Bromblehampton Wells, Sir“, stellte er sich vor. „Meine Frau Aurora und unsere Nichte, Miss Clara Covington Wells. Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mylord!“ „Ich habe gehofft, Ihnen zu begegnen“, schwärmte Tante Aurora gleichermaßen begeistert. „Ich hörte, Sie seien ein gut aussehender Mann, der seinem legendären Namen alle Ehre mache. Ich bin hocherfreut festzustellen, dass Ihr Ruf nur allzu begründet ist.“

„Danke, liebe Dame“, erwiderte der galante und zweifellos verführerische Lord Mulholland, nahm Tante Auroras rundliche Hand und deutete einen zarten Kuss an. „Jedoch wurde ich nach der Stadt benannt, nicht nach dem Helden der griechischen Mythologie.“

Er nahm Claras Hand. Obwohl sie beide Handschuhe trugen, spürte sie seine Wärme und empfand die Berührung als erstaunlich angenehm – fest und doch zart. „Ihr Diener, Miss Wells.“ Er drückte sacht die Lippen auf ihren Handrücken und sah ihr dabei schelmisch lächelnd ins Gesicht.

Clara fand es vollkommen gleichgültig, nach wem Lord Mulholland benannt war, der Name Paris passte jedenfalls.

„Haben Sie sich je porträtieren lassen?“ fragte Tante Aurora eifrig.

In dem Moment hätte Clara einen Wirbelsturm, ein Erdbeben oder jede andere Katastrophe als segensreiche Störung empfunden. Alles war besser, als dazustehen und mit anhören zu müssen, wie Tante Aurora fortfuhr: „Ich bin Malerin, Mylord, und nichts würde mir größeres Vergnügen bereiten, als Sie zu porträtieren.“

„Tatsächlich?“ erwiderte Lord Mulholland. „Das ist ein überaus faszinierender Vorschlag.“ Er wandte sich Clara zu. „Und malt diese erfreuliche junge Dame auch?“

„Nein, Mylord. Diese Dame malt nicht“, entgegnete Clara spröde und wandte sich zum Gehen. Sein schelmisches Lächeln war vermutlich die pure Angewohnheit. Zweifellos sah er in jeder Frau ein mögliches Objekt, an dem er seine Verführungskünste ausprobieren konnte.

„Wie schade“, bedauerte er. „Darf ich Sie hineinbegleiten?“ Nein! wollte Clara erbost ablehnen. Was würden die Leute denken, wenn sie gemeinsam hineingingen? Man würde überzeugt sein, dass eine Fremde von dubioser gesellschaftlicher Herkunft in Begleitung eines Mannes wie Lord Mulholland „unter seinem Schutz“ stand. Das wenige an Achtung, das sie sich durch ihre betont unauffällige Kleidung und das zurückhaltende Auftreten zu erwerben gedachte, wäre augenblicklich dahin. Sie hätte darauf bestehen sollen, heute Abend daheim zu bleiben.

Er bot seinen Arm an, jedoch nicht ihr, sondern Tante Aurora. Es war ein absolut korrektes Verhalten, und Clara vermutete, vorübergehend leicht geistig verwirrt gewesen zu sein, dass sie geglaubt hatte, er wolle sie hineinbegleiten.

„Wie außerordentlich freundlich“, sagte Tante Aurora, trat vor und nahm dankbar seinen Arm. „Was nun das Porträt angeht …“

„Darüber muss ich noch nachdenken“, wich Lord Mulholland aus, und Clara entging nicht, wie amüsiert er dabei klang.

Ein Mann seines Reichtums konnte sich jeden Maler von der Royal Academy leisten. Er würde niemals für eine unbekannte Malerin wie Tante Aurora Modell sitzen. Also, warum führte er sie an der Nase herum? Machte es ihm Spaß, seine Mitmenschen zum Narren zu halten oder sie in eine peinliche Lage zu bringen? Wahrscheinlich. Jedenfalls passte es zu dem, was sie von Tante Auroras Freunden über Lord Mulholland gehört hatte: Er sah seinen einzigen Lebenszweck darin, sich zu amüsieren.

Falls er sich entschließen sollte, sich von Tante Aurora malen zu lassen – und Clara musste zugeben, dass sie das Honorar bitter nötig hätten – und falls er dazu in ihre Wohnung kam, um Modell zu sitzen, würde sie jedenfalls niemals anwesend sein.

Somit war es, ungeachtet ihrer Finanzlage, ohnehin besser, das ganze Vorhaben von vornherein zu durchkreuzen. So herzlich Clara ihre Tante liebte, kam sie an der Feststellung nicht vorbei, dass jedes Porträt, das sie malte, deutliche Ähnlichkeit mit dem Duke von Wellington aufwies. Clara hörte förmlich die schroffe Kritik, mit der Lord Mulholland sein Bild abqualifizieren würde, und stellte sich vor, wie er seine nichtsnutzigen Freunde mit Geschichten über die Exzentrik ihrer Verwandten ergötzte.

„Ein vortrefflicher Mann!“ flüsterte Onkel Byron ihr ins Ohr, während sie dem Lord in das luxuriöse Haus folgten.

Clara antwortete nicht. Ihre Aufmerksamkeit war ganz von der riesigen, aufwendig dekorierten Eingangshalle in Anspruch genommen, die gewiss größer war als ihre gesamte Wohnung. Der Boden war aus italienischem Marmor, und die offenkundig kostbare Tapete hatte ein raffiniertes Muster.

„Welche Noblesse, welcher Charme“, fuhr Onkel Byron fort. „Seines Namens würdig, nicht wahr, meine Liebe? Ich mag wohl glauben, dass ein solcher Mann die hübschesten Frauen der Welt verführen kann.“

„Und ich kann mir gut vorstellen, dass es ihm gleichgültig ist, ob er mit einem so selbstsüchtigen Verhalten einen Krieg auslöst oder nicht“, erwiderte sie, um ihren Onkel zu erinnern, dass der Name Paris nicht unbedingt Anlass zu Stolz bot.

Nachdem Lord Mulholland sein auffallendes Cape und den Zylinder einem Lakaien gegeben hatte, drehte er sich unvermittelt zu Clara um. Ein Lächeln lag auf seinem attraktiven Gesicht, doch seine strahlenden blauen Augen drückten etwas aus, das verdächtig nach Tadel aussah.

„Ich glaube, ich erwähnte bereits, dass ich nicht nach dem Manne benannt wurde, der Helena von Troja verführte. Meine Mutter nannte mich aus einer Laune heraus nach der Stadt des Lichtes, in der ich offenbar empfangen wurde.“

Nach einer kurzen Pause fügte er verbindlich hinzu: „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden. Ich sehe einen alten Freund dort drüben.“ Danach entfernte er sich mit einer leichten, höflichen Verneigung.

Clara errötete wieder und schalt sich wegen ihrer Torheit, ihre Gedanken auszusprechen. Es war sehr unhöflich gewesen, ihn ihre Äußerung mithören zu lassen. Gerade sie sollte wissen, wie es war, nach einem Namen oder einem Beruf beurteilt zu werden.

„Wir müssen später noch wegen des Porträts miteinander reden“, rief Tante Aurora ihm fröhlich winkend nach. „Meine Liebe, denk doch nur!“ fuhr sie hingerissen fort, klatschte in ihre plumpen Hände und ignorierte den Lakaien, der darauf wartete, ihr den Umhang abzunehmen. „Lord Paris Mulholland! Wenn er zustimmt, mir Modell zu sitzen, werde ich recht berühmt!“

Clara schwieg, doch sie wäre lieber barfuß im Winter nach Dover gegangen, als einen Mann wie Paris Mulholland daheim in ihrem Atelier zu dulden.

Sie sagte sich, dass ihre Abneigung absolut nichts mit seinem provozierenden Verhalten oder seinem guten Aussehen oder der Tatsache zu tun hatte, dass seine Abendgarderobe -weißes Hemd, weiße Krawatte und Frack – so tadellos an ihm aussah, als sei sie speziell für ihn erfunden worden. Schließlich hatten etliche Freunde ihrer Vormünder – Bohemiens allesamt – seit Jahren erfolglos versucht, sie zu verführen, da würde sie auch einem Lord Mulholland widerstehen können.

Obwohl er der anziehendste Mann war, der ihr je begegnet war.

2. KAPITEL

Ist es nicht so, Lord Mulholland?“ verlangte es Lord Pimblett im Salon nach Bestätigung, und er schlug mit der Handfläche auf die Marmoreinfassung des Kamins, die im gerade üblichen Stil verziert war. „Gib ihnen etwas, und sie verlangen mehr! Arbeitshäuser und das neue Armengesetz sind das Beste, was diesem Land je widerfahren ist, Sir!“

Paris war ziemlich sicher, dass Lord Pimblett im Geiste „du junger Schafskopf“ hinzufügte, obwohl der Mann deutlich die Hoffnung hegte, dass seine älteste Tochter Namen und Vermögen der Mulhollands heiratete und somit zwangsläufig auch den Mann, der diese Dinge repräsentierte. Darüber hinaus war Paris sich wohl bewusst, ein Publikum junger weiblicher Bewunderer zu haben, die sich wie bunte Schmetterlinge um ihn versammelten. Also schwenkte er sein Weinglas in einem ausdrucksvollen Prosit.

„Ich selbst habe nie in einer ihrer Elendshütten gehaust“, antwortete er dem indignierten Aristokraten, dessen Gesicht sich vor Irritation rötete. „Ich habe nie abgewetzte, flohverseuchte Kleidung getragen oder eine ihrer kärglichen Mahlzeiten zu mir genommen. Da ich nicht über Ihre Phantasie verfüge, Sir, die absolut notwendig ist, um ein Urteil zu fällen, wenn es einem an Erfahrung mangelt, beuge ich mich Ihrer überlegenen Kenntnis der Lebensweise der unteren Gesellschaftsschichten.“

Lord Pimbletts Gesicht wurde puterrot, was einen interessanten Kontrast zu seinem weißen Backenbart darstellte. Paris wusste, dass er seinen Standpunkt klar gemacht hatte und ziemlich weit gegangen war, die Mängel in der Meinungsbildung seines Gastgebers aufzudecken. Daher trank er freundlich lächelnd einen Schluck Wein.

„Man stelle sich ihn in Lumpen vor!“ stieß eine der allgegenwärtigen jungen Damen schockiert, dann kichernd hervor.

„Keine von Ihnen würde mich je wieder eines Blickes würdigen“, kokettierte Paris Mulholland mit betrübter Miene und wartete auf den Protest der jungen Damen, der auch prompt kam.

Es amüsierte ihn, ihre Reaktionen zu beobachten – eines der wenigen Dinge, die ihn in London noch amüsieren konnten. Einige junge Männer begannen zu trinken oder zu spielen oder gaben sich noch übleren Lastern hin, wenn das Leben langweilig wurde. Paris Mulholland amüsierte sich, indem er den charmanten Lebemann spielte, was den zusätzlichen Vorteil hatte, stets im Mittelpunkt des Interesses so erfreulicher Scharen junger Damen aus besten Häusern zu stehen.

Nicht, dass er den Wunsch verspürt hätte, auch nur eine dieser willigen jungen Damen zu verführen, jedoch schmeichelte es seiner Eitelkeit, sich umschwärmen zu lassen. Die meisten von ihnen waren ihm zu unschuldig und unerfahren. Trotz seines nicht gänzlich unverdienten Rufes hätte er niemals ihre Naivität ausgenutzt. Sich ihre Bewunderung zu erhalten war nur ein Zeitvertreib in dieser schier endlosen Saison.

Er wandte sich ab, um sein zufriedenes Lächeln zu verbergen, und begegnete dem wachsamen Blick der jungen Dame, die er draußen getroffen hatte, Clara, die Nichte der Malerin. Sie saß in einer entfernten Fensternische, fast verdeckt von einem Topffarn, als hätte sie Angst, gesehen zu werden.

Sie wirkte wie eine Nonne in einem Kloster, einem strengen noch dazu. Das dunkelbraune Haar war glatt zurückgekämmt und zu einem Knoten geschlungen. Die dunklen Brauen waren etwas zu dicht, um als konventionell schön zu gelten, und die vollen Lippen waren zusammengepresst. Sie trug ein abscheulich graues Kleid mit absurd hohem Kragen und engen Ärmeln. Ein Büßerhemd wäre bequemer gewesen als dieses Kleid, das seiner Trägerin in keiner Weise schmeichelte. Vielleicht gefällt ihr die Kasteiung des Fleisches, überlegte er.

Als er ihren Blick auffing, machte sie eine so strafende Miene wie ein Kindermädchen, das ihren jungen Schutzbefohlenen bei einer Missetat ertappt hat. Ihre Augen drückten eher Verachtung als Bewunderung aus.

Also zwinkerte er ihr zu.

Sie reagierte nicht. Kein Erröten, kein Starren, kein Lächeln, kein Stirnrunzeln. Sie sah ihn einfach an, als … als wäre er Luft.

Paris Mulholland war es nicht gewöhnt, ignoriert zu werden, und er fand diese Erfahrung immens unerfreulich.

Während er sich noch einzureden versuchte, das Desinteresse dieser jungen Frau sei vollkommen unerheblich, wandte er sich ab und sah Lady Pimblett langsam auf sich zukommen.

Auf ihrem Weg durch die Menge nickte sie ihren Gästen huldvoll zu. Ihr Erscheinen, begleitet vom überwältigenden Duft ihres Parfüms, der wie eine Wolke in der Luft hing, erinnerte ihn an seine Wette. Natürlich brauchte er Boffingtons Geld nicht, für ihn war das Wetten auf so harmlose Dinge lediglich ein Sport.

Auch wenn eine gewisse junge Dame offenbar glaubte, er sei eine komplette Verschwendung von Atem und Leben, das machte ihm herzlich wenig aus.

„Ich las gerade ein Buch von diesem Dickens“, sagte er gedehnt und bedachte seine Gastgeberin mit einem warmen Lächeln. „Oliver Twist. Dickens versteht es einfach genial, Dinge zu beschreiben, über die wir nicht einmal gezwungenermaßen nachdenken sollten. Finden Sie nicht auch, Mylady? Armenhäuser, verhungernde Kinder und Diebe. Und der Teil, wo eine junge Frau zu Tode geprügelt wird …“ .

„O mein Gott!“ flüsterte Ihre Ladyschaft.

Paris sah mit großer Genugtuung, wie Lady Pimblett aufs Sofa sank und sich heftig Luft zufächelte. Noch viermal in weniger als zwei Stunden! Das war wirklich zu einfach!

„Diesen Dickens sollte man auspeitschen!“ polterte Lord Pimblett los. „Beschwört alle möglichen Probleme herauf. Vermutlich glaubt er, wir sollten alle unser Geld hergeben, um den Armen Herrenhäuser und Süßigkeiten zu kaufen! Dieser Narr!“

„Er ist ein wunderbarer Gast auf Gesellschaften“, bemerkte Paris und erinnerte sich an das einzige Mal, als er dem Schriftsteller begegnet war, dessen Werke er nie wirklich gelesen hatte. Dickens liebte das Theater und ersetzte fast eine ganze Schauspielertruppe, wenn er Teile aus Oliver Twist vorspielte. Es war seinerzeit ein unvergessliches Erlebnis gewesen.

„Wenn ich ihm je begegne, werde ich … werde ich … dann wird es ihm Leid tun!“ fuhr Lord Pimblett fort. „Die Armen sind faul, Sir, faul! Und wenn sie nicht arbeiten, sollen sie verhungern!“

Paris Mulhollands Finger schlossen sich verdächtig fest um das zarte Kristallglas, das mehr kostete, als viele Menschen in einem Monat verdienten. Es erstaunte ihn immer wieder, wie rasch die Angehörigen seiner gesellschaftlichen Klasse bereit waren, den unteren Schichten gewisse negative Charaktereigenschaften zuzuschreiben. Dabei kannte er viele Aristokraten, die glatt verhungern würden, wenn sie nicht ein Familienvermögen hätten, von dem sie zehren konnten.

Lady Pimblett erholte sich genug, um sich leicht zu erheben. Wieder einmal fiel ihm auf, wie übertrieben sie herausgeputzt war und wie sehr sie es genoss, sich den Anschein schwächlicher Konstitution zu geben.

Noch ein paar Ohnmächte, und er hatte seine Wette gewonnen. Er sagte sich, dass ihm jedwedes Missfallen, das eine grau gekleidete junge Dame über sein Treiben äußern könnte, gleichgültig war, und machte sich gnadenlos an die Arbeit.

„Aber die Leichen, Mylord!“ klagte er. „Was sollen wir mit den Bergen von Leichen anfangen, die in den Straßen zurückbleiben werden? Der Gestank …“

Er gewann seine Wette. Mehr noch sah es ganz danach aus, als hätte er es geschafft, Lady Pimblett zu einer echten Ohnmacht zu verhelfen. Die jungen Damen seines Publikums stießen höflich schockierte Alarmschreie aus, und ihre Fächer bewegten sich heftig.

Sein Blick wurde wieder zum Fensterplatz gezogen. Leer. Die graue Nonne würde ihn ohnehin nur mit Blicken töten.

„Stehen Sie nicht einfach so da!“ grollte Lord Pimblett, ohne jemanden speziell zu meinen. „Wasser!“

Paris gehorchte, indem er einige große, furchtbar hässliche Chrysanthemen aus einer Vase auf dem Beistelltisch riss. Er tunkte die Finger in das Blumenwasser und bespritzte das Gesicht seiner Gastgeberin.

Lady Pimblett kam erstaunlich rasch zu sich. Die modische Blässe ihrer Wangen verschwand und wich einem gesunden Rosé. Die jungen Damen, deren Mütter die Verwendung jedweder Kosmetik und somit auch Puders untersagten, da sie es mit dem ältesten Gewerbe der Welt in Verbindung brachten, wichen verblüfft und entsetzt zurück. Lady Pimblett bedeckte sogleich das Gesicht mit ihrem Spitzenfächer.

Lord Pimblett starrte ebenso verblüfft wie alle anderen, und Paris vermutete, dass er seine Frau noch nie ohne gewisse kosmetische Zutaten gesehen hatte. Armer Mann – und arme irregeleitete Lady Pimblett, deren natürliche Teintfärbung Paris weit besser gefiel als ihr weißer Puder.

Dann bemerkte Paris aus den Augenwinkeln eine schöne, hochmütige junge Frau am Ende des Raumes. Sie trug ein sehr teures modisches Kleid aus rosa Seide mit tiefem Ausschnitt, der ihre beachtlichen weiblichen Reize raffiniert zur Geltung brachte. Miss Helena Pimblett, die Frau, die er heiraten wollte – zumindest war das Miss Helenas Überzeugung, obwohl er nie etwas Derartiges geäußert hatte –, eilte auf ihn zu, einen fragenden Ausdruck auf ihrem schönen, arroganten Gesicht.

Nun war überstürzte Flucht angeraten. Paris murmelte eine Entschuldigung und schritt zur Tür. Als er an einer Traube kichernder junger Damen vorbeikam, jede parfümiert und übertrieben nach der neuesten Mode gekleidet, die weiten Reifröcke Glocken ähnlich, nickte er ihnen lächelnd zu und fragte sich, was die strenge Miss Wells wohl von den Blicken halten würde, die man ihm zuwarf. Er wusste, dass jede dieser Damen ihn als Heiratskandidaten einstufte, und wahrscheinlich würde keine ablehnen, der er einen Antrag machte.

Ausgenommen Miss Wells, dachte er und erinnerte sich an ihre gleichgültige Miene.

Er ging weiter, da er noch etwas Zeit hatte, bis Jones mit der Kutsche zurückkehrte. Überall waren Menschen, und die Luft war warm und stickig. Er entdeckte die Tür zur Bibliothek und hoffte, in dem dunklen mahagonigetäfelten Raum sei es angenehmer. Er öffnete die Tür und verharrte.

Auf dem Boden saß ein Mann, umgeben von Büchern, und murmelte etwas vor sich hin. Paris erkannte Byron Wells an seinen ungewöhnlich langen weißen Haaren. Ein Gelehrter, wahrscheinlich – eine Spezies, die Paris unweigerlich in die Flucht trieb. Unbemerkt schlüpfte er wieder hinaus.

Er wollte seinen Weg fortsetzen, als er den Rock eines inzwischen vertrauten grauen Kleides in der Tür zum Musikzimmer entdeckte und die begeisterte Stimme der künstlerischen Mrs. Wells aus dem Inneren vernahm.

„Ich liebe Blumen!“ jubilierte Aurora Wells. „Sie ergeben so herrliche Stillleben, finden Sie nicht?“

Hester Pimblett, Helenas jüngere Schwester, kam in sein Blickfeld. Im Gegensatz zu ihrer Schwester kleidete Hester sich schlicht. Ihr Ballkleid war aus blauem Voile, was gut zu ihrem braunen Haar passte und das Blau ihrer großen Augen betonte. Als Schmuck trug sie lediglich eine schlichte Perlenkette und ellbogenlange weiße Handschuhe. Zweifellos entdeckte sie in der strengen Miss Wells eine verwandte Seele, zumindest im Hinblick auf die Schlichtheit der Kleidung. Trotzdem, verglichen mit Clara Wells mangelte es Hester – und eigentlich allen jungen Damen seiner Bekanntschaft an Lebensgeist.

Jedenfalls versprach es unterhaltsam zu werden, wenn die ziemlich prüde mittlere Schwester der Pimbletts, die ein liebes Mädchen war mit etwa so viel Persönlichkeit wie eine Salatschüssel, einer Künstlerin vom Schlage der lebhaften Mrs. Wells begegnete. Dann war da noch die zusätzliche Verlockung, Clara Wells im Kreise anderer Frauen beobachten zu dürfen, die Paris zum Bleiben veranlasste.

Nicht, dass es ihm etwas ausgemacht hätte festzustellen, dass sich Clara Wells nur in seiner Gegenwart spröde gab, was eine persönliche Abneigung bewiesen hätte. Sie war ein Niemand, und somit war es vollkommen unerheblich, was sie von ihm hielt.

Paris wusste jedoch auch, dass Hester sofort in tiefes Schweigen verfallen würde, wenn sie merkte, dass er zuhörte. Deshalb verbarg er sich in einer kleinen Nische hinter einem Ständer mit einer großen orientalischen Vase.

„Menschen sind um so vieles interessanter als eine Schüssel mit Früchten!“ fuhr Mrs. Wells fort. „Außerdem zieht das frische Obst Fliegen an, besonders in den Sommermonaten! Ich versichere Ihnen, als ich das letzte Mal so ein Stillleben gemalt habe, dachte ich, ich würde verrückt. Daher bevorzuge ich Porträts, da hat man viel mehr Spielraum für den Ausdruck!“

„Haben Sie Modelle?“ hörte er Hester scheu fragen.

„Aber natürlich“, antwortete Mrs. Wells. „Den menschlichen Körper zu malen ist eine Herausforderung.“

Aus Gründen, die er sich nicht eingestehen mochte, veränderte Paris seine Position hinter der Vase, um Clara Wells sehen zu können. Seine Bemühungen wurden belohnt, indem er einen Ausdruck bei ihr entdeckte, den er selten gesehen, jedoch vermutlich oft selbst aufgesetzt hatte, wenn seine Mutter in zu ausgelassener Stimmung gewesen war: eine Mischung aus geduldiger Nachsicht, Scham und Trotz. Seine geliebte Mutter hatte mit ihren unverblümten Bemerkungen oft die Empörung der Dinnergäste hervorgerufen.

„Was ist mit den klassischen Szenen, die Sie malen, wie die auf Ihrem schönen Fächer?“ fragte Hester, „wenn die Personen … ich meine, wenn sie nicht …?“

„Wenn sie nackt sind?“ half Mrs. Wells ihr aus.

Paris musste sich auf die Faust beißen, um nicht laut zu lachen, als er das rote, jedoch lebhaft interessierte Gesicht von Hester Pimblett sah. Clara Wells hingegen wirkte, als sei sie durchaus zu einem Mord imstande, während sie ihre Tante mit verschränkten Armen beobachtete.

Hester nickte und sah sich schuldbewusst um, was Paris veranlasste, sich weiter in die Nische zurückzuziehen. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass Hester sich für solche Themen interessierte.

„Nacktheit ist schön und gut, aber ich finde selten einen Körper, der meinen Ansprüchen genügt.“

„Tante Aurora!“ mahnte Miss Wells hilflos.

Paris litt mit der errötenden, entsetzten Clara Wells. Er erinnerte sich nur zu gut, wie leicht man sich als junger Mensch für das Verhalten der Elterngeneration schämte.

„Ist schon gut“, sagte Hester auf ihre freundliche Art. „Ich habe Mrs. Wells danach gefragt. Und ich schätze ihre erfrischende Ehrlichkeit.“

Clara Wells entspannte sich ein wenig und lächelte. Sie war bei Gott nicht reizlos mit ihren offen blickenden braunen Augen, dem zarten Elfenkinn, glatten Teint und Mittelscheitel. In der Tat schien sie eine völlig andere Person zu sein, wenn sie lächelte, eine, die er gern näher kennen gelernt hätte.

„Was für ein Körper würde Ihren Ansprüchen denn genügen?“ fragte Hester lernbegierig.

Mrs. Wells fingerte an ihrem hinreißend absurden Turban herum, der leicht schief gerutscht war. „Michelangelos David zum Beispiel. Außerdem möchte ich behaupten, dass sich unter Lord Mulhollands Kleidung ein Körper befindet, der es lohnt, gemalt zu werden.“

„Oder er hat einen Zauberer zum Schneider“, fügte Clara Wells hinzu, und den Ausdruck ihrer braunen Augen konnte man nur als verschmitzt bezeichnen.

Paris war nicht sonderlich eitel, jedoch missfiel ihm die Unterstellung, er habe besondere Schneiderkünste nötig, um eine gute Figur zu machen.

„Oh, das ist alles Natur“, behauptete Hester kichernd. „Wirklich?“ vergewisserte sich Mrs. Wells. „Woher wollen Sie das wissen?“

Paris erwartete die Antwort höchst interessiert.

„Meine Schwester Helena hat es mir gesagt.“

Es verlangte ihm ungeheure Selbstbeherrschung ab zu bleiben, wo er war. Lieber hätte er Aufklärung darüber verlangt, was zum Teufel Helena zu wissen glaubte. Hester würde eine solche Frage allerdings nicht beantworten, wenn er sie ihr geradeheraus stellte.

Glücklicherweise bemerkte Hester die fragende Miene von Clara Wells. „Sie sah ihn eines Tages ohne Hemd, als sie an seinem Schlafzimmer vorbeiging“, erklärte Hester.

Bei Gott! dachte Paris ärgerlich. Zukünftig würde er sein Zimmer verriegeln, besonders wenn ihn die Pimbletts Ende der Saison in seinem Landhaus besuchten.

„Wenn das so ist, muss ich ihn porträtieren“, entschied Mrs. Wells. „Natürlich werde ich mich erst besser mit ihm bekannt machen müssen und ihm Muster meiner Arbeiten zeigen. Wenn die Saison bloß nicht schon fast zu Ende wäre! Vermutlich muss ich auf die nächste warten.“

„Ja“, bestätigte Hester. „Er reist bald auf seinen Landsitz.“ Lächelnd fügte sie an Mrs. Wells gewandt hinzu: „Meine Familie wird ihn dort später besuchen.“ Sie errötete tief. „Ich weiß nicht, wie ich ihm jetzt wieder ins Gesicht sehen soll!“

Mrs. Wells lachte herzlich und zwinkerte ihr zu. „Der Mann ist so überaus charmant, ich bin sicher, Sie finden einen Weg.“

„O nein, so war das nicht gemeint! Ich bin nicht auf diese Weise an ihm interessiert“, protestierte Hester nachdrücklich und errötete wieder. „Meine Schwester …“ Sie verstummte, doch ihr vielsagender Blick war nicht zu missdeuten.

Paris zog die Stirn in Falten. Er hatte Helena nie ermutigt, allerdings war das bei ihr auch nicht nötig. Andererseits konnte er es wahrscheinlich schlechter treffen als mit ihr, wenn er denn schon heiraten musste. Helena war eine schöne, wohlhabende junge Frau aus einer feinen alten Familie. Allerdings war sie verwöhnt und eitel und hatte eine schneidende Stimme, die an ein quietschendes Rad erinnerte. Er hatte sich an den Gedanken gewöhnt, Kompromisse machen zu müssen, wenn er schließlich den Hafen der Ehe anlief. Dennoch missfiel es ihm, dass diese Eheschließung als abgemachte Sache hingestellt wurde, und wenn auch nur durch die harmlose Hester.

„Ich beneide Sie um diese Einladung, Miss Hester“, seufzte Mrs. Wells. „Als arme, ums Überleben kämpfende Künstler“, fuhr sie fort, nicht ohne sichtlichen Stolz auf die Tugendhaftigkeit ihres Opfers, „müssen wir in Staub und Enge der Stadt zurückbleiben.“

Als Paris das hörte, wusste er, was zu tun war, und er tat es.

3. KAPITEL

Mit der Plötzlichkeit einer übernatürlichen Erscheinung tauchte Lord Paris Mulholland im Musikzimmer auf, ein schiefes Lächeln auf dem schönen Gesicht.

Erschrocken und verlegen entfuhr Clara das Erste, was ihr in den Sinn kam. „Was machen Sie denn hier?“

Hester Pimblett japste erschrocken, und Tante Aurora starrte ihn mit offenem Mund an.

Nur weiter so, dachte Clara hilflos, als ihr bewusst wurde, wie taktlos die Frage geklungen hatte. Tief errötend dachte sie an die vielen Male, wo sie ihre Tante für genau dieselbe Taktlosigkeit insgeheim verdammt hatte.

Aber woher war er gekommen? Wie viel hatte er mitgehört? Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen und suchte nach einem Fluchtweg. Es gab keinen. Seine stattliche Gestalt blockierte die Tür.

„Allgemein gesprochen, ich erfülle eine gesellschaftliche Verpflichtung“, erwiderte Seine Lordschaft, als habe ihre unorthodoxe Begrüßung nichts Unangemessenes.

Dass er keineswegs beleidigt war, dämpfte Claras Scham nicht, und sie wünschte, sie wäre im Salon geblieben. Langeweile war entschieden leichter zu ertragen als ihr gegenwärtiger Zustand völliger Verwirrung.

„Was meine Gegenwart anbelangt“, fuhr er galant mit einer schwungvollen Bewegung seiner aristokratischen Hand fort, „ich diene lediglich der Dekoration.“

Bei den meisten gut aussehenden Männern hätte diese Bemerkung ungeheuerlich eitel geklungen. In seinem Fall lag jedoch genügend Selbstironie in Ton und Blick, dass Clara unterstellte, er scherze.

Clara sagte sich, dass sie seine Bemühungen als drolliger Komödiant weder charmant noch lustig fand. Er war ein intelligenter Mann, der, nach der Unterhaltung mit dem aufgeblasenen, ignoranten Lord Pimblett im Salon zu urteilen, zumindest einen Funken sozialen Gewissens besaß. Warum verbarg er diese Qualitäten? War es vielleicht nur einfacher, den leichtlebigen Hanswurst zu spielen?

Was ging es sie an?

„Wenn ich Ihrer Meinung nach jedoch störe, werde ich mich umgehend entfernen“, setzte er hinzu.

Ehe Clara antworten konnte, hatte Tante Aurora sich von ihrem Schrecken erholt. „Aber nein, nur nicht! Wir sind sehr froh, dass Sie da sind, Sir. Wir haben soeben über Sie gesprochen.“

„Hoffentlich nur Gutes“, erwiderte Lord Mulholland herzlich mit einem Blick zu Miss Hester.

Obwohl ein Lächeln Hester Pimbletts gutmütiges Gesicht aufhellte, bemerkte Clara, dass sie seinem Blick nicht standhielt. „Ich glaube, ich höre Tanzmusik“, sagte sie leise und ging zur Tür. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden. Ich freue mich darauf, Sie in Mulholland House wieder zu sehen, Mylord.“

Sie entfernte sich eilig, und Clara bekämpfte den Drang, ihr zu folgen.

„Ich habe mir Ihr Angebot überlegt, Mrs. Wells“, sagte Lord Mulholland. „Ich bin einverstanden, dass Sie mich porträtieren.“

Autor

Margaret Moore

Ihre ersten Schreibversuche als Autorin machte Margaret Moore mit acht Jahren, als der verwegene Errol Flynn sie zu einer Geschichte inspirierte. Wenig später verfiel sie dem kühlen Charme von Mr. Spock aus Raumschiff Enterprise. Er ließ bei sich keine Emotionen zu – ganz anders als die Helden in ihren Romances!...

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