Herbststurm der Gefühle

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Sanft weht der Herbstwind die Blätter von den Bäumen, als Alexandra die Kirche betritt, um Lord Richard Deverell das Jawort zu geben. Aber in ihrem Herzen tobt ein Sturm. Aufgebracht schimpft sie Richard einen Verbrecher, kaum dass sie ihm ewige Liebe geschworen hat …


  • Erscheinungstag 18.01.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733769888
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Oktober 1815

Wir haben uns heute hier vor Gottes Angesicht versammelt …“

Die tief stehende Herbstsonne warf ihre Strahlen durch das mittelalterliche Buntglasfenster von St. Wulfries und färbte Pfarrer Harmonds Talar und seinen Kranz weißer Haare mit kräftigen blauen, grünen, roten und gelben Tupfern. Man hätte meinen können, er sei soeben einem der Heiligenbilder im Westfenster entstiegen.

Auch auf dem Bräutigam ruhte das Sonnenlicht, aber wie ein Heiliger wirkte er gewiss nicht. Von stattlicher Größe und einen Hauch Arroganz ausstrahlend zeigte sich Richard Deverell wie gewohnt als Mann von Welt. Sein schwarzer Frack und die eng anliegenden Pantalons stammten von einem erstklassigen Schneider. Auch sein gestärktes, elegantes Krawattentuch und das schneeweiße Hemd, das er unter der ebenso weißen Weste trug, ließen auf den ersten Blick erkennen, dass er den höchsten Kreisen der englischen Gesellschaft entstammte. Seine schlanke, breitschultrige, athletische Figur verdankte er indes nicht dem Walzertanzen in Londoner Ballsälen, sondern vielmehr seinem vierjährigen Einsatz im Krieg gegen Napoleon. Lange Tage hatte er im Sattel unter der spanischen Sonne verbracht. Davon zeugten seine gebräunte Haut und die feinen Linien, die sich in den Winkeln seiner kühlen grauen Augen abzeichneten. Über eine seiner Wangen zog sich eine Narbe – die beständige Erinnerung daran, dass er bei Waterloo dem Tod nur knapp entronnen war. Nicht allein deshalb hatte sich Richard Deverell den Ruf erworben, mit Fortuna im Bunde zu stehen, auch sein Glück am Spieltisch war legendär.

Von der Kirchenbank der Deverells musterte Richards Tante Lady Honoria Standish die Anwesenden mit kritischem Auge. Kein einziges Mitglied des ton hatte sich eingefunden. Allerdings bezweifelte sie, dass überhaupt Einladungen verschickt worden waren, da man den Vater der Braut erst vor Kurzem zu Grabe getragen hatte. Höchst bedauerlich, befand Lady Honoria, die sich für ihren Neffen eine imposantere Hochzeit gewünscht hätte, statt dieser bescheidenen Feier.

„Die Ehe ist die gottgegebene Institution zur Gründung einer Familie …“

Ja, das gefiel Lady Honoria. Sie freute sich darauf, wieder Kinder in Channings herumtollen zu sehen. Auf dem Anwesen herrschte schon viel zu lange eine Grabesruhe. Außerdem wurde es höchste Zeit, dass Richard einen Erben bekam. Es war schlicht undenkbar, dass die Besitztümer der Deverells nach seinem Ableben an irgendwelche entfernten Verwandten fielen, die sich zuvor nie hatten blicken lassen. Sie betrachtete das Brautpaar und nickte zufrieden. Nun, diese Sorgen musste sie sich jetzt nicht mehr machen. Alexandra Rawdon kam aus einer guten, gesunden Familie, und Richard stand in der Blüte seiner Manneskraft. Die Frauen lagen ihm zu Füßen, weshalb es Lady Honoria wenig wunderte, dass die kleine Rawdon seinen Antrag nur allzu gern angenommen hatte. Warum aber Richard ausgerechnet Lexi Rawdon erwählt hatte, blieb ihr ein Rätsel. Nun ja, Lexi war recht attraktiv, allerdings kannte Lady Honoria weitaus atemberaubendere Schönheiten – junge Damen aus guter Familie, die über Eleganz und Wohlstand verfügten und die ihre rechte Hand dafür hergeben würden, Lady Deverell zu werden. Jede einzelne von ihnen wäre geeigneter gewesen als Lexi, Herrin eines solch großen und bedeutenden Anwesens zu werden, wie es Channings war. Bedauerlicherweise hatte Lexi nie Wert darauf gelegt, die Tugenden einer kultivierten Dame zu erlernen. Sie war immer schon ein impulsiver, unbesonnener Wildfang gewesen, der mehr Gefallen daran gefunden hatte, mit dem älteren Bruder Johnny und Richard durch die Landschaft zu streifen.

In seiner Kindheit hatte Richard viel Zeit bei den Rawdons verbracht. Dort war ihm die Zuneigung zuteilgeworden, die ihm zu Hause verwehrt wurde. Er und Johnny waren enge Freunde gewesen, und Sir Jeremy und Lady Rawdon hatten ihn stets wie einen eigenen Sohn behandelt. Heiratete Richard die Tochter der Familie etwa aus Pflichtgefühl, weil sie inzwischen ganz allein in der Welt stand?

Vor mehreren Jahren hatte Lexi bereits ihre Mutter verloren, vor einigen Monaten fand ihr Bruder auf tragische Weise seinen Tod, und nun war auch ihr Vater verstorben.

Lady Honoria wandte ihre Aufmerksamkeit der Braut zu und musterte sie anerkennend. Alexandra Rawdon bewies Haltung. Groß, aufrecht und schlank stand sie in einem weißen Kleid neben Richard vor dem Altar, das kupferrote Haar von Schleier und Hut gebändigt. Dennoch hatten die vergangenen Monate ganz offensichtlich ihren Tribut gefordert, denn sie wirkte steif wie ein Stock und war viel zu dünn. Lady Honoria seufzte. Sie hatte vorgeschlagen, die Hochzeit zu verschieben, doch Richard hatte nicht mit sich reden lassen und darauf bestanden, die Trauung wie geplant, wenn auch in aller Stille, vollziehen zu lassen. In Anbetracht der Umstände war dies wohl auch das Beste, denn Alexandra und ihr Vetter Mark, die letzten lebenden Mitglieder der Familie Rawdon, kannten einander kaum.

Sicher war Mark, oder Sir Mark, wie man ihn nun nennen musste, erleichtert, dass er sich nicht um Alexandra kümmern musste. Ihr Zuhause, das sich seit Tudorzeiten im Familienbesitz befand, war an ihn übergegangen, und obwohl die beiden gut miteinander auszukommen schienen, hätten sie wohl kaum noch länger ohne Anstandsdame unter einem Dach leben können. Zudem wurde gemunkelt, dass der Besitz, so unglaublich es ihr auch schien, mit Schulden hoch belastet war und der Erbe aus diesem Grund besser nach einer reichen Gemahlin Ausschau halten sollte.

Lady Honoria betrachtete den jungen Mann im moosgrünen Gehrock und den rehbraunen Pantalons an Lexis linker Seite aufmerksam. Sir Mark Rawdon. Er machte einen angenehmen, sympathischen Eindruck auf sie und hatte ein charmantes Lächeln, in dessen Genuss sie bereits gekommen war. Seine kurzen kupferroten Haare schimmerten im Sonnenschein.

„So frage ich dich, Richard Anthony, willst du diese Frau zu deiner Gemahlin nehmen, willst du für sie sorgen, sie lieben und ehren, in Gesundheit und in Krankheit …“

Lady Honorias Blick glitt zurück zu dem Brautpaar, das soeben das Ehegelöbnis leistete. Das feierliche Versprechen, vorgetragen in Richards volltönendem Bariton, klang so schön wie eh und je: „… zu lieben und zu ehren … in guten wie in schlechten Zeiten … bis dass der Tod uns scheidet …“

Ein seltenes Lächeln malte sich auf Lady Honorias Züge, während sie ihrem Neffen lauschte. Nun war Alexandra an der Reihe. Doch ihre Stimme klang irgendwie gezwungen. Was war nur los mit dem Mädchen? Sie sollte außer sich vor Freude sein. Immerhin heiratete sie die beste Partie der Grafschaft! Ach was, von ganz England!

„… in guten wie in schlechten Zeiten … in Reichtum und Armut … zu lieben …“ Ihre Stimme brach ganz plötzlich, doch dann fuhr sie fort: „… dich zu lieben, zu ehren und dir zu gehorchen, bis dass der Tod …“ Erneut brach sie ab, dieses Mal war die Pause etwas länger, ehe sie mit zittriger Stimme weitersprach: „… bis dass der Tod uns scheidet.“

Auch Richard war Lexis Anspannung nicht entgangen. Behutsam den Arm um sie legend zog er sie an sich, während er seinen letzten Schwur tat: „Mit diesem Ring nehme ich dich zur Frau, mit meinem Leib will ich dich ehren und all meine weltlichen Güter mit dir teilen …“

Lady Honoria nickte. Richard war mehr als gut betucht und besaß zahlreiche weltliche Güter – er war, salopp ausgedrückt, steinreich. Und auch wenn er sein Herz nicht auf der Zunge trug, wie man so schön sagte, würde er gut für seine Gattin sorgen. Alexandra Rawdon konnte sich wirklich glücklich schätzen.

Als Pfarrer Harmond mit seiner Predigt begann, lehnte sich Lady Honoria in die Kissen zurück – die Deverells hatten schon immer dafür gesorgt, dass sie es in der Kirche bequem hatten – und gab sich den Anschein, ihm aufmerksam zu lauschen. Es war immer dieselbe Predigt und gewöhnlich recht kurz. In wenigen Minuten würden sie in der Sakristei die Unterschriften leisten und damit die Ehe besiegeln. Richard würde endlich sesshaft werden und ein friedvolles Familienleben in Channings führen. Zufrieden schloss sie die Augen …

Lady Honoria war nicht die Einzige, die Pfarrer Harmond nicht die verdiente Aufmerksamkeit schenkte. Mit Nerven so straff gespannt wie die Saiten einer Violine wartete Lexi auf das Ende der Zeremonie. Lang konnte es nicht mehr dauern. Gleich würden sie in die Sakristei hinübergehen, die Dokumente unterschreiben und ausgehändigt bekommen und danach … wäre alles vorbei.

Sie spürte Richards Hand an ihrem Ellbogen und ließ sich von ihm aus der Kirche geleiten. Pfarrer Harmond ging ihnen voran, doch sie nahm ihn kaum wahr, ebenso wenig wie Lady Honoria und Mark, die ihnen folgten. In dem kleinen Raum angekommen, ließ sie sich zum Tisch führen, wo der Anwalt schon mit den Papieren auf sie wartete. Sie unterzeichnete an der Stelle, auf die er deutete, und trat schließlich einen Schritt zurück. Ihr Kopf und ihr Herz pochten so stark, dass sie das Gefühl hatte, es würde sie gleich zerreißen. Sie nahm Hut und Schleier ab, um den Druck ein wenig zu lindern, und legte beides auf den Tisch neben das wichtige Dokument, das Richard ihr zur Hochzeit schenken wollte.

„Nun, Alexandra, willst du dir dein versprochenes Geschenk nicht ansehen?“, fragte Richard lächelnd.

Bittere Galle stieg in ihrer Kehle auf, doch sie schluckte sie herunter und zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln. „Natürlich! Ist denn alles vorbereitet?“

„Ich denke schon. Mr Underhill?“

Der Anwalt räusperte sich. „Ich habe die Urkunde zugunsten von Sir Mark Satterly Rawdon vorbereitet. Kurz zusammengefasst, bestätigt diese, dass alle Güter, die durch Lord Deverell in den vergangenen drei Monaten von Lady Deverells Vater, dem verstorbenen Sir Jeremy Rawdon, erworben wurden, wieder in den Grundbesitz von Rawdon Hall zurückfallen. Die Ländereien sind umfassend aufgeführt …“ Er sah auf. Missbilligung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Die Liste ist recht lang.“

Ohne Lady Honorias und Pfarrer Harmonds überraschte Ausrufe zu beachten, setzte Mr Underhill den Kneifer ab. „Ein recht ungewöhnliches Dokument. So etwas habe ich in meiner langjährigen Tätigkeit noch nie erlebt. Lord Deverell zeigt sich überaus großzügig. Wünschen Sie, dass ich Ihnen die Liste vorlese, Lady Deverell?“

„Nein“, erwiderte Lexi tonlos. „Ich nehme an, es ist alles so wie besprochen.“

„Nun ja, wir haben eine Klausel eingefügt, die ich Ihnen vielleicht erklären sollte“, meinte der Anwalt.

„Und die wäre?“, fragte Lexi misstrauisch.

„Sollte Sir Mark vor Ihnen oder Lord Deverell ohne Nachkommen dahinscheiden, wird der in der Urkunde dargelegte Besitz an Ihren Gatten zurückfallen.“

Lexi konnte ein erstauntes Lächeln nicht verbergen. „Dagegen hege ich keine Einwände. Lassen Sie die Klausel stehen, wenn es sein muss. Würden Sie mir die Dokumente bitte aushändigen?“

Richard nahm dem Anwalt das Bündel Papiere aus der Hand, bevor dieser es Lexi übereichen konnte. „Bist du dir sicher, dass du das möchtest, Alexandra? Es ist ein seltsames Hochzeitsgeschenk. Du hast nichts davon.“

„Ich habe sehr wohl etwas davon! Es sichert Rawdon die Zukunft, und das hätte mein Vater gewollt“, sagte sie schroff. „Gibst du mir jetzt bitte die Papiere?“

„Habe ich nicht zuvor eine Belohnung verdient?“, fragte Richard lächelnd. „Vielleicht einen Kuss von meiner Gattin?“

Panik stieg in Lexi auf. „Nein!“

Verwunderte Gesichter blickten sie an.

„Noch nicht“, sagte sie daraufhin zögerlich. „Erst möchte ich Mark die Dokumente übergeben.“

Richard musterte sie aus schmalen Augen. „Na schön“, sagte er. „Mr Underhills Anwesenheit ist jedoch sicherlich nicht länger vonnöten. Er hat seine Arbeit getan.“ Mit einem kurzen Dankeswort verabschiedete er den Anwalt, um gleich darauf Lexis Hand zu küssen, ehe er ihr die Dokumente überreichte.

Auf diesen Augenblick hatte Lexi ungeduldig gewartet. Sie entriss ihm ihre Hand und gab die Papiere ihrem Vetter. „Hier, nimm sie!“, sagte sie heftig. „Und kümmere dich gut um Rawdon. Unsere Familie lebt seit Jahrhunderten auf dem Anwesen, nun ist es an dir, die Tradition weiterzuführen. Der gesamte Besitz gehört jetzt rechtmäßig dir, und mithilfe der zurückgegebenen Ländereien sind alle Voraussetzungen gegeben, ihn wieder erfolgreich bewirtschaften zu können.“

„Lexi, ich weiß nicht, was ich sagen soll …“

„Sag nichts. Nimm einfach die Dokumente, und halte dich zurück!“

Sie trat an ein Regal, und als sie sich wieder umdrehte, hielt sie eine Pistole in der Hand. „Bleibt alle zurück!“ Der Pistolenlauf zeigte auf Richard.

Einen Augenblick herrschte verblüfftes Schweigen, dann rief Lady Honoria empört: „Alexandra! Was soll der Unfug? Wenn das ein Scherz sein soll, beweist du außerordentlich schlechten Geschmack. Leg dieses Ding sofort weg!“

„Oh nein! Erst werde ich tun, was ich mir geschworen habe.“ Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung. „Ich warne euch. Falls sich jemand rührt, erschieße ich Deverell ohne viel Federlesens. Und ich werde ihn nicht verfehlen.“

Blass, die Augen unverwandt auf Lexis Gesicht gerichtet, sagte Richard: „Dessen bin ich mir sicher. Alexandra ist eine erstklassige Schützin. Ich selbst habe sie unterrichtet. Aber ich wüsste doch zu gern, warum du mich erschießen möchtest, Alexandra.“

„Das fragst du noch, du Schuft? Du hinterhältiger Feigling hast meinen Bruder ermordet und meinen Vater ruiniert. Reicht das nicht als Grund?“

Ein Keuchen ging durch den Raum. Lady Honoria widersprach voller Entrüstung, und Pfarrer Harmond meinte verblüfft: „Ich verstehe das alles nicht. Warum sagen Sie solch schreckliche Sachen über Ihren Gatten, Lady Deverell? Meine Liebe, offenbar wissen Sie nicht, was Sie tun. Vermutlich haben die Ereignisse der vergangenen Monate Sie überfordert. Geben Sie mir die Waffe.“ Er machte einen Schritt nach vorn, doch Lexi gebot ihm Einhalt.

„Bleiben Sie stehen! Ich weiß genau, was ich tue. Und ich schwöre, ich werde Deverell getroffen haben, noch bevor Sie mich erreichen.“

„Richard, ein solch unerhörtes Benehmen ist mir mein Lebtag noch nicht untergekommen. Warum bringst du deine Gemahlin nicht zur Räson?“, sagte Lady Honoria außer sich vor Entrüstung.

„Das würde ich ja gern“, erwiderte Richard, ohne den Blick von Lexi zu nehmen. „Ich weiß allerdings nicht wie, Tante Honoria.“ Sein Gesicht war immer noch bleich, seine Stimme jedoch klang beherrscht. „Indes bin ich mir sicher, dass Alexandra es ernst meint.“ Mit einfühlsamer Stimme wandte er sich an seine Gattin. „Du erhebst schwere Anschuldigungen, die sich keineswegs beweisen lassen, wie du weißt. Hältst du mich denn wirklich für einen solchen Halunken?“

„Oh ja. Und ich habe alle Beweise, die ich brauche. Und jetzt, da Rawdon wieder vor dir sicher ist, werde ich dich für deine Taten büßen lassen.“

„Sir Mark!“, sagte Lady Honoria nachdrücklich. „Haben Sie denn keinen Einfluss auf Ihre Cousine? So tun Sie doch etwas! Ich kann zwar nicht glauben, dass sie wirklich auf jemanden schießen würde, aber es ist gefährlich, eine Waffe auf einen Menschen zu richten. Sagen Sie ihr, sie soll aufhören, sich wie eine Närrin zu benehmen, und die Waffe weglegen, bevor noch etwas geschieht.“

„Mach dich nicht unglücklich, Lexi!“, bat Mark. „Du hast ja erreicht, was du wolltest. Rawdon ist wieder gänzlich im Besitz der Familie. Es ist nicht notwendig, dass du jetzt noch eine solche Verrücktheit begehst.“

„Doch, das ist es. Notwendiger als je zuvor, Mark. Er ist mein Gatte! Glaubst du etwa allen Ernstes, ich könnte mit solch einem Verbrecher zusammenleben?“ Sie zielte mit der Pistole auf Richards Herz. Erneut ging ein Keuchen durch den kleinen Raum.

„Warte, Alexandra!“ Richards Stimme klang eindringlich, aber immer noch furchtlos. „Hör mich nur einen Augenblick an. Als Beschuldigter habe ich doch wohl das Recht, mich zu verteidigen.“

„Auf deiner Unschuld zu beharren, meinst du wohl?“ Lexi verzog abschätzig den Mund.

„Ja, verflixt, weil ich unschuldig bin!“

„Du hast also meinen Bruder nicht erschossen?“

„Nein!“

„Und du hast auch nicht mit meinem Vater Karten gespielt? Hast nicht alles gewonnen, was er besaß, und ihn damit ruiniert?“

Richard zögerte. „Er war schon ruiniert, bevor ich mit ihm gespielt habe, aber ja, ich habe mit ihm um seinen restlichen Besitz gespielt und gewonnen.“

Lexi schluchzte auf, legte den Finger auf den Hahn und spannte ihn. Bereit, sich auf sie zu stürzen, machten Lady Honoria und Pfarrer Harmond einen Schritt nach vorn.

„Rührt euch nicht von der Stelle!“, rief Richard schroff. „Ich verbitte mir jegliche Einmischung. Diese Angelegenheit geht nur Alexandra und mich etwas an.“ Lexis Blick festhaltend fuhr er fort: „Ich habe getan, was ich tun musste. Ich wollte deinen Vater vor weiterem Unheil bewahren, nicht ruinieren. Wäre er nicht so plötzlich von uns gegangen, hätte ich dir das auch beweisen können. Ihm und nötigenfalls auch dir.“

„Das klingt in meinen Ohren nicht sehr überzeugend. Hätte ich dich nicht gezwungen, die Ländereien meines Vaters an Mark zurückzugeben, hättest du alles deinem Besitz einverleibt. Und dadurch wäre Rawdon zugrunde gegangen.“ Ihre Augen blitzten wütend. „Himmel, Deverell, was bist du nur für ein Mann? War dir Channings nicht groß genug? Musstest du unbedingt auch noch Rawdon besitzen?“

„Du hast mich nicht gezwungen, alles zurückzugeben, Alexandra“, erwiderte Richard mit stählerner Stimme. „Das hab ich aus freiem Willen getan. Es war dein Hochzeitsgeschenk. Du hast beschlossen, es deinem Vetter zu geben.“

„Bei mir kann von freiem Willen allerdings wohl keine Rede sein! Immerhin musste ich dich erst heiraten, um dieses Geschenk zu bekommen.“

„Soll das etwa heißen, du hättest mich andernfalls nicht geheiratet? Das kann ich nicht glauben. Mir schien, mein Antrag war dir sehr willkommen.“

„Das war bevor …“ Sie hielt inne und schluckte. „Bevor ich von deinen Schandtaten erfahren habe. Danach habe ich mich nur deshalb mit dieser Ehe abgefunden, weil sie die einzige Chance bot, Rawdon vor dir zu schützen.“

Alle Farbe wich aus Richards Gesicht. „Ich verstehe …“ Er schluckte schwer. „Aber, wie du schon gesagt hast, Rawdon ist jetzt vor mir sicher. Damit ist wohl auch alles, was ich getan oder unterlassen haben sollte, abgegolten.“

„Abgegolten? Du hast meinen Vater in den Tod getrieben. Und auch für den Tod meines Bruders sollst du büßen!“

„Ich sagte bereits, dass Johnnys Tod ein Unfall war“, erwiderte Richard gefasst.

„Oh, das will ich dir gern glauben. Aber ob Unfall oder nicht, du hast ihn erschossen, obgleich du allen erzählst, er hätte sich versehentlich selbst erschossen. Warum sonst hättest du dir solche Mühe gegeben, diesen sogenannten Unfall zu vertuschen? Du bist ein Lügner und ein Feigling, Richard Deverell. Und ich weiß das, auch wenn die restliche Welt anderer Meinung ist.“

Richard machte unwillkürlich einen Schritt nach vorn, worauf Lexi sofort den Finger auf den Abzug legte.

„Nein! Oh bitte, lieber Gott, nein!“, schrie Lady Honoria.

Abrupt verharrte Richard reglos. „Würde das der Wahrheit entsprechen, hätte ich den Tod wahrlich verdient“, sagte er ernst. „Aber so war es nicht. Ich war nicht einmal in Johnnys Nähe. Wäre ich da gewesen …“ Er hielt inne, zum ersten Male sichtlich um Beherrschung kämpfend. Sein Gesicht war von Schmerz und Trauer gezeichnet. Kurz presste er die Lippen zusammen, dann fuhr er fort: „Wäre ich bei ihm gewesen, wäre all dies nicht geschehen. Ich hätte ihn gerettet. Leider war er zum Zeitpunkt seines Todes allein.“

Er sprach mit solch leidenschaftlicher Überzeugung, dass Lexi ins Zaudern geriet und die Waffe ein wenig senkte. Gleich darauf aber hob sie sie wieder an. „Ich habe Beweise, eindeutige Beweise“, sagte sie tonlos.

„Dann zeig sie mir! Hast du deinen Sinn für Gerechtigkeit verloren, Alexandra? Angeklagt, verurteilt und gerichtet, alles in einem Atemzug – soll das etwa mein Schicksal sein?“

„Ich habe dich geliebt, Richard!“, rief sie. Doch obwohl in ihrer Stimme Verzweiflung durchklang, hielt sie die Pistole mit ruhiger Hand auf ihn gerichtet. „Mein Vater hat dich geliebt. Johnny war dein Freund. Du hast uns alle hintergangen! Du hast die Menschen angelogen und betrogen, die dir ihr Leben anvertraut hätten. Du verdienst es nicht, weiterzuleben.“

„Meine Liebe, versuch nur einmal in deinem Leben erst an die Folgen zu denken, bevor du handelst. Im Augenblick bist du von meiner Schuld überzeugt. Aber was, wenn du dich irrst? Nehmen wir einfach einmal an, du erschießt mich jetzt und stellst später fest, dass ich trotz deiner sogenannten Beweise unschuldig war. Wie würdest du dich fühlen?“

Lady Honoria brach ihr Schweigen. „Natürlich bist du unschuldig, Richard! Wie kannst du diese Situation nur so gelassen hinnehmen? Schau sie dir doch an! Sie meint, was sie sagt. Das Mädchen ist verrückt geworden!“ Mit zitternder Stimme wandte sie sich an Alexandra. „Du darfst Richard nicht erschießen! Er ist ein ehrenhafter Mann. Und dich hat er gewiss immer sehr großzügig behandelt. Er würde dich nicht anlügen und auch niemand anderen. Der Tod deines Bruders war ein tragischer Unfall, wie wir alle wissen. Das haben sogar die Militärbehörden festgestellt. Und Richard sagt, er war noch nicht einmal zugegen, als dein Bruder dahinschied, wie kann er da etwas mit seinem Tod zu tun haben? Und dein Vater …“

Lexi hörte nicht mehr zu. Ihre Augen brannten, doch sie hielt den Blick unverwandt auf Richard gerichtet, ebenso wie die Pistole in ihrer Hand.

„Danke, Tante Honoria“, unterbrach Richard. „Ich denke, du wirst meine Gemahlin nicht davon überzeugen können, dass ich kein Schuft bin. Sie ist sich meiner Schuld so sicher, dass sie Argumente zu meinen Gunsten nicht gelten lassen wird. Aber vielleicht kann ich sie ja dennoch umstimmen.“ Die Augen auf Lexis Gesicht fixiert, fuhr er fort: „Ich stimme dir zu, dass jemand deiner Familie übel mitgespielt hat. Nach dem Tod deines Vaters dachte ich, die Sache sei erledigt. Offenbar habe ich mich geirrt. Aber mich zu erschießen wird das Problem nicht lösen, das kann ich dir versichern. Denn ich bin nicht der Schuldige. Wenn du mir allerdings etwas Zeit gibst, werde ich den Schuft finden.“

„Es gibt keinen anderen Übeltäter außer dir, Deverell!“

„Doch, das schwöre ich dir!“ Richards Beharren zeitigte schließlich einen gewissen Erfolg. In Lexis Miene malte sich Unschlüssigkeit. Er bemerkte ihr Zögern und fuhr fort: „Lass mich dir ein Angebot machen. Du zeigst mir deine Beweise und erklärst mir, warum du so fest davon überzeugt bist, ich hätte meinen besten Freund und seine Familie betrogen. Menschen, die mir sehr viel bedeuten. Dann gib mir sechs Monate Zeit, um dir zu beweisen, dass du dich irrst und ich Johnny nicht erschossen habe. Sechs Monate, um herauszufinden, wer deinen Vater ruiniert hat.“

„Das zumindest warst du! Du hast es bereits zugegeben.“

„Nein, das habe ich nicht. Du hast mir nicht richtig zugehört. Ich habe mein Bestes gegeben, um den Schaden zu begrenzen, und habe versagt. Lass mich dir beweisen, dass ich die Wahrheit sage, und leg die Waffe weg. Wenn ich nach sechs Monaten meine Unschuld nicht zu deiner vollen Zufriedenheit beweisen kann, dann werde ich dir die Mühe ersparen, auf mich zu schießen. Ich werde es selbst tun, das schwöre ich dir.“

Pfarrer Harmond und Lady Honoria begehrten gleichzeitig auf.

„Solch ein Versprechen dürfen Sie nicht geben, Lord Deverell!“

„Richard, bist du jetzt auch noch verrückt geworden?!“

Doch Lexi und Richard schenkten ihnen keine Beachtung.

„Ich gebe dir mein Wort“, wiederholte Richard.

„Das Wort eines Lügners und Feiglings?“, entgegnete sie mit blitzenden Augen. „Was ist das schon wert?“

„Wohl mehr als deines, will mir scheinen“, erwiderte er. „Immerhin hast du geschworen, mich zu lieben, zu ehren und mir zu gehorchen. Oder hat eine andere neben mir vor dem Altar gestanden?“

„Ich habe gelobt, dich zu lieben, bis dass der Tod uns scheidet, Richard.“

„Ah! Verstehe. Und das gibt dir das Recht, deine anderen Versprechen zu brechen?“ Er verzog das Gesicht und sah sie herausfordernd an. „Also, wie entscheidest du dich, Alexandra? Eine Kugel jetzt oder in sechs Monaten?“

Pfarrer Harmond räusperte sich. „Lord Deverell, ich weigere mich, Zeuge eines solch teuflischen Paktes zu werden.“

„Mr Harmond, können Sie denn nicht sehen, dass Alexandra sich auf nichts weniger einlassen wird?“, erwiderte Richard ungehalten. „Machen Sie es ihr nicht unmöglich, meinem Vorschlag zuzustimmen.“

Pfarrer Harmond überlegte kurz. Nach einer Weile seufzte er und schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht gutheißen, was Ihr Gatte vorschlägt, Lady Deverell. Aber wenn dieser Handel einen kaltblütigen Mord verhindern kann, dann muss ich Sie eindringlich bitten, sich darauf einzulassen. Mein liebes Kind, Sie bringen nicht nur Ihren Gatten und sich selbst in Gefahr, sondern riskieren obendrein, dass Ihre unsterbliche Seele Schaden nimmt. Geben Sie mir die Pistole.“

Lexi sah einen nach dem anderen an. In ihren vor Kummer geweiteten Augen glänzten Tränen. „Ich weiß nicht, was ich tun soll“, sagte sie. „Ich weiß es einfach nicht! Ich will niemanden töten. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal dazu gezwungen sein würde. Aber als ich herausfand, dass er mich angelogen hat, als mir bewusst wurde, was er getan hat, da wusste ich, dass ich meine Familie rächen muss …“ Sie blickte Richard mit gequälter Miene an. „Schwörst du vor allen hier, dein Versprechen zu halten? Bei deiner Ehre?“

„Ich schwöre bei meiner Ehre.“

„Nun, gut, dann gehe ich diesen Kompromiss ein.“ Sie senkte die Pistole, und ein erleichtertes Aufseufzen ging durch den Raum, als sie diese auf den Tisch legte.

Pfarrer Harmond nahm die Waffe sogleich an sich.

Lexi blickte ihn an und zitterte plötzlich am ganzen Körper. Ihr Gesicht war so weiß wie ihr Kleid, rot wie eine lodernde Flamme hob sich ihr Haar davon ab. Sie legte die Hände an die Kehle, ein Stöhnen entfuhr ihr, dann schwankte sie unvermittelt.

Richard fing sie auf, als sie fiel.

Einen Augenblick rührte sich niemand von der Stelle, dann meinte Lady Honoria: „Was willst du nun in Gottes Namen mit ihr machen, Richard? Wenn du mich fragst, wäre sie im nächstgelegenen Irrenhaus am besten aufgehoben.“

Die ohnmächtige Lexi in seinen Armen haltend, erwiderte Richard: „Wie kommst du nur auf solch einen Gedanken, Tante Honoria? Selbstverständlich wird mich meine Gemahlin nach Channings begleiten. Rawdon, würden Sie bitte meinem Kutscher Bescheid geben, er soll die Chaise unverzüglich am Seiteneingang vorfahren. Lady Deverell ist krank geworden.“ Er warf den anderen einen vielsagenden Blick zu. „Mehr muss von diesem Vorfall nicht an die Öffentlichkeit dringen.“

Er hielt ihre Blicke fest, bis sie alle ihr Einverständnis gaben. Dann nickte er Mark zu, der sich sogleich auf die Suche nach Richards Kutscher machte.

2. KAPITEL

Lexi schlug die Augen auf und schaute sich um. Sie lag im Bett. Das Zimmer, in dem sie sich befand, war groß, luxuriös möbliert und ihr völlig fremd. Neben dem Bett auf dem Nachttisch stand eine Ansammlung von Flaschen und Pulvern, daneben ein Glas und eine Karaffe mit Wasser. Hinter der Karaffe sah sie eine Vase mit Rosen und auf einer schönen Kommode zwischen zwei Fenstern eine Schale mit Herbstblumen. In einem Sessel in der Nähe des Bettes saß Lady Honoria, die sofort zu ihr eilte, als sie bemerkte, dass Lexi sich regte.

„Endlich bist du aufgewacht.“

„Wo bin ich?“ Lexis Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.

„Trink etwas.“ Lady Honoria hielt ihr ein Glas an die Lippen. „Du bist in Channings, wo sonst?“

„In Channings?“ Lexi runzelte die Stirn. Unvermittelt kam ihr die Erinnerung wieder. Abrupt schob sie das Glas von sich und setzte sich auf. „Aber das geht nicht. Ich kann unmöglich mit Richard zusammenleben.“

„Reg dich bitte nicht auf. Der Arzt meint, du brauchst völlige Ruhe.“

Lexi schloss die Augen. „Wie lange bin ich schon hier?“

„Seit gestern. Richard hat dich nach der Hochzeit hierhergebracht. Du bist nach dieser absolut grotesken Szene in der Sakristei ohnmächtig geworden. Doktor Loudon hat mehrmals nach dir gesehen.“

Die Augen öffnend sagte Lexi: „Sicher hassen Sie mich, weil ich Richard erschießen wollte.“

„Nein, denn mir ist klar, dass du zu dem Zeitpunkt ganz offensichtlich nicht bei Vernunft warst. Allerdings fällt es mir nicht leicht, dir zu verzeihen, dass du uns allen einen solch großen Schrecken eingejagt hast. Einen Augenblick lang dachte ich wirklich, du wolltest schießen.“

„Das wollte ich auch“, sagte Lexi. „Ich habe alles sorgfältig geplant und mir geschworen, es zu tun. Als es dann aber so weit war … Warum konnte ich es nicht?“

Lady Honoria richtete sich auf. „Hör sofort auf, solchen Unsinn zu reden, Lexi! Natürlich konntest du nicht auf Richard schießen. Schließlich bist du keine Mörderin. Und wenn du nicht aufhörst, solchen Unfug von dir zu geben, werde ich Murdie holen, damit sie bei dir wacht. Ich jedenfalls hör mir das nicht länger an.“

„Nein, bitte gehen Sie nicht.“ Lexi griff nach Lady Honorias Hand. „Sagen Sie … ist er … wird er … sind wir wirklich verheiratet?“

„Natürlich. Indes würde es mich nicht wundern, wenn Richard dich fortschickt. Wenn eine Frau ihrem Gatten mit Mord droht, ist das sicher Grund genug für eine Scheidung. Ich könnte es Richard noch nicht einmal verübeln, wenn er dich ins Irrenhaus bringt.“ Lady Honoria entzog Lexi ihre Hand. „Du hast mich zum Narren gehalten. Ich hätte geschworen, dass du ihn liebst.“

Eine Träne kullerte ihr über die Wange. „Das tue ich auch“, flüsterte sie. „Ich habe mir nichts sehnlicher gewünscht, als Richard zu ehelichen, so sehr liebe ich ihn …“

Lady Honoria schnaubte. „Du hast eine merkwürdige Art, deine Liebe zu zeigen. Wenn dir mein Neffe so sehr verhasst ist, warum hast du seinen Antrag nicht einfach abgelehnt, du dummes Mädchen?“ Sie bedachte Lexi mit einem vernichtenden Blick, ehe sie fortfuhr: „Jede heiratsfähige Frau im Land wäre mit Freuden seine Gemahlin geworden. Warum zum Teufel wollte er ausgerechnet dich zur Gattin nehmen?“

Lexi schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts mehr!“

„Nun, ich sage dir, warum“, erwiderte Lady Honoria ungerührt von Lexis offenkundiger Verzweiflung. „Du hast ihm leidgetan, deshalb hat er dich geheiratet. Gewiss hat er gedacht, er sei es deiner Familie schuldig.“ Lexi wollte aufbegehren, doch Lady Honoria beachtete ihren Protest gar nicht. „Ich weiß nicht, welche Grillen du dir in den Kopf gesetzt hast, Alexandra Rawdon, aber ich hoffe, du bist jetzt zufrieden. Zwar ist es dir nicht gelungen, Richard zu töten, sein Leben hast du jedoch ganz sicherlich ruiniert.“ Sie schöpfte kurz Atem, um gleich darauf fortzufahren: „Ich war froh darüber, dass er unversehrt aus dem Krieg heimgekehrt ist und sich mit seiner Gemahlin in Channings niederlassen wollte, um endlich eine Familie zu gründen. Aber nun …“ Sie winkte aufgebracht ab. „Richard hat mich gebeten, freundlich zu dir zu sein. Doch das fällt mir schwer. Ich bin keine Heilige. Ich kann nicht bei dir bleiben, sonst sage ich nur noch weitere Dinge, die ich besser für mich behalten hätte.“

Lexi blickte sie aus großen, von Kummer getrübten Augen an. „Ich bedaure, dass Sie wütend auf mich sind. Allerdings habe ich Richards Mitleid nie gewollt. Er hätte es sich besser für meinen Vater aufgespart. Das können Sie wohl aber nicht verstehen.“

„Nein, und ich glaube auch nicht, dass ich es jemals verstehen werde, warum du ausgerechnet gegen Richard solch schwere Anschuldigungen erhebst. Wie konntest du ihm das nur antun?“ Sie blickte Lexi einen Augenblick an, dann schüttelte sie den Kopf. „Es hat keinen Zweck. Ich werde Murdie holen. Ich kann nicht länger bei dir wachen.“

Die Tür fiel hinter ihr zu, und Lexi schloss, am ganzen Körper zitternd, die Augen. Seit ihre Welt aus den Fugen geraten war, hatte sie das Gefühl der Panik und des Verlustes nie ganz losgelassen. Nun brandete es erneut mit aller Macht auf und nahm von ihr Besitz. Warum hatte Richard um ihre Hand angehalten? Damals hatte sie geglaubt, er liebe sie so sehr wie sie ihn …

Der Moment, da er ihr den Antrag gemacht hatte, war ihr mit schmerzlicher Klarheit ins Gedächtnis gebrannt. Wie dumm war sie doch gewesen, zu glauben, er hege tiefere Gefühle für sie!

Als Richard damals in die Bibliothek gekommen war, hatte sie am Schreibtisch gestanden, um die Papiere ihres Vaters zu ordnen. Von Weinkrämpfen geschüttelt, musste sie ihre Arbeit immer wieder unterbrechen, denn das Bild ihres Vaters, zusammengesunken über eben jenen Papieren, stand ihr ständig vor Augen …

„Oh, Alexandra. Du solltest dieses Zimmer nicht allein aufsuchen“, sagte Richard beim Eintreten.

Blind vor Tränen wandte sie sich ihm zu, worauf er sie tröstend in die Arme nahm. Als sie den Kopf an seine Brust legte, fühlte sie sich wunderbar geborgen. Schon am vorangegangenen kummervollen Tag hatte er ihr zur Seite gestanden, den Dienstboten Anweisungen erteilt und dafür gesorgt, dass man sich um sie kümmerte. Indes hatte sich keine Gelegenheit für ein Gespräch ergeben.

Sie in den Armen haltend wartete er, bis sie sich wieder gefasst hatte, ehe er sie zum Sofa vor dem Kamin geleitete. „Dir scheint kalt zu sein. Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?“

„Ich weiß nicht. Ist es wichtig?“

„Natürlich. Ich lasse dir etwas bringen.“

Nachdem sie wenig später ein paar Bissen verspeist und ein paar Schlucke Wein getrunken hatte, fragte er: „Ist dir jetzt besser?“

Sie nickte, und ihre Hände ergreifend lächelte er dieses besondere, liebevolle Lächeln, das er sich ganz allein für sie aufzusparen schien. Es entfaltete wie gewöhnlich seinen Zauber, und für einen Augenblick vergaß sie all ihren Kummer.

„Was wolltest du denn am Schreibtisch?“

„Papas Papiere sortieren.“

„Darum sollten sich besser die Anwälte deines Vaters kümmern. Du solltest dich schonen.“

„Das geht nicht“, widersprach sie. „Wenn ich die Papiere nicht ordne, wird Mark sich bestimmt darum kümmern wollen. Er war heute Morgen hier, als ich hereinkam. Ich kann es ihm nicht verübeln, schließlich ist er der Erbe. Obgleich er immer noch wie ein Fremder für mich ist. Und diese Papiere waren das Letzte … das Letzte, was Papa vor seinem Tod gelesen hat. Daher will ich mich darum kümmern.“

„Soll ich die Papiere für dich ordnen?“

Einen Moment sah sie ihn nachdenklich an. „Ja, gut“, sagte sie schließlich. „Du hast meinem Vater sehr nahegestanden. Aber du hast bereits so viel für mich getan. Und ich habe keinen Anspruch auf dich oder deine Zeit.“

Ernst blickte er sie aus grauen Augen an. „Du irrst, Alexandra. Du hast jeden Anspruch auf meine Zeit und alles andere von mir.“

Verwirrt schaute sie zu ihm auf.

„Ich verspüre schon lange den Wunsch, dich zu heiraten. Dein Vater hat das gewusst. Und ich möchte, dass unsere Hochzeit so schnell wie möglich stattfindet. Sagst du Ja? Wirst du mir vertrauen?“

Autor

Sylvia Andrew

Sylvia Andrew wollte eigentlich nie ein Buch verlegen lassen, bis sie Mills & Boon ihren ersten historischen Roman zukommen ließ. Als dieser sofort angenommen wurde, war sie überrascht, aber glücklich. "Perdita" erschien 1991, und sieben weitere Bücher folgten. Auch Sylvias eigene Liebesgeschichte ist sehr romantisch. Vereinfacht gesagt hat sie den...

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