Herz im Spiel

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Herzlos setzt Mariannes Vormund sie als Pfand im Glücksspiel ein - und verliert sie an den vermögenden Peter Desmond. Voll banger Erwartungen, wie ihr Schicksal in den Händen des Fremden aussehen wird, reist Marianne zu seinem Landsitz. Dort tritt ihr ein sehr attraktiver Mann entgegen. Sein erster heißer Kuss lässt keinen Zweifel daran, für wen er sie hält und was er mit ihr vorhat ...


  • Erscheinungstag 01.07.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733764968
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

London 1855

Eine Karte.“

„Zwei.“

„Ich bleibe bei diesen.“

Die Karten wurden wie verlangt um den Tisch herum ausgeteilt. Schließlich schnipste der Geber einige Karten für sich selbst vom Stoß.

„Der Geber kauft drei“, verkündete er.

Die Männer auf den Stühlen betrachteten die Karten, die sie in Händen hielten, mit unterschiedlich finsteren Mienen. Ziemlich unbekümmert dagegen wirkte der Geber selbst, was zweifellos auf den beeindruckenden Stapel Münzen und Geldscheine, die vor ihm auf dem Tisch lagen, zurückzuführen war.

„Mr. Phillips, ich glaube, Sie müssen setzen“, erinnerte er den Mann neben sich sanft.

Dessen Gesichtsausdruck verdüsterte sich noch mehr. „Ein Pfund“, knurrte er endlich, legte eine schwere Münze in den Topf und warf dem Spieler zu seiner Linken einen herausfordernden, giftigen Blick zu.

Mr. Abbot hätte seinem Mitspieler trotz dessen strenger Miene die Stirn geboten, hätte der gebende Gentleman ihm nur eine weitere Bildkarte gegeben, aber mit diesem Blatt …

Abbot seufzte tief und schob seine Karten zusammen. „Ich fürchte, die Vorsicht gebietet mir, mich vom Schlachtfeld zurückzuziehen“, sagte er und legte die Karten umgedreht vor sich hin.

„Mr. Carstairs?“ mahnte prompt der Geber.

„Ich bin dabei“, meinte der dritte säuerlich und nahm einige Münzen von dem zusammengeschmolzenen Stapel, den er vor sich liegen hatte.

„Der Geber geht mit.“ Eine Banknote gesellte sich zu dem schon im Topf liegenden Geld.

Die vier Männer – Phillips, Abbot, Carstairs und der Geber, Mr. Peter Desmond – waren keine engen Freunde. Eigentlich waren sie nur flüchtig miteinander bekannt. Sie trafen sich mehrere Male im Jahr, um Karten zu spielen. Mindestens einer von ihnen zog stets als Verlierer von dannen, was nicht eben dazu beitrug, sich untereinander sympathischer zu finden.

„Mr. Phillips? Möchten Sie erhöhen oder aussteigen?“

„Ich möchte vieles tun“, antwortete Phillips. „Aber Wünsche gehen nicht immer in Erfüllung, nicht wahr? Ich passe.“

„Tja, Mr. Carstairs, wieder einmal scheint es, als ob nur wir beide dieses Blatt ausspielen würden“, meinte der Mann, der gegeben hatte. Seine Stimme war sanft, sein Auftreten weltmännisch und von vollendetem Charme.

Mr. Carstairs stellte sich ihn mit eingeschlagener, blutiger Nase vor und überlegte, wie weltmännisch und charmant er dann trotzdem noch wirken würde. Bei jedem Spiel, das die vier Männer machten, stand Mr. Desmond für gewöhnlich mit Geld in der Tasche vom Tisch auf, und Mr. Carstairs verabschiedete sich meist mit leeren Händen.

„Sie haben das meiste Geld, das ich hergebracht habe, an sich genommen, und ich möchte zu gern einen Teil dieser Verluste wettmachen. Alles oder nichts, Desmond.“

Carstairs schob den Rest seiner Barschaft in die Mitte des Tisches.

Desmond nahm die Zigarre, die in dem Aschenbecher neben seinem Ellbogen schwelte, steckte sie zwischen die Lippen und studierte aufmerksam die Karten in seiner Hand. Noch eingehender jedoch betrachtete er den Mann, der neben ihm saß. In der Rauchwolke, die er ausstieß, blinzelte er, aber weder der Qualm noch die zusammengezogenen Augenbrauen konnten die Tatsache verhehlen, dass er ausgesprochen gut aussah. Sein Haar war dunkelbraun, die Augen tiefgrau, und sein kantiges Kinn wies auf einen eisernen Willen hin.

Er schnippte die Asche von seiner Zigarre, steckte sie wieder in den Mund und hielt sie zwischen den Zähnen. „Unglücklicherweise, Mr. Carstairs, befinden Sie sich nicht in der Position, Bedingungen zu stellen“, meinte er, ein ironisches Lächeln auf den Lippen. „Ich brauche nur zu erhöhen, damit Sie verlieren.“

Er schickte sich an, genug Münzen und Scheine aufzunehmen, um seinen Worten die Tat folgen zu lassen, aber Carstairs gebot ihm beinahe panisch Einhalt. „Warten Sie!“ rief er. „Ich sagte, alles oder nichts.“

„So ist es“, pflichtete Desmond ihm bei. „Und Sie haben alles gesetzt und nichts mehr übrig.“

„Nein, nein. Ich habe …“

„Was, Mr. Carstairs?“

„Ich habe … geben Sie mir ein Blatt Papier.“

„Also, Mr. Carstairs, Sie kennen doch unsere Abmachung. Wir waren uns einig, dass wir nur um die Summen spielen, die wir mit an den Tisch gebracht haben.“ Dieser Umstand schien den Gentleman ehrlich zu bekümmern.

„Ich rede nicht von Geld“, murmelte Carstairs, der selbst einen Zettel und einen Stift in seiner Tasche gefunden hatte und etwas kritzelte, während er sprach. „Etwas Besseres als Geld.“ Er griff noch einmal in seinen Rock und nahm eine kleine Brieftasche heraus. Nachdem er einen Moment lang ihren Inhalt durchwühlt hatte, zog er eine abgegriffene und zerfledderte Daguerreotypie hervor. Diese reichte er zusammen mit dem Papier über den Tisch.

„Wertvoller als Geld? Das bezweifle ich“, meinte Desmond, nahm die Gegenstände, die Mr. Carstairs ihm zugeschoben hatte, und betrachtete sie. Er zog die Augenbrauen hoch und sah, Bestätigung heischend, seinen Mitspieler an. „Wirklich?“ fragte er.

„Ich garantiere dafür“, sagte Carstairs fest.

Desmond nahm die Zigarre, die zwischen seinen Zähnen steckte, und legte sie behutsam zurück in den Aschenbecher. „Ich gebe zu, dass Sie meine Neugierde geweckt haben.“

„Dann nehmen Sie den Einsatz an?“ drängte Carstairs.

Desmond zögerte noch einen Augenblick, bevor er schließlich nickte. „Nun gut“, willigte er ein. „Das könnte ganz … lustig werden. Meine Gewinne gegen dies hier.“ Er hielt das Papier und die Daguerreotypie hoch. „Was haben Sie, Mr. Carstairs?“

Carstairs lächelte selbstgefällig und deckte seine Karten auf, damit die anderen sie sehen konnten.

„Full House!“ erklärte er triumphierend und breitete die Karten vor sich auf dem Tisch aus.

Mr. Phillips und Mr. Abbot murmelten ehrfürchtig.

Mr. Desmond betrachtete die drei Buben und die beiden Zweier und schüttelte leicht den Kopf.

„Nun“, meinte er, „das schlägt auf jeden Fall einen Dreier.“ Sorgfältig legte er drei Dreien auf den Tisch.

Carstairs lachte in sich hinein und griff über den Tisch, um das Geld an sich zu nehmen.

„Allerdings“, fuhr der jüngere Gentleman fort, „schlägt ein Full House noch lange keinen Vierer“, und kühl legte er eine vierte Drei ab.

Carstairs sank auf seinen Stuhl zurück, als habe er einen Schlag bekommen.

„Kopf hoch, alter Junge“, sagte Desmond und zog seinen Gewinn, einschließlich des Blatt Papiers und der sepiabraunen Fotografie, über den Tisch. „Hier haben Sie eine Kleinigkeit, damit Sie nach Hause kommen.“ Er suchte die schwere Münze heraus, die Mr. Phillips’ letzter Einsatz gewesen war, und warf sie dem anderen über den Tisch hinweg zu. „Ich möchte Sie auf keinen Fall davon abschrecken, sich beim nächsten Mal noch mehr Geld von mir abnehmen zu lassen. Ah, aber in dieser Sache …“ Er nahm das Bild und betrachtete es genüsslich, „… werde ich auf der vollen Begleichung der Schuld bestehen.“

„Selbstverständlich“, erwiderte Carstairs. „Wir stehen Ihnen zur Verfügung.“

„Worum geht es eigentlich?“ erkundigte sich Mr. Phillips neugierig und wies mit einem Nicken auf Desmond und das Bild, das er in Händen hielt.

„Ich dachte, wir hätten beschlossen, nicht um Wechsel zu spielen“, meinte Abbot vorwurfsvoll.

„Das haben wir tatsächlich. Aber Mr. Carstairs hat mir keinen Schuldschein angeboten. Es scheint, dass er mir den Anspruch auf sein Mündel abgetreten hat, eine gewisse Miss Marianne Trenton.“

Die beiden anderen Gentlemen lachten, während Desmond zwinkernd nach seiner Zigarre griff.

1. KAPITEL

Dafür, dass der Sommer gerade erst begonnen hatte, war die Nacht zu heiß. Die Fenster standen offen, doch nur ab und zu wehte eine frische Brise ins Zimmer.

Ein Mädchen saß bekleidet am Fußende des Bettes.

Für diese Jahreszeit war die junge Frau zu warm angezogen, und angesichts der späten Stunde trug sie das Oberteil viel zu hochgeschlossen. Daher war es kein Wunder, dass ihr kleine Schweißperlen auf der Stirn standen. Aber der Grund, weshalb ihr der Schweiß aus den Poren trat und in Rinnsalen langsam den Rücken herunterrann, war in Wirklichkeit ein anderer.

Marianne wartete auf ihren Onkel Horace. Übellaunig war er meistens, aber wenn er beim Kartenspiel verlor, wurde er gewalttätig. Und leider verlor Horace Carstairs fast immer, wenn er spielte.

Carstairs war nicht ihr leiblicher Onkel. Nachdem ihre Eltern im vergangenen Jahr gestorben waren – ihr Vater an den Folgen eines Jagdunfalls und ihre Mutter drei Monate später an einer Influenza, die sie sich in ihrem durch die Trauer geschwächten Zustand zugezogen hatte –, war das Mädchen durch Gerichtsbeschluss Carstairs zugewiesen worden.

„Ich kann das Mädchen nicht aufnehmen“, hatte Carstairs eingewandt. „Ich bin unverheiratet. Sie werden doch einem alten Junggesellen wie mir keine solche Verantwortung aufbürden wollen?“

Aber das Gericht hatte Mr. Carstairs daran erinnert, dass die Justiz, da die junge Dame unter staatlicher Vormundschaft stand, über sie und ihr bescheidenes Erbe verfügen konnte. Carstairs hätte sich vielleicht weiter gewehrt, aber der Richter erklärte sich bereit, ihm als Vormund aus dem Erbe des Mädchens eine Jahresrente auszusetzen.

Mr. Carstairs bestritt seinen Lebensunterhalt durch verschiedene Tätigkeiten, von denen einige, wenn auch nicht alle, legal waren, und da er als Geschäftsmann ebenso wenig gewitzt war wie als Kartenspieler, hatte er gegen zusätzliche Einkünfte nichts einzuwenden. Das Entgelt, das der Richter ihm aussetzte, war ihm damals also ganz gelegen gekommen.

Marianne Trenton, die noch vor kurzem ein Heim und eine liebevolle Familie besessen hatte, musste nicht nur mit ihrer Trauer fertig werden, sondern fand sich auch noch mit einemmal als Mündel eines Mannes wieder, den sie nicht kannte und binnen kurzem verabscheute.

Als Marianne endlich hörte, wie unten ein Schlüssel im Türschloss herumgedreht wurde, sprang sie erschrocken auf.

Ängstlich lauschte sie auf die Schritte ihres Onkels, der im Haus umherging und seinen Überrock an den Garderobenständer neben der Vordertür hängte. An dem Tisch in der Halle blieb er stehen, um die Post durchzusehen. Sie dachte, er würde vielleicht in den Salon gehen, um die Zeitung zu lesen, aber nach einer kurzen Stille, in der er, wie sie sich vorstellte, die Schlagzeilen überflog, näherten seine Schritte sich der Treppe.

Die schweren Stiefeltritte klangen, als stammten sie von einem kräftigen Mann, aber Mr. Carstairs war nicht muskulös, sondern hager und schmächtig. Seine Schultern waren schmal, und sein Gesicht mit der spitzen Nase und den dicht zusammenstehenden Augen wirkte verhärmt.

Marianne erstarrte. Wenn heute Abend alles gut verlaufen war, würde Onkel Horace weitergehen, den Flur entlang und in sein eigenes Zimmer. Dann könnte sie sich endlich entkleiden und ins Bett schlüpfen. Aber wenn er verloren hatte, würde er die Tür aufstoßen und über sie herfallen, ohne dass sie sich wehren konnte. Das Ausmaß der Misshandlungen, die sie würde erdulden müssen – brutale Schläge – hing stets von der Höhe seiner Verluste ab.

Seine Schritte näherten sich der Tür. Weit riss sie die grünen Augen auf, ihr Atem wurde flach, und jetzt hielt sie ihn an. „Na los, nur zu“, flüsterte sie, als er vor ihrer Tür stehen blieb. Voller Angst wartete sie darauf, dass er mit dem Stiefel gegen das dünne Holz trat, das sich zwischen ihnen befand.

Stattdessen klopfte es leise an ihrer Tür.

Verblüfft stieß sie den angehaltenen Atem aus. „Herein“, sagte sie.

Langsam öffnete sich die Tür.

„Du bist noch auf“, begann Onkel Horace.

„So ist es“, antwortete sie.

„Konntest du nicht schlafen?“

„Nein, ich habe gewartet …“ Sie verstummte.

„Gewartet? Auf mich? Ich bin gerührt, Marianne.“ Sie schwieg.

„Ich habe noch einmal über unsere Lage nachgedacht“, fuhr er fort. „Du weißt, dass ich nicht unbedingt geeignet bin, ein junges Mädchen großzuziehen, und ich vermute, dass du hier nicht glücklich gewesen bist. Zu oft warst du allein, ohne eine Möglichkeit, unter Leute zu kommen. Du bist in einem Alter, in dem du andere Menschen kennen lernen solltest.“

„Also, ich …“

Carstairs unterbrach sie. „Vielleicht ist es Zeit, dass wir uns nach einer neuen Stelle für dich umsehen. Etwas mit einer besseren Perspektive.“ Er hatte sich halb abgewandt und beiläufig gesprochen, als wäre ihm all das eben erst eingefallen, aber jetzt betrachtete er sie aufmerksam von der Seite und beobachtete ihre Miene.

„Eine neue Stelle? Das hört sich an, als sollte ich mich nach einer Arbeit umsehen. Meinst du das, Onkel Horace?“

„Nein, nein. Ich habe mich falsch ausgedrückt. Aber eine andere Umgebung, einen größeren Bekanntenkreis, das schlage ich dir vor.“

„Soll ich jemand besuchen? Vielleicht eine meiner alten Freundinnen?“ fragte sie.

„Das auch wieder nicht“, erwiderte Carstairs ausweichend.

„Was dann?“

„Es ist keine deiner alten Freundinnen, sondern ein mir bekannter Gentleman. Du wirst Ende der Woche abreisen.“

„Abreisen?“

„Am Freitagmorgen wirst du mit einer Kutsche abgeholt. Bis dahin musst du reisefertig sein.“

„Eine Kutsche? Und wohin bringt die mich?“ fragte Marianne, die sich die größte Mühe gab, diesen furchteinflößenden Mann, der ihr Vormund war, zu verstehen.

„Der Herr besitzt ein Landgut in der Umgebung von Kingsbrook. Ich glaube, er möchte dich dort unterbringen.“

„Ich soll London verlassen?“

„Es ist nicht weit“, erläuterte Carstairs. „Und du wirst zweifellos in einigen Wochen wieder zurück sein.“

Horace Carstairs musste sich zu seiner Schande eingestehen, dass er bis zum heutigen Abend die Möglichkeiten, die Marianne ihm eröffnete, nicht erkannt hatte. Sie war ein unverdorbenes junges Mädchen und, soweit er wusste, Jungfrau. Wenn Desmond ihrer überdrüssig war, konnte er ihre Dienste von neuem verkaufen.

„Und wer ist nun der Herr, den ich besuchen soll?“ wollte Marianne wissen. Endlich stellte sie die Frage, die sie am meisten beschäftigte.

Doch ihrVormund schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern. „Du kennst ihn nicht“, sagte er.

„Ein Philanthrop.“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Für Marianne war offensichtlich, dass jeder Mann, der sie von Onkel Horace fortnahm, ein Menschenfreund sein musste.

Als Marianne am nächsten Morgen aufstand, teilte man ihr mit, Mr. Carstairs sei in aller Frühe nach Barnett aufgebrochen, um einen Kredit aufzunehmen.

Sie war verwirrt und erschrocken. Onkel Horace war abgereist, ohne ihr das Geringste über ihre neuen Lebensumstände mitzuteilen. Als Bette sie über Mr. Carstairs’ plötzliche Geschäftsreise informierte, war die junge Frau mit einemmal nicht mehr sicher, ob sie die gestrige Episode nicht geträumt hatte. Es war spät gewesen, und vielleicht war sie eingeschlafen. In ihrer unbequemen Lage am Fußende des Bettes hatte sie wohl besonders lebhaft geträumt.

Mit der Nachmittagspost traf jedoch ein Brief ein, der ihre vage Erinnerung bestätigte.

Miss Trenton,
Ihr Vormund hat Sie inzwischen zweifellos über Ihren bevorstehenden Umzug in Kenntnis gesetzt. Ich freue mich darauf, Sie kennen zu lernen. Mein Diener wird am Freitagmorgen um sieben bei Ihnen sein. Die Fahrt nach Kingsbrook wird den größten Teil des Tages in Anspruch nehmen, so dass Sie früh aufbrechen müssen. Bis dahin verbleibe ich, le tiens, ma biche. P. Desmond.

Marianne, deren Französischkenntnisse äußerst dürftig waren, ahnte nicht, dass Mr. Desmond sie seinen „Schatz“ genannt hatte, noch war ihr klar, wie unverschämt vertraulich die letzte Wendung des Gentleman gewesen war.

Freitagmorgen stand Marianne bei Sonnenaufgang auf. Als um kurz vor sieben Mr. Desmonds Kutscher läutete, war sie angekleidet und erwartete ihn.

Wie Mr. Desmond in seinem Brief angekündigt hatte, nahm die Fahrt zu seinem Anwesen in der Nähe von Reading den Vormittag und den größten Teil des Nachmittags in Anspruch. Es war heiß. Um acht Uhr bedauerte Marianne schon, dass sie ihr dreiteiliges Kostüm gewählt hatte, das nur mit der Jacke komplett wirkte.

An einem kleinen Gasthaus am Wegesrand hielten sie an, um zu Mittag zu essen. Marianne war geradezu gerührt, als der Kutscher zwei Einpfundnoten hervorzog und erklärte, Mr. Desmond habe sie ihm mitgegeben, um für alle Ausgaben aufzukommen, die sich unterwegs vielleicht ergeben würden.

So genoss Marianne ihr Mahl außerordentlich und trank sogar ein Glas Wein, der sie wunderbar in die Lage versetzte, den Rest der Fahrt in der schaukelnden, drückend heißen Kutsche zu verschlafen.

Erschrocken fuhr sie hoch, als der Kutscher den Wagenschlag aufriss. Er hatte sich als „Rickers“ vorgestellt.

„Wir sind da, Miss“, verkündete der Fahrer jetzt.

„Wo denn?“ Marianne fühlte sich noch ganz benommen vom Genuss des Weines.

„Kingsbrook.“ Mit einer weit ausholenden Geste riss Rickers die beiden Türen der Kutsche auf, und Marianne verschlug es den Atem.

Soeben hatten sie eine Holzbrücke über einen Bach überquert, nach dem zweifellos das Gut benannt war. Die Ufer waren mit Moos und zauberhaften rosa Tausendschönchen bewachsen. Die ungezähmte Schönheit der Landschaft setzte sich im Park fort, der, wie Marianne sogleich erkannte, bepflanzt und instand gehalten werden musste, denn zwischen den Bäumen und Büschen wuchsen in leuchtendbunten Beeten Fliederspeer und Mohn, Dahlien und Azaleen.

Das Bild wurde abgerundet durch ein Reh, das zum Bach hinuntertrippelte. Es beäugte sie vorsichtig, zeigte jedoch keine Angst.

Und dann richtete Marianne den Blick auf das Haus, und ihr stockte der Atem. Das Herrenhaus von Kingsbrook erhob sich aus den umliegenden Feldern und Wiesen und machte auf das junge Mädchen den Eindruck eines Märchenschlosses. Dann atmete Marianne wieder gleichmäßig. Die durch den Wein hervorgerufene Schläfrigkeit verflog vollständig und wich einem dumpfen, pochenden Kopfschmerz, und sie erkannte, dass das Gebäude natürlich nicht ganz so ehrfurchtgebietend war, wie sie zuerst geglaubt hatte.

Es besaß drei Stockwerke. Im Erdgeschoss verliefen zu beiden Seiten der massiven, exakt in der Mitte platzierten Doppeltüren hohe Fenster. Die Fenster im ersten Stock waren kleiner und die Fensterläden unter dem Dach nicht viel größer als ein Taubenschlag.

Rickers half Marianne aus der Kutsche, und während er sie zum Haus geleitete, erkannte sie, dass ihr Eindruck von überwältigender Größe zum Teil darauf beruht hatte, dass das Gebäude in so auffälligem Gegensatz zu seinem verwilderten Hintergrund stand. Wäre es von einem gepflasterten Hof umgeben gewesen, mit einer breiten, geschwungenen Auffahrt, dann hätte es die Sinne nicht dermaßen getäuscht und nicht so kolossal gewirkt.

Dennoch war es das größte Privathaus, in dem sie je gewohnt hatte, und sie musste sich zusammennehmen, um nicht Mund und Augen aufzusperren, wenn sie zu ihm aufblickte. Zuerst schien Rickers sie nur ziellos durch das hohe Gras zu führen, doch nach kurzer Zeit erkannte sie, dass unter ihren Füßen flache, ebene Steine lagen. Der Weg war, genau wie die Beete mit den bunten Mohnblumen, sorgfältig und peinlich genau so geplant worden, dass einem der Eindruck ungekünstelter, natürlicher Schönheit vermittelt wurde.

Als sie die Türen fast erreicht hatten, verbreiterte sich der Weg endlich, und der Rasen war gemäht. Offensichtlich hatte Mr. Desmond ein kleines Zugeständnis an Besucher und Gäste gemacht, die es vielleicht zivilisiert bevorzugten. Um das Haus herum verlief ein gepflasterter Fußweg, und die Blumen, die vor den Fenstern blühten, mussten sich mit Pflanzenkübeln begnügen. Doch man musste dem Gebäude schon sehr nahe kommen, ehe die Illusion eines Märchenschlosses in einem verwunschenen Tal verflog.

Rickers blieb vor den hohen Doppeltüren stehen.

„Mrs. River wird Ihnen alles zeigen“, meinte er.

„Mrs. River?“

„Die Wirtschafterin hier auf Kingsbrook.“

„Und wo befindet sich Mr. Desmond?“ fragte Marianne. Sie hatte es eilig, den Gentleman kennen zu lernen, ihm für seine Großherzigkeit zu danken.

„Ach, ich schätze, er ist irgendwo in der Nähe. Lassen Sie sich ein bisschen von Mrs. River herumführen, und dann merken Sie’s schon, wenn er auftaucht.“ Rickers stellte Mariannes Habseligkeiten ab und tippte grüßend an seine Mütze.

„Miss Trenton?“ Erschrocken drehte Marianne sich um und sah sich einer hoch gewachsenen, grobknochigen Frau gegenüber, die die Tür geöffnet hatte. Sie war nicht schön. Ihr Haar begann an den Schläfen zu ergrauen und war zu einem Knoten zurückgebunden, aber ihr Gesicht war interessant. Sie hörte gewiss mehr als nur das, was gesprochen wurde, und sie schien wahrheitsliebend zu sein. Marianne war Mrs. River auf Anhieb sympathisch.

„Miss Trenton, nehme ich an. Wir haben Sie erwartet. Wollen Sie nicht hereinkommen?“ Nach ihrem eisigen Tonfall zu urteilen, hatte die Haushälterin ihrerseits keinen vorteilhaften Eindruck von Marianne.

„Ja. Vielen Dank“, hauchte Marianne und griff nach einer ihrer Taschen.

„Lassen Sie nur. James wird sie Ihnen nach oben bringen.“

Mrs. River trat zur Seite, um Marianne einzulassen, und sie trat über die Schwelle in die dunkle Eingangshalle. „Ist Mr. Desmond …“

„Mr. Desmond hatte heute Vormittag geschäftlich zu tun. Er hat Anweisung gegeben, Ihnen den Tee zu servieren, sobald Sie eintreffen, und sagte, er werde versuchen, so früh zurück zu sein, dass er Ihnen Gesellschaft leisten kann. Der Tee ist fertig, Miss Trenton, aber vielleicht mögen Sie sich ja zuerst ein wenig frisch machen?“

Mrs. Rivers Stimme klang jetzt nicht mehr unfreundlich, sondern ausdruckslos. Angesichts der offenen Missbilligung der Haushälterin beschlich Marianne ein flaues Gefühl in der Magengegend.

„Ich würde mir sehr gern Gesicht und Hände waschen, falls das möglich ist“, antwortete sie dennoch mit einem Lächeln.

„Sicher, Miss Trenton. Alice, führe Miss Trenton in ihre Räume, und bring sie dann wieder in den vorderen Salon herunter, wenn sie so weit ist“, sagte Mrs. River, und Marianne sah verblüfft, wie unmittelbar neben ihr ein Dienstmädchen mit dunklem Rock, weißem Häubchen und weißer Schürze aus dem Nichts aufzutauchen schien.

„Sehr wohl, Mrs. River. Wenn Sie mir folgen würden, Miss?“ bat die Zofe sie.

Alice führte sie durch die Eingangshalle, die Treppe hinauf und die Galerie entlang. „Das ist Mr. Desmonds Suite“, sagte sie und räusperte sich. „Und dies hier …“, sie wies auf die nächste Tür, die, wie Mr. Desmonds Zimmer, auf der von den Eingangstüren im Erdgeschoss abgewandten Seite lag, „… sind Ihre Räume.“

Räume?

Tatsächlich war die Zimmerflucht, die Alice ihr zeigte, fast so groß wie das Häuschen, in dem sie aufgewachsen war und zusammen mit ihren Eltern bequem Platz gehabt hatte.

„Gehört das alles mir?“ flüsterte Marianne. „Soll ich hier wohnen – allein, meine ich?“

„Sicherlich, Miss. Das heißt, außer Sie laden … ich meine, solange Sie nicht … jemand anders hereinbitten. Ich wollte damit nicht andeuten …“ Das Hausmädchen, das kaum älter als Marianne war, stammelte, errötete tief und verstummte schließlich völlig.

Marianne war so überwältigt von der Weitläufigkeit ihrer Zimmer, dass ihr die Verwirrung der Zofe kaum auffiel. Alice knickste tief und ließ sie daraufhin allein. Während sie die Tür schloss, schüttelte sie leicht den Kopf. Diese junge Frau war nicht die Art von Person, mit der sie nach den gedämpften Gesprächen zwischen Mrs. River und Mrs. Rawlins unten in der Küche gerechnet hätte.

In ihrer herrlichen Suite wusch Marianne sich das Gesicht in einer Porzellanschüssel mit Wasser und trocknete sich mit einem der flauschigen Handtücher, die in ihrem Badezimmer bereitlagen, ab. Anschließend ordnete sie sich das Haar mit einer Schildpattbürste, Teil eines eleganten Sets. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu, dann setzte sie eine für ein bedürftiges Waisenkind passende Miene auf. Bevor sie allerdings die Möglichkeit hatte, ihren Auftritt einzuüben, klopfte jemand an ihre Tür.

„Herein“, rief sie.

Alice schlüpfte ins Zimmer. „Er ist da, Miss. Mrs. River hat mich gleich nach oben geschickt, um Sie zu holen. Mr. Desmond hat es nicht gern, wenn man ihn warten lässt, und außerdem sagte Mrs. River, Sie wollten ihn gern sehen.“

„Mr. Desmond? Ja, natürlich“, sagte Marianne, legte die Bürste hin, strich ihr Kleid glatt und überprüfte ein letztes Mal ihr Spiegelbild. Endlich würde sie den liebenswürdigen alten Herrn kennen lernen und Gelegenheit haben, ihm für seine uneigennützige Güte zu danken.

2. KAPITEL

Mr. Peter Desmond stand vor einem der hohen Fenster, blickte in die herrliche, verwilderte Landschaft hinaus und hielt eine Teetasse mit Unterteller in der Hand. Das Nebeneinander von Wildnis und Zivilisation spiegelte sich auf eigentümliche Weise an ihm selbst wider.

Desmond trug einen eleganten maßgeschneiderten Anzug aus bestem Stoff. Hose und Jackett waren dunkelblau und die frisch gestärkte weiße Krawatte sowie das makellose Hemd verrieten ebenso seine hohe gesellschaftliche Stellung wie die zarte Teetasse aus edlem chinesischem Porzellan, die er in den Händen hielt.

Aber als er sich umwandte und Marianne ansah, wirkten sein Gesicht und seine Miene ebenso ungezähmt und atemberaubend wie das Panorama vor dem Fenster.

Einen Moment lang betrachtete er sie schweigend. Von wechselhaftem Licht beschienen, stand sie an einer Stelle, wo die Sonne durch einen grob gewirkten Spitzenvorhang fiel. Ihr Reisekostüm war in einem hellbraunen Farbton gehalten, um den Staub, der am Rock oder an der Jacke haften mochte, zu kaschieren, und mit ihrem dunkelblonden Haar und den großen grünen Augen erinnerte sie ihn an eine Dschungelkatze, die vorsichtig aus dem Unterholz trat und argwöhnisch die vor ihr liegende Landschaft in Augenschein nahm. Die Szene, die durch das Fenster hinter ihr zu sehen war und an einen tropischen Urwald erinnerte, vervollständigte das Bild.

Ihr Busen hob und senkte sich unter dem Rhythmus rascher Atemzüge. Sie beobachtete ihn nervös. Beinahe erweckte sie den Anschein, als wollte sie ihn angreifen oder aber fliehen. Wofür sie sich entscheiden mochte, hing wohl von seinen nächsten Schritten ab. Die Vorstellung nötigte ihm ein kaum merkliches Lächeln ab.

Marianne bedurfte nicht des Spiels von Licht und Schatten, um den ersten Eindruck zu verstärken, den dieser Mann auf sie machte – den eines wilden Tieres, das zum Sprung ansetzte. Dies war entschieden nicht der freundliche ältere Herr mit dem weißen Haar und den zittrigen Händen, den sie sich vorgestellt hatte. Mr. Desmond war sonnengebräunt, dunkel und ebenso kräftig und muskulös, wie ihr Onkel Horace hager war. Sein Haar war zu lang, und sein Blick, der unverhohlen über ihren Körper streifte, um einiges zu kühn. Seine Nase war gerade, seine Augenbrauen schwarz und sein Kinn ausgeprägt.

Als er sich zu ihr umwandte, hatte sein Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck angenommen, ja beinahe zornig sah er sie an. Binnen eines Momentes entspannte sich seine finstere Miene jedoch ein wenig, doch das erleichterte Marianne nicht. Wie sie so vor ihm stand, fühlte sie sich hilflos und irgendwie ausgeliefert, und die passendste Beschreibung für ihn, die ihr in den Sinn kam, war Raubtier.

„Miss Trenton, wie nett, dass Sie mir Gesellschaft leisten.“ Seine Stimme klang sanft und leise.

„Mr. D… Desmond“, stammelte sie. Nach kurzem Schweigen fiel ihr ein, einen Knicks zu machen.

Er lächelte sie an. Das Mädchen war vollkommen, genau wie Carstairs es beschrieben hatte. Es war gewiss nicht Desmonds Stil, um junge Frauen zu spielen, aber zweifellos traf Carstairs neben seinen zahlreichen geschäftlichen Unternehmungen gelegentlich gewisse „Arrangements“ zwischen durchreisenden Herren und Damen von … nun ja, von freier Weltanschauung. Es belustigte Desmond, dass Carstairs die junge Frau als sein „Mündel“ bezeichnet hatte.

„Treten Sie ein, Miss Trenton. Nehmen Sie Platz. Jenny hat uns einen ausgezeichneten Tee gebrüht. Wir wollen ihn doch nicht kalt werden lassen.“ Er wies auf den Diwan, und schnell setzte sich Marianne, dankbar für das Angebot, ihre Beine zu entlasten, die sie kaum noch tragen mochten.

Unerwartet kam Mr. Desmond und setzte sich neben sie.

„Tee?“

Sie nickte.

„Zucker? Milch? Ich sehe keine Zitrone. Soll ich nach Mrs. River läuten?“

„O nein“, stieß Marianne hervor. „Zucker und Milch sind genau richtig. Ich mag Zucker und Milch. Ich tue nie Zitrone in meinen Tee. Doch, manchmal schon, aber das schmeckt mir nicht so gut wie Zucker. Und Milch.“

„Also Zucker und Milch“, meine Desmond, nahm mit einer Silberzange ein Stück Zucker und goss etwas Milch in die Tasse, ehe er sie ihr reichte.

Die Tasse klirrte verräterisch, und Marianne stellte sie ab.

„Und sagen Sie mir, Miss Trenton … möchten Sie vielleicht ein Sandwich? Wie gefällt Ihnen Kingsbrook? Ein ganz schöner Unterschied zu London, nicht wahr?“

Marianne, die eines der angebotenen Sandwiches genommen und hineingebissen hatte, konnte nur nicken.

„Aber andererseits ist das auch meine Absicht gewesen. Diesen Ort ganz im Gegensatz zur Stadt zu gestalten, meine ich.“

Er lächelte ihr über den Rand seinerTasse hinweg zu, und Marianne würgte an ihrem Sandwichbissen herum. Sie schluckte nochmals. „Es scheint, als hätten Sie das vollbracht“, bemerkte sie schließlich atemlos.

„Ich hoffe, Ihnen wird das geschäftige, laute Treiben Londons nicht fehlen“, meinte Mr. Desmond. Sein vollendet höflicher Tonfall beruhigte ihre Nerven ganz und gar nicht. „Ich finde Kingsbrook sehr friedlich, obwohl ich mir vorstellen könnte, dass einem die Stille auch bedrückend vorkommen kann.“

„Ach, mir nicht, Sir. Ich liebe die Ruhe, aber Mr. Carstairs’ Haus war auch nicht so viel besucht, dass man von einem ‚regen Treiben‘ hätte sprechen können.“

Marianne lächelte unsicher, doch Desmond hatte den Blick abgewandt. Er wollte nichts von Carstairs hören oder von den Geschäften, die in seinem „Haus“ abgewickelt wurden.

„Ich verstehe“, sagte Desmond und nahm eins der kleinen Kuchenstücke von dem Tablett, das Mrs. River bereitgestellt hatte. Er hielt Marianne die Platte hin, doch sie schüttelte den Kopf.

„Ich hoffe, das heißt, Sie sind nicht allzu betrübt über Ihren Umzug“, fuhr Desmond fort und stellte das Tablett wieder ab.

„Ganz und gar nicht“, erwiderte Marianne, holte tief Luft, ehe sie hinzusetzte: „Tatsächlich, Mr. Desmond, habe ich auf die Gelegenheit gewartet, Ihnen für die Güte zu danken, mich herzuholen. Kingsbrook ist bezaubernd, und ich werde mich bemühen, Ihren Erwartungen zu entsprechen.“

„Da bin ich ganz sicher“, meinte der Gentleman, sah ihr lächelnd in die Augen und ließ dann seinen Blick noch tiefer wandern.

„Und Sie müssen mir sagen, wenn es etwas gibt, das ich für Sie tun kann“, bot sie an.

„Oh, darauf können Sie sich verlassen“, erwiderte er mit einem Lächeln, das seine dunklen Augen unberührt ließ.

Es folgte ein weiterer Augenblick des Schweigens, währenddessen er Marianne ansah und sie ihre Teetasse betrachtete.

„Sie möchten vielleicht ruhen und dann auspacken, bevor wir uns näher kennen lernen“, meinte Desmond.

„Ja. Ich … das wäre wunderbar“, flüsterte Marianne.

Der Gentleman lächelte bedächtig. „Sehr gut“, sagte er. Desmond erhob sich und bot ihr die Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen, eine Geste, die angesichts ihrer Aufregung nicht ganz überflüssig war. „Ruhen Sie sich aus, Miss Trenton. Wir sehen uns dann heute Abend zum Essen.“

Er griff um sie herum, und einen schwindelerregenden Augenblick lang glaubte Marianne, er wolle sie umarmen. Stattdessen zog er an einer Kordel, die, hinter den Draperien verborgen, an der Wand hing.

Sogleich erschien Mrs. River. „Mr. Desmond? Wünschen Sie etwas?“

„Miss Trenton ist nach ihrer Reise von London hierher erschöpft. Bringen Sie sie nach oben, und Tilly oder Alice sollen das Bad richten.“

„Gewiss, Sir. Hier entlang, Miss Trenton.“

Marianne ging mit Mrs. River hinaus, unsicher, ob sie die Gesellschaft der unfreundlichen Haushälterin vorzog oder lieber bei Mr. Desmond, der sie so beunruhigte, geblieben wäre. Sie argwöhnte, dass sie, indem sie Onkel Horace verlassen hatte, vom Regen in eine ziemlich ungemütliche Traufe geraten war.

Tilly befolgte Mrs. Rivers kurz angebundene Anweisungen und ließ ein Bad ein, während Alice Miss Trenton beim Auspacken half.

Tilly, das ältere der beiden Hausmädchen, war eine schweigsame Frau mit faltigem Gesicht und reizloser Figur. Sie nahm nicht die geringste Notiz von Marianne. Alice schenkte ihr ein schüchternes Lächeln, als Mrs. River sie rief, aber nach einem Blick auf die Haushälterin und ihre säuerliche Miene verzichtete das Mädchen auf jede weitere Freundlichkeit. Die Lider gesenkt, nahm Alice schweigend die Gegenstände entgegen, die Marianne aus ihren Taschen holte.

Marianne tat es Leid, dass das Personal ihr so kühl begegnete. Aber ihre Räume waren prächtig ausgestattet und das Bad so luxuriös, dass sie versuchte, ihre Sorgen einfach zu vergessen. Nach dem Bad gönnte sie sich ein wenig Ruhe, die sie so dringend benötigte.

Als Alice um halb neun an ihre Tür klopfte und sie zum Essen rief, hatte Marianne sich bereits mit aller Sorgfalt angekleidet und zurechtgemacht, um mit dem Hausherrn zu dinieren.

Bis ins Speisezimmer schritt Alice voraus, doch dann ging sie durch die gegenüberliegende Tür, die in die Küche führte, wieder hinaus, und Marianne blieb allein.

Über dem langen Tisch war eine weiße Damastdecke gebreitet. Porzellan, Kristall und Silber für zwei Personen befanden sich darauf, und alles war so makellos poliert, dass sie darin das Spiegelbild ihres tannengrünen Kleids sehen konnte, während sie hin und her ging und auf den Mann wartete, der sie so verwirrte. Das Speisezimmer lag im hinteren Teil des Hauses und besaß ebenso wie der vordere Teil eine Reihe hoher Fenster. Es war dunkel geworden, und sie konnte sich auch in den Lücken zwischen den nicht ganz zugezogenen Vorhängen wie im Spiegel sehen.

Marianne trug eines der wenigen Kleider, die sie, als sie zu Onkel Horace gezogen war, von zu Hause mitgebracht hatte. Als sie die Falten des Rocks berührte, erinnerte sie sich, wie ihre Mutter gemeint hatte, sie sei noch zu klein dafür, aber sie werde schon eines Tages hineinwachsen. Und wahrscheinlich hatte sie Recht gehabt, wenn Marianne auch jetzt noch einiges fehlte. Die Ärmel ließen die Schultern frei, das Mieder lag eng an, und der Halsausschnitt reichte provozierend tief. Das Kleid war eigentlich für eine reifere Frau geschnitten, obwohl Marianne, deren Figur noch mädchenhaft schmal war, es mit Hilfe von Nadeln und Abnähern fertig gebracht hatte, es hier im Halbdunkel für sie einigermaßen passend erscheinen zu lassen.

Schließlich, nachdem sie schon verzweifelt überlegt hatte, ob man sie den ganzen Abend hier allein lassen oder, noch schlimmer, von ihr verlangen würde, allein an dieser einschüchternden Tafel zu essen, wurden die Doppeltüren zum Speisezimmer aufgestoßen, und Mr. Desmond trat ein.

„Ich dachte schon, Sie hätten mich vergessen“, meinte sie nervös. Sie hatte ihre Gedanken nicht laut aussprechen wollen, aber die Worte waren ihr entschlüpft.

„Miss Trenton. Ganz und gar nicht. Mir ist allerdings der Nachmittag wie Sand durch die Finger geronnen. Ich habe mir nicht einmal die Zeit genommen, mich zum Dinner umzukleiden.“ Er hielt inne, um das Bild, das das Mädchen in seinem dunklen Kleid inmitten des von Lichterglanz erfüllten Raums abgab, in sich aufzunehmen. Ja, sein erster Eindruck verstärkte sich. In dem grünen Kleid erinnerte sie ihn noch stärker an eine Dschungelkatze. „Ich sehe jetzt, dass ich es hätte tun sollen.“

„Ach nein. Sie schauen wunderbar aus.“ Sanfte Röte stieg Marianne in die Wangen.

„Nun, dann wollen wir einander bei einem Teller Suppe weiter bewundern. Ich nehme doch an, dass Sie hungrig sind?“ Mr. Desmond trat zum Tisch und schwang die kleine Silberglocke, die neben einem der Teller stand, offensichtlich seinem Platz. Mrs. River kam sogleich.

„Wir sind hungrig, Mrs. River. Übermitteln Sie Mrs. Rawlins meine Entschuldigung dafür, dass ich zu spät komme, und lassen Sie bitte das Abendessen sofort auftragen.“

Desmond rückte Marianne einen Stuhl zurecht, und sie setzte sich. Zwei Schalen klarer Brühe wurden aufgetragen. Danach wurden die Schüsseln abgeräumt und durch Teller, auf denen schmale Scheiben Rindfleisch und heißes, gemischtes Gemüse lagen, ersetzt. Aber sie hätte nicht beschwören können, dass sie etwas zu sich nahm.

Das Einzige, das ihr von der Mahlzeit im Gedächtnis blieb, waren Mr. Desmonds tiefliegende Augen, die sich, wenn man das Glück hatte, ihm sehr nahe zu kommen, als dunkelgrau herausstellten, und seine sanfte, leise Stimme, die einen merkwürdigen Bann auf sie ausübte. Er erzählte von exotischen Weltgegenden, Ländern, von denen sie nie zuvor gehört hatte. Er zitierte Stellen aus der Literatur, Worte voller Leidenschaft, die ihr das Blut in die Wangen steigen ließen.

Die Uhr schlug zehn.

Er sagte ihr, dass sie in ihrem Kleid, und so, wie sie das Haar trug, bezaubernd aussehe.

Die Uhr schlug elf.

Fünf Minuten später schlug sie zwölf.

„Hören Sie doch, wie still es ist“, flüsterte Desmond und neigte lauschend den Kopf. „Das Haus ist so solide gebaut, dass es nachts nicht einmal knackt. Und alle Dienstboten sind zu Bett gegangen, sogar Mrs. River. Früher habe ich manchmal geglaubt, Mrs. River lege sich überhaupt nie schlafen.“ Desmond lächelte und stand auf. „Lassen Sie uns ihrem Beispiel folgen“, meinte er und zog Marianne sanft hoch.

Ohne ihre Hand loszulassen, führte er sie durch die dämmrigen Flure und die düsteren Stiegen hinauf. Auf dem Treppenabsatz bogen sie ab und gingen die Empore über der vorderen Halle entlang. Vor einer der Türen blieb Desmond stehen, öffnete sie und schob Marianne hinein. In der Dunkelheit glaubte Marianne, die mit dem Haus nicht vertraut war, dies sei ihr Zimmer, und trat über die Schwelle.

Mr. Desmond folgte ihr mit einer Kerze, und als sie gewahr wurde, dass dies das falsche Zimmer war, hatte er schon die Tür hinter ihnen geschlossen.

„Das ist nicht mein Zimmer“, erklärte sie, immer noch in dem Glauben, er habe, ebenso wie sie, einen leicht erklärbaren Fehler begangen.

„Nein, es ist mein Zimmer.“

Endlich, viel zu spät und lange, nachdem eine solche Reaktion verständlich und ratsam gewesen wäre, fühlte Marianne kalte Panik in ihrem Herzen aufsteigen.

„Ich meine, so ist es am besten, finden Sie nicht auch?“ sagte Desmond, drehte sich um und schob den Türriegel vor. „Durch dieses Arrangement können Sie Ihre Räume für sich behalten, wo Sie allein sein und Ihre Privatsphäre genießen können.“

Kühl und sachlich begann er, seine Hose aufzuknöpfen. Entsetzt sah Marianne zu, wie er die Beinkleider vollständig auszog und lange, dunkle und außerordentlich behaarte Beine offenbarte.

„Wenn wir also zusammen sind“, fuhr er fort, so beiläufig, als tauschten sie in einem Teesalon ihre Meinung über das Wetter aus, „dann hier. Unsere Zimmer liegen so nahe beieinander, dass Sie sich, wenn Sie wünschen, nachher in Ihr Bett zurückziehen können. Ich hoffe allerdings, dass Sie beschließen, einige Nächte ganz bei mir zu verbringen.“

Marianne blickte ihn aus weit aufgerissenen Augen an, obwohl Desmond in dem schwachen Licht der einen Kerze möglicherweise die Furcht, die darin stand, nicht erkannte. Vielleicht sah er auch einfach mit Absicht darüber hinweg, oder er beschloss, diesen Ausdruck als etwas anderes zu deuten. Als Begehren vielleicht.

Doch es war Angst, die aus ihren Augen sprach, ihre Gedanken, ihr Herz erfüllte. Sie wich einige Schritte vor ihm zurück, dennoch war der Abstand zwischen ihnen noch zu gering. Ohne sich von der Stelle zu rühren, streckte er die Hand aus, packte ihren schlanken Arm und umfasste ihn mit seinen langen Fingern. Er zog sie an sich und spürte erregt, wie ihr Herz heftig pochte.

„Was … was tun Sie da?“ keuchte sie. Sie warf den Kopf zurück, konnte sich aber von ihm nicht losreißen.

Er drückte sie an sich und hielt ihren Kopf mit einer Hand, während er sich zu ihr herunterbeugte.

„Ich nehme dich mit ins Paradies, mein kleines Rehkitz“, flüsterte er, strich mit den Lippen über ihre weiche Halsbeuge und küsste ihr rosiges Ohrläppchen. „Und ich gehe jede Wette ein, dass es dir besser gefallen wird als alles, was der alte Carstairs je mit dir getan hat.“

Im nächsten Moment presste Desmond seine Lippen auf ihre. Einen Augenblick gab Marianne sich dem sinnlichen Genuss hin, seinen warmen, feuchten Mund zu fühlen, und wie elektrisiert spürte sie seine Zunge auf ihren Lippen. Er streichelte ihre bloßen Schultern und presste Marianne noch enger an sich. Er drängte sein Knie zwischen ihre Beine, und sie war sich der angespannten Kraft seiner Schenkelmuskeln bewusst.

Als er jedoch ihre Beine auseinander zwang, seine andere Hand zum Mieder ihres Kleides hinauf glitt, konnte sie mit einemmal wieder klar denken, und sie erkannte, was er tat und was er mit ihr vorhatte. Verzweifelt drehte sie ihren Kopf zur Seite, presste die Handflächen abwehrend gegen seine Brust.

„Nein, nein!“ keuchte sie.

Desmond unterbrach seine Bemühungen einen Augenblick und sah ihr verwirrt in die Augen.

„Dein Widerstand ist nicht sehr schmeichelhaft, meine Liebe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man damit in deinem Beruf sonderlich weit kommt.“

„Ich … ich weiß nicht, was Sie meinen“, flüsterte sie angstvoll. Er hielt sie so fest umarmt, dass sie kaum Luft bekam.

„Ich meine, dass du mir dies schuldig bist. Ich habe die Absicht, Carstairs’ Wetteinsatz einzulösen.“

„Mr. Carstairs’ Wetteinsatz? Was für eine Wette?“

„Den Einsatz, den er verspielt und den ich gewonnen habe. Dich, Marianne.“

„Mich? Aber ich bin Mr. Carstairs’ Mündel“, stieß sie hervor.

Er lächelte. Natürlich. Die junge Frau war keineswegs ungeschickt, ganz im Gegenteil. Sie spielte ihre Rolle als „Mündel“ sehr gut. Herrlich.

Mühelos hob Desmond sie hoch und trug sie zu dem großen, dunklen Himmelbett, das in der Mitte des Raumes stand.

„Nein … nein, das dürfen Sie nicht!“ schrie sie. „O bitte, nein.“

Doch Desmond glaubte immer noch, dies gehöre alles zu ihrem Spiel und ignorierte ihr Flehen. Mit der rechten Hand hielt er Mariannes Arme fest, während er mit der anderen das Mieder ihres Kleides lockerte. Die Knöpfe waren ärgerlich klein, und am liebsten hätte er den Stoff zerrissen, doch dann konzentrierte er sich auf die winzigen Perlen aus Obsidian und öffnete schließlich alle, ohne auch nur eine zu sprengen.

Das Kleid klaffte auf, und schnell schob er die Unterkleidung, die ihm im Weg war, zur Seite.

Als er ihre jugendlich straffen Brüste freilegte, ließ er ihre Arme los, denn er wollte diese zarten Leckerbissen mit seinem Mund bedecken. Aber das Mädchen unter ihm holte mit der Hand, die jetzt frei war, aus, und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.

Desmond war so von Leidenschaft berauscht, dass er nur verblüfft zusammenzuckte und dann leise lachte. Es klang bedrückend, unbarmherzig, und Mariannes Herz krampfte sich zusammen.

„Du bist wohl ein kleiner Feuerkopf, nicht wahr?“ sagte er lachend.

Von neuem packte er Mariannes Hände und begann, an dem Stoff ihrer Röcke und Unterröcke zu zerren. Er hatte damit gerechnet, dass sie ihm zu Willen sein würde, aber das Mädchen war wirklich sehr gut und legte es darauf an, ihn mit diesem Spiel zu erregen.

Ihr Kleid kam ihm wie ein Labyrinth vor. Immer, wenn er mit der Hand unter eine Stoffschicht vorgedrungen war, stellte er fest, dass ihm eine weitere den Weg versperrte. Doch endlich berührten seine Finger die zarte Haut ihres Oberschenkels. Sie fühlte sich weich und warm an. Sanft rieb er die Innenseite ihres Schenkels, ließ die Handfläche über die seidenweiche Haut gleiten und schob auch hier störende Wäscheteile beiseite. Mit den Lippen strich er über ihren entblößten Busen und saugte an den zarten Knospen.

Inzwischen hatte er all ihre Röcke und Unterröcke hochgeschoben und freie Bahn. Erregt fühlte er ihre glatten, kühlen Beine. Er schob seinen Schenkel zwischen ihre Beine und begann, sich behutsam zu bewegen.

Nun würde sie sich jeden Augenblick entspannen und auf ihn reagieren. Sie würde sich unter ihm winden, um ihn aufzunehmen. Heftig würden sie sich miteinander bewegen, und ihre Lust würde immer stärker werden, bis sie endlich miteinander verschmolzen.

Seine Lippen berührten ihre elfenbeinfarbene Haut. Leise stöhnte er, überwältigt von ihrem Duft, dem Gefühl, sie zu spüren. Er rechnete damit, zur Antwort ein leises Flüstern von ihr zu vernehmen.

Doch sie verlieh ihrer Leidenschaft keinen Ausdruck. Die Gestalt unter ihm entspannte sich nicht, um ihn zu empfangen, sondern blieb kalt und starr. Sie hätte aus Stein gehauen sein können. Und dann bemerkte er, dass sich ihre Brust unter seinem Mund ruckartig hob und senkte.

Er befreite seine Hand aus ihrer Unterkleidung und richtete sich auf, um ihr ins Gesicht zu sehen.

Tränen strömten unter ihren fest zusammengepressten Lidern hervor und netzten das Haar an ihren Schläfen und das Kissen, auf dem ihr Kopf lag. Sie bewegte die Lippen, und in der plötzlichen Stille, die im Zimmer herrschte, hörte er sie flüstern: „Bitte nicht. O lieber Gott, bitte lass nicht zu, dass er mir das antut. Bitte nicht.“

Desmond gab ihre Hände frei, glitt von ihr herunter und setzte sich auf die Bettkante. Er warf einen Blick hinter sich und fuhr sich mit der Hand durch sein zerzaustes Haar.

Was meinte sie damit? Was ging hier vor? Dies war nicht das, was Carstairs ihm verheißen hatte.

Desmond holte tief Luft und mahnte sich nachzudenken. Sein Atem ging tiefer und ruhiger, während das Feuer in seinen Lenden erstarb. Was genau hatte Carstairs ihm denn versprochen? Der Mann hatte ihm sein „Mündel“ angeboten. Sein Mündel? War es möglich …?

„Marianne?“ sprach er sie schließlich vorsichtig an.

Sie öffnete die Augen nicht, aber ihre Lippen bewegten sich auch nicht mehr.

„Wie alt bist du, Marianne?“ fragte er.

Eine lange Pause folgte, während der das Mädchen krampfhaft schluchzte und Desmond ihm mit dem Daumen sanft die Tränen von der Wange strich.

„Sechzehn“, wisperte sie.

Sechzehn? Sollte sie wirklich so jung sein? Forschend betrachtete er ihr Gesicht.

Kein Zweifel. Er war ein Narr gewesen.

Autor

Sally Cheney
Mehr erfahren