Lady Chesterfields Versuchung

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Nur für einen flüchtigen Moment gibt Lady Hannah Chesterfield der verbotenen Versuchung nach - und wird in den Armen von Lieutenant Michael Thorpe überrascht. Bisher war kein adliger Gentleman gut genug für die behütete Schöne. Unfassbar, dass ausgerechnet ein Bürgerlicher nun die umschwärmte Unschuld erobert haben soll! Bis die Wogen geglättet sind, soll Hannah ins Ausland gehen. Doch an Bord des Schiffes, das sie fortbringt, ist auch Michael - und ihre verbotene Liaison geht weiter. Verzweifelt wünscht Hannah, der attraktive Lieutenant wäre eine standesgemäße Partie. Sie ahnt nicht, wessen glühende Küsse sie da gefährlich schwach werden lassen …


  • Erscheinungstag 10.09.2013
  • Bandnummer 299
  • ISBN / Artikelnummer 9783954466689
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

London, 1855

Sie spürte, dass er sie beobachtete. Wie ein Beschützer, dessen wachsamer Blick jeden Gentleman davor warnte, sich ihr zu nähern. Lady Hannah lächelte der unentwegt auf sie einredenden Ballbesucherin neben sich zu, ohne ein einziges Wort zu verstehen, das die Frau von sich gab. Zu sehr hielt die faszinierende Ausstrahlung Lieutenant Thorpes sie gefangen.

Es war bereits ein paar Wochen her, dass sie ihn das erste Mal getroffen hatte, doch es kam ihr vor, als wäre es erst gestern gewesen. Er hatte sie angesehen wie eine Süßigkeit, die er wollte, aber nicht haben konnte.

Als sie einander vorgestellt wurden, hatte der Lieutenant ihre Hand zum Kuss an seine Lippen gehoben und ihren Handrücken dann tatsächlich mit dem Mund berührt. Hannah war heftig errötet, und gleichzeitig hatte sein ungebührliches Verhalten das Verlangen in ihr geweckt, ihm näherzukommen. Vielleicht weil er ihr das Gefühl gab, dass er sie von Kopf bis Fuß mit solch zärtlichen Küssen verwöhnen wollte. Allein der Gedanke daran ließ Hannah wohlig erschauern. Der Lieutenant war ein ungewöhnlicher Mann, und er machte keinen Hehl aus seinem Interesse an ihr.

Die Mitternachtsstunde nahte und mit ihr die Zeit für heimliche Liaisons. Nicht wenige Damen waren in männlicher Begleitung in den Garten hinausgegangen, um kurz darauf mit Zweigen im Haar und von Küssen geröteten Lippen wieder zurückzukehren.

Wie es sich wohl anfühlen mochte, den Mund eines Mannes auf den Lippen zu spüren und sich verführerischen Liebkosungen hinzugeben? Lieutenant Thorpe strahlte eine Ungezähmtheit aus, die sie ungemein anzog. Leider gehörte er keineswegs zu den gesellschaftlichen Kreisen, in denen ihre Familie verkehrte.

Sie spähte verstohlen in seine Richtung. Thorpe lehnte an der Wand und hielt ein Glas Limonade in der Hand. Sein schwarzer Frackrock saß etwas zu eng um die breite Schulterpartie – ein Hinweis darauf, dass er sich vermutlich keinen der erstklassigen Schneider in der Savile Row leisten konnte. Die helle Weste betonte seinen muskulösen Oberkörper, und die weiße Satinkrawatte wirkte etwas achtlos gebunden. Thorpes dunkles Haar war ein wenig länger als üblich. Sein Gesicht war entgegen der Mode glatt rasiert.

Als er merkte, dass sie zu ihm hinsah, lächelte er ihr zu, als wolle er sie ermutigen, sich zu ihm zu gesellen und mit ihm zu sprechen. Das kam natürlich unter gar keinen Umständen infrage.

Wieso war er überhaupt auf diesem Ball? Sicherlich nicht, um unter den geladenen jungen Damen Ausschau nach einer künftigen Gattin zu halten. Er war zwar Offizier, besaß jedoch keinen Titel. Es musste die ungewöhnliche Freundschaft zu ihrem Bruder Stephen sein, die ihm den Zutritt zum Haus ihres Vaters, des Marquess of Rothburne, ermöglicht hatte.

„Hannah!“ Ihre Mutter Christine war unbemerkt an sie herangetreten und wedelte ihr mit einer Hand vor den Augen herum. „Träumst du schon wieder, Mädchen? Steh gerade und lächle“, flüsterte Ihre Ladyschaft aufgeregt. „Da kommt Belgrave, um dich zum Tanz aufzufordern. Ich hoffe so sehr, dass ihr ein Paar werdet. Der Baron wäre der perfekte Gatte für dich. Er sieht gut aus und verfügt über ausgezeichnete Manieren.“

Hannah sah das anders. „Mutter, ich habe nicht den Wunsch, den Baron zu heiraten.“

„Warum nicht? Was stimmt nicht mit Lord Belgrave?“

Hannah hob die Schultern. „Ich weiß nicht. Irgendetwas stimmt eben nicht mit ihm.“

„Du lieber Himmel.“ Ihre Mutter verdrehte die Augen. „Hannah, was du dir wieder einbildest! Es ist rein gar nichts verkehrt mit Seiner Lordschaft, und ich bin sicher, dass er einen exzellenten Ehemann abgibt.“

Obwohl Hannah vom Gegenteil überzeugt war, verzichtete sie darauf, ihrer Mutter zu widersprechen. Sie wusste seit langem, dass ihre Eltern ein sehr genaues Bild vom zukünftigen Ehemann ihrer Tochter hatten. Selbstverständlich musste der Auserwählte adlig und vermögend sein und darüber hinaus einen eindrucksvollen Titel vorweisen können. Ihre Eltern stellten sich wohl einen Ausbund an Tugend vor, der niemals etwas Unrechtes tat und Damen mit formvollendetem Respekt behandelte.

Und vermutlich in seiner Freizeit kleinen Kätzchen das Leben rettete, dachte Hannah ironisch. Solche Männer gab es nicht, das wusste sie aus erster Hand, immerhin war sie mit zwei Brüdern aufgewachsen.

Trotzdem hatte sie den sehnlichen Wunsch zu heiraten, auch wenn sie sich allmählich fragte, ob sie jemals den richtigen Mann finden würde. Schon lange träumte sie von einem Gatten und einem eigenen Hausstand und malte sich die damit verbundene Freiheit in den leuchtendsten Farben aus.

Sie würde ihre eigenen Entscheidungen treffen können, ohne um Erlaubnis zu bitten oder befürchten zu müssen, sich nicht wie eine Dame zu verhalten. In ihrem Elternhaus kam sie sich trotz ihrer zwanzig Jahre oft wie ein fünfjähriges Mädchen vor, das vor allem Unbill der Welt geschützt werden musste.

„Also, Hannah“, ihre Mutter schlug einen milde tadelnden Ton an, „der Baron hat sich auf das Freundlichste um dich bemüht. Seit einer Woche schickt er dir jeden Tag Blumen.“

In der Tat hatte Lord Belgrave seinen Absichten deutlich Ausdruck verliehen. Doch trotz der betonten Höflichkeit konnte Hannah sich des Verdachts nicht erwehren, dass mit diesem Mann etwas nicht stimmte. Er war beinahe zu vollkommen.

„Mir ist im Augenblick nicht nach Tanzen zumute“, erwiderte sie missmutig, obwohl sie ahnte, dass ihre Mutter die Entschuldigung nicht gelten lassen würde.

„Es geht dir ausgezeichnet“, erwiderte die Marchioness unerbittlich. „Und darum kannst du die Aufforderung unmöglich ablehnen. Es wäre ein Affront.“

Hannah presste die Lippen aufeinander und widerstand der Versuchung, mit ihrer Mutter zu streiten. Ein aussichtsloses Unterfangen, wenn es um schickliches Verhalten ging.

„Um Himmels willen, so lächle doch“, forderte ihre Mutter sie auf. „Du siehst aus, als wolltest du jeden Moment ohnmächtig werden.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schwebte Lady Rothburne davon – gerade rechtzeitig, ehe Lord Belgrave eintraf, um seinen Tanz einzufordern.

Hannah zwang sich zu einem Lächeln und hoffte inständig, dass die Zeit schnell vergehen würde. Als der Baron sie allerdings auch beim nächsten Tanz nicht aus seinen Fängen ließ, erhaschte sie einen Blick auf den Lieutenant, der finster zu ihnen herüberstarrte.

Michael Thorpe verfügte über einen sechsten Sinn, wenn es darum ging, Ärger vorauszuahnen. Auf dem Schlachtfeld hatte ihm diese Gabe häufig das Leben gerettet.

Auch jetzt, da er Lady Hannah und Lord Belgrave beim Tanzen beobachtete, stellte sich eine böse Vorahnung ein. Vermutlich war der jungen Dame gar nicht bewusst, dass sie von Verehrern umzingelt wurde wie von hungrigen Haien. Er hätte wetten können, dass es heute Abend in diesem Saal keinen einzigen Junggesellen gab, der nicht danach gierte, sie zu der Seinen zu machen.

Er selbst bildete keine Ausnahme.

Sie war ein Inbild der Unschuld, ein wahrer Engel. Doch obwohl sie noch nicht viel von der Welt gesehen haben konnte, war Michael ein Ausdruck von Verdruss nicht entgangen, der in ihren grünen Augen lag. Sie trug ihr karamellbraunes Haar an diesem Abend kunstvoll hochgesteckt und, passend zu ihrer elfenbeinweißen Ballrobe, mit Jasminblüten geschmückt. Wenn er ehrlich war, verwunderte es ihn, wie unverhohlen die Rothburnes ihre Tochter auf dem Heiratsmarkt anboten.

Am liebsten hätte er Lady Hannahs Verehrer verjagt, sie wütend angeknurrt und ihnen unmissverständlich zu verstehen gegeben, wohin sie sich scheren sollten. Doch was würde er damit erreichen – außer die junge Dame vor ihren Freunden und ihrer Familie in Verlegenheit zu bringen?

Nein. Es war besser, sich im Hintergrund zu halten und ein wachsames Auge auf sie zu haben. In den vergangenen Monaten hatte er so viel Elend und Zerstörung erlebt, dass es ihm ein tiefes Bedürfnis war, etwas so Zerbrechliches, Gutes, Reines zu beschützen. Schon bald würde er wieder auf die Krim zurückkehren und sich den Dämonen stellen müssen, die er zurückgelassen hatte. Es war mehr als wahrscheinlich, dass eine Kugel seinem Leben ein Ende bereitete.

Doch bevor die Armee ihn wieder aufs Schlachtfeld zurückbeorderte, würde er ein letztes Mal seine Freiheit genießen. Wütend beobachtete er Belgrave und stellte sich für einen kurzen Augenblick vor, wie es sich wohl anfühlen mochte, Lady Hannah in den Armen zu halten.

Sein guter Freund Lord Whitmore trat neben ihn und bedachte ihn mit einem besorgten Blick. Kurz darauf gesellte sich auch Whitmores jüngerer Bruder Lord Quentin zu ihnen.

„Ich hoffe um deinetwillen, Thorpe, dass du kein Auge auf meine Schwester geworfen hast“, sagte der Earl mit leiser Stimme. „Ansonsten sähe ich mich leider genötigt, dich zu töten.“

Lord Quentin beugte sich vor und grinste über das ganze Gesicht. „Und ich würde ihm dabei helfen.“

Michael beschloss, nicht auf die Drohungen einzugehen, obwohl er keinen Augenblick bezweifelte, dass sie ernst gemeint waren. „Eure Schwester sollte nicht mit Belgrave tanzen. Ich traue ihm nicht über den Weg.“

„Er wirkt ein wenig affektiert, nicht wahr?“, stimmte Lord Quentin zu. „So übertrieben bemüht, bei den Damen Eindruck zu schinden.“

„Dagegen könntest du dir ein bisschen mehr Mühe mit deinem Äußeren geben“, stichelte Whitmore und musterte den purpurfarbenen Frackrock, den sein Bruder über einer zitronengelben Weste trug, skeptisch.

„Ich habe eben eine Vorliebe für farbenprächtige Kleidung.“ Achselzuckend wandte Lord Quentin sich ab, um dem Paar auf der Tanzfläche zuzusehen. „Ich schätze, wir brauchen uns keine Sorgen zu machen. Vater wird Hannah niemals gestatten, Belgrave zu heiraten, selbst wenn er um ihre Hand anhalten sollte.“ Nachdenklich sah er zur Saaldecke hoch und zählte laut. „Wie viele Anträge hat es diese Saison schon gegeben? Siebzehn? Oder sind es siebenundzwanzig gewesen?“

„Fünf“, erwiderte Whitmore. „Glücklicherweise war keiner der Verehrer auch nur annähernd geeignet. Allerdings halte auch ich Belgrave nicht unbedingt für die erste Wahl.“ Der Earl verschränkte die Arme vor der Brust. „Es würde mich sehr erleichtern, wenn sie endlich einen Ehemann fände. Dann müsste ich mir um eine Angelegenheit weniger Gedanken machen.“

Whitmores angespannter Gesichtsausdruck ließ Michael vermuten, dass sein Freund sich um seine Gattin sorgte, die demnächst ihr zweites Kind erwartete. „Wie geht es der Countess?“, fragte er anteilnehmend.

„Noch einen Monat, dann ist das Kind, so Gott will, hoffentlich da. Emily will es unbedingt auf Falkirk zur Welt bringen.“ Lord Whitmore seufzte. „Bei Sonnenaufgang reisen wir ab. Aber ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich ihr die beschwerliche Reise in der Kutsche in ihrem Zustand zumuten kann. Unser letztes Kind kam ein paar Wochen früher als erwartet auf die Welt.“

„Emily sieht mittlerweile schon selbst aus wie eine kleine Kutsche“, warf Lord Quentin belustigt ein.

Whitmore bedachte seinen Bruder mit einem finsteren Blick.

„Ich halte ihn fest, wenn du ihm die Nase brechen willst“, erbot Michael sich freundlich.

Der Earl musste lachen. „Ausgezeichnete Idee, Thorpe.“

Michael ließ den Blick wieder zu Hannah schweifen. „Glaubst du, der Marquess wählt noch in dieser Saison einen Gatten für sie aus?“

„Ich bezweifle es.“ Whitmore zuckte die Schultern. „Es ist beinahe so, als stünde es Hannah auf die Stirn geschrieben, dass es aussichtslos ist, um sie anzuhalten.“

„Oder dass der Marquess jeden umbringt, der seiner Tochter schöne Augen macht“, ergänzte Quentin.

Die beiden Brüder fuhren fort, sich über ihre Schwester lustig zu machen, doch Michael wusste, dass sie, genau wie er, wild entschlossen waren, ihre Schwester vor allem Übel der Welt zu schützen.

Allerdings waren seine Wünsche nicht von Belang, denn er kannte die Wahrheit. Die Tochter eines Marquess konnte niemals die Gattin eines einfachen Soldaten werden.

Gleichgültig, wie sehr er sie begehrte.

„Lady Hannah, Sie sind mit Abstand die hinreißendste junge Dame im Saal.“ Zu den schwungvollen Klängen des neuen, Polka genannten Tanzes wirbelte Robert Mortmain, Baron of Belgrave, sie übers Parkett und lächelte selbstzufrieden.

„Vielen Dank“, erwiderte Hannah kaum hörbar und vermied es, den Baron anzusehen.

Sie konnte nicht leugnen, dass Belgrave mit seinem braunen Haar und den blauen Augen attraktiv aussah. Außerdem war er charmant und finanziell gesehen eine gute Partie. Sämtliche junge Damen versuchten, ihn für sich zu gewinnen – alle außer Hannah. Sie fühlte sich von seiner überheblichen Art abgestoßen.

Mach dir keine Sorgen deswegen, beruhigte sie sich im Stillen. Vater wird dich nicht zwingen, ihn zu heiraten, also musst du nicht einmal unhöflich sein. Das Problem würde sich von ganz allein lösen.

Hannah versteifte sich, als sie Belgraves Hand auf ihrem Rücken spürte. Seinem selbstzufriedenen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, nutzte er den Tanz mit ihr, um mit ihr zu prahlen. Ihm ging es nicht darum, mit ihr zusammen zu sein. Er wollte lediglich mit ihr gesehen werden. Hannah verspürte einen pochenden Schmerz in den Schläfen.

In wenigen Minuten war der Tanz vorbei. Dann konnte sie in ihr Zimmer flüchten. Es war beinahe Mitternacht, und obwohl man von ihr erwartete, dass sie den Ball nicht vor zwei Uhr morgens verließ, konnte sie ihren Vater bestimmt überzeugen, dass sie sich nicht wohl fühlte.

Missmutig verzog Lord Belgrave das Gesicht, als sie an Lieute­nant Thorpe vorbeiwirbelten. „Ich hatte keine Ahnung, dass er heute Abend auch hier ist.“

Der Lieutenant starrte sie unverhohlen an. Sichtlich verstimmt umfasste er sein Limonadenglas und schien kurz davor, es dem Baron an den Kopf zu werfen.

„Dass er überhaupt eingeladen wurde!“, echauffierte sich Belgrave.

„Lieutenant Thorpe hat meinem Bruder vor einigen Jahren das Leben gerettet“, erwiderte Hannah ruhig. „Sie sind miteinander befreundet.“

Indes hatte sie keine Ahnung, woher Stephen einen Mann wie den Lieutenant kannte. Thorpe war ein einfacher Bürgerlicher und trotz seines militärischen Ranges nicht einmal der zweitgeborene Sohn eines Viscounts oder Earls, wie es normalerweise bei Offizieren der Fall zu sein pflegte. Und hätte ihr Bruder nicht nachdrücklich darauf bestanden, wäre Thorpe auch nicht eingeladen worden.

In dem Blick, mit dem er sie beim Tanzen beobachtete, lag keinerlei Demut oder Unsicherheit. Im Gegenteil, der Lieutenant wirkte eher so, als könne er nur mühsam seinen Zorn zügeln und sich davon abhalten, sie von Belgrave fortzureißen.

„Er versucht doch nur, Zugang zu den besseren Kreisen zu erhalten“, bemerkte Belgrave abfällig. „Aber ein Mann aus niederen Verhältnissen ist Gift für jede gute Gesellschaft.“

Sie tanzten abermals an Thorpe vorbei. Die angespannte Körperhaltung des Lieutenants erweckte den Eindruck, als hätte er statt eines Glases Limonade lieber eine Pistole griffbereit.

„Jedenfalls wünsche ich nicht, dass Sie sich in die Gesellschaft eines solchen Mannes begeben“, sagte der Baron und blickte nicht weniger finster drein als Thorpe.

Lord Belgraves besitzergreifender Ton missfiel Hannah über die Maßen, aber sie schwieg. Zwar hatte sie nicht die Absicht, sich auch nur in die Nähe des Lieutenants zu begeben, dennoch fragte sie sich, mit welchem Recht Belgrave sich erdreistete, ihr Vorschriften zu machen.

Erleichtert stellte sie fest, dass der Tanz langsam endete. Ihre Kopfschmerzen waren schlimmer geworden, und sie sehnte sich nach der Ruhe ihres Zimmers. Als die letzten Töne der Musik verklungen waren, bedankte sie sich für den Tanz, doch Lord Belgrave ließ ihre Hände nicht los.

„Lady Hannah, es wäre mir eine große Ehre, wenn Sie zustimmten, meine Ehefrau zu werden.“

Sie konnte nicht glauben, dass er sie fragte. Hier. Mitten im Ballsaal. „Sie müssen mit meinem Vater sprechen“, erwiderte sie und lächelte distanziert.

Nein. Nein. Tausend Mal Nein.

Der Baron verstärkte den Griff um ihre Finger, als sie versuchte, ihre Hände fortzuziehen. „Doch was ist mit Ihren Wünschen? Wenn Sie die Erlaubnis des Marquess nicht benötigen würden, wie würde Ihre Antwort lauten?“

Ich würde auf jeden Fall Nein sagen.

Hannah versuchte, unbeteiligt zu wirken. Ihr gefiel der Ausdruck in Belgraves Augen nicht. Er wirkte regelrecht verzweifelt, und sie fragte sich, ob der Baron tatsächlich so vermögend war, wie er vorgab zu sein. Sie zwang sich zu einem Lachen, bevor sie antwortete. „Sie schmeicheln mir, Mylord. Jede junge Dame würde sich glücklich schätzen, Sie ihren Ehemann nennen zu dürfen.“

Jede außer mir. Doch ein Wort ihres Vaters würde genügen, um diese Situation zu bereinigen. Obwohl der Marquess nach außen hin gern den Autokraten gab, war er seiner Tochter gegenüber nachsichtig. Vermutlich lag es daran, dass sie noch niemals gegen ihn aufbegehrt hatte. Sie war gehorsam und sittsam und somit sein ganzer Stolz.

Wenigstens hoffte sie das.

Endlich gelang es Hannah, ihre Hände freizubekommen. Als sie sich zum Gehen wandte, meinte sie die Blicke des Barons in ihrem Rücken zu spüren wie Pfeile. Sie wollte zu ihrem Vater und ihren Brüdern, die in der Nähe standen. Doch als sie sah, dass die drei Männer in ein ernstes Gespräch vertieft waren, nahm sie sich ein Glas Limonade und ging an ihnen vorbei auf die Terrasse hinaus. Im Halbdunkel vor der hohen Fenstertür blieb sie stehen. Zwar war es nicht schicklich für eine junge Dame, den Ballsaal unbegleitet zu verlassen, doch sie hoffte, dass die Nähe zu ihrem Vater und ihren Brüdern andere Männer davon abhielt, sie zu behelligen.

Die Gäste im Saal tanzten und unterhielten sich angeregt. Das Pochen in Hannahs Schläfen wurde heftiger. Oh bitte, nicht heute Nacht, flehte sie inständig. Sie hatte diese elenden Kopfschmerzen häufiger. Nicht selten war sie deswegen für einen Tag oder länger ans Bett gefesselt.

„Sie sehen aus, als fühlten Sie sich nicht besonders wohl.“

Ohne sich umzudrehen, wusste sie, dass es Lieutenant Thorpe war, der gesprochen hatte. Kurz erwog sie, ihn einfach zu ignorieren und zu ihrem Vater zu gehen, doch das wäre äußerst unhöflich gewesen. Auch wenn sie nicht den Wunsch hatte, mit Thorpe zu sprechen, so war sie doch viel zu wohlerzogen, um sich derart unmanierlich zu benehmen.

„Es geht mir gut, Lieutenant. Danke der Nachfrage.“

Trotz ihrer unausgesprochenen Aufforderung, sie allein zu lassen, rührte er sich nicht. Sie spürte, wie er sie betrachtete, und ihr Körper reagierte auf die Blicke, die auf ihm lagen. Es war empfindlich kühl auf der Terrasse, dennoch wurde ihr plötzlich heiß. Das Seidenkleid schien mit einem Mal viel zu eng. Aufgeregt fächelte Hannah sich Luft zu und wusste nicht, weshalb die Gegenwart des Lieutenants sie derart aus der Ruhe brachte.

Sie wandte sich nicht zu ihm um, denn es wäre unschicklich gewesen, sich mit ihm zu unterhalten, ohne dass eine Anstandsperson zugegen war. Auf gar keinen Fall durfte man sie zusammen sehen. „Wollten Sie sonst noch etwas?“

Sein leises Lachen klang viel vertraulicher, als es hätte klingen dürfen. „Nichts, das Sie mir geben könnten, meine Liebe.“

Hannah stieg die Hitze in die Wangen, und sie fragte sich, was er wohl gemeint haben mochte. Zögernd trat sie einen Schritt von ihm fort. Sie spürte seine Gegenwart wie ein warmes Kribbeln im Nacken. Das kostbare Diamantcollier um ihren Hals fühlte sich mit einem Mal furchtbar schwer an, und der pochende Schmerz in ihren Schläfen trat in den Hintergrund. Stattdessen war sie sich der Nähe des Lieutenants mit jeder Faser bewusst.

„Sie wirken müde.“

Wie wahr! Sie war es müde, an all den Bällen und Dinnerpartys teilnehmen zu müssen. War es leid, wie eine Porzellanpuppe herumgezeigt zu werden, bis der richtige Gentleman seinen Antrag unterbreitete.

„Es geht mir gut“, wiederholte sie streng. „Es ist also völlig unnötig, dass Sie sich um mich sorgen.“ Warum ließ er sie nicht endlich allein? Sie beschloss, zu gehen, als er ihr plötzlich seine warme Hand auf den Rücken legte. Erschreckt zuckte sie zusammen.

„Rühren Sie mich nicht an!“

„Ist das wirklich Ihr Wunsch?“

Sie atmete heftig. Natürlich wünschte sie das! Ein Mann wie Michael Thorpe bedeutete nichts als Ärger.

Doch bevor sie etwas erwidern konnte, ließ er seine Hand zu ihrer Schulter gleiten. Zärtlich streichelte er ihre Haut und linderte sanft die Anspannung in ihrem Nacken.

Lauf fort von ihm. Schrei um Hilfe, verlangte ihr Verstand. Aber auf einmal war sie wie gelähmt und ihr Mund so trocken, dass sie keinen Laut hervorbrachte.

In ihren Brüsten breitete sich ein erregendes Prickeln aus, und die empfindsamen Spitzen richteten sich auf. Die unerhörte Berührung seiner bloßen Hand auf ihrer Schulter ließ sie wohlig erschauern.

„Lassen Sie mich los“, bat sie zitternd. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Sie … Sie dürfen das nicht tun.“

Wohlerzogene junge Damen nahmen es nicht einfach hin, wenn ein gewöhnlicher Soldat sie ansprach. Hannah hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was ihre Mutter dazu sagen würde. Noch nie zuvor war sie auf eine solche Weise von einem Mann berührt worden. Die Erfahrung mochte verboten sein, aber sie war überwältigend sinnlich.

Der Lieutenant schob die Finger unter ihren Halsschmuck und strich zärtlich über ihren Nacken, spielte mit den Löckchen, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatten. „Sie haben recht.“

Unter seinen Liebkosungen schmolz ihr Widerstand dahin wie Schnee an der Sonne, und auf einmal fühlte sie sich unfassbar lebendig. So lebendig, dass sie zu verstehen begann, was eine Frau dazu bewegen konnte, ihren guten Ruf zu opfern und sich von einem Mann verführen zu lassen.

„Ich muss um Verzeihung bitten. Aber Sie sind eine zu große Versuchung. Ich konnte nicht widerstehen.“

Sie ballte die Hände zu Fäusten. „Sir, behalten Sie Ihre Finger bei sich. Oder Sie bekommen es mit meinem Bruder zu tun.“

„Ich gebe mein Bestes.“

Und dann fühlte sie die sachte Berührung seiner Lippen auf ihrem Nacken. Eine heiße Woge sündigen Verlangens durchströmte ihren Körper, und sie rang nach Luft, bevor sie wütend herumwirbelte, um ihn in die Schranken zu weisen.

Doch Thorpe war fort. Sie starrte in die Dunkelheit, konnte ihn nirgends entdecken. Lediglich das wohlige Prickeln auf ihrer Haut zeugte davon, dass er tatsächlich da gewesen war.

„Was machst du alleine hier draußen, Hannah?“

Erschrocken fuhr sie herum, als der Marquess of Rothburne auf sie zutrat. Offenbar hatte er das Gespräch mit ihren Brüdern beendet. Ihr Vater musterte sie missbilligend. Zweifellos fand er es höchst unschicklich, dass sie sich ohne Anstandsdame im Freien aufhielt.

Hannah hoffte inständig, dass ihm ihre geröteten Wangen nicht auffielen. „Ich wollte dich um Erlaubnis bitten, mich zurückziehen zu dürfen“, erwiderte sie ruhig. „Es war ein langer Abend. Mir tut der Kopf weh, und ich würde mich gerne hinlegen.“

„Soll ich nach deiner Zofe rufen lassen? Brauchst du Laudanum?“, fragte er besorgt.

Hannah schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube nicht, dass es so schlimm wird. Wenn es dir nichts ausmacht, Vater, möchte ich zu Bett gehen. Ich bin sehr müde.“

Ihr Vater bot ihr den Arm. „Lass uns zuvor ein paar Schritte durch den Garten schlendern.“

Hannah zögerte. Aber sie nahm an, dass ihr Vater etwas Wichtiges mit ihr zu besprechen hatte, und hakte sich bei ihm ein, obwohl ihr eigentlich nicht der Sinn nach Reden stand. Er führte sie von der Terrasse herunter auf den Kiesweg zum Rosengarten. Die Sträucher zeigten bereits erstes Grün, obwohl sie erst im Frühsommer in Blüte stehen würden. Fröstelnd sah Hannah zum Nachthimmel auf, der über und über mit funkelnden Sternen besetzt war. Sie ärgerte sich, dass sie keinen Schal mitgenommen hatte.

Noch immer prickelte ihre Haut von der Berührung Lieutenant Thorpes, noch immer befand sich ihr Inneres in hellem Aufruhr. Es war, als habe er eine Saite in ihr zum Klingen gebracht, die nicht verstummen wollte – ein Zustand, der Hannah ganz und gar nicht gefiel. Selbst jetzt noch fühlten sich ihre Beine zittrig an, und eine unbekannte Sehnsucht erfüllte sie.

Was hatte er bloß mit ihr angestellt? War es liederlich, dass sie seine flüchtige Berührung so sehr genossen hatte?

Ihr Vater führte sie durch den Garten. Es war still bis auf das Knirschen ihrer Schritte auf dem Kiesweg. Hannah ertappte sich dabei, wie sie Lieutenant Thorpe mit ihrem Vater verglich. James Chesterfield, Marquess of Rothburne, war durch und durch Aristokrat. Mit Ausnahme von Hannah schüchterte seine stolze Art nahezu jeden ein. Nie hatte er etwas getan, das nicht den Regeln des Anstands entsprach. Im Gegensatz dazu hatte Lieutenant Thorpe etwas Draufgängerisches, das ganz zu einem Mann passte, der zu tun pflegte, was ihm gefiel.

Bei der Erinnerung durchfuhr sie ein wohliger Schauer.

„Du hast einen weiteren Antrag abgelehnt, habe ich recht?“, wagte sie schließlich einen Vorstoß, als ihr Vater weiterhin schwieg.

Der Marquess blieb stehen. „Bisher noch nicht. Aber der Baron of Belgrave hat um Erlaubnis gebeten, morgen mit mir sprechen zu dürfen.“

Das überraschte sie nicht, und sie hielt es für das Beste, keinen Hehl aus ihren Gefühlen zu machen. „Ich will ihn nicht heiraten, Papa.“

„Er besitzt ein großes Anwesen und kommt aus einer hochangesehenen Familie“, entgegnete ihr Vater. „Und er scheint sich aufrichtig für dich zu interessieren.“ Sie umrundeten den Brunnen und schlenderten in Richtung Haus zurück.

„Irgendetwas an ihm ist mir nicht geheuer.“ Hannah versuchte, die richtigen Worte zu finden. „Ich kann es nicht besser erklären.“

„Das ist kein triftiger Grund, seinen Antrag abzulehnen“, gab der Marquess zu bedenken.

Sie musste ihm recht geben, verließ sich aber darauf, dass er auf ihrer Seite war. „Wie stellst du dir meinen idealen Ehemann vor, Papa? Ich möchte so gerne heiraten.“

Der Marquess räusperte sich. „Ich werde es wissen, sobald ich ihn sehe. Aber ich will sicher sein, dass er sich um dich kümmert und dich glücklich macht.“ Ihr Vater legte seine Hand auf ihre und drückte sie sacht, doch seine Miene blieb ernst. Die ergrauten Strähnen in seinem Bart und seinem Haar glänzten silbrig im Mondlicht.

Sie stiegen die Stufen zur Terrasse herauf und traten durch die offenstehende Glastür in den Ballsaal. Die lebhafte, laute Tanzmusik, das immer wieder von Gelächter unterbrochene Stimmengewirr der Ballgäste wuchs zu einem unerträglichen Lärm an, und Hannahs Kopfschmerzen verstärkten sich. Ihr Vater brachte sie zu ihrem Zimmer und wünschte ihr eine gute Nacht, ehe er etwas ungehalten hinzufügte: „Übrigens war Lady Whitmore heute Nachmittag da und brachte eine Schachtel Ingwerplätzchen vorbei. Ich habe einen Dienstboten angewiesen, sie in dein Zimmer zu stellen. Sag bloß deiner Mutter nichts davon.“ Er schüttelte den Kopf. „Man sollte doch meinen, dass eine Frau in ihrem Zustand es besser weiß und nicht wie eine Küchenmagd schuftet. Es ist einfach lächerlich, dass sie darauf besteht, Plätzchen zu backen wie eine gewöhnliche Dienstbotin.“

Die meisten Frauen schonten sich vor ihrer Niederkunft, doch ihre Schwägerin Emily frönte seit ein paar Wochen einem regelrechten Backrausch. Stephen ließ seiner Gattin freie Hand, zu tun und zu lassen, wie es ihr beliebte.

Da Hannah verstand, worauf ihr Vater hinauswollte, ging sie rasch in ihr Zimmer und kehrte mit zwei Plätzchen zurück, die sie ihm reichte. Mit großem Genuss verspeiste er das Gebäck.

„Wenn ich Emily das nächste Mal sehe, erzähle ich ihr, wie gut sie dir geschmeckt haben.“

Der Marquess schnitt eine Grimasse. „Sie sollte sich nicht in der Küche aufhalten. Erst recht nicht, wenn ihr die Knöchel anschwellen, wie sie sagt. Wenn du mit ihr sprichst, richte ihr aus, dass sie die Füße hochlegen soll.“

„Das mache ich. Gute Nacht, Vater.“ Hannah schloss die Tür ihres Zimmers. Sie wusste, dass ihr Vater im Grunde die kleinen Streitereien mit Stephens Frau genoss, obwohl er es niemals zugeben würde.

Sie läutete nach ihrer Zofe und setzte sich an den Frisiertisch. Brauchte sie vielleicht doch ein paar Tropfen Laudanum? Der Schmerz pochte immer noch heftig hinter ihrer Stirn. Sie massierte ihre Schläfen, um ihn zu lindern. Es ging ihr gegen den Strich, dass sie diesem unberechenbaren Kopfschmerz machtlos ausgeliefert war.

Doch wenn sie genauer darüber nachdachte, gab es vieles in ihrem Leben, auf das sie keinen Einfluss hatte. Eigentlich sollte sie sich daran gewöhnt haben. Ihre Mutter traf sämtliche Entscheidungen bezüglich ihrer Garderobe und darüber, an welchen Bällen und Dinnerpartys sie teilzunehmen hatte. Außerdem entschied die Marchioness über ihren Speiseplan, wem sie die Aufwartung machte und sogar, wann sie sich abends zurückziehen durfte.

Hannah strich über die silberne Haarbürste. Wie sehnte sie den Tag herbei, an dem sie diese Entscheidungen selbst treffen konnte! Obwohl sie ahnte, dass ihre Mutter es nur gut mit ihr meinte und das Beste für ihre Tochter wünschte, kam Hannah ihr Elternhaus zunehmend wie ein Gefängnis vor.

Sie sah auf die Liste, die ihre Mutter ihr für den heutigen Tag geschrieben hatte. Seit sie neun war, erhielt sie jeden Abend eine solche Liste, auf der die Dinge standen, die Hannah nicht vergessen durfte.

1. Das weiße Seidenkleid und die Familiendiamanten tragen.

2. Verehrer immer erst von deinem Vater oder deinen Brüdern vorstellen lassen.

3. Keine Aufforderung zum Tanz ablehnen.

4. Meinungsverschiedenheiten mit einem Gentleman unbedingt vermeiden – eine wohlerzogene junge Dame ist umgänglich.

Hannah konnte sich schon beinahe Anweisung Nummer fünf vorstellen: einem fremden Mann niemals gestatten, dich zu berühren. Sie schloss die Augen, als ihr eine weitere Schmerzwelle durch den Kopf schoss.

Sie stützte die Stirn auf ihren Händen ab. Ein Gefühl von Ekel stieg in ihr hoch, als ihr Blick auf das butterfarbene Hauskleid fiel, das bereits für den morgigen Tag zurechtgelegt wurde. Sie hatte dieses Kleid noch nie leiden können und wäre froh gewesen, es endlich loszuwerden. Wenn sie es trug, fühlte sie sich wie eine Sechsjährige.

Doch nichts lag ihr ferner, als einen Streit mit ihrer Mutter vom Zaun zu brechen. Abwechselnd wählte die Marchioness weiße, rosafarbene und gelbe Kleider für ihre Tochter aus. Einmal hatte Hannah eine andere Farbe vorgeschlagen, doch ihre Mutter war nicht darauf eingegangen. Es würde sie nicht überraschen, wenn ihre Mutter sogar heimlich die Ausschnitte nachmessen würde. Nur um sicherzugehen, dass sie nicht zu viel nackte Haut enthüllte.

Ein Mal, ein einziges Mal, hätte Hannah gern ein dunkelrotes Kleid getragen. Oder ein violettes. Irgendetwas Leuchtendes, das ihre langweilige Garderobe aus dem Dahindämmern reißen würde. Aber eine wohlerzogene junge Dame trug solche auffälligen Farben nicht.

Hannah hob den Saum ihrer Ballrobe. Beim Anblick ihrer Unterröcke musste sie an den Mann denken, der eines Tages ihr Gatte werden würde. Würde er ihr mit Zärtlichkeit begegnen? Ihr freundschaftlich verbunden sein? Ihr vielleicht sogar Liebe entgegenbringen?

Oder gab es da noch etwas? Über das vertraute Zusammensein von Mann und Frau hatte ihre Mutter bisher kein Sterbenswörtchen verloren. Sie hatte nur so viel verraten: Hannah würde alles beizeiten in der Hochzeitsnacht lernen. Jede Anspielung auf das, was sich im Ehebett abspielte, brachte ihre Mutter zum Erröten und ließ sie verlegen stammeln.

Plötzlich musste Hannah wieder an Lieutenant Thorpes Kuss denken und erschauerte wohlig. Natürlich hätte er niemals wagen dürfen, sie derart vertraulich zu berühren, aber das kümmerte ihn anscheinend nicht. Er war ein Mann, der seine eigenen Regeln aufstellte und sie auch wieder brach, wenn ihm danach zumute war. Der Lieutenant hatte ihr weder langweilige Komplimente gemacht, noch ihren Vater um die Erlaubnis gebeten, ihr einen Besuch abstatten zu dürfen. Stattdessen hatte er sie im Dunkel der Nacht berührt und sie zum Leben erweckt.

Nichts, was Sie mir geben könnten, meine Liebe.

Was hatte er wohl damit gemeint? Mit den Fingerspitzen strich Hannah sich über die Stelle an ihrer Schulter, die immer noch vor Erregung prickelte. Ihre Mutter würde vermutlich einen Schreikrampf bekommen, wenn sie jemals erfuhr, was sich der Lieutenant herausgenommen hatte. Es war wie die Liebkosung eines Liebhabers, dieser Kuss, den er mir in den Nacken gegeben hat …

Als sie sich mit den Fingern über die Stelle strich, fuhr sie entsetzt zusammen.

Ihr Diamanthalsband! Es war fort! Hannah wurde plötzlich panisch. Der Schmuck war ein Vermögen wert.

Sie sprang auf, stürzte aus dem Zimmer, die Treppen hinunter. Sie musste sich beruhigen, damit sie keine Aufmerksamkeit erregte. Unauffällig schlich sie sich durch den Korridor in den Ballsaal. Fieberhaft suchte sie den gesamten Marmorfußboden ab. Doch vergebens.

Sie dachte an Thorpe. Daran, wie er ihren Nacken gestreichelt hatte. Ob der Verschluss des Colliers dabei womöglich aufgegangen war? Sie wollte nicht glauben, dass der Lieutenant die Diamanten an sich genommen hatte, aber bei dieser Gelegenheit hatte sie die Kette zuletzt bewusst wahrgenommen.

Sie reckte den Hals und hielt Ausschau nach Thorpe. Doch er war nicht hier. Endlich entdeckte sie ihn abseits der anderen Gäste auf der Terrasse. Er stand im Schatten der Buchsbaumhecke, die in der Dunkelheit wie eine Phalanx großer, schweigender Wächter anmutete.

Der Lieutenant hatte die Arme vor der Brust verschränkt, was die Nähte seines schlecht geschneiderten Frackrocks aufs Äußerste strapazierte.

„Verzeihung, Lieutenant Thorpe“, sagte Hannah leise, als sie auf ihn zutrat. „Könnte ich Sie bitte einen Moment sprechen?“

Er musterte sie forschend, dann zuckte er mit den Schultern. „Haben Sie keine Angst, dass Ihr Vater Sie mit mir sieht? Er dürfte wenig erbaut sein, wenn er seine Tochter in der Gesellschaft eines einfachen Soldaten vorfindet.“

Hannah beschloss, nicht auf seine spöttische Bemerkung einzugehen. Sie wusste sehr wohl, dass sie sich unziemlich benahm. „Ich muss Sie fragen, ob Sie mein Halsband gesehen haben. Es ist mir abhanden …“

„Sie denken, ich hätte es genommen?“, fragte er in einem Tonfall, der Hannah wünschen ließ, geschwiegen zu haben.

Genau wie ihr Vater war Thorpe ein stolzer Mann. Einem Soldaten bedeutete seine Ehre alles, und Hannah erkannte, dass sie ihn mit ihrer Frage beleidigt hatte. Ihre nächsten Worte wählte sie mit Bedacht. „Der Verschluss könnte sich geöffnet haben, als Sie … als Sie meinen Hals berührten. Womöglich ist das Collier an der Stelle zu Boden gefallen, wo ich gestanden habe.“ Das klang ziemlich vernünftig in ihren Ohren, und sicher würde er die Worte nicht als Beleidigung auffassen, oder?

„Ich bin kein Dieb“, entgegnete er scharf. „Sie haben nichts, was ich zu besitzen wünsche.“

Seine schroffen Worte kränkten sie. Mittlerweile sprach er nicht nur mehr von dem Halsband, dessen war sie sicher. Sie zwang sich zu einem Nicken und spürte, wie ihre Wangen zu brennen begannen. „Es lag nicht in meiner Absicht, irgendetwas anzudeuten.“

„Nein? Ich bin der einzige Gast auf diesem Ball, der etwas mit den Diamanten anfangen könnte – ein Mann ohne Vermögen.“

„Sie sind nicht der Einzige“, widersprach sie fest. „Aber das ist jetzt völlig ohne Belang. Sie haben die Kette nicht, und das reicht mir.“

Sie raffte die Röcke und ging in die Richtung des Rosengartens davon, ohne sich zu verabschieden. Ihr Verhalten mochte unhöflich sein, aber sie verspürte nicht den Wunsch, sich noch länger mit Lieutenant Thorpe zu unterhalten. Es war durchaus möglich, dass er mit seiner kühnen Berührung vorhin den Verschluss gelöst hatte, sodass das Collier zu Boden gefallen war.

Sie weigerte sich, den Lieutenant für einen Dieb zu halten. Immerhin war er der Freund ihres Bruders und ohne jeden Zweifel ein Mann von Ehre.

Ihre Kopfschmerzen waren mittlerweile derart heftig, dass es sich anfühlte, als würde jemand mit Steinen gegen ihre Schläfen hämmern. Je eher sie den Schmuck fand, desto eher würde sie sich zurückziehen können.

Den Kiesweg sorgfältig absuchend, ging sie bis zum Brunnen, den sie und ihr Vater umrundet hatten. Sie verfolgte die Spur ihrer Fußabdrücke – vergebens. Als sie sich auf den Rückweg machen wollte, stand plötzlich Lord Belgrave vor ihr.

„Oh!“, entfuhr es ihr überrascht. „Ich hatte nicht erwartet, Sie hier draußen anzutreffen.“

Ein eigentümliches Lächeln breitete sich auf Belgraves Gesicht aus, als er mit seinen behandschuhten Händen etwas Glitzerndes aus seiner Rocktasche zog.

„Ist es das, was Sie suchen?“

Er hielt ihr das Diamanthalsband hin, und Hannah atmete erleichtert auf. „Ja, vielen Dank.“

Sie wollte danach greifen, doch er zog seine Hand zurück. „Ich fand das Collier auf dem Kiesweg, nachdem Sie und Ihr Vater in den Ballsaal zurückgekehrt waren.“ Belgrave ließ den Schmuck in seine Rocktasche gleiten und bot Hannah den Arm. „Ich dachte mir, dass Sie wiederkommen würden, um danach zu suchen.“

Hannah machte keine Anstalten, sich bei ihm einzuhaken. Sie hatte nicht vor, mit dem Baron spazieren zu gehen. Ihr war unbehaglich zumute, zumal sie schon wieder die Grenzen des Schicklichen übertreten hatte. Wenn irgendwer sie sah, würde die Gerüchteküche umgehend zu brodeln anfangen.

Doch Belgrave hatte das Halsband. Sie musste es unbedingt wiederhaben. Zögernd legte sie die Hand in seine Armbeuge. Vielleicht würde er ihr den Schmuck ja gleich geben.

Das tat er mitnichten. Der Baron führte sie fort vom Haus, und mit jedem Schritt verschlimmerten sich ihre Kopfschmerzen. Als sie sich den Stallungen näherten, hielt Hannah es nicht mehr aus. „Lord Belgrave, wenn Sie so freundlich wären, mir jetzt meinen Schmuck zurückzugeben?“

Und dann gehen Sie bitte. Wo waren ihr Vater und ihre Brüder, wenn sie sie wirklich einmal brauchte?

Belgraves kantige Gesichtszüge erschienen ihr mit einem Mal beängstigend hart. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass es ein furchtbarer Fehler gewesen war, mit ihm zu gehen. Sie machte sich los, trat einen Schritt von ihm fort und überlegte, ob sie fliehen sollte.

Abermals zog der Baron das Collier aus der Tasche, wog es in der Hand und strich gedankenvoll mit den Fingerspitzen über die Steine. „Ich habe gehört, worüber Sie mit Ihrem Vater gesprochen haben.“

Hannahs Herzschlag beschleunigte sich, und hektisch sah sie sich im Garten um. „Sie … Was meinen Sie?“

„Sie haben mich belogen“, entgegnete er wütend. „Sie ließen mich glauben, meine Werbung wäre Ihnen angenehm.“

„Ich wollte Ihre Gefühle nicht verletzen“, erklärte sie hilflos. Sein unverhohlener Zorn machte ihr Angst, und am liebsten hätte sie die Flucht ergriffen – gleichgültig, was mit dem Schmuck geschah. Immerhin ging es um ihre persönliche Sicherheit, und die wog schwerer als ein paar Diamanten. „Ich schicke einen Diener, der das Halsband bei Ihnen abholt.“

„Was haben Sie?“, raunte er leise. „Fürchten Sie sich etwa vor mir?“

Hannah ignorierte die Frage. Sie raffte die Röcke und trat eilends den Rückzug an. Doch kurz bevor sie die Terrasse erreichte, spürte sie Belgraves festen Griff um ihren Arm.

„Unser Stelldichein ist noch nicht beendet.“

„Wir hatten kein Stelldichein!“, widersprach sie empört. „Und ich muss Sie bitten, mich loszulassen.“

„Sie halten sich anscheinend für etwas Besseres, habe ich recht? Die Tochter eines Marquess, während ich nur ein Baron bin?“

Er beugte sich näher zu ihr, und plötzlich begann sich alles um sie zu drehen. Es kam ihr so vor, als könnte sie im nächsten Moment ohnmächtig werden.

Sie wollte um Hilfe rufen, schreien, doch Lord Belgrave riss sie an sich und presste ihr seine Hand auf den Mund. Als sie sich zur Wehr setzte, hielt er ihr die Nase zu. Sie bekam keine Luft mehr. Ihre Kopfschmerzen zwangen sie in die Knie. Benommen gab sie jeden Widerstand auf und ließ hilflos geschehen, dass er sie über den Kiesweg vom Haus fortschleifte.

„Sagten Sie nicht, dass sich jede Frau glücklich schätzen würde, mich zu heiraten?“ Hannah sah die rasende Wut in seinen Augen. „Nun, meine Liebe, es sieht ganz danach aus, als wären Sie bald eine überaus glückliche Frau.“

2. KAPITEL

Wütend kehrte Michael in den Ballsaal zurück. Sie unterstellte ihm tatsächlich, dass er das Diamanthalsband an sich genommen hatte! Und alles nur, weil er von niedriger Geburt war und kein Vermögen besaß. Dass er zu einer solch unehrenhaften Tat niemals fähig gewesen wäre, schien Lady Hannah erst gar nicht in Erwägung zu ziehen. Als sie errötet war, hatte er gewusst, dass sie in ihm einen gewöhnlichen Soldaten sah, der eine junge Dame skrupellos ausnutzen würde.

Es stimmte, er hatte eine Schwäche für schöne Frauen – und er näherte sich ihnen prinzipiell nur mit ihrem Einverständnis. Umso erstaunlicher, dass er sich Lady Hannah gegenüber derart kühn hatte verhalten dürfen. Sie hatte ihm weder einen Schlag mit dem Fächer versetzt, noch um Hilfe gerufen, sondern sich äußerst empfänglich für seine Berührungen gezeigt.

Gott, sie duftete einfach wunderbar – so verführerisch und süß wie Jasmin. Er war einfach nicht in der Lage gewesen, ihr zu widerstehen. Am liebsten hätte er ihren Nacken weiter mit Küssen verwöhnt und ihr das elfenbeinfarbene Ballkleid von den Schultern geschoben, um mehr von ihrer seidigen Haut zu enthüllen. Aber dann hätte ihr Bruder ihn wahrscheinlich auf der Stelle umgebracht.

Für gewöhnlich machte Michael sich nichts aus jungen Damen, die einen Ehemann suchten – doch Lady Hannah hatte ihn vom ersten Moment an in ihren Bann geschlagen. Dabei war er sicher gewesen, dass sie ihn – einen einfachen Lieutenant – keines zweiten Blickes würdigen würde.

Im Gegensatz zu den adligen Offizieren, die über entsprechende Geldmittel verfügten, hatte er sich sein Patent nicht kaufen können. Seinen militärischen Rang verdankte er allein dem Einfluss des Earl of Whitmore, dem er vor fünf Jahren das Leben gerettet hatte, und erst seit dem letzten Oktober war Michael wirklich klar, was es bedeutete, ein Kommando zu führen. Damals hatte er Männer in den Tod schicken müssen.

Nachdem sein Captain bei Balaklava gefallen war, hatte er zwar versucht, so vielen Soldaten wie möglich das Leben zu retten. Doch sein Bemühen, den größten Teil seiner Kompanie in Sicherheit zu bringen, war gescheitert. Von sechshundert Mann hatten weniger als zweihundert überlebt – und er war einer von ihnen gewesen.

Seitdem suchten ihn Albträume heim, und selbst jetzt noch glaubte er manchmal, das Einschlagen von Kugeln in menschliche Körper und das Stöhnen der Sterbenden zu hören. Bei der Erinnerung fühlte sich seine Kehle plötzlich staubtrocken an, und er trat an den Tisch mit den Erfrischungen, um sich etwas zu trinken zu holen. Als er an der Terrassentür vorbeiging, fragte er sich, ob er nicht besser nach Lady Hannah sehen sollte. Vermutlich suchte sie immer noch nach ihren Diamanten, und um diese späte Stunde tat eine junge Dame nicht gut daran, sich ohne Begleitung im Freien aufzuhalten.

Noch ehe er jedoch seinen Plan in die Tat umsetzen konnte, trat Hannahs Bruder Stephen vor ihn hin. Ein distinguiert aussehender älterer Herr begleitete ihn.

„Entschuldige, Thorpe“, sprach ihn der Earl of Whitmore an, „hier ist jemand, der dich unbedingt kennenlernen will.“

Der ältere Gentleman trug einen maßgeschneiderten schwarzen Frackrock. Sein grau melierter Bart war sorgfältig gestutzt, sein Kopf jedoch kahl. Der Griff seines Gehstocks war vergoldet, und jeder Zoll des Unbekannten zeugte von Reichtum. Michael fragte sich, ob der Gentleman vielleicht einen Leibwächter suchte.

„Graf Heinrich von Reischor, der Botschafter des Fürstentums Lohenberg in England“, stellte Stephen seinen Begleiter vor. „Ein alter Freund meines Vaters. Graf von Reischor, Lieutenant Michael Thorpe.“

Lohenberg, dachte Michael unbehaglich. Bei der Erwähnung des Landesnamens beschlich ihn eine unbestimmte Erinnerung, doch er hätte nicht sagen können, an was. Aufmerksam musterte er den Grafen und fragte sich, ob von ihm erwartet wurde, dass er sich verbeugte. Er beschloss, es bei einem höflichen Kopfnicken zu belassen.

Graf von Reischor stützte sich auf seinen Stock. „Vielen Dank, Lord Whitmore. Ich bin Ihnen sehr verbunden, dass Sie uns bekannt gemacht haben. Wenn Sie uns jetzt bitte entschuldigen würden?“

Der Earl nickte ihnen zu und ging.

Was hatte das alles zu bedeuten? Michael runzelte die Stirn. Der Graf sah ihn an, als könne er den Blick nicht von ihm lösen, und begann in einer Sprache, die sich für Michael entfernt wie Deutsch anhörte, auf ihn einzureden.

Michael schüttelte den Kopf, um seinem Gegenüber zu bedeuten, dass er kein Wort verstand. Offenbar hatte der Graf das Gegenteil angenommen.

Doch von Reischor schien deswegen nicht weiter betrübt. „Vergeben Sie mir, Lieutenant Thorpe. Ihr Äußeres veranlasste mich zu der Vermutung, dass Sie aus Lohenberg stammen.“

„Mein Äußeres?“

„Ja.“ Ungläubiges Staunen stand in den Augen des älteren Herrn. „Sie müssen wissen, dass Sie jemandem, den ich kenne, verblüffend ähnlich sehen. Man könnte meinen, Sie seien sein Sohn.“

„Mein Vater war Fischhändler und hat London nie verlassen.“

Der Graf wirkte nicht überzeugt. „Stammen Ihre Eltern beide aus England?“

„Ja“, erwiderte Michael unbehaglich. Es missfiel ihm, dass der Graf Zweifel an seiner Herkunft zu haben schien. Er war der einzige Sohn seiner Eltern, die er vor vier Jahren bei einer Choleraepidemie verloren hatte. Mary Thorpe war in seinen Armen gestorben, und er würde ihr Andenken sein Leben lang bewahren. Er hatte seine Mutter über alles geliebt, und es beschämte ihn zutiefst, dass es ihm nicht gelungen war, seinen Eltern ein besseres Leben zu ermöglichen.

„Es ist vermutlich ein Zufall – trotzdem fällt es mir schwer, Ihre Darstellung zu akzeptieren. Sie haben ja keine Ahnung, wie stark die Ähnlichkeit zwischen Ihnen beiden ist.“

Mit Mühe schaffte Michael es, seinen Ärger zu unterdrücken. „Mein Vater war Paul Thorpe, niemand anderes. Sie haben kein Recht, derartige Vermutungen aufzustellen.“

„Vielleicht sollten wir die Angelegenheit in einem privateren Rahmen besprechen“, erwiderte der Graf geduldig. „Besuchen Sie mich morgen in meiner Residenz in der St. James’s Street Nummer vierzehn.“

„Ich werde nichts dergleichen tun“, entgegnete Michael schroff. „Ich weiß, wer ich bin und woher ich stamme.“ Er wandte sich zum Gehen, doch der Botschafter versperrte ihm mit dem goldbeschlagenen Gehstock den Weg.

„Ich bin nicht sicher, ob Sie mich richtig verstanden haben, Lieutenant Thorpe“, sagte er leise. „Der Mann, dem Sie so auffallend ähneln, ist unser Fürst.“

Michael schob den Grafen beiseite. Er, der Sohn eines Fürsten? Lächerlich. Von Reischor hatte einen seltsamen Humor, aber er würde sich ganz bestimmt nicht leichtgläubig von solch einem Unsinn in die Irre führen lassen.

Je mehr er darüber nachdachte, desto wütender wurde er. Was dachte sich dieser Mann dabei, wenn er einem gewöhnlichen Soldaten einzureden versuchte, er sei womöglich fürstlicher Herkunft? Die ganze Sache war wirklich ein schlechter Witz.

Trotzdem zog sich etwas in Michael zusammen. Die Begegnung mit dem Grafen rief Erinnerungen an die sonderbaren Träume in ihm wach, die ihn früher so manches Mal gequält hatten. Träume von einer langen Reise, von Stimmen, die nach ihm riefen, und den Tränen einer Frau.

Er ballte die Hände zu Fäusten. Nichts von all dem war Wirklichkeit, und er weigerte sich, irgendwelchen verschwommenen Visionen eines Lebens, das nicht das seine war, Glauben zu schenken.

Um sich von den haarsträubenden Vorstellungen abzulenken, beschloss er, Lady Hannah suchen zu gehen. Es war schon eine Weile her, dass sie in den Garten geeilt war, und seitdem hatte er sie nicht wieder auf die Terrasse kommen sehen.

Also schlenderte er in den Rosengarten. In ihrem weißen Kleid würde es nicht schwierig sein, sie selbst in der Dunkelheit ausfindig zu machen. Doch obwohl er sich sorgfältig umsah, konnte er keine Spur von ihr entdecken.

Allerdings hätte er sein Leben darauf verwettet, dass sie hier gewesen war. Aus Gewohnheit ging er in die Hocke und untersuchte die Spuren auf dem Boden. Als langjähriger Angehöriger des Militärs verstand er sich auf das Lesen von Fährten.

Er folgte Lady Hannahs zierlichen Fußabdrücken bis zum Brunnen, wo auf einmal schwerere Abdrücke neben ihren auftauchten. Es musste etwas … nein, jemand … in Richtung der Stallungen weggeschleift worden sein.

Michaels Sinne befanden sich augenblicklich in Alarmbereitschaft, erst recht, als er Lady Hannahs Diamantcollier im Gras liegen sah.

Er hob es auf, eilte zu den Ställen und verfluchte sich dafür, dass er Lady Hannah nicht früher gefolgt war. Sie schien wie vom Erdboden verschluckt.

Plötzlich entdeckte er Lord Rothburnes Kutscher. Der Mann lehnte Pfeife rauchend an einem eleganten Brougham, der zweifellos dem Marquess gehörte. Mit weit ausgreifenden Schritten eilte Michael zu dem Dienstboten hin.

„Lady Hannah“, stieß er hervor. „Wo ist sie?“

Die freie Hand in der Tasche vergraben, zuckte der Kutscher mit den Schultern. „Keine Ahnung.“

Da Michael sicher war, dass der Kerl log, ergriff er ihn bei seinen Mantelaufschlägen und stieß ihn unsanft gegen den Kutschkasten. Der Mann strauchelte, und eine Handvoll Münzen fiel ihm aus der Tasche.

Michael hielt ihn fest und presste ihn unbarmherzig gegen den eisernen Rahmen des Brougham. „Wer hat sie mitgenommen?“

Als der Mann hartnäckig schwieg, packte Michael ihn mit einer Hand um den Hals. „Ich bin kein Gentleman“, warnte er ihn. „Ich bin Soldat und werde dafür bezahlt, Feinde der Krone zu töten. Und im Augenblick betrachte ich dich als einen Feind.“ Er verstärkte seinen Griff um die Kehle des Mannes und lockerte ihn erst, als der Kutscher verzweifelt nach Luft schnappte. „Der … der B…Baron of Belgrave. Sagte, dass sie durchbrennen wollen. Gab mir Geld, damit ich nicht rede.“

„Wie sieht seine Kutsche aus?“

Der Kutscher beschrieb ihm einen luxuriösen Landauer, der das Wappen des Barons trug.

„Hol ein Pferd und spann an. Und mach schnell!“ Michael schob den Kutscher vor sich her in den Stall. „Ich fahre dem Schurken hinterher.“

„Aber Sie können doch nicht die Kutsche Seiner Lordschaft stehlen! Ich verliere meine Anstellung!“

Michael riss den Mann zu sich herum und fixierte ihn aus zusammengekniffenen Augen. „Und was meinst du, wird geschehen, wenn du dem Marquess of Rothburne erklärst, dass du tatenlos zugesehen hast, wie seine Tochter entführt worden ist?“

Keine zwei Minuten später war das Pferd angespannt. Michael schwang sich auf den Kutschbock. „Und jetzt gib Seiner Lordschaft augenblicklich Bescheid, oder du wirst nicht nur deine Anstellung verlieren!“ Michael trieb das Pferd an, wendete die Kutsche und fuhr auf die Straße zu.

Es gab tausend Orte, an die Belgrave sie gebracht haben konnte. Während er sich einen Weg durch den dichten Verkehr Londons bahnte, ging Michael in Gedanken die Möglichkeiten durch. Gedachte der Baron, sie zu kompromittieren oder zu heiraten?

Wenn Ersteres der Fall sein sollte, brachte er sie höchstwahrscheinlich zu seinem Haus, sodass man sie leicht finden würde. In ohnmächtigem Zorn biss Michael die Zähne zusammen. Keine unschuldige junge Dame verdiente eine derartige Erfahrung. Bei Gott, er würde den Baron umbringen für das, was er getan hatte.

Das Glück war auf seiner Seite. Als er hinter dem Grosvenor Square in eine Seitenstraße einbog, erblickte er Belgraves Kutsche am Straßenrand. Er trieb das Pferd an. Kaum hatte er den Landauer erreicht und sein Gefährt zum Stehen gebracht, war er vom Bock gesprungen und riss den Schlag der anderen Kutsche auf.

Lady Hannah lag mit geschlossenen Augen auf dem Boden zwischen den Sitzbänken und stöhnte leise. Lord Belgrave erstarrte bei Michaels Anblick.

Michael vergeudete keine Zeit, zerrte den Baron aus der Kutsche und stieß ihn gegen den Kutschkasten. „Ich sollte Sie auf der Stelle töten.“

Belgrave schnappte nach Luft, und Michael verpasste ihm einen Fausthieb mitten ins Gesicht. Befriedigt nahm er das knackende Geräusch zur Kenntnis, als das Nasenbein seines Gegners brach.

Blutüberströmt versuchte Belgrave, sich zu wehren, jedoch vergeblich „Dafür werde ich Sie hängen lassen!“, knurrte er außer sich.

Unbeeindruckt legte Michael ihm seine Hand um die Kehle und drückte zu. „Bisher habe ich noch nicht entschieden, ob ich Sie überhaupt am Leben lasse. Aber ich bin sicher, Lady Hannahs Brüder werden keine Einwände erheben, wenn ich London von einer widerwärtigen Laus wie Ihnen befreie.“

Autor

Michelle Willingham

Michelle schrieb ihren ersten historischen Liebesroman im Alter von zwölf Jahren und war stolz, acht Seiten füllen zu können. Und je mehr sie schrieb, desto mehr wuchs ihre Überzeugung, dass eines Tages ihr Traum von einer Autorenkarriere in Erfüllung gehen würde.
Sie besuchte die Universität von Notre Dame im Bundesstaat...

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