Mein verlockender Earl

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Da drüben sitzt ein Gentleman, der dich mit Blicken entkleidet. Lady Mara gibt nichts auf die Bemerkung ihrer Freundin. Bis die weibliche Neugierde siegt - es ist wie ein Schwertstich mitten ins Herz! Denn sie blickt direkt in die Augen des Earl of Falconridge. Es gab eine Zeit, in der sie geschworen hat, ihn zu heiraten. Jetzt schwört sie, ihn zu ignorieren! Nicht noch einmal will sie von ihm für ein Leben voller Geheimnisse verlassen werden. Doch Maras Schwur ist eine Sache - dem unwiderstehlichen Earl, Mitglied des verrufenen Inferno-Clubs, den Zutritt zu ihrem Boudoir zu verwehren, eine ganz andere …


  • Erscheinungstag 12.11.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733738587
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Wege des Schicksals
London, 1804

In einen jahrhundertealten geheimen Ritterorden hineingeboren zu werden, der sich dem Kampf gegen das Böse verpflichtet hat, ist nichts für Feiglinge.

Der zweiundzwanzigjährige Jordan Lennox, Earl of Falconridge, hatte kürzlich erfolgreich seine Agentenprüfung abgelegt, auf die er sich mehrere Jahre an der Akademie des Ordens vorbereitet hatte.

Diese Zeit in der abgelegenen schottischen Wildnis war hart gewesen, fast militärisch. Gemeinsam mit seinen Kameraden hatte Jordan die verschiedensten, teils äußerst gefährlichen Fertigkeiten erlernt. So konnte er nun eine glatte Felswand allein mithilfe von Seilen und Flaschenzügen erklimmen, hatte bereits den Ärmelkanal durchschwommen und war in der Lage, aus ein wenig Salpeter und ganz alltäglichen Gegenständen Sprengstoff herzustellen. Außerdem sprach er sechs Sprachen fließend, wusste sich anhand der Sterne zu orientieren und traf mit seinem Gewehr ein Ziel aus fünfzig Yards Entfernung.

All dies waren die Grundvoraussetzungen, die jeder junge Ritter des Ordens erfüllen musste, der kurz vor seiner ersten Mission stand.

Jordan war stets der umsichtigste, vernünftigste und besonnenste seiner Kameraden gewesen. Seit Beginn seiner Ausbildung war der junge Earl jedoch fest entschlossen, sein Leben nicht von der Arbeit als Spion dominieren zu lassen.

Zu deutlich hatte er gesehen, was das Agentendasein aus einem Menschen machen konnte. Sein Ausbilder Virgil wirkte stets grimmig und verbissen, und Jordan hatte sich geschworen, niemals so zu enden.

Viele der älteren Spione legten diese düstere Art an den Tag: zynisch, verbittert, hart wie Stein.

Eiskalt.

Doch was nützte es, den Blutschwur des Ordens abzulegen, sich zu verpflichten, das Königreich sowie Freunde und Familie zu beschützen, wenn man sich am Ende selbst verlor und sich innerlich wie tot fühlte?

Aus diesem Grund hatte Jordan geschworen, dass der Orden nicht sein einziger Lebensinhalt werden durfte, wohin auch immer seine Missionen den jungen Earl führen mochten.

Der Schlüssel zu diesem Plan war vermutlich, den Kontakt zum normalen Leben und zu seinen Freunden außerhalb des Ordens nicht zu verlieren. So banal und belanglos dieses Leben im Vergleich zu den Kriegen war, die Jordan und seine Kameraden im Verborgenen führten.

Max und Rohan pflegten sich einen Spaß daraus zu machen, über die ahnungslose feine Gesellschaft zu spotten. Doch Jordan war in einer großen, lebhaften Familie aufgewachsen und fand das Leben außerhalb des Ordens durchaus charmant und reizvoll.

All die Picknicks und Partys halfen Jordan dabei, auf dem Boden der Realität zu bleiben. Aus diesem Grund hatte er auch die Einladung aufs Land angenommen.

Vermutlich würde er allerdings nicht den ganzen Juli bleiben können, da sein erster Auftrag unmittelbar bevorstand.

In dieser schwierigen Zeit, in der Napoleon den Kontinent verwüstete, wurden so viele Agenten wie möglich benötigt. Besonders solche von adeliger Herkunft, die zu Kreisen Zugang hatten, die anderen Schichten verwehrt blieb.

Doch um all das musste Jordan sich in naher Zukunft keine Gedanken machen.

Er würde die Picknicks und Spiele genießen und mit jungen Damen durch die Parks und Gärten flanieren. Außerdem tanzte man auf solchen Gesellschaften viel, und vielleicht würde sogar ein Theaterstück auf dem eleganten Landsitz seiner Gastgeber aufgeführt werden.

Wie herrlich alltäglich das alles klang. Auf diese Weise verbrachten junge Adlige für gewöhnlich die langen Sommermonate, und Jordan genoss den Gedanken, zumindest für eine Weile den gleichen Vergnügungen nachzugehen wie die übrigen Gentlemen seines Alters.

Er war sogar bereit, die anderen jungen Männer bei den meisten sportlichen Wettbewerben gewinnen zu lassen. Völlig ungeplant hingegen war sein Zusammentreffen mit Mara Bryce …

1. KAPITEL

London, 12 Jahre später

Dort drüben steht ein atemberaubend gut aussehender Gentleman und starrt dich an“, flüsterte Delilah ihrer Freundin zu. Die beiden modisch gekleideten jungen Witwen saßen inmitten der feinen Gesellschaft, die sich im Pall-Mall-Auktionshaus von Christie’s versammelt hatte. „Oh, er ist fantastisch gebaut. Blond, makellos gekleidet. Und dieser Blick … Komm schon, schau ihn dir wenigstens an. Wenn du ihn nicht willst, werde ich ihn mir angeln.“

„Pst! Ich versuche, mich zu konzentrieren!“ Lady Mara Pierson ignorierte die launigen Ablenkungsversuche ihrer Begleiterin und beobachtete aufmerksam den Auktionator, der gerade einen alten Meister versteigerte.

„Siebenhundertfünfzig. Bietet jemand achthundert Pfund? Achthundertfünfzig …“

„Du brauchst doch nicht noch ein Gemälde, Liebes“, sagte Delilah. „Einen Liebhaber, den brauchst du jedoch ganz dringend. Aber das erzähle ich dir ja schon ewig.“

„Ich kann dir versichern, dass ein Liebhaber das Allerletzte ist, was ich benötige.“

„Herrje, bist du prüde!“

Mara schnaubte verächtlich und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ganz dem Kunstwerk zu, dessen Preis immer weiter in die Höhe stieg. „Noch so einen arroganten Kerl, der versucht, mich herumzukommandieren? Nein, vielen Dank. Ich bin froh, dass ich das letzte Exemplar gerade losgeworden bin.“

„Ein Liebhaber ist aber etwas anderes als ein Ehemann, Liebes.“

„Du musst es ja am besten wissen.“

Delilah gab ihrer Freundin für diese kleine Unverschämtheit einen Klaps auf den Arm, woraufhin Mara ihr einen kecken Seitenblick zuwarf. „Nein, meine Liebe, ich kann dir versichern, dass ich wunderbar ohne Mann auskomme. Ich bin fast dreißig, und mein Leben verläuft endlich so, wie ich es mir immer gewünscht habe. Warum sollte ich es mir also von irgendeinem lüsternen Kerl wieder verderben lassen?“

„Ein durchaus bedenkenswertes Argument. Doch lüsterne Männer haben auch ihre Vorteile, Liebes. Du wirst sie noch zu schätzen lernen.“

„Das bezweifle ich. Derlei Dinge liegen mir nicht; mein Gemahl hätte dir das bestätigen können.“ Mara warf ihrer erfahrenen Freundin einen zynischen Blick zu.

Die lächelte verständnisvoll. „Noch ein Grund mehr, dir einen Mann zu suchen, der es versteht, die Bedürfnisse einer Frau zu befriedigen.“

„Gibt es solche Geschöpfe tatsächlich?“, murmelte Mara, während sie die Augen auf den Auktionator gerichtet hielt.

„Sicher doch! Du könntest dir Cole leihen. Obwohl – lieber doch nicht. Ich müsste dir sonst leider die Augen auskratzen.“

Mara lachte. „Keine Sorge. Dein Cole ist vor mir sicher. Das einzige männliche Wesen, das mir etwas bedeutet, ist zwei Jahre alt.“

„Das mag ja sein, Mamita Mama bear, aber sei gewarnt: Da dein Trauerjahr nun vorbei ist, werden die Herren dich als Freiwild ansehen und dich umwerben.“

Maras einzige Reaktion war ein gleichgültiges Schulterzucken. Sie schaute sich im Raum um und musterte ihre Konkurrenz, die sich für das gleiche Gemälde interessierte. „Sollte es wirklich jemand versuchen, verschwendet er damit nur seine Zeit.“

Auf die Frage des Auktionators: „Bietet jemand neunhundert?“, hob sie flink ihre Nummerntafel.

Delilah seufzte gelangweilt. „Warum willst du ein Vermögen für dieses düstere Porträt ausgeben, das die Frau irgendeines holländischen Kaufmanns zeigt? Sie ist hässlich. Schau dir bloß diese Knollennase an!“

„Kunst hat nicht immer etwas mit Schönheit zu tun, Delilah. Außerdem ist das Gemälde nicht für mich.“

„Eintausend Pfund!“

„Für wen ist es denn?“, fragte Delilah überrascht.

Zunächst zögerte Mara mit ihrer Antwort, doch als ihre Freundin ungeduldig wurde, gab sie schließlich zu, dass es für George sei, und hob ihre Nummer erneut.

„George?“

„Bietet jemand elfhundert?“

„Wer ist George?“ Delilahs Neugierde war geweckt.

Diskret warf Mara ihr einen bedeutungsschwangeren Blick zu, woraufhin Delilah die Augen aufriss. „Oooh, der George! Du meinst den Prinzregenten!“, rief sie, gleichermaßen geschockt und entzückt. „Also hast du wirklich eine Affäre mit Prinny! Ich wusste es! Aber Liebling, er ist doch so fett! Andererseits wird er einmal König. Warte … liebt er dich etwa? Lieber Himmel, er könnte dir einen Diamanten so groß wie eine Faust …“

„Delilah!“

„Wie ist er im Bett?“ Ihr Lachen war voll diebischer Freude. „Oh, ich wette, er ist schrecklich! Aber nicht so schlimm wie andere Staatsoberhäupter. Wie wohl König Ludwig von Frankreich sein mag? Er ist auch fett und ziemlich alt. Na ja, zumindest ist er nicht Napoleon, der arme Zwerg.“

Das vielsagende Lachen der lustigen Witwe hatte einen teuflischen Unterton.

„Um Himmels willen, sei doch leise!“, schimpfte Mara im Flüsterton und versuchte gleichzeitig, ein Lachen zu unterdrücken. „Hör zu, du verrücktes Weib. Ich habe keine Affäre mit dem Prinzregenten. Wir sind Freunde. Bloß Freunde, verstehst du?“

„Mm-hm.“

„Seine Königliche Hoheit ist der Pate meines Sohnes, wie du sehr wohl weißt. Das ist alles.“

„Na, das erzähle mal dem ton, Liebes.“ Delilah verschränkte die Arme vor der Brust und blickte Mara vielsagend an. „So oft wie du in Carlton House ein und aus gehst, musst du dich über Gerüchte nicht wundern.“

Das war Mara schmerzlich bewusst. Die Menschen konnten manchmal wirklich abscheulich sein. Warum musste einem die Gesellschaft immer gleich das Schlimmste unterstellen?

„Elfhundert! Höre ich zwölfhundert?“ Der Auktionator blickte sich unter den Bietenden um. „Elfhundertfünfzig?“

Nach einem schnellen Blick auf ihre Konkurrenz hob Mara erneut ihre Nummerntafel. „Ich glaube, ich habe gerade …“

„Verkauft an die reizende Dame hier vorne.“ Mit einem höflichen Nicken des Auktionators in Maras Richtung und einem Hammerschlag gehörte das Gemälde ihr.

„Du kannst mir gratulieren.“ Triumphierend drehte Mara sich zu Delilah um, die sie zweifelnd musterte. „Was hast du?“

„Elfhundertfünfzig Pfund? Liebes, dafür habe ich gerade mein gesamtes Strandhaus in Brighton neu eingerichtet. Warum solltest du so viel Geld für den Regenten ausgeben, wenn er nicht dein Liebhaber ist, hm?“

„Weil er in letzter Zeit ganz verrückt nach Gemälden von Gerrit Dou ist. Und …“ Mara zögerte und überlegte, wie viel sie preisgeben durfte.

„Und was?“ Neugierig beugte Delilah sich zu ihrer Freundin hinüber.

„Und … ich weiß zufällig, dass in naher Zukunft eine gewisse frohe Botschaft in den königlichen Kreisen verkündet werden wird. Siehst du nun ein, wie unglaublich schlau ich bin?“, neckte Mara. „Ich habe mein Geschenk bereits, während ihr anderen euch sputen müsst, sobald die große Neuigkeit bekannt gegeben ist.“

„Welche große Neuigkeit?“ Voller Ungeduld zupfte Delilah die Freundin am Ärmel. „Darf er sich endlich scheiden lassen? Denk doch mal nach, dann könntest du …“

„Nein! Ich bedaure, meine Lippen sind versiegelt.“ Mara musste über Delilahs beleidigte Miene lächeln.

„Du wirst es mir wirklich nicht verraten, oder?“

„Ich kann nicht, meine Liebe. Dafür würden sie mich in den Tower werfen lassen.“

„Sicher.“

„Es geht wirklich nicht, Liebste. Sieh doch, es steht mir nicht zu, diese Nachricht zu verkünden. Doch du wirst sie sicherlich schon bald erfahren. Ich denke, man wird sie innerhalb der nächsten Woche bekannt geben.“

„Du bist furchtbar.“

„Das musst gerade du sagen! Also, wo ist dieses Wunderwesen von einem Mann überhaupt, von dem du sprachst? Wie hast du ihn genannt? Atemberaubend und fantastisch gebaut? Das klingt doch sehr verführerisch.“

„Ich dachte, du willst keinen Mann?“

„Das stimmt. Aber ich werde ihn mir doch noch anschauen dürfen, oder nicht?“ Maras Blick folgte dem ihrer Freundin.

„Oh, er scheint gegangen zu sein. Ich kann ihn nirgends entdecken.“ Dann fragte Delilah schmollend: „Du würdest es mir doch sagen, wenn du eine Affäre mit dem Regenten hättest, nicht wahr?“

„Ausgerechnet einer Klatschbase wie dir? Ganz bestimmt nicht.“

„Aber genau deshalb hast du mich doch so gern, meine Liebe!“

„Stimmt. Trotzdem – in der Beziehung gibt es nichts zu berichten. Seine Königliche Hoheit ist der Pate meines Sohnes und mein Freund.“

„Dein Freund.“

„Natürlich! Er hat sich mir und Thomas gegenüber sehr zuvorkommend gezeigt, seit mein Ehemann verstorben ist.“

„Ich frage mich, warum wohl“, entgegnete Delilah trocken.

„Du weißt doch, dass er verheiratet ist.“

„Na und?“, bemerkte Delilah spöttisch.

„Es ist allgemein bekannt, dass der Prinz älteren Frauen den Vorzug gibt. Er ist freundlich zu mir, das ist alles.“ Und ich stehe in einer Weise in seiner Schuld, die du niemals verstehen wirst. „Mehr ist dazu nicht zu sagen. Ich bin aufrichtig an seinem Wohlergehen interessiert.“

„Das ist ja sehr reizend, Liebes. Dennoch bist du vermutlich die Einzige im Land, die so denkt.“

„Es schert mich nicht, was die Leute denken. Ich bewundere unseren Prinny; er hat die Seele eines Künstlers.“

„Zweifelsohne genau das, was England benötigt. Können wir nun gehen?“, beschwerte sich Delilah. „Es ist stickig hier und riecht wie auf dem Speicher meiner Großmutter.“

„Meinetwegen gern. Ich habe bekommen, was ich wollte. Und es wird Zeit, dass ich zu Hause nach Thomas sehe. Er ist gestern mit einem leichten Schnupfen aufgewacht, und das bereitet mir Sorge.“

„Oh Gott, ein Schnupfen! Wie viele Ärzte hast du in den letzten vierundzwanzig Stunden denn schon kommen lassen, damit der kleine Viscount nur ja schnell wieder gesund wird?“

„Delilah Staunton, du hast nicht die geringste Ahnung von Kindern.“

„Ich habe genug Ahnung, um zu wissen, dass ich mich besser von ihnen fernhalte.“ Delilahs Augen funkelten vergnügt. „Los, los, während du dich um die Lieferung des Gemäldes kümmerst, lasse ich nach unseren Kutschen schicken.“

Mara nickte, und die beiden Damen erhoben sich.

Als sie sich mit ihren ausladenden Röcken vorsichtig den Weg durch die Stuhlreihe bahnten, dachte Mara über die Gerüchte nach. Sie als die neueste Geliebte des Prinzregenten?

Natürlich durfte sie diese Vermutungen nicht zu energisch von sich weisen und damit den Zorn des zukünftigen Königs riskieren. Denn zu viel Protest würde den Eindruck erwecken, dass Mara den Prinzen als Mann verabscheute. Und sie würde die Gefühle des sensiblen George niemals verletzen wollen. Er war sich seines Übergewichts wohl bewusst und sehr empfindsam. Daher fühlte er sich auch schnell zurückgewiesen.

Aufgrund des herabsetzenden und gehässigen Verhaltens ihrer Eltern wusste Mara genau, was Unsicherheit bedeutete. Die ständigen Angriffe auf das eigene Selbstwertgefühl ließen einen Menschen schnell an sich zweifeln, egal, wie sehr man versuchte, dagegen anzugehen.

Daher verstand Mara die Gefühle des bedauernswerten Prinzregenten sehr gut. Er hatte niemals die Chance bekommen, die Erwartungen seines Vaters und der Untertanen zu erfüllen. Man hatte sich den Verstand eines General Wellington gepaart mit dem Aussehen eines Adonis gewünscht. Stattdessen hatte das Volk einen unsicheren, korpulenten Kunstliebhaber bekommen.

Der Druck auf den Regenten war unvorstellbar, und der Prinz war zu zartbesaitet, um mit dieser Last umgehen zu können. Mara wusste, dass George dringend echte Freunde brauchte, nicht diese heuchlerischen Kriecher, von denen er umgeben war. Und nach allem, was er für Mara und ihren kleinen Jungen getan hatte, war sie gerne bereit, dem Regenten mit Treue und Loyalität zur Seite zu stehen. Selbst wenn ihr Ruf darunter litt.

Doch warum dachte sie überhaupt darüber nach? Sie war schließlich kein siebzehnjähriges Mädchen mehr, das etwas auf die Meinungen anderer gab und versuchte, allen zu gefallen.

Was die Gerüchte um den Prinzen betraf, war es am besten, darüber zu lachen und nur zurückhaltend zu protestieren, sodass die königliche Befindlichkeit keinen Schaden nahm.

Immerhin durfte man nicht vergessen, dass die Freundschaft zu einem Monarchen nicht ungefährlich war. Wenn selbst das modische Vorbild Beau Brummell durch einen unvorsichtigen Scherz in Ungnade hatte fallen können, war niemand mehr gefeit. Zwar mochte der Regent in letzter Zeit an Beliebtheit eingebüßt haben, aber er besaß weiterhin die Macht, das Leben ehemaliger Freunde zu zerstören.

Er war sicherlich nicht daran interessiert, Mara in sein Schlafzimmer einzuladen. Diesbezüglich hatte er nur ein paar humorvolle Andeutungen gemacht, die völlig harmlos waren. Dass die Scherze ernst gemeint sein könnten, darüber wollte Mara lieber nicht nachdenken. Nein, Seine Königliche Hoheit war einzig an ihrer Gesellschaft interessiert – was sie über ihren verstorbenen Ehemann nicht hatte sagen können.

Überdies hatten die Gerüchte um ihre Affäre mit dem Prinzregenten einen entscheidenden Vorteil: Sie hielten Mara andere Gentlemen vom Leib. Die Herren wagten es schlicht nicht, Prinnys Zorn auf sich zu ziehen.

Denn Delilah hatte recht: Junge, hübsche Witwen waren oft die begehrtesten Damen in der Gesellschaft und in den Augen hochwohlgeborener Verführer Freiwild. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Mara alles für die Aufmerksamkeit möglicher Verehrer getan hätte, doch die war lange vorbei.

Jetzt hatten andere Dinge Vorrang. Mara war keine junge, unsichere Debütantin mehr, die verzweifelt einen Ehemann suchte, um aus ihrem lieblosen Elternhaus zu entfliehen. Inzwischen lebte sie als unabhängige Frau, die für diese Freiheit hart gekämpft hatte. Die Geburt ihres Sohnes vor zwei Jahren hatte ihr Leben vollkommen verändert, denn um ihres Kindes willen hatte Mara Stärke entwickeln müssen.

Die beiden Damen bewegten sich in Richtung Ausgang. Delilah nickte einigen Bekannten zu, während Mara durch die hohen Fenster den Regen beobachtete.

Das graue Märzwetter ließ die Meisterwerke, die bei Christie’s so unzeremoniell versteigert wurden, in einem unangemessen trüben Licht erscheinen. Unzählige Ölgemälde hingen dicht an dicht an der Wand, gleich neben Aquarellen und Skizzen in allen Größen und Formaten.

Die meisten dieser Kunstgegenstände waren über die Jahre vermutlich durch Dutzende Hände gegangen und hatten ihre wahre Bestimmung immer noch nicht gefunden. Es hatte etwas Bewegendes, die Bilder dort hängen zu sehen. Fast könnte man meinen, sie warteten auf jemanden, der sie um ihrer selbst willen zu schätzen wusste. Der sie nicht nur besitzen wollte, damit andere ihn darum beneideten.

Mit einem bitteren Lächeln dachte Mara an ihren angeblichen Liebhaber.

Der Prinzregent hätte die Bilder vermutlich alle gekauft, wäre das Volk nicht bereits empört gewesen über seine Verschwendungssucht.

Wehmütig wanderte ihr Blick die Galerie entlang und fiel auf den Schmuck, die Statuen, Vasen und verschiedene andere Kunstgegenstände, die auf den Tischen entlang der Wände ausgestellt waren. All das würde neben seltenen alten Büchern und antiken kolorierten Handschriften schon bald unter den Hammer kommen.

Als Mara sich wieder Richtung Ausgang wandte, schaute sie unvermittelt einem Mann in die Augen, der einige Schritte vor ihr an der Wand lehnte.

Wie angewurzelt blieb sie stehen.

Ihr stockte der Atem, denn sie hatte ihn sofort erkannt, obwohl sie ihn seit Jahren nicht gesehen hatte.

Atemberaubend, makellos und fantastisch gebaut, genau so, wie Delilah ihn beschrieben hatte.

Jordan …?

Jordan Lennox!

Er starrte sie an.

Doch wie …? Was, zum Teufel, tat er hier?

Während Mara seinem Blick standhielt, durchfuhr sie ein unerwarteter Schmerz. Eine alte Wunde, die sie längst verheilt geglaubt hatte.

Delilah bemerkte nicht, dass ihre Freundin stehen geblieben war, und strebte weiter auf den Ausgang zu.

Mara jedoch war starr vor Schreck.

Natürlich hatte sie immer gewusst, dass sie ihm früher oder später wieder begegnen würde, doch ihn nach all den Jahren vor sich stehen zu sehen …

Mit leicht zusammengekniffenen Augen beobachtete Jordan sie neugierig.

Leider führte ihr Weg hinaus genau an ihm vorbei. Andernfalls hätte sie den gesamten Saal einmal umrunden müssen. Und diese Genugtuung gönnte sie dem Mistkerl nicht.

Vielleicht spricht er mich gar nicht an. Schließlich habe ich ihm nicht viel bedeutet, und die Angelegenheit ist lange her. Vermutlich erinnert er sich nicht einmal mehr an mich.

Mara verbarg ihren Gefühlsaufruhr hinter einer unbeteiligten Miene, straffte die Schultern, hob stolz das Kinn und ging auf den Mann zu, den sie einst irrtümlicherweise für ihre große Liebe gehalten hatte. Schließlich konnte sie jetzt kaum vorgeben, ihn nicht gesehen zu haben, nachdem er sie bereits erspäht hatte.

Unter dem kühlen Blick des Earls fühlte Mara sich nackt und schutzlos. Offensichtlich war Lennox genauso wenig begeistert von diesem zufälligen Wiedersehen wie sie.

Nein, sie würde sich auf keinen Fall von ihm einschüchtern lassen, also hielt sie seinem Blick entschlossen stand, während sie sich ihm näherte.

Zwar sah Jordan immer noch sehr gut aus, mit dem ernsten, nordisch anmutenden Gesicht, doch er wirkte nicht glücklich.

Gut so, dachte Mara befriedigt. Wenn sie seit ihrem letzten Zusammentreffen gelitten hatte, war es nur recht und billig, dass es ihm genauso ergangen war.

Die ganzen elenden neun Jahre ihrer Ehe wären Mara erspart geblieben, hätte Jordan sie damals nicht im Stich gelassen. So er denn wirklich anders gewesen wäre als die jungen Männer, die einst um ihre Hand gebuhlt hatten.

Oh, er unterschied sich von ihnen, zweifellos. Die anderen waren nur oberflächlich gewesen. Jordan hingegen hatte sich im Nachhinein als schrecklicher erwiesen als ihr Ehemann.

Während man Tom mit einem stumpfen Knüppel vergleichen konnte, ähnelte Jordan dem scharfen Skalpell.

„Mara.“ Er ließ sich zu einem pflichtbewussten Nicken herab, als sie schließlich vor ihm stand. Die Menschenmenge drängte sie näher an ihn heran, als es Mara lieb war.

Der Klang ihres Namens aus seinem Mund ließ sie zusammenfahren.

Wie kannst du es wagen?

„Lord Falconridge“, war ihre frostige Entgegnung. Ohne Zögern ging sie weiter, doch Jordan war noch nicht fertig.

„Gratuliere zum Erwerb des Gerrit Dou.“

Mara hielt inne, drehte sich mit wachsamer Miene zu Jordan um und bemerkte den wohlwollend-musternden Blick des Earls. Welch Unverschämtheit!

„Sie sehen gut aus.“

Himmel, wie tollkühn von Lord Selbstgefällig, ihr so etwas zu sagen! Eine Frechheit! In jüngeren Jahren war der Earl ein Musterbeispiel ritterlicher Tugend gewesen – oder zumindest hatte er stets vorgegeben, es zu sein.

Vielleicht hatte er sich aber verändert und diese Maske der Galanterie endlich abgelegt. Gut. Denn das Letzte, was diese Welt benötigte, waren noch mehr Scheinheilige.

„Vielen Dank.“ Als Mara nach dieser knappen Antwort weitergehen wollte, hielt Jordan sie mit einer erneuten Bemerkung davon ab.

„Mir war nicht bewusst, dass Sie Kunst sammeln.“

Es gibt eine Menge Dinge, die du nicht über mich weißt, du Mistkerl. „Das tue ich keineswegs, Mylord. Guten Tag.“

„Mara …“

„Lady Pierson“, korrigierte sie scharf. Die Arme vor der Brust verschränkt, bedachte Mara den Earl mit dem gleichen unverschämt-musternden Blick wie er sie.

Ihrem Seelenfrieden war es ganz und gar nicht zuträglich, dass sie bemerkte, wie gut er immer noch aussah. Ausgesprochen gut. Zu Maras Entsetzen sah der herzlose Lump sogar noch besser aus als vor zwölf Jahren. Wie alt mochte er jetzt wohl sein? Vierunddreißig?

Die Jahre hatten aus dem attraktiven Jungen einen ansehnlichen Mann gemacht. Seine Gesichtszüge waren noch immer regelmäßig, das blonde Haar kurz und gepflegt. Doch sein einst aufwendiger Kleidungsstil war nun schlichter Eleganz gewichen. Kein Wunder bei einem Mann, der seine Zeit damit verbrachte, in den Palästen auf dem Kontinent zu faulenzen.

Der weltgewandte Diplomat lehnte an der mit Eiche getäfelten Wand und zog beiläufig seine goldene Taschenuhr auf. Er trug einen flaschengrünen Reitrock, um dessen Stehkragen er ein sorgfältig gebundenes Krawattentuch geschlungen hatte. Die Weste war aus einem Stoff mit zurückhaltendem Fischgrätenmuster gefertigt, und tabakbraune Reithosen verschwanden in schwarzen Stulpenstiefeln, deren weiches Leder unter dem Knie umgeschlagen war.

Jordan, wie er leibte und lebte, bemerkte Mara mit einem schmerzhaften Ziehen in der Brust, das in all den Jahren nie ganz verschwunden war. Der Earl of Falconridge gab sich modisch zurückhaltend und war das perfekte Abbild des kühlen, vollkommenen Gentleman. Scharfsinnig und präzise. Gnadenlos anspruchsvoll in seiner Perfektion.

Vor Jahren hatte Mara gehört, wie einer seiner Freunde ihn „Falcon“ – Falke – gerufen hatte. Diese Abkürzung seines Titels passte hervorragend zu dem attraktiven Earl. Ein wilder, schöner Einzelgänger, der aus unerreichbarer Höhe die Welt überblickt und dessen Gedanken nur der Wind kennt.

Vom ersten Moment an war Mara von Jordan fasziniert gewesen. Sogar jetzt fühlte sie sich zu ihm hingezogen und verspürte sehr zu ihrem Ärger das Bedürfnis nach seiner Nähe, die ihr so lange verwehrt geblieben war.

Jordan musterte sie. Sein Blick wirkte distanziert und gleichzeitig vertraut. Er schien ihre Gedanken lesen zu können, während er für sie weiter ein Geheimnis blieb.

Jetzt, als Witwe, hatte Mara eine Ahnung von den Freiheiten, die er als Mann genoss. Er besaß die Zeit und das Geld, zu tun, was ihm beliebte, ohne dafür Rechenschaft ablegen zu müssen.

Vielleicht war das einer der Gründe, warum er sie einst verlassen hatte. Damals hatte Mara gedacht, sie verstünde Jordan. Sie hatte geglaubt, Familie und Freunde seien das Wichtigste in seinem Leben, da sie ihm Sicherheit und Geborgenheit boten. Zu Maras Erstaunen war der Earl aber später rastlos umhergezogen.

All dies war nun natürlich unwichtig, da ihre gemeinsamen Erlebnisse ebenso der Vergangenheit angehörten wie Maras Ehemann Tom.

Sie sollte besser gehen. Sofort. Doch sein Blick hielt sie gefangen.

„Dann sind Sie also vom Kontinent zurück“, bemerkte Mara widerwillig und reserviert. „Oder haben Sie sich nur zu einem kurzen Besuch herabgelassen, Mylord?“

Jordan ließ die Uhr zurück in seine Westentasche gleiten und machte ob Maras offensichtlicher Feindseligkeit ein erstauntes Gesicht. „Soweit ich weiß, werde ich wohl länger in England weilen.“

Diese Neuigkeiten missfielen Mara gänzlich. Na großartig. Dann werde ich mich auf Gesellschaften jetzt wohl regelmäßig mit dir abgeben müssen.

Delilah war inzwischen stehen geblieben und blickte sich suchend um. Als sie Mara entdeckte, kam sie zu ihr herüber. Mit einem bewundernden Lächeln schaute sie den Earl an und wandte sich dann an ihre Freundin. „Soll ich draußen auf dich warten?“

„Nicht nötig, ich komme“, entgegnete Mara schnell, doch Jordan, der Schuft, bedachte Delilah mit seinem unwiderstehlichsten Lächeln.

„Möchten Sie mich Ihrer Freundin nicht vorstellen, Lady Pierson?“, fragte er unschuldig.

Verärgert biss Mara die Zähne aufeinander. „Mrs Staunton, der Earl of Falconridge.“

„Mrs?“, fragte er bedauernd, und seine blauen Augen funkelten spitzbübisch, als er die ihm dargebotene Hand nahm.

„Ach, Lord Falconridge, der Herr hat meinen armen Gemahl bedauerlicherweise bereits zu sich gerufen.“ Delilah schnurrte wie ein Kätzchen.

„Wie außerordentlich beklagenswert“, murmelte Jordan mit einem Blick, der eher sündige Gedanken als Beileid ausdrückte. Galant beugte der Earl sich über Delilahs Hand und küsste ihre Finger. „Es ist mir ein Vergnügen.“

Eine Bemerkung, die Maras Wut noch mehr schürte.

Delilah verschlang Jordan regelrecht mit Blicken. „Ich wundere mich, dass wir uns noch nie begegnet sind, Lord Falconridge.“

„Der Earl verbringt sehr viel Zeit im Ausland“, warf Mara ein. „England ist für seinesgleichen viel zu klein, ja, fast provinziell, möchte ich behaupten.“

„Donnerwetter!“ Delilah lachte über Maras scharfen Ton. „Wo haben Sie sich denn überall aufgehalten, Mylord?“

„Ja, Jordan, erzählen Sie. In der Hölle vielleicht?“

„Nein, so weit bin ich nicht herumgekommen, höchstens bis zum Vorhof der Hölle. Wo bin ich also gewesen? Da und dort“, beantwortete er Delilahs Frage mit einem Lächeln. Ob Maras spitzer Anspielung auf den skandalträchtigen Inferno Club, dem er seit langen Jahren angehörte, warf er der Dame einen diabolischen Blick zu.

Es war in ganz London bekannt, dass nur den Enfants terribles der feinen Gesellschaft, die einen makellosen Stammbaum und prall gefüllte Geldbörsen besaßen, Zugang zu Dante House gewährt wurde. Dies war der Hauptsitz der ebenso exklusiven wie mysteriösen Vereinigung ausschweifend lebender Aristokraten und Casanovas.

Jordan hatte Mara vor Jahren auf charmante Art versichert, dass er das bravste unter den Clubmitgliedern sei. Der Verantwortungsbewusste, der stets darauf achtete, dass die anderen nach einer durchzechten Nacht keinen Schaden nahmen und sicher nach Hause fanden.

Mit ihren siebzehn Jahren war Mara bedauerlicherweise naiv genug gewesen, ihm zu glauben. Jetzt begriff sie jedoch, dass er dies vermutlich jedem jungen Mädchen gegenüber behauptet hatte.

„Provinziell oder nicht“, sagte Jordan leichthin und beobachtete Mara scharf, „jetzt bin ich zurück in London.“

„Welch ein Glück für unser Königreich.“ Maras Ton war spöttisch. „Komm, Delilah, ich muss heim zu Thomas. Guten Tag, Mylord.“

„Thomas, selbstverständlich. Wie geht es Ihrem charmanten Gemahl, Mylady?“, fragte Jordan herausfordernd.

Verblüfft blickte Mara ihn an. „Lord Pierson ist bereits vor zwei Jahren verschieden. Ich bezog mich auf meinen Sohn.“

„Ah.“ Jordan wirkte keinesfalls überrascht. „Das bedauere ich sehr“, fügte er mit einem höflichen Nicken und gänzlich mangelnder Aufrichtigkeit hinzu.

Sofort begriff Mara, dass er von Piersons Tod gewusst haben musste.

Aus welchem Grund auch immer hatte er ihr diese Frage scheinbar nur gestellt, um herauszufinden, wie sie darauf reagierte.

Mara warf Jordan einen misstrauischen Blick zu und wandte sich zum Gehen. Delilah allerdings machte keinerlei Anstalten, ihr zu folgen. „Lord Falconridge, es wäre mir eine Freude, Sie und Lady Falconridge bei meiner Dinnerparty morgen Abend begrüßen zu dürfen.“

Entsetzt fuhr Mara herum.

„Sie meinen meine Mutter?“, fragte Jordan gedehnt.

Delilah blinzelte. „Oh, Sie sind nicht verheiratet?“

„Meines Wissens nicht.“

Jordan schaute Mara nicht an, und auch sie wagte es nicht, ihn anzusehen.

Sie musste an ihre letzte gemeinsame Nacht denken, damals, bei jenem Sommerfest auf dem Land. Als Mara ihm auf seine Bitte hin in den Garten gefolgt war, hatte sie ihren guten Ruf und den Zorn ihrer Mutter riskiert.

Während sie sich über die gewundenen Pfade im Mondlicht davonschlich, keimte in ihr die Gewissheit, dass Jordan ihr einen Antrag machen würde. Und sie wusste auch, dass ihre Antwort Ja und immer wieder Ja lauten würde.

Seit sie dem jungen Earl das erste Mal begegnet war, war jeder Moment wie verzaubert gewesen.

Doch es stellte sich heraus, dass er sie aus einem anderen Grund in den Garten bestellt hatte. Sanft nahm er ihre Hände in die seinen.

„Ich wollte mich allein mit Ihnen treffen, um mich zu verabschieden.“

Ob dieser Worte war Mara so überrascht und enttäuscht, dass ihre Stimme fast versagte. „Verabschieden?“

„Ich muss fort.“ Er blickte sie bedauernd an. „Heute Nachmittag habe ich den Befehl des Außenministeriums erhalten.“

„W…wann denn?“

„Leider sofort.“

Nur schwer konnte Mara diese Neuigkeit begreifen. „Wie lange werden Sie fortbleiben?“

„Vermutlich sechs Monate, vielleicht auch acht.“

„Acht Monate! Oh …“

„Es tut mir sehr leid.“

Alles drehte sich in Maras Kopf. Der Gedanke daran, noch länger bei ihren Eltern bleiben zu müssen, ließ sie erschauern. Doch wenn Hoffnung bestand, dass sie in Zukunft mit Jordan zusammen sein konnte, war sie gerne bereit, die Qualen weiterhin auf sich zu nehmen. „Darf ich Ihnen zumindest schreiben?“, erkundigte sie sich schüchtern.

„Ach – ich weiß noch nicht, wohin man mich schicken wird.“

Mara war so schockiert, dass sie, ohne nachzudenken, weitersprach. „Wenn Sie mir die Adresse mitteilen, sobald sie Ihnen bekannt ist, schreibe ich Ihnen jeden Tag. Beantworten Sie meine Briefe, wann immer Sie die Zeit finden.“

„Ich weiß nicht, ob das möglich sein wird, Mara.“ Sein Blick war so aufrichtig. „Doch ich werde es versuchen.“ Dann sah er zu Boden. „Miss Bryce, ich bin mir bewusst, dass Ihre jetzige Situation kaum erträglich ist. Doch wenn es Ihnen möglich sein sollte, Ihre Entscheidung noch ein paar wenige Monate aufzuschieben, bis ich zurückkehre – vielleicht könnten wir uns dann wiedersehen. Und falls sich unsere Gefühle bis dahin nicht ändern … Ich, ich habe noch nie jemanden wie Sie getroffen …“

„Oh Jordan!“ Unerwartet schlang Mara ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn auf den Mund.

Beide waren von dieser plötzlichen Entwicklung überrascht.

Einen Augenblick später nahm Jordan Maras Gesicht in seine Hände und küsste sie mit bewundernswerter Zurückhaltung.

„Nimm mich mit!“, flüsterte sie atemlos, als er seinen Mund von ihren Lippen löste.

„Das kann ich nicht“, seufzte er kopfschüttelnd.

„Warum nicht?“

„Es ist zu gefährlich, Mara.“ Jordan schloss die Augen. „Der Kontinent ist ein einziges Schlachtfeld, und ich werde dich dorthin nicht mitnehmen. Hier bist du sicher.“

„Geh nicht! Ich könnte nicht ohne dich weiterleben, falls dir etwas zustößt.“

„Mir wird nichts zustoßen. Ich bin bloß Diplomat, kein Soldat. Ich muss gehen, mein Liebes. Man zählt auf mich, es ist meine Pflicht.“ Trotz der Entschlossenheit in seiner Stimme war Jordans Blick qualerfüllt.

Bewundernd blickte Mara ihn an. Wie schön er war! So edel! Wie hatte ein dummes Mädchen wie sie es nur geschafft, einen solchen Helden in ihren Bann zu ziehen?

Sobald er sie verließ, würde er sicher zur Besinnung kommen. Zitternd senkte Mara ihren Blick. Alles in ihr schrie: Lass ihn nicht gehen! Es war offensichtlich, wie sehr und vor allem warum sie ihn brauchte. Und eine kleine, unvernünftige Stimme in ihrem Herzen flüsterte ihr zu, dass Jordan auch sie brauchte.

Ihre Verzweiflung ließ Mara alle Vorsicht vergessen, und so stellte sie ihm die mutigste Frage ihres ganzen Lebens: „Könnten wir nicht heiraten, bevor du gehst?“

Dann würde sie zumindest ihr eigenes Haus besitzen und wissen, dass er zu ihr zurückkehrte.

Bedauernd blickte Jordan sie an und schob ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. „Mara, versteh doch. Ich mag dich sehr, doch all das kommt sehr plötzlich. Ich habe eine gewisse – Verantwortung. Wir dürfen unseren Gefühlen nicht einfach freien Lauf lassen. Man kann sich in drei kurzen Wochen nicht wirklich lieben lernen.“

Ungläubig starrte Mara ihn an. Zweifelte er wirklich an ihrer beider Gefühle?

Beinahe wäre sie mit diesen Gedanken hinausgeplatzt, doch es war ihr bereits höchst unangenehm, dass sie Jordan praktisch einen Heiratsantrag gemacht und er sie zurückgewiesen hatte.

„Bitte, ich habe doch keine Wahl“, flüsterte er und schaute sie flehentlich an. „Wir müssen vernünftig sein. Wenn ich zurückkomme und wir immer noch das Gleiche füreinander empfinden, können wir, wenn du willst … oh, schau mich bitte nicht so an, Liebes. Ich werde im Handumdrehen zurück sein. Du wirst mich doch nicht vergessen, oder?“

„Ach Jordan, ich könnte dich doch niemals vergessen.“

„Dann musst du stark sein.“

„Und du musst auf dich achtgeben“, erwiderte sie mit Tränen in den Augen.

Jordan hatte sie an sich gezogen und ihr Haar geküsst. „Sorge dich nicht um mich. Bleib tapfer, und dann sehen wir uns schon bald wieder.“ Daraufhin hatte er ihre Hände geküsst und ihr tief in die Augen geschaut, ehe er mit einer Verbeugung davongegangen war.

Als Jordan fort war, musste Mara ein Schluchzen unterdrücken.

Das war ihre letzte Begegnung gewesen, bevor sie sich heute wiedergesehen hatten. Kein Wunder, dass Mara ihr Korsett noch enger vorkam als sonst und das Atmen ihr schwerfiel.

Delilah kannte die schmerzhafte Vergangenheit ihrer Freundin allerdings nicht und plapperte fröhlich weiter. „Sie müssen einfach kommen, Mylord. Es wird sicher sehr vergnüglich.“ Sie schob sich dichter an den Earl heran und fügte stolz hinzu: „Meine Abendveranstaltungen sind berühmt – und Lady Pierson wird auch anwesend sein! Sie scheinen einander ja zu kennen, da werden Sie doch sicherlich Neuigkeiten austauschen wollen. Und da Sie für längere Zeit nicht im Lande waren, wird es uns beiden eine Freude sein, Sie den Damen und Herren der Gesellschaft vorzustellen. Alles von Rang und Namen nimmt an meinen Dinnerpartys teil.“

Mit wild klopfendem Herzen starrte Mara ihre Freundin an und bemühte sich, ihren Unwillen zu verbergen. Doch Delilah bemerkte diesen inneren Kampf nicht und versprühte weiter ihren Charme.

„Das ist sehr großzügig von Ihnen, Mrs Staunton“, entgegnete Jordan.

„Nein, ich bitte Sie, nennen Sie mich doch Delilah“, schalt sie ihn sanft. „Also darf ich mit Ihrer Anwesenheit rechnen, Mylord?“

Der gut aussehende Schuft schien von diesem unverschämten Flirt sehr angetan, doch bevor er antworten konnte, warf Mara gepresst ein: „Ich halte das für keine gute Idee.“

Warnend blickte sie Delilah an, doch diese hing an den Lippen des weit gereisten Earls.

„Es wäre mir eine Ehre“, sagte er endlich.

„Wunderbar! Ich wohne Chesterfield Street Nummer 16.“

„Reizend, ganz in der Nähe des Parks.“ Jordan schnurrte förmlich, doch seine Blicke waren alles andere als zahm.

Mara holte tief Luft.

Falls er diese Scharade nur aufführte, um sie zu ärgern, dann, beim Jupiter, hatte er damit Erfolg.

Wie anders er sich doch verhielt als der Jordan Lennox, den sie von früher kannte!

„Sprechen Sie um halb acht vor, das Dinner wird um acht serviert“, wies Delilah ihn an.

Höflich nickte er. „Mit Vergnügen. Vielen Dank für die freundliche Einladung, Madam. Die Damen.“ Sein Seitenblick in Maras Richtung wirkte herausfordernd, dann verbeugte er sich. „Wenn Sie mich entschuldigen wollen, das Objekt, für das ich mich interessiere, wird in Kürze vorgestellt. Wünschen Sie mir Glück.“

Mit diesen Worten drehte Jordan sich um und stolzierte zurück in den Auktionsraum. Beide Damen starrten bewundernd auf seine breiten Schultern und den strammen Hintern.

Als er in der Menge verschwunden war, drehte sich Mara mit ernstem Blick zu Delilah um. „Das hättest du nicht tun sollen.“

„Aber warum nicht?“ Delilah strahlte ihre Freundin an und klatschte vor Freude in die Hände. „Oh Mara, er ist der perfekte Mann für dich! Ein wahrer Leckerbissen! Genau der richtige Liebhaber, den du …“

„Gott, bitte, mir wird gleich übel!“ Entschlossen machte Mara auf dem Absatz kehrt und ging auf das Pult des Auktionsdieners zu, um für den Gerrit Dou zu bezahlen.

„Was hast du denn?“, rief Delilah erstaunt und eilte der Freundin hinterher.

„Ich verabscheue diesen Mann!“

„Das ist doch absurd!“

„Ganz und gar nicht! Ich hasse ihn, er hasst mich – wir hassen einander –, das ist doch offensichtlich!“

„Sicher.“ Delilah verschränkte die Arme vor der Brust. „Das erklärt auch, warum ihr euch die ganze Zeit angestarrt habt.“

„Unsinn, er hat dir doch förmlich nachgegeifert!“

Vielsagend hob Delilah eine Augenbraue. „Liebes, du hasst ihn und klingst doch entschieden eifersüchtig. Seltsam, findest du nicht?“

Mara warf der Freundin einen wütenden Blick zu, doch ihr Herz schlug noch immer heftig, als sie sich in die kurze Schlange vor dem Pult einreihte, um ihr Gemälde zu bezahlen. „Nun“, sagte sie mit entschlossenem Ton, „ich werde jetzt unmöglich zu deiner Dinnerparty kommen können.“

„Doch, natürlich kannst du das.“

„Nein. Sein Anblick würde mir den Appetit verderben“, erklärte Mara und erschauerte.

„Mir sicherlich nicht.“ Sehnsüchtig blickte Delilah in die Richtung, in die der Earl verschwunden war. „Er ist genau das richtige Entrée, wenn du verstehst, was ich meine. Ein englisches Vollblut. Zu ihm würde ich nicht Nein sagen.“

Mara verdrehte die Augen. „Beabsichtigst du, morgen ebenso mit ihm zu flirten? Wenn Cole dabei ist?“

„Vielleicht. Warum auch nicht? Du hast doch sowieso kein Interesse an dem Earl. Außerdem sind Cole und ich nicht so aufeinander fixiert.“

„Ach ja? Weiß Cole das auch? Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: Der arme Mann ist über beide Ohren in dich verliebt.“

Nonchalant zuckte Delilah mit den Schultern. „Das ist einzig und allein sein Problem, nicht meines. Doch erzähle, warum diese Abneigung gegen Lord Falconridge? Er scheint doch sehr charmant zu sein.“

Mara schüttelte den Kopf. Sie kochte vor Wut. „Wir haben uns vor langer Zeit zerstritten.“

„Weswegen?“

„Das tut nichts zur Sache.“

„Sollte nicht inzwischen Gras über die Angelegenheit gewachsen sein, wenn es so lange her ist?“

Grimmig funkelte Mara sie an. „Nein, keineswegs. Und ich wünsche nicht, darüber zu sprechen“, fügte sie hinzu, ehe Delilah etwas entgegnen konnte.

Ihre Freundin runzelte die Stirn. „Dann verrate mir wenigstens, was er im Ausland gemacht hat.“

„Keine Ahnung. Es hat irgendetwas mit dem Krieg zu tun“, murmelte Mara und rückte in der Warteschlange auf. „Und jetzt, da der Krieg vorbei ist, ist der Mistkerl wieder da.“

„Ist er Offizier? Er sah recht gefährlich aus.“ Delilah stupste Mara mit dem Ellbogen an. „Hat er dir je seinen Degen gezeigt?“

„Benimm dich! Er ist so eine Art Diplomat, glaube ich. Für das Außenministerium oder so ähnlich.“

„Wie faszinierend! Wo war er stationiert?“

„Ich weiß es nicht, und selbst wenn ich es wüsste, wäre es mir egal!“, rief Mara ein wenig zu nachdrücklich.

Mürrisch blickte Delilah sie an. „Na schön. Ich werde nach unseren Kutschen schicken lassen.“

Bitte, tu das.“

„Was sind wir heute wieder empfindlich!“, murmelte Delilah, hob ihren Rocksaum an und schwebte davon.

Endlich am Pult des Auktionsdieners angekommen, verdrängte Mara jeden Gedanken an Jordan Lennox. Doch als sie in ihr Retikül griff, um ihr Scheckbuch herauszuziehen, zitterten ihre Hände immer noch vor Aufregung.

Nachdem sie das Gemälde bezahlt hatte, vereinbarte Mara eine Zeit, zu der ihr der Gerrit Dou geliefert werden sollte. Sie wollte das Geschenk persönlich überbringen, sobald ihr königlicher Freund aus Brighton zurückkehrte. Nachdem der Termin bestätigt war, ging Mara zum Ausgang, an dem Delilah bereits auf sie wartete.

Mara wusste, dass sie ihrer Freundin gegenüber recht brüsk gewesen war, und entschuldigte sich bei ihr. „Bitte verzeih mein Verhalten, Liebste. Diese, diese … Person wiederzusehen hat mich etwas … aus der Fassung gebracht.“

Delilah blickte sie an. „Er hat dir einmal viel bedeutet, nicht wahr?“

„Vor langer Zeit, ja. Bis ich begriffen habe, dass er mich getäuscht hat. Es wäre auch zu schön gewesen“, entgegnete Mara mit einem Seufzer.

„Vielleicht hat er sich seitdem verändert?“

„Oh, das haben wir gewiss beide. Zum Schlechteren.“ Mara spähte auf der Suche nach ihrer Kutsche die Pall Mall hinunter und schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Einst dachte ich, dass er und ich etwas so … Wunderbares, Unschuldiges gemeinsam hätten. Doch das war ganz offensichtlich nur die Fantasie eines jungen Mädchens. Er ist einfach gegangen, und ich musste mit Pierson vorliebnehmen.“

Erstaunt riss Delilah die Augen auf. „Pierson war von Anfang an nur deine zweite Wahl?“, flüsterte sie geschockt.

Mara nickte. „Und er hat es mir nie verziehen, nachdem er es erst begriffen hatte.“

Nachdenklich betrachtete Delilah ihre Freundin.

„Was ist?“

„Mara, Pierson ist tot, und du kannst tun, was dir beliebt. Vielleicht hat das Schicksal dir und Lord Falconridge noch eine zweite …“

„Nein. Er hat seine Chance gehabt“, unterbrach Mara sie. „Er wird mich nicht noch einmal verletzen, das verspreche ich dir.“

„Trotzdem habe ich dich noch nie so stark auf einen Mann reagieren sehen.“

„Wie ich bereits sagte – das liegt daran, dass ich ihn verabscheue.“

„Du kennst doch das Sprichwort: Hass und Liebe liegen dicht beieinander.“

Mara schnaubte verächtlich. „Nicht in diesem Fall.“

„Na schön. Vielleicht sparst du dich auch nur für George auf.“

Diese Bemerkung quittierte Mara mit einem finsteren Blick, und Delilah musste lachen. „Ach schau, da kommt meine Kutsche. Au revoir, Darling.“

Sie küsste ihre Freundin auf die Wange und nickte einem der Lakaien zu, die an den Eingangstüren von Christie’s standen. Während er Delilah beim Einsteigen half, drehte sie sich um und rief Mara zu: „Denk daran, morgen Abend um sieben. Komm etwas früher, dann können wir noch ein wenig plaudern, bevor die anderen erscheinen.“

„Ich sagte bereits, dass ich morgen nicht komme.“

„Natürlich wirst du das!“

„Nein. Nicht wenn er auch da ist.“

„Na schön! Da du eindeutig kein Interesse an dem gut aussehenden Earl hast, werde ich mich persönlich um ihn kümmern.“ Mit einem vielsagenden Blick in Maras Richtung ließ Delilah die Kutschtür zufallen.

Bevor sie abfuhr, sah Delilah noch einmal mit einem wissenden Lächeln aus dem Fenster und winkte der Freundin zum Abschied.

Wütend schaute Mara der Kutsche hinterher. Ich weiß, dass sie mich provozieren möchte, doch es wird ihr nicht gelingen.

Delilah konnte den Schuft gerne für sich haben.

Einen Augenblick später fuhr Maras getreuer Fahrer Jack ihre Kutsche vor. Sofort öffnete der Diener die Tür und ließ die Stufen für Mara herunter.

Sie stieg ein und versicherte sich erneut, dass es sie weder scherte, ob ihre Freundin Jordan zu verführen suchte, noch umgekehrt. Kein bisschen.

Ihr war nur wichtig, nach Hause zu Thomas zu fahren. Er war ihr ganzer Stolz und der Mittelpunkt ihrer Welt.

Maras gesamte Liebe war für ihren kleinen Sohn reserviert, denn ein so reines, unschuldiges Wesen würde sie niemals derart hintergehen und verletzen, wie alle anderen es getan hatten. Selbst wenn Jordan wieder an ihr interessiert sein sollte, was Mara nicht glaubte, bedeutete es rein gar nichts. Mara hatte ihre Entscheidung bereits getroffen.

Sie war Thomas’ Mutter. An einer anderen Rolle hatte sie kein Interesse.

2. KAPITEL

Manchmal spielt einem das Leben üble Streiche, und alle Pläne werden hinfällig. Aufträge ziehen sich in die Länge, und Menschen, auf die man zählt, verlieren das Vertrauen in einen. Wenn Derartiges geschieht, verhält man sich am besten ehrenhaft und zieht sich zurück wie ein wahrer Gentleman. Egal, wie groß der Schmerz ist … man muss loslassen können und dem anderen das Beste wünschen.

Wie viele Liebesbriefe Jordan zusammengeknüllt und in das Kaminfeuer geworfen hatte, anstatt sie zu versenden. Denn er wusste, dass der Feind die Nachricht bis zu Mara verfolgen konnte.

Um nichts auf der Welt hätte Jordan sie jemals dieser Gefahr ausgesetzt. Auch wenn das bedeutete, sie an einen anderen Mann zu verlieren.

Doch das war nun nicht mehr von Bedeutung. Während er zurück in den Auktionssaal ging, versteckte Jordan seinen Schmerz hinter dem gewohnt grimmigen Spott, der gemeinsam mit seinem Lieblingsgewehr zu seiner besten Verteidigung geworden war.

Ein Mundwinkel hob sich zu einem kalten kleinen Lächeln. Insgeheim war Jordan sehr zufrieden, dass Mara so entsetzt auf die Einladung ihrer Freundin reagiert hatte.

Diese einmalige Gelegenheit, der Dame Unbehagen zu bereiten, konnte er sich nicht entgehen lassen. Vermutlich würde dies die einzige Befriedigung sein, die er je von Mara Bryce zu erwarten hatte.

Aber sie ist nicht mehr Miss Bryce, dachte Jordan verbittert. Seit Jahren hatte sie niemand mehr so genannt.

Jetzt war sie Lady Pierson, eine wohlhabende, verwitwete Viscountess, deren Trauerzeit gerade zu Ende gegangen war.

Natürlich war ihm das bekannt. Er wusste mehr über die Dame, als er zu erkennen gegeben hatte. Sehr viel mehr sogar, als er vor sich selbst zugeben mochte.

Schon lange bevor sie ihn bemerkt hatte, war Jordan seine ehemalige Liebste aufgefallen – ausgerechnet heute musste er ihr begegnen.

Natürlich. Es musste heute geschehen – wo er mitten in einem Auftrag für den Orden steckte. Wochenlang war dieser Tag geplant worden, doch dann tauchte Mara auf. Sie besaß das Talent, im unglücklichsten Moment in Jordans Leben zu erscheinen.

Zumindest hatte Jordan sie zuerst entdeckt und konnte sich somit von dem Schock erholen, sie so unerwartet zu treffen.

Trotz seines betont gleichgültigen Verhaltens hatte es in Jordans Innerem ganz anders ausgesehen. Eine wahre Flut der Gefühle war über ihn hereingebrochen, als er Mara erblickt hatte, und angesichts der Tatsache, dass er seit Jahren innerlich wie betäubt war, hatte ihn die Heftigkeit seiner Empfindungen zutiefst erschrocken.

Ob dieses inneren Aufruhrs musste Jordan sich der Wahrheit stellen. Zwölf Jahre lang hatte er vorgegeben, dass es ihm egal sei, wie es Mara ging und was sie mit ihrem Leben anfing.

Doch wenn dies tatsächlich der Wahrheit entsprochen hätte, wären ihm nicht so viele Details aus Maras Leben peinlich genau im Gedächtnis geblieben. Beispielsweise ihr Hochzeitstag. Oder der Tag, an dem ihr Idiot von einem Ehemann starb. Die Lage ihres Landanwesens in Hampshire und die Adresse ihres Stadthauses in London – Great Cumberland Street 37, um genau zu sein.

Auch dass Mara einen kleinen Sohn mit Namen Thomas hatte, der nach seinem eingebildeten, prahlerischen Vater benannt war, hätte er dann vergessen. Und es sollte ihm auch keine Übelkeit bereiten, dass sie das Kind eines anderen Mannes unter dem Herzen getragen hatte.

Nur allzu gerne hätte der Earl vorgegeben, dass dieses Wissen allein seinem Beruf zuzuschreiben war. Informationen waren immerhin das wichtigste Rüstzeug eines Agenten. Doch es war offensichtlich, dass Jordan auf fast krankhafte Art und Weise von Mara fasziniert war.

Na schön. Jordan bahnte sich seinen Weg durch den überfüllten Raum. Dann ist Mara Bryce mir eben nicht gleichgültig.

Doch die Gefühle, die er für sie hegte, konnten keineswegs als Zuneigung bezeichnet werden.

Im Gegenteil: Er verabscheute sie von ganzem Herzen.

Nur auf diese Art konnte Jordan den Verlust ertragen, den er erlitten hatte. Den Verlust einer gemeinsamen Zukunft. Warum nur hatte Mara keine Stärke bewiesen und noch ein wenig länger auf ihn gewartet? Und warum war er bloß so vernünftig und vorsichtig gewesen – so verdammt er selbst?

Jordan schüttelte die Erinnerung an jenen Sommerabend im Garten ab. Die Erinnerung an Maras überraschenden Heiratsantrag, der ihn sprachlos gemacht hatte. Ihn, den mutigen Agenten, dem nichts und niemand Angst einflößen konnte! Und doch hatte ein bildschönes siebzehnjähriges Mädchen mit großen, leuchtenden Augen ihn mit einem Kuss aus der Fassung gebracht. Schlimmer noch, sie hatte ihn zu Tode erschreckt.

Auf vieles bereitete Virgil die jungen Spione vor – doch nicht auf diese besondere Katastrophe und wie man damit umzugehen hatte, wenn man sich verliebte.

Am liebsten wäre Jordan auf der Stelle davongelaufen – so sehr verunsicherte ihn die ganze Situation.

Seine Vernunft riet ihm, Distanz zwischen das Objekt seiner verrückten Begierde und sich zu bringen. Wie sehr Mara ihn auch reizte, er war nicht bereit, seine Pflichten dem Orden gegenüber für sie zu vernachlässigen. Schließlich dienten die Earls of Falconridge seit Generationen dem Orden.

Vor allem aber weigerte Jordan sich, seine Freunde im Stich zu lassen. Er konnte Mara nicht von seinen Geheimnissen erzählen. Wer wusste schon, ob sie nicht an falscher Stelle unbeabsichtigt eine Bemerkung fallen ließ, die Jordan, seinen Meister und seine Ordensbrüder in tödliche Gefahr brachte.

So schwierig seine Entscheidung auch gewesen war – und obwohl er wusste, dass seine Pflicht die Schuld daran trug, dass er Mara an Pierson verloren hatte –, Jordan hielt eisern an seiner Überzeugung fest, das Richtige getan zu haben. Und das war für ihn das einzig Wichtige.

Wer brauchte schon Glück und Zufriedenheit? Am Ende zählte nur die Ehre.

Jordan war dankbar, dass Mara und die adelige Dirne, die sie Freundin nannte, gegangen waren. Zusätzlich zu seinem ohnehin schon schwierigen Auftrag hatte Jordan nicht das Bedürfnis, obendrein noch zwei dumme, ahnungslose Damen der Gesellschaft beschützen zu müssen.

Über dem Raum schwebte eine unsichtbare Gefahr, die ein Unbeteiligter niemals hätte erahnen können. Doch schon bald würde die für heute geplante List die verborgenen Gegner ans Licht der Öffentlichkeit zerren.

Bereits in wenigen Minuten würde die Mission des Ordens beginnen.

Jordan bahnte sich den Weg zu einem Platz im vorderen Teil des gut gefüllten Auktionssaales. Von dort aus würde er jeden beobachten können, der für die Schriftrollen des Alchemisten ein Gebot abgab.

Entspannt lehnte der Earl sich gegen die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. Mit seinen strategisch im Raum platzierten Mitstreitern tauschte er knappe Blicke aus.

Die Männer waren so verteilt, dass sie die Ausgänge überwachen und gleichzeitig einigen Subjekten von besonderem Interesse unauffällig Aufmerksamkeit schenken konnten.

Jeder seiner Mitstreiter nickte Jordan unauffällig zu und bedeutete ihm somit, dass alles in Ordnung war.

So weit, so gut. Nun mussten sie nur noch warten.

Im Augenblick lenkte der Auktionator geschickt einen Bieterkampf, der sich um alte römische Vasen drehte. Als Nächstes war dann laut Katalog das Objekt an der Reihe, um das es in der heutigen Operation ging.

In diesem Moment trug einer der Auktionsdiener den antiken Holzkasten mit den Schriftrollen zum Präsentationstisch neben dem Podium.

Jordan suchte die voll besetzten Stuhlreihen ab und beobachtete, wie die nummerierten Biettafeln gehoben wurden. Adelige Käufer lehnten sich zu ihren Kunstagenten hinüber und ließen sich Ratschläge ins Ohr flüstern.

Unentwegt wanderten Jordans Blicke durch den Raum, um die Anwesenden einschätzen zu können. Akkurat frisierte Dandys, Hüte tragende verwöhnte Ehefrauen reicher Herren. Ein paar wenige gelehrt anmutende Personen – Archivare des Britischen Museums und der Bodleian-Bibliothek aus Oxford.

Doch all diese Personen bemerkte Jordan nur flüchtig, weil sein Interesse anderen galt. Wo seid ihr? Zeigt euch, ihr verdammten Bastarde …

Er konnte den Feind förmlich spüren, irgendwo hier in der Menschenmenge – doch um wen genau handelte es sich? Welche der Reichen und Mächtigen Londons waren zu geheimen Handlangern des düsteren Prometheusianer-Kultes geworden?

Geduld. Die Gebote für die Schriftrollen des Alchimisten würden die Bösewichte bald ans Tageslicht befördern. Doch auch jetzt schon sollte es keine Schwierigkeit darstellen, sie unter all den Menschen zu finden.

Jordans Erfahrung nach bargen die Augen der Prometheusianer einen auffällig leeren, seelenlosen Ausdruck, der sie verriet. Vermutlich raubten ihnen ihre bösen Aktivitäten jegliche Lebensfreude.

Während der Earl den richtigen Moment abwartete, fiel sein suchender Blick auf die Reihe, in der Mara gesessen hatte. Der Stuhl der Viscountess war immer noch leer, genauso wie der Platz in Jordans Leben, der Mara gehört hätte, wäre es möglich gewesen, ihr die Wahrheit anzuvertrauen.

Doch Jordan hatte es nicht gewagt. Sosehr er sie gewollt hatte, sie war schlicht zu impulsiv, unbesonnen, zerbrechlich und unreif gewesen. Auf keinen Fall hätte er das Leben seiner Ordensbrüder in die Hände eines siebzehnjährigen Mädchens legen können, die noch erwachsen werden musste.

Ausdruckslos starrte der Earl auf den leeren Stuhl und sah Mara vor seinem geistigen Auge dort sitzen. Eine ganze Dreiviertelstunde lang hatte er sie betrachtet und in seinem eigenen Saft aus Lust und Abscheu geschmort.

Die Frau, die er fast geheiratet hätte, war dem spätwinterlichen Wetter angemessen in einem reizenden schokoladenbraunen Gewand gekleidet. Zweifellos schmeichelte diese Farbe ihren funkelnden, dunklen Augen ungemein. Ihr üppiges dunkelbraunes Haar trug sie zu einem Knoten im Nacken geschlungen, ein starker Kontrast zu ihrer milchweiß leuchtenden, zarten Haut.

Zugegebenermaßen war die Zeit gnädig mit der Dame umgegangen. Mit den Jahren war Mara noch attraktiver und interessanter geworden.

Schmerz durchzuckte ihn, während er sie beobachtet hatte.

Warum bloß hatte Mara ihn so enttäuscht?

Oft hatte Jordan darüber nachgedacht, wie anders sein Leben heute wohl aussehen würde, besäße er ein Heim und eine Familie. Ein Funken Normalität, der im starken Gegensatz zu seinen blutigen, brutalen Aufträgen stand. Eine bodenständige Ehefrau, die ihm Sicherheit bot, und ein paar Kinder, die ihm das Gefühl gaben, sein Kämpfen habe einen Sinn.

Mehr hatte er nie vom Leben gewollt, doch nachdem Mara ihn im Stich gelassen hatte, hatte auch sein Traum seinen Zauber verloren.

Mit einem Grinsen vertrieb Jordan den Anflug von Selbstmitleid. Gleichzeitig fragte er sich jedoch unwillkürlich, ob die charmante, braunäugige Kokette jemals erwachsen geworden war. Vielleicht benutzte sie ihren Witwenstand nur dazu, auf Männerjagd zu gehen.

Das tun sie doch alle, diese extravaganten, unabhängigen Witwen, dachte Jordan zynisch. Er und seine Ordensbrüder hatten viele von ihnen verführt. Ja, die Damen waren förmlich herumgereicht worden.

Wenn Mara ihre neu erworbene Freiheit zu diesen Zwecken nutzte, würde die morgige Nacht eine sehr interessante Möglichkeit für Jordan bereithalten. Seit Jahren fragte er sich, wie es wohl wäre, Mara zu lieben. Sie, die ihn in Gedanken bis in die entlegensten Winkel der Erde verfolgt hatte …

„Verkauft!“ Der laute Schlag des Hammers riss Jordan aus seinen Grübeleien.

Die römischen Vasen gingen an einen beleibten Herrn, dessen Kunstagent ihm gratulierte. Sofort spürte Jordan die Spannung im Raum steigen, als würde sie sich in Kürze in einem Blitzschlag entladen. Nach außen hin wirkte er zwar gelassen, doch seine Wachsamkeit erhöhte sich.

„Meine Damen und Herren“, wandte sich der Auktionator an das reiche Publikum, „als Nächstes bieten wir Ihnen einzigartige mittelalterliche Dokumente von einem anonymen Verkäufer an. Die Schriften wurden erst kürzlich entdeckt und in ihrer fünfhundertjährigen Geschichte noch nie zum Kauf angeboten.“

Das einzige Geräusch im Saal waren die Regentropfen, die eine Böe des Märzwindes gegen die Fensterscheiben trieb.

„Wir präsentieren Ihnen sechs Schriftrollen in ausgezeichnetem Zustand, vermutlich aus dem Jahre 1350, die dem Hofastrologen Valerian dem Alchemisten zugeschrieben werden. Die Mittelalterkenner unter Ihnen werden sich erinnern, dass Valerian der Legende nach hinter der Verschwörung zur Ermordung von Edward dem Schwarzen Fürsten steckte. Er wurde dafür von königlichen Rittern zur Strecke gebracht und gebührend bestraft, wie man sich erzählt.“

Ob des trockenen Tones, den der Auktionator anschlug, lachte das Publikum.

„Sein Ende war recht grauenhaft.“

Verärgere niemals einen Warrington, dachte Jordan bei sich, seinen Mitagenten Rohan vor Augen. Seit Generationen waren die Dukes of Warrington die erbarmungslosesten, tödlichsten Kämpfer des Ordens.

Die Earls of Falconridge hingegen waren üblicherweise die Denker, die überlegenen Strategen gewesen. Sie konnten Geheimcodes entziffern, waren sprachlich begabt, gleichzeitig aber genauso geschickt mit ihren Waffen wie der Rest der Brüder.

„Die Pergamente sind mit Tinte aus Sepia und Ochsenblut beschrieben und auf Latein und Griechisch verfasst. Viele alte Runen, alchemistische Symbole und verschlüsselte Randnotizen zieren die Dokumente. Soweit bekannt, bieten wir die Rollen in ihrem Originalbehältnis aus Hartholz an: Eiche mit Veilchenholzfurnier und Perlmuttintarsien. Die nach wie vor sehr stabile Holzschatulle ist mit Samt ausgekleidet und wird mit Spangen aus Sterlingsilber verschlossen.“

Viele der vornehmen Zuschauer reckten die Hälse, um einen besseren Blick auf das Objekt werfen zu können.

„Insgesamt verkörpern die Schriftrollen des Alchemisten eine seltene Gelegenheit, ein Stück englischer Geschichte zu besitzen. Dieser Schatz ist die ideale Ergänzung einer jeden Gelehrten-Bibliothek oder der privaten Sammlung eines Gotik-Liebhabers. Das Startgebot liegt bei dreitausend Pfund.“

Ob dieser schwindelerregenden Summe stockte dem Publikum hörbar der Atem, doch Jordan wusste, dass dieser Betrag für die Prometheusianer lachhaft war, wenn sie dafür einen solchen Schatz erwerben konnten. Vor allem wenn die Mitglieder des Geheimkults daran glaubten, dass Valerians seltsame Zaubersprüche und dunkle Rituale tatsächlich wirkten.

Sofort begann ein schneller und erbitterter Kampf.

Voller Konzentration beobachtete Jordan die Bieter. Er prägte sich die Nummern auf den Täfelchen der Konkurrierenden ein; ganze Zahlenreihen musste er behalten.

Später würde er die Namen im Bieterregister nachschlagen und entscheiden, ob die dazugehörigen Personen weiterer Nachforschungen bedurften. Natürlich würde Mr Christie diesen Eingriff in die Privatsphäre seiner Kunden nicht gutheißen, doch er hatte in dieser Angelegenheit keine Wahl. Zu groß war die Macht der Geheimorganisation, der Jordan diente. Der Orden vom Heiligen Erzengel St. Michael unterstand direkt der Krone und ließ von keinem ein „Nein“ gelten, wenn es darum ging, das Königreich zu verteidigen.

Während er das Publikum weiterhin genauestens beobachtete, konnte Jordan einige harmlose Bieter von vornherein ausschließen. Nicht alle Interessenten waren unbedingt Bösewichte.

Da gab es zum Beispiel den Abgesandten des immer noch in den Kinderschuhen steckenden Britischen Museums. Zwei Archivare der Bodleian-Bibliothek Oxford. Einige exzentrische Fremde, die für Prinzen aus fernen Königreichen boten, und ein bleicher Autor blutrünstiger Schauerromane. Letzteren hatte der Orden einige Zeit lang verdächtigt, doch die Vermutung hatte sich als unbegründet herausgestellt.

James Falkirk, den Magnaten der Prometheusianer, konnte Jordan nicht entdecken. Der Orden wusste, dass dieser Mann einen ihrer Agenten, Drake Parry, den Earl of Westwood, gefangen hielt. Doch Falkirks Abwesenheit hatte keine Bedeutung, denn die Nachricht von der Auktion würde ihn auf schnellstem Wege erreichen – und genau das war mit dieser Operation beabsichtigt.

Schon bald wurde für die Rollen die unglaubliche Summe von siebentausend Pfund geboten, ein Betrag, den niemand erwartet hätte. Jordan bezweifelte, dass der Preis noch viel weiter in die Höhe steigen würde.

Es war an der Zeit, die List zu beenden. Sofort. Also blickte Jordan Sergeant Parker an, der am anderen Ende des Raumes stand, und kratzte sich unauffällig an der Augenbraue. Das Gesicht halb von Parker abgewandt, sah der Earl aus dem Augenwinkel, dass Parker sein Signal bemerkt hatte, sich umdrehte und zu einem der Bediensteten von Christie’s ging.

Unauffällig überreichte der Sergeant dem Mann eine Notiz, die Jordan vor der Auktion geschrieben hatte. Der Diener las die kurze Nachricht und blickte Parker erbleichend an.

Wie besprochen, verließ Parker nun das Gebäude, um dem Feind keine Möglichkeit zu geben, ihn zu erkennen.

Der Bedienstete des Auktionshauses hingegen eilte den Gang hinunter, in den vorderen Teil des Saales. Ob der unerwarteten Entwicklung sah er sehr aufgewühlt aus.

Währenddessen waren die als Prometheusianer verdächtigten Bieter so sehr damit beschäftigt, die Schriftrollen zu ergattern, dass keiner von ihnen den besorgt dreinblickenden Mann beachtete, der sich dem Podium näherte.

Der Diener wandte sich an den ersten Assistenten des Auktionators, der neben dem Ausstellungstisch mit den Schriftrollen stand.

Fragend blickte der Auktionshelfer den Mann an und nahm die ihm dargebotene Notiz. Während er sie las, verfinsterte sich seine Miene.

Jordan beneidete den Burschen nicht darum, dem Auktionator die Nachricht zuschieben zu müssen, der gerade dabei war, die Gebote auf unglaubliche achttausend Pfund anzuheben.

„Oh – oh weh“, stammelte der Mann nun, da er die Notiz gelesen hatte. Er flüsterte seinem Helfer eine Frage zu, der daraufhin nickte. „Das kommt ganz und gar – unerwartet.“

Beide Männer blickten erneut auf den Zettel, dann wandte sich der Auktionator mit unglücklichem Gesichtsausdruck dem Publikum zu.

„Meine Damen und Herren, i…ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, dass dieses Objekt gerade überraschend von der Auktion zurückgezogen wurde.“

Sofort wurden hier und da im Saal heftige Proteste laut.

„Der Besitzer hat sich umbesonnen und wünscht, die Rollen nicht mehr zu veräußern!“

„Was hat das zu bedeuten?“, rief jemand aus der Menge.

„Meine Damen und Herren, diese Entwicklung war nicht vorhersehbar. Wir möchten uns aufrichtig für die Unannehmlichkeit entschuldigen. Ich fürchte, dass wir auf diesen Umstand keinen Einfluss haben! Mir … äh … wurde mitgeteilt“, ergänzte er hastig, „dass sich jeder, der weitere Informationen über die Schriftrollen wünscht, durch das Haus Christie’s mit dem Verkäufer in Verbindung setzen kann. Ein Privatverkauf ist unter Umständen doch noch möglich.“

„Gänzlich ordnungswidrig!“, rief einer der Bodleian-Archivare.

„Donnerwetter! Das ist ein Skandal!“

Mit scharfem Blick beobachtete Jordan die Menge und merkte sich jedes verärgerte Gesicht. Seine Männer taten es dem Earl gleich und verfolgten dann unauffällig jene, die erzürnt aus dem Saal stürmten.

Am liebsten wäre auch Jordan ihnen gefolgt, um jeden einzelnen der verfluchten Bastarde zu entlarven. Doch als prominentes Mitglied des Hochadels musste er vorsichtig sein und sehr darauf bedacht, seine Tarnung zu wahren.

Stattdessen ließ er also seine Männer die Flüchtenden verfolgen, beobachten, wohin die Verdächtigen gingen und was sie taten. Später würden die Agenten Jordan die gesammelten Informationen vortragen und über die auffälligen Subjekte weitere Nachforschungen anstellen.

Der arme Auktionator war außer sich. „Meine Damen und Herren, ich möchte mich noch einmal ausdrücklich bei Ihnen entschuldigen. Vielleicht weckt eine andere unserer seltenen antiken Schriften Ihr Interesse. Das nächste Objekt stammt ebenfalls aus dem Mittelalter, ein reich verziertes illustriertes Stundenbuch aus der Mitte des zwölften Jahrhunderts, aus einem irischen Mönchskloster …“

Flink zog Jordan einen kleinen Bleistift aus seiner Brusttasche und schrieb die Nummern der Biettafeln, die er sich gemerkt hatte, auf eine leere Seite des Auktionskatalogs.

Jeder, der ihn beobachtete, würde denken, er mache sich Notizen zu den Ausstellungsstücken, doch der Earl stellte nur sicher, dass er alle Nummern aufschrieb, ehe er sie vergessen konnte.

Obwohl es ihm ein hohes Maß an Selbstdisziplin abverlangte, blieb Jordan gegen die Wand gelehnt stehen. Um keinen Verdacht zu erregen, bot er sogar um das irische Stundenbuch mit.

Als Stunden später nur noch das Personal von Christie’s im Auktionshaus anwesend war, um aufzuräumen, packte Jordan die Schriftrollen zusammen und fuhr mit einer unauffälligen Kutsche zurück zu Dante House. Dort wollte er die Dokumente sicher in den Tresorraum einschließen. Drei bewaffnete Männer begleiteten ihn, falls die Prometheusianer planten, die Rollen gewaltsam an sich zu bringen.

Doch sie blieben unbehelligt. Sobald die Schriften von der Auktion zurückgezogen worden waren, hatten sich die Kakerlaken in ihre Verstecke geflüchtet.

Inzwischen hatten die meisten von ihnen vermutlich begriffen, dass sie in eine Falle getappt waren, und warteten zitternd vor Angst auf einen todbringenden Besuch des Ordens.

Obwohl es erst achtzehn Uhr geschlagen hatte, war die Dunkelheit bereits hereingebrochen. Bei Mondlicht sah Dante House besonders unheimlich aus, bemerkte Jordan, als die Kutsche das Hauptquartier erreichte.

Für den unbeteiligten Beobachter war das düstere, exzentrisch anmutende Anwesen aus der Tudor-Zeit der Sitz des ausschweifenden Inferno Clubs – doch dieser Club war nur eine Fassade, um die Außenwelt abzuschrecken.

Tatsächlich war das dreihundert Jahre alte Dante House eine getarnte Festung, die über weitreichende Kellergewölbe verfügte, in denen der Orden unbeobachtet seinen verborgenen Geschäften nachgehen konnte. Das alte Bollwerk war voll von Geheimgängen, Falltüren und verborgenen Räumen. Dadurch, dass das Bauwerk auf der Themse errichtet worden war und einen kleinen, verborgenen Bootsanleger hinter dem verschlossenen Tor zum Fluss besaß, konnte das stetige Kommen und Gehen geheim gehalten werden.

Als Jordan das Haus betrat, begrüßte ihn das Rudel der riesigen Wachhunde.

Virgil, Jordans Meister und Oberhaupt des Ordens, erschien sofort, kaum hatte er die Ankunft des Earls bemerkt. Knapp nickte der alte Krieger aus dem schottischen Hochland Jordan zu und nahm ihm die mittelalterlichen Rollen ab, die für den Feind von unschätzbarem Wert waren. „Es ist hoffentlich alles glattgelaufen?“

„Ja, Sir. Ich habe eine beachtliche Liste von Verdächtigen zusammenstellen können. Erstaunlich viele von ihnen waren anwesend.“

„Jemand, den ich kenne?“, fragte Virgil knapp.

Jordan zuckte mit den Achseln. „Falkirk nicht. Leider.“

„Ich habe auch nicht vermutet, dass er sich so öffentlich zeigt. Doch die Neuigkeit wird ihn in Kürze erreichen, und dann werden wir sehen, was geschieht. Was ist mit Dresden Bloodwell?“

Wieder musste er verneinen. „Keine Spur von ihm. Überrascht mich nicht, denn der Mann ist ein Mörder. Er ist zu schlau, um in solch eine Falle zu tappen.“

Virgil nickte. „Scheinbar ist er seit der Nacht, in der Beauchamp und Sie ihn fast erwischt haben, untergetaucht.“

„Das ist Wochen her“, ergänzte Jordan. „Ich weiß immer noch nicht, wie es ihm gelungen ist, uns zu entwischen. Oder wo er sich seitdem versteckt hält.“

„Alles zu seiner Zeit“, beruhigte Virgil ihn. „Geben Sie Ihre Verdächtigenliste Beauchamp. Der Bursche braucht Beschäftigung.“

Fragend runzelte Jordan die Stirn. „Immer noch keine Nachricht von seinen Männern?“

Grimmig schüttelte Virgil den Kopf und deutete auf die Schriftrollen. „Ich werde diese hier in den Tresorraum bringen. Gut gemacht, Junge. Morgen früh habe ich Ihren Bericht.“

„Ist Rotherstone hier, Sir?“, fragte Jordan, als Virgil sich zum Gehen wandte.

„Der verliebte Ehemann?“, prustete der Highlander. „Natürlich nicht. Er ist zu Hause und betet die göttliche Daphne an.“

Amüsiert zuckten Jordans Mundwinkel. Seit seine gefährlichen Agentenbrüder verheiratet waren, hatte sich das Leben auf seltsame Weise verändert. Max, der Marquess of Rotherstone, war seiner reizenden Daphne ganz und gar verfallen und genoss ihr gemeinsames häusliches Glück.

Rohan, der Duke of Warrington, war kürzlich zum Hauptsitz des Ordens in Schottland gerufen worden. Dort musste der Spitzenagent dem Ältestenrat Rechenschaft ablegen, wie es möglich war, dass er eine junge Dame von prometheusianischem Blut geheiratet hatte.

Um dieses Verhör hatte Jordan seinen unbeugsamen Freund nicht beneidet, doch für Kate hätte Rohan zweifellos viel Schlimmeres erduldet.

„Fürchte, Sie müssen mit diesem hier vorliebnehmen“, fügte Virgil hinzu und nickte in Richtung Tür, da Beauchamp gerade in den Raum geschlendert kam.

„Vorliebnehmen?“, erwiderte der jüngere Agent scharf. „Wohl eher die bessere Wahl!“

Viscount Sebastian Beauchamp, Erbe des Earl of Lockwood, war der Anführer seines drei Mann starken Teams. Zwar waren er und seine Kameraden erst achtundzwanzig, doch Jordan hatte bereits beobachten können, was alles in dem jungen Krieger steckte.

Beaus unbeschwerte Art und der jungenhafte Unfug, den er gerne trieb, verschwanden, sobald es ernst wurde. Er war ein verdammt guter Kämpfer, der auch im hitzigsten Gefecht stets einen kühlen Kopf bewahrte und seine Finesse nicht verlor.

Ein wenig erinnerte er Jordan an sich selbst.

Autor

Gaelen Foley
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