Quellen Der Lust

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Nackt räkelt Genevieve Ralston sich in der heißen Quelle, heimlich von dem Spion Simon Cooperstone beobachtet. So jung, so schön, so begehrenswert ist sie - und so eine Lügnerin! Warum lebt sie unter falschen Namen? Simon sieht nur eine Chance, ihr die Wahrheit zu entlocken: Er muss ihr Mitternachtsbad teilen …


  • Erscheinungstag 01.08.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733765118
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Little Longstone, Kent, 1820

Genevieve … die geheime Alabasterschatulle … der Brief darin beweist, wer das getan hat …“

Langsam näherte sich Simon Cooperstone, Viscount Kilburn, dem Cottage, das sich zwischen die alten Ulmen schmiegte. In Gedanken hörte er dabei wieder einmal die Worte des sterbenden Earl of Rigdemoor. Worte, die der Earl mit seinen letzten Atemzügen hervorgepresst hatte, nachdem er von Simon mit der Frage bedrängt worden war: „Wer hat auf Sie geschossen?“

Mit Glück würde Simon jetzt gleich die Antwort finden – und den Täter überführen, der versuchte, ihm den Mord an dem Earl anzuhängen.

Die radikalen Sozialreformen, die der Earl – von dem es hieß, er würde der nächste Premierminister werden – vertreten hatte, waren nicht überall populär. Schon zwei Wochen zuvor war ein Anschlag auf Ridgemoors Leben verübt worden, doch Simons Ermittlungen im Auftrag des Königs hatten ins Leere geführt. Jetzt war es zu spät. Wer immer Ridgemoor zum Schweigen bringen wollte, beim zweiten Versuch war es ihm gelungen. Ein Umstand, der in Simon Schuldgefühle weckte und den Eindruck, versagt zu haben.

Seit er sich vor acht Jahren als Spion für die Krone verpflichtet hatte, waren einige seiner Missionen gescheitert, doch niemals zuvor war dabei der Verdacht auf Simon selbst gefallen. Unglücklicherweise hatte sein Versagen diesmal genau das bewirkt – Ridgemoors Butler hatte ihn angetroffen, wie er sich über den Leichnam beugte, eine Pistole in den Händen. Simon war zum Stadthaus des Earls gegangen, nachdem er die Nachricht bekommen hatte, dass Ridgemoor ihm wichtige Informationen mitteilen wollte. Bedauerlicherweise war er zu spät gekommen. Der Butler hatte den Behörden gegenüber geschworen, dass niemand außer Simon das Haus betreten hatte, und tatsächlich waren alle Fenster von innen verschlossen gewesen.

Als Simon das Misstrauen in den Augen seiner Vorgesetzten aufflackern sah, wusste er, dass ihm Ärger bevorstand. John Waverly, dem Mann, dem er zur Rechenschaft verpflichtet war, hatte mit keinem Wort etwas davon erwähnt, dass er seinen Bericht anzweifelte. Aber Simon hatte sein Zögern gespürt, und das hatte ihn mehr verletzt als er zugeben wollte. Vor acht Jahren hatte Simon nichts von dem gewusst, was ein Spion zu tun hatte. Tatsächlich hatte er wenig gewusst, was über den Reichtum und die Privilegien hinausging, die sein Name und sein Titel mit sich brachten. Er wollte und brauchte eine Veränderung – musste etwas Sinnvolles mit seinem Leben anfangen – und John Waverly hatte ihn unter seine Fittiche genommen und ihn die Feinheiten seiner neuen Aufgabe gelehrt. Simon hatte in Waverly stets mehr gesehen als nur einen Vorgesetzten – er bewunderte und respektierte ihn, und er sah in ihm einen vertrauten Freund und Mentor.

Und als wäre Waverlys Unsicherheit noch nicht genug, erkannte Simon auch das Misstrauen in den Blicken von William Miller und Marc Albury, seinen engsten Kollegen, Männer, in denen er so etwas wie seine Brüder sah. Tatsächlich fühlte er sich Miller und Albury häufig enger verbunden als seinem leiblichen Bruder – Simon konnte seine Spionagetätigkeit weder seiner Familie noch seinen Freunden anvertrauen. Wären Miller, Albury oder Waverly in derselben Lage wie die, in der Simon sich jetzt befand, würde er ihnen eine Chance geben und ihnen vertrauen, auch wenn alle Beweise gegen sie sprachen? Er wollte das gern glauben, aber vielleicht würde er in einer ähnlichen Situation ebenso an ihnen zweifeln wie sie jetzt an ihm.

Da sowohl der König als auch der Premierminister verlangten, dass Ridgemoors Mörder möglichst schnell gefasst wurde, fürchtete Simon, Schnelligkeit würde in diesem Fall mehr zählen als Gründlichkeit. Und im schlimmsten Falle hieße das, dass der falsche Mann – nämlich er – für das Verbrechen gehängt werden konnte, vor allem, weil es keine Hinweise auf weitere Verdächtige gab. Aufgrund der vielen gescheiterten Missionen in den letzten Jahren glaubten Simon, Miller, Albury und Waverly ebenso wie ihre Kollegen, dass sich in ihren Reihen ein Verräter befand, aber bisher war es ihnen nicht gelungen, den Betreffenden auszumachen. Simon wusste nur, dass er es nicht war. Jetzt sah es unglücklicherweise so aus, als stände er mit diesem Wissen allein.

Weil er nicht wusste, wem er vertrauen konnte, wem sein Wohlergehen am Herzen lag, hatte er gelogen, als er gefragt wurde, ob Ridgemoor ihm etwas anvertraut hatte. Doch Waverly konnte genau wie Miller und Albury eine Lüge auf zwanzig Schritt Entfernung wittern, und so hatte Simons Verhalten seine Lage nur verschlimmert und ihr Misstrauen noch vertieft. Bisher war keine Anklage gegen ihn erhoben worden, aber sein Instinkt sagte ihm, dass dies nur eine Frage der Zeit war. Und deshalb brauchte er die Alabasterschatulle, von der Ridgemoor gesprochen hatte. Jetzt gleich. Damit er den Schuldigen ausmachen konnte, ehe ihm seine eigene Hinrichtung bevorstand.

Aufgrund der knappen Zeit hatte er Waverly gebeten, ihn freizustellen, damit er seine Unschuld beweisen konnte. Sein Vorgesetzter hatte ihn lange angesehen, dann hatte er genickt und gesagt: „Ich glaube, dass Sie gelogen haben – und dafür sollten Sie einen verdammt guten Grund gehabt haben – aber ich denke nicht, dass Sie Ridgemoor umgebracht haben. Dennoch, die Beweise gegen Sie sind überzeugend, und wenn die Oberen Ihren Kopf fordern, gibt es nicht viel, was ich oder irgendjemand sonst tun könnte, um Ihnen zu helfen. Ich gebe Ihnen vierzehn Tage, Kilburn. Bis dahin erzähle ich jedem, dass Sie sich von einem Fieber erholen, das vermutlich ansteckend ist – das sollte sie eine Weile fernhalten. Tun Sie, was Sie tun müssen, um Ihren Namen reinzuwaschen, und tun Sie es um Gottes willen schnell. Ich werde tun, was ich kann, um Ihnen dabei zu helfen.“

Mehr konnte Simon nicht verlangen. Und er hatte keine Zeit vergeudet: Die Ermittlungen, die er seit dem Mord an Ridgemoor angestellt hatte, hatten ihn hierher geführt – zum Haus von Mrs. Genevieve Ralston, die bis vor einem Jahr Ridgemoors Mätresse gewesen war. Hatten Ridgemoors letzte Worte bedeutet, dass Mrs. Ralston an dem Plan beteiligt war, ihn zu töten? Oder hatte sie ihn vielleicht selbst erschossen? Das schien ihm gut möglich zu sein.

Simon hatte herausgefunden, dass Ridgemoor sein jahrzehntelanges Verhältnis mit Mrs. Ralston vor einem Jahr gelöst hatte. Konnte sie als verstoßene Frau Rache gesucht haben? Oder waren es politische Motive, die sie leiteten? War sie vielleicht eine Feindin der Krone und hatte geholfen, Ridgemoor zu erledigen, ehe er Premierminister werden konnte?

Simons Informationsquellen zufolge verließ Mrs. Ralston ihr Anwesen in dem kleinen Dorf Little Longstone nur selten, und der Earl war in London ermordet worden. Aber eine Kutschfahrt nach London dauerte nur drei Stunden. Was wäre geschickter, als ein zurückgezogenes Leben zu führen und sich dann heimlich davonzuschleichen, um ein Verbrechen zu begehen?

An diesem Abend zum Beispiel hatte Mrs. Ralston ihr Cottage vor fünf Minuten verlassen. Sie hatte nur einen Diener, einen Riesen mit Namen Baxter, der – davon hatte Simon sich überzeugt – im Augenblick in der Dorfschenke saß, einen Krug Ale in der Hand. Wenn Mrs. Ralston vor Baxter ins Haus zurückkehrte, würde niemand wissen, dass sie den Abend nicht in ihrem Cottage verbracht hatte.

Niemand außer dem, den sie treffen wollte.

Und Simon.

Simon stand in den dunklen Schatten der Bäume, die ihr Heim umgaben, und hatte ihr nachgesehen, wie sie den Pfad hinunterging, der zu den heißen Quellen auf ihrem Anwesen führte sowie zu einigen benachbarten Cottages. Er hatte erfahren, dass eines dieser Häuser im Augenblick leerstand und ein anderes vor einigen Monaten an einen Künstler vermietet worden war, einem Mr. Blackwell.

War Mrs. Ralston zu den heißen Quellen unterwegs oder zu dem Künstler? Oder hatte sie ein anderes Ziel im Sinn? Simon wusste es nicht. Und so gern er ihr auch gefolgt wäre, gerade jetzt war ihr Cottage verlassen, und er musste die Gelegenheit nutzen, um die Alabasterschatulle zu finden, die den Beweis für seine Unschuld enthielt.

Lautlos hastete er den kurzen Weg zum Haus entlang. Er zwängte ein dünnes Stück Metall zwischen die Flügeltüren, die ihm am nächsten waren, und schob es geschickt über das Schloss. Das Glück war auf seiner Seite, denn just in diesem Moment verbargen Wolken den Mond und die Sterne.

Tief atmete er die kühle Luft ein, die bereits einen Hauch des nahenden Herbstes mit sich brachte, öffnete die Türen und schlüpfte in einen gut eingerichteten Wohnraum. Während seiner Suche achtete er darauf, alles so zurückzulassen, wie er es vorgefunden hatte, und bemerkte, dass Mrs. Ralston ein sehr gutes Auge für Möbel besaß.

Auch ihre Schwäche für Kunst war unübersehbar: Gerahmte Bilder bedeckten die cremefarbenen Wände, von Landschaften über Zeichnungen bis hin zu illustrierten Gedichten und Miniaturporträts.

Soweit er bisher herausgefunden hatte, seit er vor zwei Tagen ihren Namen zum ersten Mal gehört hatte, war Genevieve Ralston keine reiche Frau. Doch ihre Besitztümer sprachen von einigem Wohlstand. Wie konnte sie sich solche Dinge leisten? Waren es Geschenke von einem großzügigen Wohltäter – oder die Bezahlung für einen Mord?

Ein lautes Miauen störte seine Überlegungen, und er blickte zu Boden. Eine große schwarzweiße Katze sah zu ihm auf und schlug mit dem pelzigen Schwanz.

„Freund oder Feind?“, fragte er leise.

Die Katze strich an seinen Stiefeln entlang und legte sich dann zwischen seine Füße.

„Also Freund.“ Er hockte sich nieder, um das große Tier zwischen den Ohren zu kraulen, und wurde dafür mit dem lautesten Schnurren belohnt, das er je gehört hatte.

„Das gefällt dir, was?“ Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, während die Katze einen Laut ausstieß, der wie ein zufriedenes Seufzen klang.

„Du musst eine Dame sein. Du bist viel zu hübsch für einen Jungen.“

Noch einmal bewegte sie den Schwanz, dann ging sie gerade so weit weg, dass er sie nicht mehr erreichen konnte, und sah ihn dann an, als wollte sie sagen: Wenn du mich weiterhin streicheln möchtest, dann musst du schon hierher kommen.

Simon lachte leise. Eindeutig weiblich.

Er streckte den Arm aus, strich der Katze noch einmal über das Fell, und stand schließlich auf. „Auch wenn ich dir sehr dankbar bin, dass du kein großer Hund bist, so fürchte ich doch, dass ich keine Zeit mehr für dich habe.“

Jawohl. Die Zeit schritt voran, und nirgends in dem Wohnzimmer gab es eine Alabasterschatulle. Er ging weiter zum Speisezimmer, zur Bibliothek und ins Frühstückszimmer, gefolgt von der Katze, die ihm dabei unentwegt um die Beine strich. Kunstgegenstände und hervorragend gearbeitete Möbel füllten jeden Raum, doch er fand nichts, das der Schatulle, die er suchte, auch nur ähnlich sah. Simon bekämpfte seine Enttäuschung und stieg die Treppe hinauf zu Mrs. Ralstons Schlafzimmer. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, damit die ungemein neugierige Katze draußen blieb, sah er sich um und bemerkte, dass dieser Raum am üppigsten ausgestattet war. Durch die Fenster neben dem Himmelbett fiel Mondlicht herein und schien auf eine blassgrüne Tagesdecke und weiche Kissen. Gegenüber von dem Bett befand sich ein Frisiertisch mit einem ovalen Spiegel. An der anderen Wand standen ein reich geschnitzter Kleiderschrank sowie ein Paravent, dem gegenüber ein zierlicher Sekretär mit einem chintzbezogenen Stuhl.

An den blassgrauen Wänden hingen noch mehr gerahmte Bilder, aber das schönste Objekt in diesem Raum war eine lebensgroße Frauenstatue, die nichts trug außer einem geheimnisvollen Lächeln. Sie stand in der Ecke neben dem Sekretär, eine Göttin aus reinweißem Marmor, der im Mondlicht schimmerte. Eine ihrer schlanken Hände hielt sie einladend ausgestreckt, und Simon glaubte beinahe, ein Flüstern zu hören: Berühre mich. Mit der anderen Hand drückte sie einen Blumenstrauß an ihre Brust, ein Blütenblatt lag dabei an ihrer Brustwarze. Sie wirkte so lebensecht – Simon ertappte sich bei dem Wunsch, sie tatsächlich zu berühren, um sich davon zu überzeugen, dass sie nicht lebendig war.

Er löste seinen Blick von der Statue und ging zum Schrank hinüber. Eine Untersuchung des Inhalts ergab, dass Mrs. Ralston einfache, aber hervorragend gearbeitete Kleider aus edlem Material bevorzugte und mehr Hüte und Schuhe besaß, als eine einzelne Frau jemals verlangen konnte.

Er zog die Brauen hoch, als er in einem Stiefel ganz hinten in dem Schrank eine kleine Pistole mit einem Perlmuttgriff fand. Offenbar verspürte Mrs. Ralston den Wunsch nach Schutz, obwohl sie in einem verschlafenen kleinen Dorf lebte. Wovor? Oder vor wem? Fürchtete sie um ihre Sicherheit, weil sie sich schuldig gemacht hatte – wie etwa an dem Tod ihres früheren Liebhabers?

In Bezug auf diese Frau waren so viele Fragen offen, Fragen, von denen er vermutete, dass sie zu den Antworten führten, die ihm zu Ridgemoors Tod fehlten, dabei seine Unschuld bewiesen und ihn vor der Schlinge des Henkers retteten.

Er ging weiter zu dem Frisiertisch, hob den Parfümflakon aus geschliffenem Kristall an die Nase und schnupperte. Sie mochte den Duft von Rosen. Kleine Keramiktiegel auf dem Tisch enthielten verschiedenen Cremes und Lotionen.

In den ersten beiden Schubladen fand er Dutzende von Handschuhen in einer schwindelerregenden Vielfalt von Farben und Mustern. Verdammt, ihre Schwäche für Schuhe und Hüte war nicht annähernd vergleichbar mit ihrer Liebe zu Handschuhen. Die anderen Schubladen enthielten Chemisiers und Strümpfe von solcher Feinheit, dass sie beinahe durchsichtig waren. Simon wusste sehr gut, dass Unterkleidung umso teurer war, je durchsichtiger sie erschien. Offenbar hatte Mrs. Ralston sich gut zu versorgen gewusst. Weil sie in Geheimnisse und Mordpläne verwickelt war, die die nationale Sicherheit bedrohten?

Er schob die Hände zwischen die hauchzarten Wäschestücke und stockte, als seine Finger etwas Hartes berührten. Sein Herz schlug schneller, als er den Gegenstand aus seinem Versteck holte.

Eine Alabasterschatulle.

Mit einem zufriedenen Seufzen trat er in das silbrige Mondlicht und drehte die Schatulle, die etwa die von der Größe eines Buchs war, herum.

Eine rasche Untersuchung ergab, dass es keine gewöhnliche Schatulle war, sondern eine chinesische Rätselschatulle. Verdammt. Solche Schatullen hatte er bereits geöffnet – je nachdem, wie kompliziert das Muster der ineinanderzuschiebenden Teile war, konnte es ein paar Minuten oder mehrere Stunden dauern, bis er die richtige Kombination gefunden hatte, um den Deckel zu öffnen.

Er konnte nur hoffen, dass er nicht länger als ein paar Minuten brauchte.

Entschlossen zwang er sich zu der Ruhe, die ihm in vielen Jahren so oft genutzt hatte, bewegte die Finger mit festem Druck über die kühle, glatte Oberfläche und suchte nach einem Teil, das sich bewegen ließ.

Die Rätselschatullen, die er bisher geöffnet hatte, waren aus Holz gewesen mit kunstvollen Intarsienarbeiten, was das Öffnen etwas vereinfacht hatte. Diese Schatulle hingegen sah aus wie ein einziges Stück Alabaster und wies keine Muster auf außer den blassen Farbspielen, die das Mineral natürlicherweise mit sich brachte.

Einige Minuten vergingen, ehe er endlich die richtige Stelle drückte und ein kleines Stück Alabaster nach vorn glitt. Er machte weiter, berührte eilig wieder und wieder die Schatulle, bis er das nächste Teil fand, das an seinen Platz rückte.

Während der nächsten Viertelstunde war nichts zu hören als das Ticken der Uhr, während er die Schatulle herumdrehte und versuchte, das Muster zusammenzusetzen. Endlich schob er das Stück an seinen Platz, das den Deckel öffnete. Endlich. Gleich, in wenigen Sekunden, würde der Beweis, den er brauchte, ihm gehören. Simon holte tief Luft und hob dann langsam den Deckel.

Und blickte in einen leeren Hohlraum.

Mit gerunzelter Stirn betastete er das Innere der Schatulle, doch sie war tatsächlich leer. Verdammt.

Aber wo war der Brief? Der Beweis, den er brauchte, um seinen Hals zu retten? Er presste die Lippen zusammen. Offensichtlich hatte Mrs. Ralston den Beweis noch vor ihm gefunden.

Warum hatte sie ihn herausgenommen? Die Tatsache, dass sie es überhaupt getan hatte, deutete darauf hin, dass sie in irgendeiner Weise schuldig war. Hatte sie den Plan, Ridgemoor zu töten, allein gefasst, oder hatte sie mit anderen zusammengearbeitet? Welche Rolle spielte sie in dem tödlichen Ring, der ihn umschloss? Und was zum Teufel hatte sie mit der Information getan? Sie irgendwo anders im Haus versteckt?

Eine weitere schnelle Untersuchung der Schatulle bestätigte seinen Verdacht, dass es keine weitere Öffnung gab. Mit einem enttäuschten Seufzen schob er die Teile zurück an ihren Platz, legte die Schatulle wieder in ihr Versteck zwischen den durchscheinenden Wäschestücken und schloss die Schublade.

Was nun? Wo sollte er als nächstes suchen? Sein Blick fiel auf den Nachttisch, und er durchquerte den Raum. Auf der lackierten Holzoberfläche stand ein Blumenstrauß in einer Kristallvase, neben einer Öllampe und einem Buch. Simon warf einen Blick auf den Titel. „A Ladies’ Guide to the Pursuit of Personal Happiness and Intimate Fulfillment – eine Anleitung für Damen, um persönliches Glück und intime Erfüllung zu erreichen“ von Charles Brightmore.

Interessant. Dasselbe Buch war ihm schon bei seiner Durchsuchung der Bibliothek aufgefallen. Er erinnerte sich, dass es im Zusammenhang mit diesem Buch irgendeinen Skandal gegeben hatte, auch wenn er nicht besonders darauf geachtet hatte. Dennoch war es seltsam, dass Mrs. Ralston zwei Exemplare davon besaß. Konnte der Brief aus der Schatulle darin stecken? Er nahm den Band in die Hand und blätterte ihn durch, doch leider war seine Hoffnung vergebens. Gerade stand er im Begriff, das Buch zu schließen, als ihm ein Satz ins Auge sprang. Ihren Mann fesseln?

Er drehte sich herum, sodass er das Licht, das durchs Fenster hereinfiel, besser nutzen konnte, und las: „Die heutigen modernen Frauen sollten nicht zögern, sich zu holen, was sie haben wollen, sei es im Salon oder im Schlafzimmer – selbst wenn sie ihren Mann fesseln müssen, um es zu bekommen. Tatsächlich wird eine Fesselung im Schlafzimmer höchstwahrscheinlich zu sehr erfreulichen Ergebnissen führen …“

Simon zog die Brauen hoch. Offenbar hatte er sich geirrt, wenn er annahm, dass eine Anleitung für Damen lediglich Informationen über Mode und Etikette enthielt.

„Kein Wunder, dass das einen Skandal gegeben hat“, murmelte er.

Ein Bild erschien vor seinem inneren Augen – seine Hände, mit einer Seidenschnur an einen der Bettpfosten gefesselt. Er konnte das Gesicht seiner Wärterin nicht sehen, aber der Klang ihrer Stimme war voller sinnlicher Verheißungen, als sie flüsterte: „Du wirst mir alles geben, was ich will.“

Er blinzelte, und das Bild verschwand und ließ ihn leicht verblüfft und – er verzog das Gesicht und bewegte sich ein wenig hin und her – mehr als nur leicht erregt zurück. Neugierig geworden, blätterte er zu einer anderen Seite und las weiter: „Die heutige moderne Frau muss sich über die Bedeutung der Mode bei ihrer Suche nach intimer Erfüllung bewusst sein.“ Simon nickte. Ja, das entsprach schon eher dem, was er erwartet hatte. „Es gibt die richtige Zeit für ein Ballkleid, die richtige Zeit für ein Negligé und die richtige Zeit, um überhaupt nichts zu tragen …“

So viel zu seinen Erwartungen.

Vor seinem inneren Auge erschien ein weiteres Bild, diesmal sah er dieselbe Frau, die seine Hände gefesselt hatte. Noch immer war ihr Gesicht nur verschwommen und nicht zu erkennen, als sie sich das Negligé von den Schultern streifte. Der Satin bauschte sich zu ihren Füßen, und ihr nackter Körper bot sich seinen Blicken dar. Die rosa Brustspitzen hart und aufgereckt, die hellen Locken zwischen ihren Schenkeln verheißungsvoll schimmernd, als sie aus dem Stoff heraustrat und langsam mit verführerischem Hüftschwung auf ihn zu kam. „Wo bist du gewesen?“, flüsterte sie. „Ich habe auf dich gewartet.“

Simon schüttelte den Kopf, um das sinnliche Bild zu vertreiben. Verdammt, kein Wunder, dass dieses Buch so einen Aufruhr verursacht hatte. So etwas hatte er noch nie gelesen. Zugegeben, es gehörte nicht zu seinen Gewohnheiten, Anleitungen für Damen zu lesen. Zumindest bisher nicht. Selbst als er sich befahl, das verdammte Buch hinzulegen und weiterzusuchen, ertappte er sich dabei, wie er noch eine Seite umblätterte. Gerade als er einen Blick auf die Worte warf, hörte er das unverkennbare Geräusch einer Tür, die geöffnet und dann wieder geschlossen wurde.

Verdammt.

Eine Frauenstimme sagte sanft: „Hallo, süße Sophia. Hast du mich vermisst?“ Die süße Sophia antwortete mit einem lauten Miauen. „Ich habe dich auch vermisst. Wir spielen morgen wieder miteinander. Ich bin müde und gehe jetzt ins Bett.“

Verdammt, verdammt.

2. KAPITEL

Wütend, weil er es so ganz untypisch zugelassen hatte, abgelenkt zu werden, stellte Simon das Buch rasch zurück und sah sich in dem Zimmer um. Die beiden einzigen Fluchtwege boten die Tür – keine Erfolg verheißende Möglichkeit – oder eines der beiden Fenster, die sich in mindestens dreißig Fuß Abstand zum Boden befanden – keine sehr gesunde Möglichkeit. Abgesehen von dem vielleicht tödlichen Sturz würde er das Fenster offen lassen müssen, sodass sie sofort wissen würde, dass jemand im Zimmer gewesen war. Wenn ihm allerdings nicht sofort etwas einfiel, würde sie das natürlich ohnehin bemerken.

Verdammt schwierige Frau. Warum konnte sie an ihrem Schlafzimmer keinen hübschen Balkon haben? Und warum hatte sie nicht noch ein paar Stunden länger wegbleiben können?

Den Wandschirm und den Kleiderschrank beachtete er nicht – beides würde sie zweifellos benutzen, um sich für die Nacht fertig zu machen – sondern ging direkt zu der Statue in der Ecke. Kaum hatte er sich in den dunklen Schatten hinter der Marmorfigur verborgen, ging die Schlafzimmertür auf.

Während er noch innerlich fluchte, weil Mrs. Ralston so bald zurückgekehrt war, verhielt er sich ganz still und betete, sie möge rasch ins Bett gehen und einschlafen. Von seinem Versteck aus sah er, wie sie die Tür hinter sich schloss und dann zu dem Tisch neben dem Bett trat, um die Öllampe zu entzünden. Im goldenen Schein der Lampe schob sie die Kapuze ihres dunklen Capes zurück.

Simon blinzelte überrascht. Mrs. Ralston war wesentlich jünger, als er erwartet hatte. In der kurzen Zeit, die ihm für seine Nachforschungen geblieben war, hatte er herausgefunden, dass sie das Leben als Mätresse vor einem Jahr aufgegeben hatte, als Ridgemoor ihre Beziehung beendete. Diese Tatsache hatte Simon zu der Vermutung veranlasst, dass sie gealtert war und ihre Schönheit verloren hatte. Zusammen mit dem Umstand, dass der Earl ein Mann in den Fünfzigern und sie seit über einem Jahrzehnt seine Mätresse gewesen war, hatte ihn das an eine Frau in den Vierzigern denken lassen, mindestens. Aber diese Frau schien kaum älter als dreißig zu sein, wenn überhaupt.

Und ganz gewiss hatte sie nicht ihre Schönheit verloren. Die Frau, die im Schein der Öllampe vor ihm stand, sah atemberaubend aus.

Die hohen Wangenknochen und vollen Lippen verliehen ihr eine fremdartige und dennoch zarte Schönheit. Ihre Augenfarbe konnte er nicht erkennen, aber bei ihrer porzellanweißen Haut und dem honigblonden Haar, das sie aufgesteckt trug, tippte er auf Blau. Er ertappte sich, wie er darüber nachdachte, ob es wohl das Blau des wolkenlosen Sommerhimmels war oder das der stürmischen See. Oder das des Eises.

Im nächsten Moment verschwand jeder Gedanke an Eis, als sie ihren Umhang löste. Der Stoff glitt von ihren Schultern und offenbarte, dass sie darunter nur ein Chemisier trug. Ein nasses Chemisier. Ein nasses Chemisier, das sich an ihren Körper schmiegte, als wäre es auf ihre Haut gemalt worden. Mit durchscheinender Farbe.

Simon stockte der Atem, und für einen Moment vergaß er völlig, wo er war. Wer sie war. Und wie viel auf dem Spiel stand. Sein Gewissen – eine innere Stimme, die er schon vor langer Zeit zum Verstummen gebracht hatte – erwachte unerwarteterweise zum Leben und belehrte ihn darüber, dass Ehre und Anstand von ihm verlangten, den Blick abzuwenden. Sofort verbannte er sein Gewissen zurück in die dunklen Tiefen, aus denen es gekommen war, und hielt den Blick unerschütterlich auf die Gestalt vor ihm gerichtet.

Schließlich war sie eine verdächtige Person. Aus Gründen, die er noch nicht kannte, hatte sie das an sich genommen, was er holen wollte, noch ehe er es ihr stehlen konnte – den Brief, der ihm das Leben retten sollte. Es war enorm wichtig, dass er so viel wie möglich über sie erfuhr.

Und wahrhaftig – er erfuhr eine Menge über sie, so wie der Stoff sich an sie schmiegte. Langsam ließ er den Blick nach unten gleiten, über die festen, vollen Brüste mit den aufgerichteten Spitzen. Ihre schlanke Taille ging in runde Hüften über, die in wohlgeformte Schenkel. Die Locken zwischen ihren Schenkeln waren von derselben Honigfarbe wie ihr Haar.

Offenbar hatte Mrs. Ralston ein Bad in den heißen Quellen genossen. Es hieß, dass diese Wasser gut für den Körper waren, und sie war dafür der beste Beweis.

Sie leckte sich über die Lippen, und seine Aufmerksamkeit richtete sich auf ihren Mund. Er spähte in das Zwielicht. Waren ihre Lippen immer so voll, oder waren sie vom Küssen geschwollen? Hatte ihr jemand an den heißen Quellen Gesellschaft geleistet? Hatte Mrs. Ralston einen Liebhaber? Vielleicht den Künstler aus dem Nachbarcottage? Oder einen Komplizen, der ihr geholfen hatte, Ridgemoor zu töten? Gewiss würde es einer Frau mit ihrem Aussehen nicht an männlicher Gesellschaft fehlen. Ganz plötzlich stellte er sich vor, wie Mrs. Ralston in dem leise sprudelnden Wasser stand – und er, der sich zu ihr gesellte …

„Miau.“

Der Laut unterbrach Simons beunruhigende Fantasie, und er blickte nach unten. Sophia schlüpfte ins Dunkel und strich wieder um seine Stiefel. Verdammt. Offenbar besaß die Katze dieselbe unliebsame Angewohnheit wie ihre Besitzerin – an Orten aufzutauchen, an denen sie nicht erwünscht war. Und war das nicht typisch weiblich? Kaum schenkte man ihr die kleinste Aufmerksamkeit, verlangte sie nach mehr.

Er sah auf und unterdrückte ein Stöhnen. Den Umhang über dem Arm, kam Mrs. Ralston auf ihn zu. Ihm stockte der Atem – teils wegen des großen Risikos, entdeckt zu werden, und teils weil ihr Anblick ihn erstarren ließ. Er hatte schon viele atemberaubend schöne Dinge gesehen in seinem Leben, aber es würde ihm schwerfallen, etwas zu benennen, das dem Anblick der nassen, beinahe nackten Genevieve Ralston gleichkam.

Und apropos Erstarren – er blickte hinunter auf die vielsagende Beule, die sich in seiner engen Hose deutlich abzeichnete. Wie reizend. Es war schon peinlich genug, dass er möglicherweise entdeckt wurde. In so einem Zustand entdeckt zu werden war schlicht undenkbar. Er bemühte sich, seine Erregung mit purer Willenskraft zum Schwinden zu bringen, doch da sein Blick wieder auf die verführerische Gestalt fiel, scheiterte er dabei kläglich. Wirklich, Ridgemoor musste sehr verwöhnt gewesen sein, dass er dieser Frau überdrüssig wurde. Hatte sie sich rächen wollen, indem sie ihn ermordete?

Aber vielleicht war er ihrer gar nicht überdrüssig geworden, wie die Gerüchte es behaupteten. Vielleicht hatte sie ihn betrogen, und das hatte Ridgemoor dazu gebracht, die Beziehung so rasch zu beenden. Wie Simon nur zu gut wusste, konnten Frauen sehr perfide Geschöpfe sein. Und er bezweifelte nicht, dass diese spezielle Frau mehr war als nur eine abgelegte Mätresse, die sich aufs Land zurückgezogen hatte. Zumindest besaß sie eine Schatulle, die etwas enthielt, das für Simon und viele andere Leute lebenswichtig war – oder wenigstens hatte sie das enthalten, bis die Schatulle in ihren Besitz überging. Welchen anderen Grund als irgendeine Art von Schuldgefühl konnte sie veranlasst haben, den Brief herauszunehmen?

Sie legte ihren Umhang auf den Rücken eines Ohrensessels, der am Kamin stand, und er hielt wieder den Atem an. Einige spannungsgeladene Sekunden lang stand sie so nahe bei ihm, dass er nur den Arm hätte ausstrecken müssen, um sie zu berühren.

„Was machst du da in der Ecke, Sophia?“, fragte sie leise. „Ich hoffe, du hast keine Maus gefunden.“

Nein, eine Maus ist es nicht.

Sophia löste sich von Simons Stiefeln und ging zu ihrer Herrin. Mrs. Ralston streichelte die Katze liebevoll, dann trat sie zu ihrem Frisiertisch und zog ein sauberes Chemisier aus einer der Schubladen, während Sophia auf das Bett sprang und sich mitten auf der Tagesdecke zusammenrollte. Vor Erleichterung sog Simon langsam den Atem ein und bemerkte den Duft, den Mrs. Ralston hinterlassen hatte – derselbe leichte Rosenduft, der auch in dem Kristallflakon auf ihrem Frisiertisch war.

Sie stand mit dem Rücken zu ihm und streifte das nasse Chemisier von ihrem Körper, wobei sie so sachte die Hüften bewegte, dass er die Hände zu Fäusten ballte. Auf seiner Stirn erschienen kleine Schweißperlen, und obwohl er sich weiterhin bemühte, die Reaktion seines Körpers auf sie zu unterdrücken, verlor er diesen Kampf in dem Moment, als sie sich vorbeugte, um das Kleidungsstück aufzuheben. Die Bewegung, bei dem sie ihr wohlgeformtes Hinterteil in die Luft reckte, erlaubte ihm einen ungehinderten Blick auf ihre weiblichen Reize – ein unglaublicher, ihm jeden klaren Gedanken raubender Anblick, einschließlich des Gedankens, dass das Urteil „am Halse aufzuhängen, bis der Tod eintritt“, ihm möglicherweise in nicht allzu ferner Zukunft bevorstand.

Während er die Zähne zusammenbiss und ein Stöhnen unterdrückte, zog sie sich das frische Chemisier über den Kopf und ging – zum Glück! – zu ihrem Kleiderschrank, nahm einen Hausmantel heraus und legte ihn an. Der weiche Stoff schmiegte sich an ihren Körper wie eine zweite Haut, aber zumindest war sie bedeckt. Er hoffte, dass sie jetzt zu Bett ging.

Stattdessen kehrte sie zum Frisiertisch zurück und massierte eine Creme aus einem der Tiegel in ihre Hände, wobei sie ein paar Mal vor Schmerz das Gesicht verzog. Schließlich zog sie ein Paar Handschuhe an, das sie aus einer der Schubladen nahm.

Das erschien ihm seltsam. Trugen alle Frauen Handschuhe im Bett? Jedes Mal, wenn er die Nacht mit einer Frau verbrachte, sorgte er dafür, dass sie zuerst zu beschäftigt und dann zu erschöpft war, um an Dinge wie Handcreme und Handschuhe zu denken.

Seine Hoffnung, dass Mrs. Ralston sich nun endlich ins Bett legen würde, wurde zerstört, als sie die Arme hob und die Nadeln aus ihrem Haar zog, worauf ein Vorhang blonder Locken bis zu ihren Hüften fiel. Sofort stellte er sich vor, wie er die Hände durch diese Fülle gleiten ließ, die Strähnen um seine Finger wickelte und sie an sich zog.

Ganz kurz kniff er die Augen zu, um dieses unwillkommene, unerwartete Bild zu vertreiben. Was zum Teufel stimmte nur nicht mit ihm?

Sie stöhnte leise, und er riss die Augen auf, um zu sehen, wie sie das Ende ihres geflochtenen Zopfes mit einem blauen Band umwickelte, während er sich lustvollen Tagträumen hingegeben hatte. Ehe er darüber nachdenken konnte, warum sie so einen Laut von sich gab, kam sie wieder auf ihn zu. Er spannte jeden Muskel an. Hatte sie seine Gegenwart bemerkt? Gespürt, dass sie beobachtet wurde? Verdammt, es sah aus, als richtete sie den Blick direkt auf ihn. Wenn sie ihn entdeckte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sie zu überwältigen. Sofort stellte er sich etwas vor – aber nicht, dass er sie überwältigte, sondern dass sie ihn fesselte. Mit blauem Band an ihr Bett.

Verdammt. Dieser verdammte Ladies’ Guide hatte seine Sinne verwirrt.

Zu seiner Erleichterung setzte sie sich auf den zierlichen Stuhl vor ihrem Schreibsekretär. Doch diese Erleichterung währte nicht lange, denn sie entzündete die Kerze auf dem Tisch. Licht flackerte auf, und er zog sich so tief in den Schatten der Marmorstatue zurück, wie es nur möglich war. Was zum Teufel tat sie da nur?

Sie beantwortete die Frage, indem sie ein Blatt Papier aus einer Schublade zog und nach der Schreibfeder griff. Trotz seines Wunsches, sie möge sich so schnell wie möglich zurückziehen, damit er fliehen konnte, war Simons Interesse geweckt. Sie wollte einen Brief schreiben. Ein Brief, der ihm weitere Informationen geben konnte? Es schien ein seltsamer Zeitpunkt zu sein, um eine Botschaft zu schreiben – außer, es ging um ein Geheimnis.

Simon sah zu, wie sie einige Minuten lang schnell schrieb, aber dann begannen ihre Bewegungen langsamer zu werden. Sie runzelte die Stirn und presste die Lippen fest zusammen, bevor sie sich tiefer über das Blatt beugte. Anfangs hielt er das für Konzentration, doch dann fiel sein Blick auf die Hand, mit der sie die Feder hielt.

Jetzt umklammerte sie das Schreibwerkzeug in einer seltsamen Haltung. Nachdem sie noch ein paar Worte geschrieben hatte, hielt sie inne und bewegte langsam die Finger, als hätte sie Schmerzen. So, wie sie das Gesicht verzog, war es offensichtlich, dass etwas nicht stimmte. Hatte sie irgendeinen Unfall gehabt, bei dem ihre Hände verletzt wurden?

Mit derselben schmerzverzerrten Miene schrieb sie noch ein oder zwei Minuten weiter, dann stellte sie die Feder zurück in den Halter und schüttete Löschsand auf das Blatt. Nachdem sie das Blatt in die Schublade zurückgelegt hatte, blies sie die Kerze aus, stand auf und ging zu ihrem Bett. Er sah zu, wie sie den Hausmantel ablegte und schließlich die Öllampe löschte. Im silbrigen Schein des Mondlichts zog sie die Decken zurück und legte sich ins Bett. Sophia hob einen Moment den Kopf und rollte sich dann wieder zusammen. Mrs. Ralton schloss die Augen. Sie sah aus wie ein unschuldiger Engel – aber Simon ließ sich von Äußerlichkeiten nicht täuschen.

Es dauerte nicht lange, dann hörte er ihre tiefen, ruhigen Atemzüge. Er wartete noch ein paar Minuten ab, ehe er – zufrieden darüber, dass sie endlich schlief – aus seinem Versteck schlüpfte und lautlos den Raum verließ. Als er die Haustür hinter sich schloss, gelobte er, nicht nur herauszufinden, was Mrs. Genevieve Ralston mit seinem Brief gemacht hatte, sondern auch, welche Geheimnisse sie sonst noch verbarg. Vor allem, wenn diese Geheimnisse mit einem Mord zu tun hatten.

3. KAPITEL

London ist hektisch und aufregend, und das Eheleben ist wunderbar. Das Einzige, was ich vermisse, bist du, meine liebe Freundin. Ich wünschte, du würdest zu einem Besuch in die Stadt kommen …“

Die Worte des Briefes verschwammen, als Tränen in Genevieves Augen traten, Tränen, die sie rasch wegwischte, als sie auf dem Korridor schwere Schritte vernahm. Gleich darauf trat ihr riesenhafter Diener, Baxter, in den Salon.

„Ich wollte nur sagen, dass …“ Er brach ab, stemmte die Hände in die Hüften und kniff die Augen zusammen. „Du bist aufgeregt. Was ist passiert?“ Ehe Genevieve antworten konnte, fiel sein Blick auf den Brief in ihrer Hand, und er sah sie verständnisvoll aus seinen dunklen Augen an. „Du bist traurig, weil du deine Freundin Lady Catherine vermisst.“

Genevieve schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter und lachte kurz auf. „Ein wenig.“

Autor

Jacquie D´Alessandro
Jacquie D'Alessandro wuchs in Long Island auf und verliebte sich schon in jungen Jahren in Liebesromane. Sie träumte immer davon, von einem schneidigen Schurken auf einem lebhaften Hengst entführt zu werden. Als jedoch Joe, ihr zukünftiger Ehemann, zum erste Mal auftauchte, hatte sein Erscheinungsbild nur wenig mit ihren Träumen zu...
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