Zwei Herzen im Winter

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Eisig weht der Wind über das Meer, als Emmeline in den Hafen kommt. Den Mantel fest um den Leib geschlungen, beobachtet sie einen geheimnisvollen Fremden - der sie in letzter Sekunde vor einem herabstürzenden Weinfass rettet. Trotzdem verspürt die schöne Normannin keine Erleichterung, sondern helle Wut. Untersteht sich dieser verstörend attraktive Ritter schließlich, sie für eine Hure zu halten! Empört denkt sie an Flucht. Vergeblich! Denn das Schicksal will es, dass sie beide in die Wirren um die englische Thronfolge geraten. Und in diesem Sog entflammt eine Leidenschaft, die so wild ist wie das Wintermeer und doch unendlich zärtlicher ...


  • Erscheinungstag 16.11.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733769451
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Barfleur, Normandie – im Jahr 1135

Fröstelnd zog Emmeline den Wollumhang enger um ihre Schultern und die weite Kapuze tief in die Stirn. Sie war aus dem Haus zum Hafen gelaufen, ohne sich die Zeit zu nehmen, ihre blonde Haarmähne zu flechten – und hatte sich damit ein missbilligendes Zungenschnalzen und eine tadelnde Bemerkung ihrer Mutter eingehandelt. Emmeline legte keinen Wert auf ihre äußere Erscheinung, wünschte aber, sie hätte sich ein zusätzliches warmes Untergewand angezogen. Wichtig war ihr nur zu wissen, ob die Belle Saumur endlich von der Fahrt durch den Ärmelkanal heimgekehrt war.

Ein scharfer Wind wehte die Flussmündung herauf über die Mole, fuhr ihr unter die Röcke bis in die Knochen. Die Kälte verschlimmerte den Schmerz in ihrem verletzten Fuß, dem sie allerdings keine Beachtung schenkte, da ihre ganze Aufmerksamkeit dem Schiff ihres Vaters galt. Ihrem Schiff. Tatsächlich lag die Belle Saumur in einiger Entfernung im offenen Meer, knapp hinter dem Leuchtturm, der die Flussmündung markierte. Dieu merci! Gott hatte ihre Gebete erhört. Eine Welle der Erleichterung durchströmte sie: Das Schiff war ihr einziger Besitz, sicherte ihrer Mutter und ihr einen bescheidenen Lebensunterhalt und gestattete ihr ein freies Leben. Sie war keinem Herrn und Gebieter Rechenschaft schuldig – auch keinem Ehemann. Sie wünschte nur, ihre Mutter würde das ebenso sehen wie sie, statt sie ständig zu bedrängen, wieder zu heiraten. Eine Vorstellung, die ihr gründlich zuwider war, vor der ihr graute.

Mit zusammengekniffenen Augen gegen die grelle Morgensonne, deren Strahlen durch den Nebel drangen, beobachtete sie zwei Männer an Bord, die den Anker geworfen hatten und nun an der Leine zogen, um zu prüfen, ob er Grund gefasst hatte. Offenbar war die Belle Saumur gerade erst eingelaufen. Das riesige Rahsegel flatterte schlaff im Wind, nachdem die Mannschaft die Taue gelöst, die Fock aber noch nicht aufgerollt hatten. Der bauchige Rumpf lag tief im Wasser, ein Zeichen dafür, dass der Frachtraum voll beladen war. Mittlerweile hatten drei Lastkähne das Schiff erreicht, um die Fracht zu löschen. Um diese Tageszeit herrschte Ebbe, und der Wasserstand war zu niedrig, um das Schiff direkt an der Mole zu entladen. Monsieur Lecherche, ihr Schiffsführer, musste noch einige Zeit warten, bevor die Belle Saumur im sicheren Hafen vertäut werden konnte.

„Madame de Lonnieres, Madame de Lonnieres!“ Geoffrey Beaufort, ein wohlhabender Kaufmann aus Barfleur, winkte ihr aus einem Frachtkahn zu. Der flache Kiel des Ruderboots knirschte über den groben Kies an Land. Geoffrey sprang über den Bootsrand, watete mit seinen schweren Lederstiefeln durchs seichte Wasser und rannte ihr auf den Bohlen des Landestegs zur Begrüßung entgegen.

Emmeline umarmte ihn herzlich und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter seines feuchten, vom Salzwasser klebrigen Mantels. „Dem Herrn sei Dank, dass du wohlbehalten wieder daheim bist. In den letzten Tagen gab es Schreckensmeldungen über Stürme im Kanal …“

Geoffrey registrierte mit Besorgnis die dunklen Ringe der Erschöpfung unter ihren leuchtend grünen Augen. „Du sollst dir nicht so viele Gedanken machen, Emmeline. Du siehst müde aus.“

„Die Belle Saumur ist mein einziger Besitz“, antwortete sie ausweichend und zog die Kapuze tiefer über das blonde Haar.

„Dein Bootsführer und seine Mannschaft sind die erfahrensten Seefahrer weit und breit.“

Sie nickte. „Das ist ja auch der Grund, warum ich keine andere Mannschaft anheure.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich war wirklich besorgt, Geoffrey. Ihr hattet euch um mehr als eine Woche verspätet.“

Der Kaufmann legte seine fleischige gerötete Hand ans Herz. „Das ist allein meine Schuld, Emmeline. Bitte verzeih, aber ich wollte unbedingt den großen Markt in Winchester abwarten, der nur einmal im Jahr stattfindet. Es wäre eine Schande gewesen, ihn zu verpassen. Dort werden die besten flandrischen Tuche angeboten, die ich hier mit großem Gewinn verkaufen kann.“ Er bemerkte ihr Stirnrunzeln. „Sei unbesorgt, ich bezahle selbstverständlich für die zusätzliche Zeit. Diese Zusage habe ich Monsieur Lecherche bereits gegeben.“ Er verzog seine rissig aufgesprungenen Lippen zu einem schuldbewussten Lächeln. „Sieh nur, wie viel Ware ich mitgebracht habe. Und ich habe alle Weinbestände verkauft.“ Emmeline blickte zum flachen Uferstreifen hinüber, wo ein Kahn entladen wurde. Drei Männer waren nötig, um die Jutesäcke, in denen die Stoffballen verpackt waren, einen nach dem anderen aus dem Kahn zu hieven und auf einen wartenden Ochsenkarren zu laden.

„Und deshalb hast du die leeren Weinfässer auseinandernehmen lassen, Geoffrey, sonst hätte der Frachtraum nicht ausgereicht.“

„Auch für diese Kosten komme ich auf.“

Emmeline nickte zustimmend. In ihrer augenblicklichen Situation konnte sie es sich nicht leisten, die Fässer auf ihre Kosten wieder zusammensetzen zu lassen; eine mühselige Arbeit für einen Fassbauer, für die normalerweise der Schiffseigner aufkommen musste.

„Augenblick, ich habe etwas für dich, Emmeline.“ Geoffrey strahlte übers ganze wettergegerbte Gesicht. „Einen Brief von deiner Schwester.“

Emmeline nagte an ihrer Unterlippe, während Geoffrey im Lederbeutel an seinem Gürtel kramte. Sie konnte kaum glauben, dass ihre ältere Schwester sich meldete. Nachdem Sylvie an der Seite eines Edelmannes ein neues Leben in England begonnen hatte, wollte sie offenbar jede Verbindung zu ihrer Vergangenheit abbrechen. Die spärlichen Nachrichten, die Emmeline anfänglich noch von ihr erhalten hatte, berichteten von Reichtum, riesigen Ländereien und Burgen sowie der fürsorglichen Zuneigung ihres Gemahls Lord Edgar. Nachdem die kleine Rose gestorben war, hatte Emmeline sich für das kaltherzige Verhalten ihrer Schwester geschämt, doch mittlerweile waren ihre Gefühle zu gleichgültiger Resignation abgeflaut.

Geoffrey reichte ihr ein zusammengerolltes Pergament, das Emmeline mit zitternden Fingern an sich nahm. Danach löste sie das rote Band und entrollte das Papier. Sie hielt das im Wind flatternde Blatt oben und unten fest und überflog den Inhalt. Beim Lesen der hingekritzelten Worte wurde ihr kalt ums Herz: Ich lebe in ständiger Angst. Bitte komm und hilf mir. Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht. Verzeih.

Emmeline schloss die Augen.

Die krakeligen und hastig hingeworfenen Buchstaben tanzten vor ihrem inneren Auge: Es war ein in großer Eile und Verzweiflung verfasster Hilferuf. Was für ein Unterschied zu ihrer letzten Begegnung mit Sylvie, die in einem kostbar bestickten Gewand auf der Schwelle des bescheidenen strohgedeckten Hauses in Barfleur gestanden hatte. Eine stolze und schöne Frau, die sich nicht darum kümmerte, was ihre Familie von ihr hielt, in deren Obhut sie ihr Töchterchen Rose gab, ohne eine Gefühlsregung zu zeigen. Sie hatte sich so sehr nach einem sorglosen Leben in Luxus und Wohlstand gesehnt und duldete nicht, dass ihr jemand dabei im Wege stand.

„Da stimmt etwas nicht“, sagte Emmeline gedehnt und wandte sich verstört an Geoffrey.

„Keine schlechten Nachrichten, will ich hoffen?“ Geoffrey musterte Emmelines bekümmerte Miene.

„Meine Schwester ist in Nöten“, antwortete sie beklommen. „Wann hast du sie gesehen?“

„Mir wurde die Ehre zuteil, eine Nacht auf Waldeath zu verbringen, als Gast deiner Schwester und ihres Gemahls Lord Edgar.“

„Wie geht es ihr? Ist sie wohlauf?“

Geoffrey breitete die Hände aus, ohne recht zu wissen, was er antworten sollte. „Sie wirkte ein wenig flatterig, aber …“

„So war sie schon immer“,beendete Emmeline seinen Satz mit einem dünnen Lächeln. Sylvies reizbares launisches Wesen war natürlich auch Geoffrey nicht fremd. „Vielen Dank für den Brief.“ Sie verstaute das knisternde Pergament in dem bestickten Beutel an ihrem Gürtel. Ein merkwürdiges Gefühl drohenden Unheils beschlich sie, während sie Überlegungen anstellte, wie sie Sylvie erreichen konnte.

„Ich würde mir keine allzu großen Sorgen machen, Emmeline.“ Geoffrey tätschelte ihr beschwichtigend den Arm.„Ihr Gemahl scheint ihr sehr zugetan zu sein, hatte ich jedenfalls den Eindruck.“

„Falls die Belle Saumur vor Einsetzen der Winterstürme eine letzte Überfahrt schafft, besuche ich sie in England“, sagte Emmeline entschlossen. Aber Geoffrey hörte ihr nicht mehr zu. Sein Blick war über ihre Schulter gerichtet, und seine Miene hellte sich wieder auf. Auf dem Steg näherte sich eine junge Frau mit drei bunt gekleideten kleinen Kindern, deren helle Stimmen sich mit dem Kreischen der tief kreisenden Seemöwen mischten.

„Ah, sieh an! Marie und die Kleinen!“ Geoffrey strahlte beim Anblick seiner Familie. Auch Emmeline lächelte ihrer Freundin entgegen. Marie war annähernd so groß wie ihr Ehemann und bewegte sich in anmutiger Grazie, obwohl drei Kinder an ihren Röcken hingen. Emmeline, einen halben Kopf kleiner, bildete mit ihrem hellen Teint und dem blonden Haar einen lebhaften Kontrast zu Maries schwarzen Locken und gebräunter Haut. Emmeline verwünschte häufig ihre weiblichen Rundungen, da es schwierig war, in einer Männerwelt Geschäfte zu machen, wenn die Männer ständig auf ihren Busen starrten, statt ihr zuzuhören. Zum Glück handelte es sich meist um Kaufleute, die aus alter Freundschaft und Treue zu ihrem verstorbenen Vater ihre Waren auf der Belle Saumur verschifften, nicht zuletzt auch in der Gewissheit einer sicheren Überfahrt und einer erfahrenen Mannschaft. Jüngere Kaufleute bevorzugten neue und wendigere Schiffe, die in den Werften entlang der Küste in Caen und Dieppe gebaut wurden.

„Ich könnte schwören, die Kleinen sind in den paar Wochen meiner Abwesenheit wieder gewachsen“, rief Geoffrey, hob jedes der Kinder der Reihe nach hoch und wirbelte es unter lautem Freudengeschrei durch die Luft. „Womit fütterst sie nur, Weib?“ Er drückte seiner Frau einen zärtlichen Kuss auf die Wange. Emmeline fühlte sich ein wenig unbehaglich bei der herzlichen Begrüßungsszene. Vielleicht verspürte sie auch einen Stich des Bedauerns? Sie seufzte. An ihre unglückliche Ehe mit Giffard de Lonnieres hatte sie lediglich bittere Erinnerungen und wusste, dass ihr dieses Familienglück niemals beschieden sein würde.

Nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters Anselm hatte Emmeline hilflos zusehen müssen, wie Giffard, auf den die Schiffswerft ihres Vaters bei der Eheschließung übergegangen war, folgenschwere Fehler machte und viel Geld durch Fehlspekulationen verlor. Sie hatte lernen müssen, ihm keine Vorhaltungen zu machen, obwohl er das Geschäft beinahe in den Ruin getrieben hätte. Als er bei einem Jagdunfall ums Leben kam, hatte Emmeline nichts als Erleichterung verspürt. Mit seinem Tod ging das Recht, den Handel weiterzuführen, auf seine Witwe über, und Emmeline hatte sich fest vorgenommen, das Geschäft zu neuer Blüte zu bringen. Es war ihr Lebensinhalt geworden, ungeachtet der unablässigen Ermahnungen ihrer Mutter, mehr auf ihr Äußeres zu achten, um wieder einen Ehemann zu finden. Ihre Mutter durfte nie erfahren, was Giffard ihr hinter verschlossenen Türen angetan hatte. Nichts von den Demütigungen und Beschimpfungen, den Fußtritten und Schlägen, bis er sie eines Tages die Treppe hinuntergestoßen hatte. Emmeline schüttelte den Kopf, um die quälenden Erinnerungen zu bannen.

„Wir haben uns also unnötig Sorgen gemacht, wie, petite amie?“ Marie schlang den Arm um Emmeline.„Die See stellt uns Frauen oft auf eine harte Probe.“ Ihr Tonfall klang heiter, doch ihre Augen glänzten feucht, als sie die raue Hand ihres Mannes dankbar drückte.

Geoffreys Aufmerksamkeit galt wieder dem Entladen des Schiffes. „Ich werde im Lagerhaus gebraucht“, verkündete er. „Ich will die Säcke und Kisten zählen und prüfen, ob nichts beschädigt ist.“ Er fing Emmelines Blick auf, deren Wangen und Nase vom kalten Wind gerötet waren. „Aber es ist gewiss alles in Ordnung. Ich werde dir genau berichten. Willst du mit uns essen, Emmeline? Marie hat uns gewiss ein kräftiges Morgenmahl bereitet.“ Er zwinkerte seiner Frau liebevoll zu.

Emmeline schüttelte den Kopf. „Danke für die Einladung, mein Freund, aber ich warte auf den Bootsführer und muss die Mannschaft auszahlen.“

„Aber Emmeline“, gab Marie zu bedenken, „die Männer haben noch Stunden zu tun. Du holst dir den Tod hier auf dem windigen Landesteg. Komm, ich habe dich ewig nicht gesehen.“ Die Wollröcke schlugen Emmeline um die Beine, ihre Füße waren eiskalt geworden, und sie geriet in Versuchung, die Einladung anzunehmen.

„Ich sage Monsieur Lecherche Bescheid, wo er dich findet, wenn die Männer fertig sind“, fügte Geoffrey aufmunternd hinzu. Mit vor Kälte wässrigen Augen blickte Emmeline zu den Lagerschuppen hinüber, die den Hafen an der Flussmündung säumten. Geoffreys Haus mit einem hohen Schindeldach, das auch als Warenlager diente, war das stattlichste Gebäude.

„Geht schon voraus, es dauert nicht mehr lang“, willigte Emmeline schließlich lachend ein. „Ich sehe Monsieur Lecherche bereits an Deck. Er wird bald übersetzen. Wenn ich mit ihm gesprochen habe, komme ich nach. Versprochen.“

Mit gespreizten Beinen, um das sanfte Schaukeln auszugleichen, stand Lord Talvas of Boulogne im Bug der Belle Saumur und blickte missmutig zum kleinen Hafen hinüber. Barfleur anzulaufen bedeutete für ihn, zwei weitere Tage nach Norden zu reiten, um seine Eltern zu besuchen. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er den größeren Hafen von Boulogne gewählt. Unglücklicherweise war das Großsegel seines Schiffes bei der letzten Überfahrt nach England der Länge nach gerissen und erforderte umfangreiche Ausbesserungsarbeiten, wodurch er gezwungen war, das nächste Schiff zu nehmen, bevor die Winterstürme einsetzten. Er wollte Weihnachten mit seinen Eltern verbringen und auf seinen Ländereien in der Normandie nach dem Rechten sehen, ehe er wieder nach England zurückkehrte. Er hielt sich nicht gern lange in der Normandie auf, da ihn mit diesem Land zu viele schmerzliche Erinnerungen verbanden. Als sein Schwager Stephen von seiner bevorstehenden Reise nach Boulogne erfuhr, hatte er Talvas gebeten, der Kaiserin Maud einen Besuch auf ihrer Burgfeste in Torigny abzustatten, um etwas über die Pläne der einzigen legitimen Tochter von König Henry I. in Erfahrung zu bringen, die als Unruhestifterin berüchtigt war. Maud, eine Enkelin von Wilhelm dem Eroberer, nannte sich nach dem Tod ihres deutschen Gemahls Kaiser Heinrich V. fortan imperatrix und führte das Siegel einer Kaiserin. König Henry, der ohne männliche Erben war, hatte seine Barone verpflichtet, Prinzessin Maud als Thronerbin anzuerkennen. Also musste Talvas damit rechnen, einige Wochen in diesem verhassten Land zu verbringen. Er schwang die sehnigen Beine über die hohe Bootswand, kletterte die Strickleiter nach unten und sprang in den Kahn.

Die Sonne begann die Dunstschwaden aufzusaugen, als der kleine Hafen erwachte. Einige Fischerboote, die kurz vor Morgengrauen ausgelaufen waren, kehrten bereits mit reichem Fang zurück. Die zuckenden Fischleiber in den Holzkisten glänzten silbrig. Die Fischer entluden ihren Fang weiter flussaufwärts direkt neben dem Markt von Barfleur, wo ihre Boote sich drängten und gegeneinander stießen, da jeder sich den besten Platz am Ufer sichern wollte.

Emmeline wippte auf und ab, krümmte die Zehen, um ihre Füße zu wärmen, während sich hinter ihr der wuchtige Querbalken des einzigen Lastkrans von Barfleur langsam in Bewegung setzte und Weinfässer aus einem Kahn hievte, der am Steg festgemacht hatte. Von den bauchigen Fässern fanden nur drei Stück in einem Boot Platz. Die zwei Männer, die den Kran bedienten, ächzten vor Anstrengung, während sie an dem faustdicken Seil zogen, das am Ende des Querbalkens befestigt war, um die Last aus dem flachen Kahn zu heben. Sobald das Fass in dem verschnürten Netz über den Holzplanken schwebte, setzte das knirschende Geräusch ein, mit dem der senkrechte Pfosten in der Höhlung des Steins gedreht wurde, um das Fass zu dem am Ufer wartenden Ochsenkarren zu schwenken.

Emmeline beobachtete, wie das Ruderboot, in dem ihr Schiffsführer stand, sich dem Ufer näherte. Sie kniff die Augen zusammen. Die grelle Spiegelung der tief stehenden Wintersonne auf den tanzenden Wellen blendete sie. Irgendwie erschien ihr Monsieur Lecherche größer und breiter als sonst. Vermutlich hatte auch er sich mit mehreren Schichten wollener Kleidung gegen die Kälte geschützt. Normalerweise blieb er an Bord, bis die Fracht vollständig entladen war, und wachte darüber, dass keiner der Seeleute sich heimlich etwas in die Tasche steckte. Da auf seine Besatzung absoluter Verlass war, fürchtete Emmeline, er sei vorzeitig von Bord gegangen, um ihr einen Schaden zu melden.

Als das Boot mit beängstigender Geschwindigkeit über den Kies knirschte, blieb ihr der Mund offen stehen. Der Hüne, der über den Bootsrand ins seichte Wasser sprang, war nicht ihr Bootsführer! Es war aber kein anderes Segelschiff am Horizont zu sehen! Was in Gottes Namen hatte dieser Fremde auf ihrem Schiff zu suchen? Es war ihr strikter Grundsatz, keine Passagiere zu befördern. Das wusste Lecherche genau.

Verdutzt sah sie, wie der Mann in langen Sätzen über die Mole direkt in ihre Richtung stürmte. Gleich bleibt er stehen, dachte Emmeline, ohne zurückzuweichen. Sie hatte einen flüchtigen Eindruck von ihm gewonnen, funkelnd blaue Augen unter buschig schwarzen Brauen und scharf geschnittene Gesichtszüge, bevor sein mächtiger Körper gegen sie prallte, sie nach hinten schleuderte und unter seinem schweren Gewicht begrub. Hinter ihnen krachte ein Weinfass mit ohrenbetäubendem Lärm auf den Steg, ein Schwall gaskonischen Weins ergoss sich sprudelnd auf die Planken und sickerte durch die Ritzen.

Das Gesicht an den Wollumhang des Berserkers gepresst, der nach Meer und Tang roch, versuchte Emmeline wütend und halb erstickt zu protestieren. Sein mächtiger Körper presste ihr die Luft aus den Lungen und drückte sie schmerzhaft auf die harten Holzplanken. Arme und Beine unter seinem Gewicht gefangen, konnte sie sich nicht zur Wehr setzen.

„Runter von mir! Lasst mich los!“, stieß sie gepresst hervor. Das bleierne Gewicht rollte von ihr. Sie hatte das Gefühl, der Hüne habe ihr sämtliche Knochen gebrochen und die Rippen eingedrückt. Benommen und nach Atem ringend, setzte sie sich auf und fasste mit zitternden Händen an ihren schmerzenden Hinterkopf. Ihre blonde Haarfülle wallte ihr über Schultern und Rücken. Wo war ihre Kapuze? Fahrig tastete sie danach. Im vergeblichen Versuch, ihre Würde zu wahren, zog sie die Kapuze tief in die Stirn, um die widerspenstige Mähne darunter zu verbergen. Dann hob sie den Blick und begegnete dem spöttischen Funkeln blauer Augen.

„Ist es nicht noch ein wenig früh am Tag, um Eurem Gewerbe nachzugehen, Madame?“, fragte er trocken. „Oder ist für Euch die Nacht noch nicht zu Ende?“

Emmeline kniff beschämt und empört zugleich die Augen zu.

2. KAPITEL

„Was fällt Euch ein, Monsieur, in diesem Ton mit mir zu sprechen!“ Entrüstet versuchte Emmeline, auf die Füße zu kommen, wobei ihr erneut ein paar widerspenstige blonde Locken ins Gesicht fielen. Und dann wäre sie vor Schreck beinahe wieder umgefallen beim Anblick des Fremden, der sich wie ein bedrohlicher Bär über ihr auftürmte. Seine untere Gesichtshälfte war von Bartstoppeln verdunkelt, eine Locke seines kurz geschnittenen schwarzen Haares hing ihm in die Stirn, der Wind blähte seinen Umhang, verdeckte die Sonne und warf einen unheilvollen Schatten über sie.

Ein seltsamer Schauer durchrieselte sie. War es Angst oder eine andere Empfindung, die sie nicht zu deuten wusste? Dieser unverschämte Fremdling hatte kein Recht, sie einzuschüchtern, mochte er von ihr denken, was er wollte. Er ist nur ein Mann, beschwor sie sich. Nach allem, was Giffard ihr angetan hatte, wusste sie nun wenigstens, mit Männern umzugehen. Nur Mut! Ihr Blick wanderte argwöhnisch von schweren Lederstiefeln, die er an seinen kraftvollen Beinen trug, nach oben zum braunen Lederwams, das seinen breiten Brustkorb umspannte. Der flatternde dunkelblaue Umhang wies ihn als Edelmann aus. Nur Adelige trugen dieses kostbare Indigoblau, ein Blau, das zur Farbe seiner Augen passte, deren Strahlkraft ihren Herzschlag ins Stolpern brachte.

„Wie, wenn ich bitten darf, soll ich eine Dirne sonst ansprechen?“ Sein hochmütiger Tonfall machte sie nur noch wütender.

Mit fahrigen Händen begann Emmeline ihre Haarfülle wieder unter der Kapuze zu bändigen. Ihr Kopf schmerzte unter der Berührung ihrer Finger. „Ich bin keine Dirne, Monsieur. Nur ein Dummkopf würde mich mit einer Hure verwechseln.“

Der Fremde lachte tief und kehlig. „Dann bin ich wohl ein Dummkopf. Soweit ich weiß, wagt sich nur eine Dirne oder eine ausgesprochen törichte Frau mit offenem Haar in eine Hafengegend, ohne auf ein frivoles Abenteuer aus zu sein. Zu welcher Sorte zählt Ihr?“

„Das geht Euch nichts an!“

„Es geht mich sehr wohl etwas an, seit ich Euch vor dem herabstürzenden Weinfass gerettet habe. Ihr könnt Euch glücklich schätzen, denn vermutlich hätte kein anderer einer wie Euch das Leben gerettet.“

Gütiger Himmel, er hält mich tatsächlich für eine Hure, dachte sie erschrocken. „Und wieso habt Ihr es getan?“, fragte sie spitz.

Er zog die breiten Schultern hoch. „Keine Ahnung. Aber wer will schon zusehen, wenn ein Leben unnötig vergeudet wird. Das Fass hätte Euch zerquetscht.“ Er blickte anmaßend über seine kühn geschwungene Nase auf sie herab. „Im Übrigen hätte jede andere sich mittlerweile bei mir bedankt.“

„Danke schön“, säuselte sie spöttisch. Die Kälte drang ihr bis in die Knochen. Sie raffte Umhang und Röcke um sich und überlegte, wie sie möglichst würdevoll auf die Beine kommen könnte, ohne dass dieser hochfahrende Fremdling ihre Behinderung bemerkte. Wenn sie sich nur an etwas hochziehen könnte! Je schneller sie diesen grässlichen Kerl loswurde, umso besser.

„Ich helfe Euch“, bot er ihr an. Sie starrte auf seinen vornehmen Lederhandschuh, als er sich zu ihr herunterbeugte und sie wie ein Häufchen Elend in ihren abgetragenen Schuhen und heruntergerutschten Beinlingen vor ihm kauerte. „Ich schaffe es alleine“, murmelte sie zähneknirschend.

„Wie Ihr wünscht.“ Er zog die Hand zurück und richtete sich auf.

Mittlerweile lungerten ein paar Hafenarbeiter in der Nähe herum, einige mit besorgter Miene, andere registrierten ihre Demütigung mit einem leichten Grinsen. Zornig schob sie die Röcke nach unten und bedeckte ihre Füße, als ein Kaufmann sich einen Weg durch die Gaffenden bahnte.

„Madame de Lonnieres, Ihr seid es! Ich bitte tausendmal um Entschuldigung“, versicherte der untersetzte Mann in heller Aufregung und wedelte mit feisten Händen vor seinem aufgeregt geröteten Gesicht herum. „Erst vorhin habe ich die Seile noch überprüfen lassen, das müsst Ihr mir glauben.“

„Offenbar nicht sorgfältig genug“, bemerkte der Fremde trocken. „Die Frau wäre beinahe von dem herabstürzenden Fass erschlagen worden.“ Er musterte den beleibten Mann finster.

Die Splitter der Fassbretter lagen auf dem Steg verstreut wie Knochen eines Skeletts. Der Rotwein versickerte wie Blut in die Planken des Stegs. Über der makaberen Szene zogen die Möwen ihre Kreise, deren Schreie wie Todesklagen klangen.

„Madame?“

Die Stimme des Fremden drang wie durch Nebel an Emmelines Ohr, der erst jetzt wirklich bewusst wurde, wie knapp sie dem Tod entronnen war. Da sie nicht reagierte, beugte er sich über sie, legte seine Hände unter ihre Achseln und zog sie auf die Füße.

„Monsieur!“, schrie sie aufbrausend, als sie seine Finger gefährlich nahe an den Unterseiten ihrer Brüste spürte. In ihrer Magengrube setzte ein Flattern ein, das sie hastig verdrängte. Sie wich ein paar Schritte zurückwich, nachdem sie auf den Füßen stand. „Fasst mich nicht an!“, zischte sie.

Er ließ sie jäh los. „Keine Sorge, Madame, ich habe nicht die Absicht, Nutzen aus Eurem ‚Gewerbe‘ zu ziehen.“ Der Blick seiner blauen Augen heftete sich verwirrend tief in die ihren. „Ich wollte mich nur vergewissern, dass Ihr sicher auf den Füßen steht.“

Emmeline richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, nur um festzustellen, dass ihr geradeaus gerichteter Blick bis zur Verschnürung seines Wamses reichte. Sie bog den Kopf in den Nacken, bebend vor Zorn. „Nun seht mich genau an!“ Sie stocherte mit dem Zeigefinger angriffslustig nach ihm, um diesen schwarzhaarigen Barbaren endgültig in seine Schranken verweisen. „Ihr habt wohl keine Augen im Kopf! Ich bin viel zu alt, um … um so eine zu sein!“

Die Mundwinkel des Fremden zuckten, dann erhellte ein breites Lächeln seine hageren Gesichtszüge. Diese Frau, die ihm kaum bis zu den Schultern reichte, amüsierte ihn – nein, sie weckte sein Interesse, dabei sollte er sie wegen ihrer Unbotmäßigkeit in Ketten legen lassen. Er musterte sie aus halb verhangenen Augen, wie sie aufrecht, stolz und störrisch vor ihm stand. Ihr auffallend goldblondes Haar war mittlerweile wieder unter der weiten Kapuze verborgen, ihre großen grünen Augen blitzten in ihrem schmalen alabasterhellen Gesicht, das in ihm den absurden Wunsch weckte, ihre Wange zu streicheln. Die verführerischen Rundungen ihrer zierlichen Figur unter dem weiten Umhang hatte er bereits ertastet. Als er sie auf die Füße zog, hatte sie sich leicht wie eine Feder angefühlt.

Er schüttelte den Kopf. „Ich muss Euch widersprechen, Madame.“ Seine tiefe melodische Stimme umschmeichelte Emmelines Ohr. „Mit Eurer Schönheit und Eurer Gestalt könnt Ihr einem Mann gewiss Vergnügen bereiten.“ Seine unverschämten Worte trafen sie wie Faustschläge und zerschmetterten ihre mühsam aufrecht erhaltene Beherrschung. Mit geballten Fäusten, die Wangen flammend rot übergossen, wich sie noch einen Schritt nach hinten.

„Ihr geht entschieden zu weit, Monsieur! Ihr solltet Euch schämen!“

Seine Miene blieb gleichmütig. Der Wutausbruch dieses kleinen Zankteufels war ihm eine willkommene Ablenkung nach der anstrengenden Überfahrt. Zerstreut fragte er sich, wie weit er sie reizen konnte, bevor sie die Beherrschung endgültig verlor.

„Nun, Monsieur? Was habt Ihr zu Eurer Rechtfertigung vorzubringen?“

Sie behandelte ihn wie ein Kind, verweigerte ihm beharrlich den nötigen Respekt, den ein Edelmann verdiente – nein, den sie im schuldete. Offenbar hatte sie keine Ahnung, wer er war und welchen Rang er repräsentierte.

„Seid Ihr immer so übellaunig und zänkisch?“

Die Knöchel ihrer geballten Fäuste schimmerten hell, so sehr drückte sie ihre Fingernägel ins Fleisch ihrer Handflächen. Am liebsten hätte er aufgelacht. Hatte sie tatsächlich die Absicht, ihn anzugreifen? Er zog hochmütig eine dunkle Braue hoch. Offenbar verstand sie den Wink, verzog die Mundwinkel und öffnete die Fäuste. Er beobachtete sie gelassen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, sich vor Frauen in Acht zu nehmen, deren geziertes Benehmen häufig ihr wahres Wesen verbarg. Aber dieses zierliche Geschöpf war keine Hure. Die heftige Röte aus Scham und Wut, die ihr zartes Gesicht bei seinen abfälligen Bemerkungen überflog, war ihm Beweis genug.

„Emmeline, Emmeline, was ist geschehen?“ Geoffrey eilte atemlos herbei. „Ich hörte den ohrenbetäubenden Krach im Lagerhaus … Oh, Lord Talvas, ich wünsche Euch einen guten Morgen.“ Zu Emmelines großem Erstaunen zog Geoffrey den Hut und verneigte sich ehrerbietig vor dem Fremden.

„Kennst du diesen Mann etwa?“, fragte Emmeline herrisch.

Geoffrey lächelte. „Aber natürlich. Wir überquerten gemeinsam den Ärmelkanal.“

„Auf meinem Schiff?“, hakte sie schneidend nach.

„Auf Eurem Schiff?“ Der Fremde zog eine Braue hoch. „Meint Ihr nicht das Schiff Eures Vaters? Oder das Eures Ehemanns?“

„Nein, ich spreche von meinem Schiff. Mein Schiff, das unter keinen Umständen fremde Passagiere aufnimmt. Wie kommt es, dass Monsieur Lecherche …?“

„Emmeline!“ Geoffreys sonst so ruhige Stimme hatte einen warnenden Unterton angenommen, als er sie am Ärmel zog. „Verzeiht, Mylord, ich habe versäumt, Euch vorzustellen.“ Er räusperte sich. „Lord Talvas of Boulogne, darf ich Euch Madame Emmeline de Lonnieres vorstellen? Sie ist die Eignerin der Belle Saumur.“

Enchanté“, murmelte Lord Talvas, streifte den Handschuh ab und ergriff mit warmen sehnigen Fingern Emmelines eiskalte Hand. Er wirkte allerdings keineswegs entzückt, als er sich über ihre Hand neigte, wobei ihm eine rabenschwarze Locke in die Stirn fiel. Emmeline widerstand dem Drang, ihm ihre Finger brüsk zu entziehen. Er hob den Kopf und begegnete ihrem argwöhnisch musternden Blick.

„Ihr hättet mich darüber aufklären sollen, wer Ihr seid, Madame“, sagte er mit leisem Vorwurf, während er versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Schließlich begegnete man nicht alle Tage einem weiblichen Schiffseigner.

„Ihr habt mir keine Gelegenheit gegeben mit Euren voreiligen Anschuldigungen.“ Die Brust wurde ihr seltsam eng, als sie erneut in den Bann seiner blauen Augen geriet, und sie war sich seines festen Händedrucks beklommen bewusst. Hastig entzog sie sich ihm und schlug die Augen nieder.

Geoffrey spürte die Spannung zwischen den beiden, ohne sich den Grund dafür erklären zu können. „Die Mutter von Lord Talvas ist die Schwägerin des Königs, Emmeline. Lord Talvas kehrt von einem Besuch seiner Ländereien in England zurück.“ Geoffrey legte großen Nachdruck in seine Worte.

„Und aus welchem Grund?“ Emmeline bemühte sich keineswegs, höflich zu sein, missachtete absichtlich Geoffreys ausdrücklichen Hinweis auf die verwandtschaftlichen Beziehungen dieses Rüpels mit König Henry und weigerte sich beharrlich, sich von seinem hohen Rang einschüchtern zu lassen. Immerhin gab es auch für den Adel Grundregeln der Höflichkeit.

„Emmeline, auf ein Wort.“ Geoffrey nahm sie beiseite. „Vielleicht hast du mich nicht richtig verstanden. Lord Talvas’ Schwester ist mit Stephen of Blois verheiratet, dem Enkelsohn von Wilhelm dem Eroberer. Du sprichst mit einer Königlichen Hoheit. Ich rate dir dringend, ihm den nötigen Respekt zu erweisen.“

„Pah, Respekt!“, zischte sie. „Dieser Mensch hat selbst keine Ahnung, was das Wort bedeutet. Der unverschämte Kerl hielt mich für eine Hafendirne …“

„So gern ich hier den ganzen Tag herumstehen und Höflichkeiten austauschen würde“, unterbrach Lord Talvas das leise geführte Gespräch, „doch ich muss mich verabschieden. Meine Pferde werden entladen.“

Zwei glänzend gestriegelte Pferde, eine kastanienbraune Stute und ein schwarzer Hengst, deren Geläuf mit Jutesäcken umwickelt war, um sie vor Verletzungen auf dem Seetransport zu schützen, wurden von einem hochgewachsenen blonden Mann behutsam an den aufgestapelten Kisten und Weinfässern an der Hafenstraße vorbeigeführt. Als er Lord Talvas erkannte, ließ er die Zügel los und winkte freudestrahlend herüber.

„Mylord! Welche Freude, dich zu sehen. Dem Himmel sei Dank, dass du wohlbehalten gelandet bist.“ Er schlug Lord Talvas mit derber Hand freundschaftlich auf den Rücken.

„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Guillame. Nimm die Zügel auf, bevor die Pferde durchgehen.“ Talvas erwiderte den Schlag auf die Schulter, eine kameradschaftlich vertrauliche Geste, die Emmeline verwunderte. „Woher weißt du, dass ich hier an Land gehe?“

Guillame schlang sich die Zügel um die Hand. „Ich wusste, dass du entweder in Boulogne oder in Barfleur landest. Die Gefolgsmänner deines Vaters warten in Boulogne, also nahm ich hier in Barfleur Quartier. Seit beinahe zwei Wochen komme ich jeden Morgen zum Hafen, um deine Ankunft zu erwarten.“

„Jeden Morgen?“, platzte Emmeline heraus, verblüfft über die Treue des Mannes. Nun entsann sie sich, sein offenes Gesicht gesehen zu haben … jeden Morgen. „Aber Ihr seid nicht auf Eurem Schiff gereist, Mylord?“ Sie wandte sich fragend an Lord Talvas. „Wieso habt Ihr mein Schiff genommen?“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und wartete auf eine Erklärung.

„Mein Schiff wurde auf der Überfahrt nach England beschädigt und muss repariert werden. Zum Glück begegnete ich Eurem Bootsführer Monsieur Lecherche, der sich bereit erklärte, mich mitzunehmen.“ Sein Blick heftete sich auf Emmelines volle Lippen, während er sich auf eine weitere respektlose Entgegnung von ihr gefasst machte.

„Damit hat er gegen meine Anweisungen verstoßen“, erwiderte Emmeline tadelnd. „Er ist nicht befugt, Passagiere mitzunehmen.“

„Nun, er hat für sein Entgegenkommen eine hübsche Summe verlangt. Aus meinem Unglück habt Ihr Gewinn geschlagen, Madame.“

„Es geht mir nicht um Gold. Ihr hättet irgendwer sein können ein … ein Pirat, der mir mein Schiff raubt.“ Emmeline wusste, dass ihr Einwand wenig überzeugend klang. In Wahrheit kam ihr jede Summe gelegen, da sie durch Giffards Misswirtschaft immer noch Schulden zu tilgen hatte.

Lord Talvas lächelte spöttisch, und hinter dem dunklen Schatten seines Stoppelbarts blitzten weiße Zähne. „Ich bin aber nicht irgendwer. Ich bin Talvas of Boulogne und kein Fremder für Euren Bootsführer.“ Er blickte ihr wieder tief in die Augen, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Nein, er war nicht irgendwer. Er war ein umwerfend gut aussehender Mann, vor dem sie sich in Acht nehmen musste. Sie verschränkte abweisend die Arme vor der Brust; seine verwirrende Wirkung auf sie schwächte ihr Selbstvertrauen.

Guillame ergriff das Wort und ersparte ihr eine Erwiderung. „Nach ein paar Tagen vergeblichen Wartens war mir klar, dass dein Schiff zu Schaden gekommen sein muss“, erklärte er. „Deshalb erkundigte ich mich bei den Schiffseignern, ob sie einen Transport aus England erwarteten. Wie sich herausstellte, wartete nur noch Madame de Lonnieres auf ihr Schiff.“ Nun entsann Emmeline sich, dass der junge Mann ihr vor ein paar Tagen Fragen gestellt hatte.

„Und mir war das Glück hold“, stellte Lord Talvas fest, den Emmelines finstere Miene erheiterte. Dieser Frau lag offenbar das Schicksal ihres Schiffes mehr am Herzen als das eines Menschen. „Wie gut, dass ich das letzte Schiff fand, das die Überfahrt noch vor den Winterstürmen wagte.“ Er wandte sich wieder an Guillame. „Erwartet man uns?“

„Morgen, Mylord. Ich habe eine Herberge im Ort gefunden.“ Guillame beschwichtigte die Pferde, als eine kreischende Schar Möwen dicht über ihre Köpfe flog, und lehnte seinen breiten Rücken gegen die unruhig tänzelnden Tiere. „Talvas, es ist etwas geschehen“, sagte er mit gedämpfter Stimme. „Aber ich weiß nicht, was es ist. Die Kaiserin verkündete gestern, sie beabsichtigt, so rasch wie möglich nach England zu reisen. Sie sucht dringend ein Schiff.“

Talvas’ Miene versteinerte. Er warf Emmeline und Geoffrey einen argwöhnischen Blick zu. „Morgen wird sie mich gewiss Näheres wissen lassen“, murmelte er und brachte Guillame mit einem warnenden Stirnrunzeln zum Schweigen. Dann tätschelte er sein Pferd, stellte den Fuß in den Steigbügel, schwang sich in den Sattel und hielt die Zügel straff. Der Faltenwurf seines blauen Umhangs breitete sich über den glänzenden Pferderumpf. Er setzte seinen zerbeulten, vom Salzwasser fleckigen Hut auf und blickte zu Emmeline herab. „Madame, ich verabschiede mich. Es war mir ein Vergnügen, das ich allerdings nicht wiederholen möchte.“ Damit lenkte er den Hengst durch die Menschenmenge, die sich am Hafen versammelt hatte, gefolgt von Guillame auf der braunen Stute.

„Ganz meinerseits“, murmelte Emmeline, an seinen breiten Rücken gerichtet.

„Du wirst es nicht glauben, Maman. Der unhöflichste Rüpel, der mir je begegnet ist!“ Emmeline saß auf dem Hocker und rieb sich die Arme, ihre Hände und Füße fühlten sich eiskalt und taub an vom langen Warten auf der Mole. Und sie war noch aufgewühlt von der unliebsamen Begegnung mit diesem Lord Talvas, der ihr schmachvoll bewiesen hatte, wie töricht ihr Vorsatz war, sich nie wieder von einem Mann einschüchtern zu lassen. Mit klammen Fingern tastete sie nach dem Amulett aus Jade an ihrem Hals. Es gab ihr Trost, den kostbaren Stein zu spüren, und sie dachte an die weisen Worte ihres Vaters. Anselm Duhamel hatte gelegentlich eines seiner Schiffe auf große Fahrt begleitet. Von einer Handelsreise nach Norden hatte er ihr die Halskette mitgebracht. Noch im gleichen Jahr war das Unglück geschehen. Sein Schiff zerschellte an der Felsenküste, und alle Mann an Bord ertranken. Das war kurz vor ihrem fünfzehnten Geburtstag gewesen. Emmeline hatte den schmerzlichen Verlust nie wirklich überwunden, was sie sich aber nur selten eingestand. Sie wusste jedoch auch, dass ihr Vater stolz auf sie wäre, weil sie sein Vermächtnis in Ehren hielt. Vorsichtig steckte sie das Amulett wieder in den Ausschnitt ihres hellgrünen Bliauts, jenes in der Taille geschnürten Übergewands.

„Halt still, Kind, sonst kann ich dein zerzaustes Haar nicht entwirren“, schalt ihre Mutter. Felice Duhamel zerrte unbarmherzig mit einem Hornkamm an den langen Locken. „Wie war gleich der Name des Mannes?“

Emmeline griff nach dem Becher mit gewürztem heißen Apfelmost. Der heiße Dampf wärmte ihr die Finger und das Gesicht. Vorsichtig nippte sie daran, um sich den Mund nicht zu verbrennen. Das süße Gebräu benetzte ihre Kehle und breitete eine wohltuende Wärme in ihr aus, wirkte wie Balsam auf ihren inneren Aufruhr.

„Emmeline?“

„Sein Name ist Lord Talvas of Boulogne. Ich habe noch nie von ihm gehört, aber Geoffrey meint, ich müsse ihn kennen.“

Das Zerren hörte auf.

Maman?“ Emmeline drehte sich über die Schulter zu ihrer Mutter um, die schreckensbleich geworden war. In der engen Stube war es halbdunkel. Draußen hatten sich graue Wolken vor die Sonne geschoben, es würde bald regnen.

„Guter Gott, Emmeline, was hast du zu ihm gesagt? Lord Talvas ist aus königlichem Geblüt … du weißt, wer sein Schwager ist …“

„Ja, das weiß ich, Maman“, fiel Emmeline ihr ins Wort. „Er ist ein angeheirateter Neffe des Königs von England und Herzogs der Normandie …“

„Er hätte dich in den Kerker werfen können wegen deiner Aufsässigkeit.“

Emmeline stellte den Becher hart auf den hell gescheuerten Eichentisch, sprang auf und zog an dem Kamm, der sich im Gewirr ihrer Haare verheddert hatte. Ihre grünen Augen funkelten vor Zorn bei dem Gedanken an den abscheulich hochnäsigen Kerl. Durch das hastige Aufspringen fuhr ihr ein stechender Schmerz in den verletzten Fußknöchel, sie suchte Halt am Küchentisch, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.

„Ich weiß nur, Mutter, dass er mich beschuldigte … ein loses Frauenzimmer zu sein.“ Da! Sie hatte es ausgesprochen.

Ihre Mutter starrte sie mit offenem Mund an. „Mein Gott, Emmeline!“ Felice griff nach den kalten Händen ihrer Tochter. „Was hast du getan? Lieber Himmel, es ist alles meine Schuld. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass du mit offenem Haar aus dem Haus läufst.“

Emmeline biss sich schuldbewusst auf die Unterlippe. Sie hätte ihre Mutter nicht aufregen dürfen, die furchtbar unter dem Verlust ihres Ehemanns gelitten hatte und nach seinem Tod tagelang weinend im Bett lag. Emmeline war stets bemüht, ihr keinen Kummer zu bereiten, wollte sie trösten und beschützen. Nun ging sie vor ihr in die Knie und nahm sie bei den Händen. „Nimm es dir nicht zu Herzen, Mutter. Er hat gewiss bereits vergessen, dass ich überhaupt existiere. Im Übrigen wurde das Missverständnis mit Geoffreys Unterstützung aufgeklärt, der ihm sagte, wer ich bin. Wahrscheinlich sehe ich den Mann nie wieder in meinem ganzen Leben.“ Sie richtete sich auf und nahm ihre Mutter in die Arme. „Willst du mir das Haar weiter kämmen und zu einem ordentlichen Zopf flechten?“ Sie reichte Felice den Kamm und setzte sich wieder ans Feuer.

Felice musterte ihre Tochter bang, bevor sie den Kamm wieder durch das lange blonde Haar zog. Sie kannte diesen eigensinnigen Ausdruck und wusste, dass sie vergeblich auf weitere Einzelheiten des peinlichen Vorfalls warten würde. Mit der gleichen störrischen Verschlossenheit reagierte Emmeline, wenn Felice ihr Fragen über ihre Ehe mit Giffard de Lonnieres stellte. Über diese Verbindung schwieg sie wie ein Grab. Felice war jedoch nach wie vor der Überzeugung, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, Emmeline damals mit Giffard verheiratet zu haben, als der reiche Kaufmann zwei Jahre nach Anselms Tod um ihre Hand angehalten hatte. Felice war immer davon ausgegangen, Emmeline führe eine glückliche Ehe. Als aber Giffard bei einem Jagdunfall ums Leben kam, hatte Emmeline seltsam ungerührt, ja erleichtert gewirkt.

Nachdem das Haar ihrer Tochter zu zwei dicken Zöpfen geflochten war, die ihr wie goldene Stränge über den Rücken hingen, nahm Felice einen dichten Leinenschleier aus dem Weidenkorb und befestigte ihn unter einem schmalen Goldreif auf ihrem Scheitel, den sie mit Nadeln feststeckte. Dabei nahm sie sich fest vor, Emmeline nie wieder mit offenem Haar aus dem Haus zu lassen. Welche Schande!

„Geoffrey brachte mir eine Nachricht von Sylvie“, begann Emmeline nach einer Weile und brach das Schweigen. Sie holte das knisternde Pergament aus dem Beutel an ihrem Gürtel. Mittlerweile war es draußen noch dunkler geworden. Der Regen prasselte leise gegen die straff gespannte Ziegenhaut an den Fensteröffnungen.

„Was schreibt sie?“, fragte Felice teilnahmslos. Sie hatte ihrer ältesten Tochter nie verziehen, ihr Kind im Stich gelassen zu haben.

„Es scheint ihr nicht gut zu gehen in England, Maman. Ich werde sie besuchen.“

„Wieso eigentlich? Sylvie hat sich dafür entschieden, Barfleur und uns den Rücken zu kehren mit … diesem Mann. Und sie hat ihr Kind im Stich gelassen.“ Felice stocherte mit dem Schürhaken aufgebracht in der Glut. Ein Funkenregen stieg auf, die Flammen züngelten am Wasserkessel hoch, der über dem Feuer hing. Der würzige Duft nach frisch gebackenem Brot im Ofen erfüllte die Stube.

Emmeline wandte sich wieder an ihre Mutter. Ihr großen grünen Augen glänzten in ihrem bleichen, herzförmigen Gesicht. „Weil sie deine Tochter und meine Schwester ist. Weil wir die Pflicht haben, uns um sie zu kümmern, trotz allem, was sie sich zuschulden kommen ließ.“

„Du hast ein gutes Herz, mein Kind“, entgegnete Felice ungerührt. „Aber wenn ich daran denke, was sie uns angetan hat …“, sie schüttelte den Kopf, „… fällt es mir schwer, ihr zu verzeihen.“

„Sie konnte doch nicht wissen, dass die kleine Rose krank wird. Es war nicht ihre Schuld.“

Felice nickte stumm und holte einen runden Laib mit brauner Kruste aus dem Ofen. Emmelines Magen begann zu knurren. Sie war seit dem Morgengrauen auf den Beinen, ohne etwas gegessen zu haben.

„Aber wie willst du nach England kommen?“ Felice schnitt das Brot in dicke Scheiben und hob jäh den Kopf. „Eine Überfahrt um diese Jahreszeit ist doch kaum möglich, ganz zu schweigen von der Rückfahrt.“

„Ich habe eine Idee, Mutter“, sagte Emmeline gedehnt und biss herzhaft in das frische Brot. Sie entsann sich der rätselhaften Bemerkung des jungen Gefährten von Lord Talvas unten am Hafen. „Ich habe das Gefühl, Kaiserin Maud ist auf der Suche nach einem Schiff, das sie nach England bringt.“

Felice entfuhr ein spitzer Schrei. Sie umklammerte die Rückenlehne des Stuhls. Die einzige Tochter von König Henry, Kaiserin Maud, hatte einen furchteinflößenden Ruf und war für ihre Grausamkeit berüchtigt.

„Emmeline, mit solch einer hochgestellten Persönlichkeit hast du nichts zu schaffen. Halte dich von ihr fern! Wieso will sie ausgerechnet jetzt den Kanal überqueren? Gott weiß, was passieren kann. Es ist viel zu gefährlich.“

Emmeline zuckte gleichmütig mit den Achseln. „Nichts wird passieren, Mutter. Und es geht mich nichts an, aus welchem Grund sie nach England will. Ich weiß lediglich, dass sie einen guten Preis bezahlen wird, vorausgesetzt, ich finde eine erfahrene Mannschaft.“ Lecherche würde in diesem Jahr keine Fahrt mehr wagen, den brauchte sie erst gar nicht zu fragen. Für ihn war das Wetter schon jetzt zu unbeständig und die Strömungen zu gefährlich gewesen. Aber es gab andere Bootsführer, die sie fragen konnte. Mit etwas Glück könnte sie Sylvie schon in einer Woche besuchen.

„Morgen reite ich nach Torigny“, verkündete sie zwischen zwei Bissen.

3. KAPITEL

Kaiserin Maud saß auf einem gepolsterten Hocker am Bett ihres Vaters König Henry. Besorgt nahm sie seine wächserne knochige Hand und schüttelte den Kopf.

„Ich verstehe diese plötzliche Krankheit nicht, Robert“, sagte sie leise an ihren hageren Halbbruder gerichtet, der an einem der hohen schmalen Fenster des Turmgemachs stand. „Heute früh auf der Jagd war er noch völlig gesund und munter.“

Robert löste den Blick von den kahlen Bäumen des ausgedehnten Laubwalds, und drehte sich um. Sein Haar, das er nach normannischer Art kurzgeschnitten trug, wies den gleichen kastanienbraunen Schimmer auf wie das seiner jüngeren Schwester. Der Earl of Gloucester war seinem hohen Rang entsprechend prächtig gekleidet. Seine eng anliegenden grünen Beinkleider aus feinster Wolle waren vom Knie abwärts mit Lederriemen verschnürt, bis hin zu den knöchelhohen Stiefeln aus weichem Ziegenleder. In dem überheizten Gemach hatte er seine dunkelbraune Tunika abgelegt. Das fein gewebte weiße Leinenhemd stach hell von den feucht glänzenden grauen Mauern ab. Umhang und Schwert hatte er in der Großen Halle abgelegt, als er dabei half, seinen kranken Vater die steinerne Wendeltreppe drei Stockwerke hinauf in den Ostturm zu tragen.

„Offenbar wurde er von einem unerklärlichen Fieber befallen“, stellte Robert fest. „Wir können nichts dagegen tun, Maud. Auch der Arzt ist ratlos.“

Beim Jagdausflug an diesem Morgen war der König plötzlich krank geworden. Robert, der einen Hirsch verfolgte, hatte sich nach seinem Vater umgedreht und ihm zugewinkt, ihm zu folgen. Das bleiche Gesicht des Königs hatte ihm einen Schrecken eingejagt. Noch während Robert kehrtgemacht und vom Pferd gesprungen war, geriet Henry ins Wanken, glitt aus dem Sattel und stürzte ohnmächtig zu Boden.

„Also müssen wir mit seinem Tod rechnen.“ Mauds Worte hallten dumpf von den runden Mauern des Turmgemachs wider, ihre Besorgnis um ihren kranken Vater war nicht zu überhören. Sie hatte ihr Jagdkostüm abgelegt und trug ein wallendes Gewand aus hellrotem Samt, das ihren üppigen Rundungen schmeichelte. Ihre ehemals zierliche Figur, ein Erbgut ihrer Mutter, der angelsächsischen Königin Edith, war seit der Geburt ihres zweiten Sohnes ziemlich unförmig geblieben. Zudem hatte sie die seitlichen Bänder des Bliauts zu eng über ihre Leibesmitte geschnürt.

Die mit kostbaren Juwelen besetzten Ringe an ihren kurzen Fingern funkelten im Widerschein des Feuers. Der in aller Eile herbeigerufene Leibarzt des Königs hatte Anweisung gegeben, das Feuer im Kamin zu schüren, damit die Hitze das Fieber austreibe. Nun prasselten dicke Scheite im mannshohen Steinkamin, in dessen Einfassung kunstvoll verschlungene Ornamentmuster eingemeißelt waren. Maud erhob sich schwerfällig, beugte sich über ihren Vater und küsste ihn auf die bleiche Stirn.

„Denk an dein Versprechen, Vater, das Versprechen, das du mir gegeben hast“, flüsterte sie. Das verächtliche Schnauben vom Fenster her ließ sie die Stirn runzeln.

„Als hättest du ihm je Gelegenheit gegeben, es zu vergessen“, spöttelte Robert und verzog die Mundwinkel. „Haben nicht genug Edle einen Eid darauf geleistet?“

„Ich will es nur noch einmal aus seinem Mund hören!“, entgegnete Maud gereizt.

Autor

Meriel Fuller
Meriel Fuller verbrachte ihre frühe Kindheit als echte Leseratte. Nach der Schule ging sie stets in die Stadtbücherei, wo ihre Mutter als Bibliothekarin arbeitete und las sich fröhlich durch die historischen Liebesromane. Ihre Liebe zur Vergangenheit hat sie von ihrem Vater, ein eifriger Hobby-Historiker, der Meriel und ihre Schwester auf...
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