Historical Lords & Ladies Band 70

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

LOTTERIE DER LIEBE von CORNICK, NICOLA
Endlich lacht das Glück der entzückenden Amy Bainbridge, als sie in der Lotterie ein Vermögen gewinnt. Unter den begehrtesten Junggesellen Londons kann sie nun wählen - doch ihr Herz gehört nur dem Earl of Tallant. Mit ihm schwebt sie im siebten Himmel, bis böse Gerüchten sie auf den harten Boden der Tatsachen zurückholen: Es heißt, der Earl sei dem Glücksspiel verfallen und bleibe keiner Dame lange treu...

DAS LANDMÄDCHEN UND DER LORD von HERRIES, ANNE
Liebesträume im Walzertakt - Susannah genießt ihre erste Saison in London. Dass ausgerechnet der attraktive Lord Harry Pendleton um ihre Hand anhält, versetzt die Schönheit vom Lande allerdings in Unruhe. Er ist zwar eine blendende Partie, doch da ist diese seltsame Kühle in seinen Blicken … Was, wenn es Susannah niemals gelingt, in ihrem Ehemann die Wärme wahrer Liebe, das Feuer echter Leidenschaft zu entfachen?


  • Erscheinungstag 02.11.2018
  • Bandnummer 0070
  • ISBN / Artikelnummer 9783733779924
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Nicola Cornick, Anne Herries

HISTORICAL LORDS & LADIES BAND 70

1. KAPITEL

Es müssen nicht vier Kerzen brennen, Amy“, sagte Lady Bainbridge in sanft tadelndem Ton und setzte sich ihrer Tochter gegenüber an den Tisch. „Zwei reichen zum Arbeiten.“

Amy beugte sich zu dem Leuchter vor und blies zwei der Flammen aus. Durch das diffuse Licht hatte sie bereits Kopfschmerzen bekommen. Seit die Familie nach dem Tod des Vaters vor zwei Jahren verarmt war, achtete die Mutter selbst auf die kleinste Ausgabe und versuchte zu sparen, wo immer es ging. Aus Sorge, sich die Augen zu verderben, faltete Amy den alten Schal, den sie, um ihn hübscher zu machen, mit einem Fransenbesatz versah, säuberlich zusammen und legte ihn mitsamt Garn und Häkelnadel in die Schublade des Nähtisches. Es war lange her, seit sie ihre Garderobe zum letzten Mal durch elegante Accessoires bereichert oder gar ein Kleid erstanden hatte. Daher bemühte sie sich, ihren vorhandenen Bestand mit Spitzen und Stickereien zu schmücken, um das Gefühl zu haben, etwas Neues zu besitzen, auch wenn die von ihr erzielten Ergebnisse nicht immer ihren Vorstellungen entsprachen. Sie war sich bewusst, dass sie in ihren aufgebesserten Sachen auf gesellschaftlichem Parkett unangenehm auffallen würde, doch zum Glück gab es nur wenige Anlässe, bei denen sie genötigt war, eine gute Figur zu machen.

Der Abend war nicht abwechslungsreicher verlaufen als mehr oder weniger jeder andere vor ihm. Nach dem kargen Abendbrot, das sie mit der Mutter eingenommen hatte, war man in die Stube gegangen und hatte sich beschäftigt. Das Geld, um ausgehen zu können, war nicht vorhanden, und da die Mutter aus Gründen der Kostenersparnis keinen gesellschaftlichen Umgang mehr pflegte, hatte sich auch kein Besucher eingefunden.

Amy gähnte und äußerte: „Ich gehe zu Bett, Mama.“

„Wie du willst, mein Kind“, erwiderte Lady Bainbridge stirnrunzelnd. „Aber lass bitte das Nachtlicht im Flur stehen. Ich bleibe noch auf, um sicher zu sein, dass Richard, wenn er zu Bett geht, nicht wieder vergisst, die Haustür abzusperren“, fügte sie seufzend hinzu. „Sonst könnte jeder Hergelaufene bei uns eindringen und etwas stehlen.“

Amy hätte sich nicht gewundert, wenn der stets reichlich dem Alkohol zusprechende Bruder nicht daran gedacht hätte, abzuschließen. Die Gefahr jedoch, dass ein Dieb sich an den Habseligkeiten der Familie vergreifen könnte, war weitaus geringer, da der Geiz der Mutter selbst in der Unterwelt schon sprichwörtlich sein musste. Schließlich waren alle Wertgegenstände vom Vater versetzt oder verkauft worden und die finanziellen Verhältnisse in den vergangenen zehn Jahren oft so beengt gewesen, dass man sogar Mühe gehabt hatte, die geringe Miete für das kleine Haus in der Curzon Street aufzubringen, das Mr. Cornack, ein langjähriger Freund der Familie, ihnen überlassen hatte. Das Personal war reduziert worden und bestand nur noch aus zwei Dienstmädchen, der Wirtschafterin, die gleichzeitig die Aufgaben der Köchin wahrnahm, und dem Kammerdiener des Bruders. Auch auf die beiden Kutschen hatte man verzichten müssen, da man nicht mehr in der Lage gewesen war, die Haltungskosten für die Pferde zu tragen. Die Tiere waren am Ende so abgemagert gewesen, dass man befürchten musste, sie könnten eines Tages entkräftet im Geschirr zusammenbrechen. Über diese Vorstellung war die Mutter so entsetzt gewesen, dass sie aus Angst, sich in der Öffentlichkeit lächerlich zu machen, eingewilligt hatte, sich von den bedauernswerten Kreaturen und den Fahrzeugen zu trennen.

„Mir wäre es lieber, Mama, du würdest nicht warten, bis Richard zu Bett geht“, äußerte Amy ruhig. „Du weißt, dass Marten sich um ihn kümmert. Im Übrigen werden die Herren bestimmt bis in die frühen Morgenstunden spielen, was bedeutet, dass du hier einschläfst. Wenn du dann aufwachst, hast du dir die Frisur ruiniert und außerdem Nackenschmerzen.“

Die Mutter war zwar noch immer eine ansehnliche Frau und bemüht, sich ihre Schönheit so lange wie möglich zu bewahren, doch es ließ sich nicht leugnen, dass sie, seit sie Witwe war, mehr und mehr verblasste. Ihr braunes Haar war stumpf geworden. Sie hatte sehr abgenommen und inzwischen auch einen verbitterten Zug um den Mund.

„Oh, das habe ich nicht berücksichtigt“, erwiderte sie irritiert. „Aber ohne den Roman, den ich lese, um müde zu werden, kann ich nicht schlafen gehen.“

„Und wo ist das Buch?“

Suchend schaute Lady Bainbridge sich um. „Ich glaube, ich habe es im Empfangszimmer liegen gelassen“, murmelte sie. „Wie dumm von mir! Jetzt muss ich wirklich warten, bis dein Bruder seine Gäste verabschiedet hat, damit ich es holen kann.“

Es war ungewöhnlich, dass Richard seine Bekannten daheim empfing, da er es im Allgemeinen vorzog, bei White’s oder Boodle’s zu spielen. Amy erinnerte sich nicht, wann er zum letzten Mal Besuch gehabt hatte.

„Lass es dir von Prudence bringen“, schlug Amy vor. Prudence Quiller war eine Furcht einflößende Person, die ebenso gut zur Zofe wie zur Wischmagd taugte und ständig alles missbilligte. Im Stillen schmunzelte Amy bei dem Gedanken, wie Prudence auf den Anblick der Herren reagieren würde.

Lady Bainbridge strahlte, setzte dann jedoch ein bekümmertes Gesicht auf. „Oh ja! Das ist ein guter Einfall! Oh nein! Das geht nicht! Nachdem Prudence von einem von Richards Bekannten ins Gesäß gekniffen wurde, hat sie geschworen, nie den Fuß in einen Raum zu setzen, wo er und seine Gäste sich aufhalten. Sie hat dem Frechling eine Moralpredigt gehalten und ihn sowie alle anderen Anwesenden Wüstlinge und Tunichtgute genannt!“

„Der Mann hatte Mut!“, meinte Amy, fand die Vorstellung, dass einer von Richards Freunden der spitzgesichtigen Miss Quiller Avancen gemacht haben sollte, jedoch reichlich abwegig. Zweifellos hatte derjenige schon zu viel getrunken. „Nun, dann schick Marten“, fuhr sie fort. „Ich bezweifle sehr, dass man ihn in den Allerwertesten kneifen wird.“

„Natürlich nicht, aber er ist heute Abend bei seiner Schwester und noch nicht zurück.“

„Das Problem sollte doch zu lösen sein, Mama!“, erwiderte Amy ungehalten. „Lies doch einfach etwas anderes.“

Lady Bainbridge machte ein missmutiges Gesicht. „Oh nein, Amy! Du weißt, es gibt Lektüre, die kann man nur tagsüber lesen, und andere abends. Man kann sie nicht einfach austauschen.“

Amy stand auf, legte sich den Schal um und äußerte: „Also gut, dann gehe ich das Buch holen. Ich bin gleich wieder da.“

„Oh, Amy, mein Schatz!“, rief ihre Mutter entsetzt aus. „Du kannst nicht in den Empfangssalon gehen! Die Herren sitzen doch beim Kartenspiel!“

„Das ist mir geläufig, Mama.“ Amys Miene verhärtete sich. „Ich vermute, Richard und seine Gäste werden so beschäftigt sein, dass sie mich gar nicht bemerken. Folglich wird keiner von ihnen mir gegenüber zudringlich werden.“

„Du hast recht, bisher hat noch nie ein Gentleman Interesse an dir bekundet!“, murmelte Lady Bainbridge. „Doch das gehört jetzt nicht hierher. Du kannst einfach nicht in ein Zimmer gehen, das voller Männer ist.“

„Einer davon ist mein Bruder, Mama“, sagte Amy trocken. „Sollte irgendetwas Unschickliches sich ereignen, werde ich ihn umgehend zu Hilfe bitten.“

Sie zog den Schal fester um die Schultern, verließ das Zimmer und begab sich nach unten ins Entree. Auf einem Konsoltisch am Fuß der Treppe stand ein Leuchter mit brennender Kerze. Als Amy sich im Wandspiegel darüber erblickte, fand sie, dass sie wie eine der Mumien aussah, die sie im vergangenen Jahr in der Ägypten-Ausstellung bestaunt hatte. Der Schal war breit, da sie sich gern in viel Stoff hüllte, um sich vor der Kälte, die gewöhnlich im Haus herrschte, zu schützen. Die Menge des Heizmaterials hing nämlich von der Menge des Geldes ab, das der Bruder verspielte.

Stimmen und Lachen drangen in den Gang, während sie sich dem Empfangssalon näherte. Es war, wie die Mutter bemerkt hatte, unpassend für eine unverheiratete Frau, einen Raum zu betreten, in dem sich ausschließlich Gentlemen aufhielten. Amy war jedoch der Ansicht, dass ihr Anblick kaum die Leidenschaft eines der betrunkenen Spieler wecken würde. Die meisten waren so konzentriert bei der Sache, dass sie Amy gar nicht bemerken würden, und für diejenigen, die sie vielleicht doch zur Kenntnis nahmen, war sie nur Richards langweilige Schwester, denn sie entsprach nicht dem gängigen Schönheitsideal.

Sie war eben unscheinbar und zurückhaltend. In der einzigen Saison, die sie in London verbracht hatte, war sie so still gewesen, dass einige unfreundliche Leute sie eine Langweilerin genannt hatten. Eine weitere Saison hatte es nicht für sie gegeben und somit auch keine Verehrer.

Sie machte die Tür auf und lugte ins Zimmer. Das Bild, das sich ihr bot, war genau so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Die Luft war rauchgeschwängert und stickig. Durch das flackernde Kaminfeuer und die zahlreichen brennenden Kerzen war der Raum warm und hell. Sparsamkeit wurde hier nicht praktiziert. Ihr Bruder, der eine leere Cognacflasche und ein Holzkistchen mit Spielmarken neben sich stehen hatte, saß lässig und mit gerötetem Gesicht im Sessel und hielt den Würfelbecher in der Hand.

Amy kannte zwei der Gäste. Lord Humphrey Dainty, dem der Schweiß auf der Stirn stand, hatte seinen Mantel verkehrt herum an und war so betrunken, dass er Gefahr lief, aus dem Sessel zu rutschen. Mr. Albert Hallam trug einen breitkrempigen Strohhut, der mit weitaus mehr Bändern und Blümchen verziert war als jede Kopfbedeckung, die Amy besaß. Sie schüttelte leicht den Kopf. Die Mutter war schon abergläubisch, aber die lächerlichen Rituale von Kartenspielern waren noch absurder. Mr. Hallam schien nicht aufzufallen, dass seine Vorsichtsmaßnahmen ihm nie zum gewünschten Erfolg verhalfen.

Amy ließ den Blick zu den beiden anderen, ihr unbekannten Herren schweifen. Einer war hoch gewachsen und blond, machte einen sympathischen Eindruck und schien etwas nüchterner zu sein als die übrigen Herren. Der durch die offene Tür dringende Windzug brachte die Kerzenflamme ins Flackern, und genau in diesem Moment schaute der andere Fremde auf. Sein Blick verweilte auf Amys Gesicht. Amy erschrak leicht, nicht nur, weil seine Augen einen ungewöhnlichen braunen Farbton hatten, sondern weil er sie betrachtete. Sie war daran gewöhnt, dass die Leute sich nicht für sie interessierten. Der Fremde jedoch musterte sie nachdenklich und zog leicht die Brauen hoch. Sie raffte den Schal fester um sich und hoffte, möglichst unscheinbar zu wirken.

Es fiel ihr schwer, den entspannt im Sessel sitzenden Mann nicht anzustarren. Er war älter als ihr vierundzwanzigjähriger Bruder, vielleicht um die dreißig, hatte den Gehrock ausgezogen und ein Bein über das andere geschlagen. Er besaß ein perfekt geschnittenes Gesicht und war zweifellos der attraktivste Mann, der ihr je vor die Augen gekommen war. Im Gegensatz zu den anderen Spielern lagen neben ihm ein großer Haufen Goldmünzen und mehrere Spielmarken auf dem Tisch.

Er lächelte Amy an und strich sich das Haar aus der Stirn. Missbilligend furchte Amy die Stirn. Es lag ihr fern, einen der Spieler dazu zu ermutigen, ihr Aufmerksamkeit zu schenken.

Richard stellte eine weitere Flasche Cognac auf den Tisch. „Schenkt euch nach! Ihr beide hinkt hinterher!“ Die Flasche wackelte und wäre beinahe umgefallen. Richard schaute auf, bemerkte Amy und grinste. Sein rötliches Haar schimmerte im Kerzenlicht, und mit seinen blauen Augen lachte er sie an.

„Was willst du hier, Amy? Möchtest du wissen, wie viel ich schon verloren habe? Tallant ist schuld an meinen Verlusten. Er hat eine Glückssträhne.“

Amy riss den Blick von dem Fremden mit dem kastanienbraunen Haar los, lächelte höflich und ging langsam weiter ins Zimmer. Die Mutter hatte ihr gesagt, das Buch läge auf der Fenstersitzbank. Die dicken roten Portièren waren jedoch zugezogen, sodass Amy nicht erkennen konnte, welches Fenster die Mutter gemeint hatte. Richards Gäste wurden jetzt auf sie aufmerksam, und das war ihr unangenehm. Lord Humphrey Dainty legte den Kopf auf den Arm und murmelte: „Ihr Diener, Miss Bainbridge. Ihr Diener, Madam.“ Mr. Hallam sprang auf und wäre, als er sich verbeugte, fast vornüber gestürzt. Amy streckte die Hand aus und drückte ihn sanft in den Sessel zurück. Sie kannte ihn seit der Kindheit. In den vergangenen sieben Jahren hatte er ihr in regelmäßigen Abständen einen Heiratsantrag gemacht. Daher hielt sie es für überflüssig, die Form zu wahren.

„Guten Abend, Miss Bainbridge. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“

Der blonde Herr, der rechts neben Richard saß, war aufgestanden und verneigte sich. Sein Blick war belustigt, und irgendwie fand Amy ihn sympathisch. Das war ihr nicht recht, denn die Bekannten ihres Bruders waren alle Taugenichtse und Tunichtgute, die nichts Positives für sich ins Feld zu führen hatten. Dennoch erwiderte sie sehr schüchtern das Lächeln des Gentleman.

„Vielen Dank, Sir. Meine Mutter hat hier ein Buch vergessen und meint, nicht einschlafen zu können, wenn sie es nicht hat.“

„Auf der Fensterbank hinter dir liegt eins, Sebastian“, sagte der Mann mit den kastanienbraunen Haaren. „Es ist mir aufgefallen, als ich ins Zimmer kam.“

Er machte keine Anstalten, bei der Suche zu helfen, sondern lehnte sich im Sessel zurück und beobachtete die anderen Anwesenden mit leicht spöttischem Blick. Amy empfand eine seltsame Mischung aus Neugier und Abneigung und kam sich trotz des dicken, anständigen Kleides und des sie umhüllenden Schals sehr verwundbar vor. Sie war erleichtert, als der hoch gewachsene Herr das Buch ihrer Mutter hinter dem roten Vorhang hervorzog und es ihr mit einer weiteren leichten Verneigung überreichte.

„Ich glaube, Sie haben das hier gesucht, Miss Bainbridge. Meine Empfehlungen an Ihre Mutter. Ich hoffe, die Lektüre hilft ihr einzuschlafen.“ Er lächelte Amy an. „Sebastian, Duke of Fleet, zu Ihren Diensten.“

Der Duke of Fleet! Es gelang Amy, ein regloses Gesicht zu wahren. Wie Äußerlichkeiten doch täuschen konnten! Worauf hat sich Richard bloß eingelassen, dachte sie. Seine Gnaden und dessen Freunde galten als eingefleischte Spieler, die den Ruf hatten, Anfänger gnadenlos auszunehmen. Richard konnte man zwar nicht als einen solchen bezeichnen, denn als Sohn seines Vaters, eines berüchtigten Spielers, war er schon mit achtzehn Jahren in dessen Fußstapfen getreten und folglich kein Amateur mehr. Dennoch wusste Amy, dass er sich bislang nicht mit Leuten wie dem Duke of Fleet und dem Earl of Tallant abgegeben hatte. Beide verkehrten mit zwielichtigen Gestalten wie Golden Ball und Scrope Davies, Männern, die Tausende von Guineen an einem Abend verspielten. Solche Verluste konnte Richard sich nie erlauben.

Wider Willen richtete Amy den Blick auf den Gentleman mit den kastanienbraunen Haaren, der sie immer noch beobachtete. Sie drückte den Roman an die Brust und war lächerlicherweise verlegen. Wenn der Mann, der sich ihr gerade vorgestellt hatte, der Duke of Fleet war, dann musste der andere der Earl of Tallant sein.

Der Herr erhob sich und machte eine leichte Verbeugung. „Jonathan, Earl of Tallant, zu Ihren Diensten, Miss Bainbridge“, sagte er, als habe er ihre Gedanken erraten. Seine Stimme hatte ein angenehmes Timbre, das Amy einen wohligen Schauer verursachte. Sie hatte einiges über den Erben des Marquess of Landor gehört. Wer nicht? Die Spielleidenschaft war angeblich nicht einmal sein größtes Laster. Er war darüber hinaus ein reichlich dem Alkohol zusprechender Weiberheld, der noch andere Untugenden hatte, über die man nur hinter vorgehaltener Hand flüsterte. Als junger Mann war er von seinem Vater, weil er horrende Spielschulden gemacht und seine Familie beinahe ruiniert hatte, aus dem Haus gejagt worden. Im Ausland hatte er einen weiteren Skandal verursacht, weil er mit der Gattin seines Gastgebers durchgebrannt war. In den folgenden fünf Jahren war er immer wieder in schockierende Vorkommnisse verwickelt gewesen. Der Duke of Fleet galt als exzellente Partie, der durch die Liebe einer anständigen Frau auf den rechten Weg zurückgeführt werden konnte, doch auf den Earl of Tallant traf das nicht zu. Mütter pflegten ihre heiratsfähigen Töchter mit einem leisen Entsetzensschrei aus seinem Weg zu scheuchen, statt sie ihm vor die Nase zu schubsen.

Amy bemerkte, dass er sie erneut von Kopf bis Fuß musterte, mit einem so dreisten Blick, dass sie Herzklopfen bekam. Sie war überhaupt nicht daran gewöhnt, auf diese unverschämte Weise begutachtet zu werden. Normalerweise sahen Männer nur attraktive Frauen so an. Unbehaglich zupfte sie an ihrem Kleid, damit ihre Fußgelenke bedeckt waren. Es war ein bisschen zu kurz, da sie es schon seit vier Jahren besaß und noch ein Stück gewachsen war. Ein Lächeln erschien um die Mundwinkel des Earl, als er ihre Verlegenheit bemerkte.

Ungeduldig schüttelte Richard den Würfelbecher. „Sie sagen an, Mylord. Wer geht mit?“

„Ich bin pleite“, murmelte Lord Humphrey. „Tallant hat mir alles abgenommen.“

„Ich passe“, äußerte Albert Hallam düster. „Ich habe keinen Penny mehr.“

„Entschuldigen Sie mich“, murmelte Amy hastig und lächelte den Duke of Fleet an, der herbeigekommen war und ihr die Tür geöffnet hatte. Ganz bewusst vermied sie es, dem Earl of Tallant noch einen Blick zuzuwerfen, und eilte in das kühle Entree.

Die Mutter stand wie ein Gespenst am Fuß der Treppe. „Oh, Amy, mein Schatz! Du warst so lange fort! Ich habe mich gefragt, was mit dir los ist. Ist alles in Ordnung?“

„Oh ja, Mama“, antwortete Amy fröhlich und verdrängte die Gedanken an Lord Tallant. „Mir ist überhaupt nichts passiert.“

„Mr. Hallam hat dir keinen Heiratsantrag gemacht?“

„Nein, Mama. Er war zu beschäftigt.“

„Wie schade.“ Lady Bainbridge seufzte. „Dann hätte ich ein Maul weniger zu stopfen gehabt.“ Sie ergriff Amy am Arm. „Wie viele Kerzen brennen?“

„Oh, nur zwei oder drei“, log Amy unbekümmert. „Kein Grund zur Sorge, Mama.“

„Und das Kaminfeuer?“

„Ja. Im Kamin brennt ein kleines Feuer.“

„Warum muss Richard im Mai heizen?“, jammerte die Mutter. „Das ist so teuer!“

„Nun, abends ist es ziemlich kühl, Mama.“ Amy fröstelte. „Bitte, reg dich nicht auf. Ich bin sicher, Richard streicht große Gewinne ein.“

Lady Bainbridges Miene erhellte sich. „Oh, glaubst du das, mein Schatz? Ja, dein Bruder ist wirklich wie sein Vater. George war ein hervorragender Spieler, der mir von seinen Gewinnen dauernd Schmuck gekauft und Geschenke gemacht hat. Nun, wenn das der Fall ist, können wir alle beruhigt sein. Hast du das Buch gefunden?“

Amy hielt es der Mutter hin. „Ja, hier, Mama. Wie du gesagt hast, es lag auf der Fensterbank.“

Lady Bainbridge blickte auf das Bändchen und zuckte zurück. „Oh, aber das ist das Buch, das Lady Ashworth letzte Woche hier vergessen hat. Oh nein! Das kann ich jetzt nicht lesen! Nein, das geht nicht.“

Amy atmete tief durch und verwünschte die Tatsache, dass sie, weil sie abgelenkt gewesen war, nicht auf den Verfasser des Romans geachtet hatte. „Schon gut, Mama. Ich mache dir heiße Milch mit Honig. Das wärmt dich von innen und ist sehr beruhigend. Und solltest du davon nicht einschlafen, kannst du immer noch Laudanum nehmen. Aber nichts wird mich dazu bewegen, heute Abend noch einmal in den Empfangssalon zu gehen!“

Es war schon nach fünf Uhr morgens, als Sir Richards Gäste gingen. Im Haus war es still. Paul Marten sperrte die Eingangstür zu und half seinem betrunkenen Herrn die Treppe hinauf. Der Baronet machte Anstalten, ein zweifelhaftes Lied anzustimmen, denn er hatte zweihundert Guineen gewonnen, doch es gelang dem Kammerdiener, ihn von diesem Vorhaben abzubringen.

2. KAPITEL

Die Morgendämmerung war lau. Der Mond war hinter Wolken verschwunden. Die Nachtwache verkündete, es sei halb sechs. Lord Humphrey Dainty und Mr. Albert Hallam torkelten die Straße hinunter und stützten sich dabei gegenseitig.

„Jünglinge, die nach Hause und ins Bett gehen“, bemerkte Jonathan mit verächtlichem Lächeln, während er ihnen hinterher schaute. Sie sahen wie eine doppelleibige Spinne mit zuckenden Gliedern aus. „Wie ist es mit dir, Sebastian? Hältst du noch durch?“

Der Duke of Fleet straffte die Schultern. „Was schwebt dir vor, mein Bester? Bernadettes Kloster?“

„Ja.“ Jonathan strich den Gehrock glatt. „Ich habe die schöne Harriet seit einem Monat nicht mehr gesehen und meine, dass es an der Zeit ist, unsere Bekanntschaft aufzufrischen.“

Sebastian schloss sich dem Freund an. „Das wäre eine Abwechslung.“

Jonathan warf ihm einen Blick zu. Die Gleichgültigkeit des Freundes belustigte ihn. Aber sie beide hatten zynische Ansichten über das Leben, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen. „Nicht mehr als das, Sebastian?“

„Nun ja, ein angenehmer Zeitvertreib.“ Sebastian zuckte mit den Schultern. „Außerdem wären meine Taschen dann nicht mehr so schwer. Ich habe nie jemanden kennen gelernt, der so schlecht spielt wie Sir Richard. Heute Abend habe ich zum ersten Mal erlebt, dass er gewonnen hat. Ich frage mich, wie er seinen Lebensstil finanziert.“

„Ich glaube, mit dem Geld, das er sich bei ‚Howard & Gibbs‘ leiht“, äußerte Jonathan trocken. „Er äfft seinen Vater nach, von dem er zwar nicht die Ausstrahlung, aber das ganze Pech geerbt hat. Der lächerliche Betrag, den er heute Abend einstreichen konnte, ist höher als alles, was er bisher im ganzen Jahr gewonnen hat.“

Sebastian lachte. „Sein Vater hatte nicht mehr Glück. Sir George hat so über seine Verhältnisse gelebt, dass er sich ständig nach Warwickshire in sein Haus zurückziehen musste, bis seine Gläubiger Ruhe gaben. Aber schließlich musste er auch das verkaufen.“

„Ich erinnere mich“, sagte Jonathan bedächtig. „War das nicht vor zwei oder drei Jahren, zu der Zeit, als seine Tochter in die Gesellschaft eingeführt wurde? Er hat sein ganzes Geld verloren und sich dann erschossen. Die Familie musste alles bis auf den kleinen Erbbesitz in Oxfordshire und das Haus in der Curzon Street verkaufen. Wenn ich so darüber nachdenke, fällt mir ein, dass es gar nicht Bainbridge gehört. Ich habe seine Schwester erst heute Abend wiedergesehen.“

„Komischer kleiner Spatz, dieses Mädchen“, meinte Sebastian. „Schade, dass sie sich in ihrer ersten Saison keinen Ehemann angeln konnte. Es überrascht mich jedoch nicht, dass sie keinen gefunden hat. Sie ist viel zu still und unscheinbar. Ich gebe zu, dass ich nichts an vertrocknenden Jungfrauen finde, auch wenn ich nicht daran zweifle, dass die Mutter Oberin sie als bemerkenswerte Neuheit anpreisen würde.“

Eine Kutsche rollte vorbei. „Miss Bainbridge war immer sehr schüchtern“, erwiderte Jonathan, und es überraschte ihn, dass er einen Anflug von Mitgefühl empfand. Normalerweise verschwendete er nie einen Gedanken an farblose junge Damen, und Miss Bainbridge war zweifellos eine von ihnen. Das hatte er vorhin festgestellt und sie sich aus dem Sinn geschlagen. „Man hat sie als Langweilerin bezeichnet.“

„Ja, ich erinnere mich“, sagte Sebastian lachend. „Sie hat nie etwas geäußert, sodass manche Leute sie für einfältig hielten. Sie hatte eine hübsche blonde Freundin, die Amanda oder so hieß. Ich wüsste gern, was aus der geworden ist.“

„Du meinst Lady Amanda Spry, die früher Makepeace hieß. Sie ist jetzt Sir Frank Sprys Frau. Ich glaube, er hat in Irland ein Gut.“

Sebastian starrte den Freund an. „Donnerwetter, Jonathan. Du klingst wie Debrett! Ich hatte keine Ahnung, das du ein enzyklopädisches Gedächtnis hast!“

„Was glaubst du, weswegen ich so oft gewinne?“, fragte Jonathan lakonisch. „Ehrlich gesagt, erinnere ich mich nur daran, weil Juliana und Lady Amanda befreundet sind. Wie ich hörte, ist Lady Spry vor kurzem Witwe geworden und jetzt wieder in der Stadt. Vielleicht solltest du einmal bei ihr vorbeischauen. Sie ist ein hübsches kleines Ding.“

„Wie ergeht es deiner schönen Schwester?“, fragte Sebastian grinsend. Falls es überhaupt jemanden gab, der Jonathan beim Spiel übertreffen konnte, dann war das Lady Juliana Myfleet.

„Oh, nicht anders als sonst“, antwortete Jonathan. „Hohe Einsätze, schlechte Gesellschaft. Sie hat sich mit Clive Massingham eingelassen.“

Scharf sog Sebastian die Luft ein. „Diese Vorstellung erzeugt mir einen unangenehmen Geschmack im Mund. Mr. Massingham ist kein guter Umgang.“

Unbehaglich zuckte Jonathan mit den Schultern. „Ich stimme dir zu, kann jedoch leider nichts gegen diese Beziehung unternehmen. Juliana geht ihre eigenen Wege, und ich bilde mir nicht ein, großen Einfluss auf sie zu haben, wenngleich sie mir zumindest zuhört. Aber ich kann auch nicht den Moralisten spielen“, fügte er in leicht verbittertem Ton hinzu. „Das wäre absurd. Gestern habe ich meinen Vater getroffen und dachte, er würde mit Juliana und mir brechen. Es ist völlig offen, gegen wen er mehr eingenommen ist, meine Schwester oder mich.“

Sebastian schmunzelte. „Er hat dir damit gedroht, dich zu enterben, nicht wahr?“

Erneut zuckte Jonathan mit den Schultern. „Ich nehme an, das ist nur natürlich, da ich seinen in mich gesetzten Erwartungen so gar nicht entspreche. Er will, dass ich heirate und einen Erben zeuge. Ich kann nicht behaupten, dass ich diesen Gedanken verlockend finde. Frauen aus guter Familie sind alle gleich – Musterexemplare der Geistlosigkeit. Nun ja, ich könnte vielleicht eine Spielerin heiraten.“

„Warum nicht eine Hure“, warf Sebastian trocken ein. „Die schöne Harriet würde jedem vornehmen Mann halt zur Zierde gereichen.“

Man war beim Covent Garden angekommen. Zwei leichte Mädchen, die aus einer Seitengasse gekommen waren, beäugten die Herren neugierig und mit lüsternem Glanz in den Augen.

„Schlimm, wirklich sehr schlimm“, sagte Sebastian und schüttelte trübselig den Kopf.

Im Gegensatz zu dem Erscheinungsbild der beiden Nachtschattengewächse war der Eingangsbereich des von Mutter Bernadette geleiteten Etablissements der Inbegriff geschmackvollen Prunks und vermittelte den Eindruck eines perfekten Bordells. Die Oberin persönlich erschien und begrüßte die Gentlemen freudig. Sie war eine attraktive Frau unbestimmbaren Alters, die sich gut gehalten hatte und den Ruf genoss, Qualität und ständig neue Anreize zu bieten.

„Es ist mir ein Vergnügen, meine Herren, Sie wiederzusehen.“ Sie geleitete die Besucher die mit einem vergoldeten Geländer versehene Marmortreppe hinauf. „Haben Sie etwas Bestimmtes im Sinn, das ich Ihnen heute offerieren kann?“

„Etwas, was ich noch nicht kenne, wenn ich bitten darf, Madam“, antwortete der Duke of Fleet und unterdrückte ein Gähnen. „Ich mag launisch sein, aber ich langweile mich so verdammt schnell.“

„Natürlich, Eure Gnaden.“ Die Mutter Oberin lächelte leicht und wandte sich Jonathan zu. „Harriet hat Sie vermisst, Mylord.“

Boshaft dachte er daran, dass Miss Harriet Templetons Gunst käuflich und er zur Zeit derjenige war, der das Privileg hatte, sie zu genießen. Das war ihm recht. Er hatte seine frühere Mätresse sehr gemocht und war überraschend bekümmert gewesen, als sie ihm mitgeteilt hatte, sie habe den Heiratsantrag eines anderen Mannes angenommen.

Er hatte sie gern gehabt und wäre vielleicht sogar so weit gegangen zu gestehen, dass ihm viel an ihr lag. Er war auf eine unkomplizierte und anspruchslose Weise mit ihr befreundet gewesen. Obwohl er seit seinen Jünglingstagen nicht mehr verliebt gewesen war, hatte er Mariannes Gesellschaft geschätzt und sie nach der Trennung sehr vermisst. Bei Harriet bestand zum Glück nicht die Gefahr, in eine solche Situation zu geraten. Ihre Zuneigung reichte nicht über seine prall gefüllte Geldbörse hinaus, und er war zufrieden darüber, dass die Beziehung ganz und gar frei von persönlichen Gefühlen war.

Jonathan schlenderte den ihm vertrauten Flur entlang und betrat das an dessen Ende gelegene Zimmer. Miss Templeton saß vor dem Spiegel und bürstete sich das Haar. Als sie seiner ansichtig wurde, erhellte ein strahlendes Lächeln ihr hübsches, schmales Gesicht. Sie ließ die Haarbürste fallen, rannte zu Jonathan und schloss ihn, sich weich an ihn drückend, in die Arme.

„Mein Liebling“, säuselte sie. „Ich habe mich nach dir verzehrt.“

Mit ihren Fingern nestelte sie bereits an den Knöpfen seines Gehrocks und öffnete sie. Jonathan zog ihn aus, neigte sich zu ihr und küsste sie.

„Auch ich habe dich vermisst, meine Süße. Sollen wir das Wiedersehen feiern?“

Er hob sie auf die Arme und brachte sie zum Bett. Sie kicherte entzückt, als er sie darauf ablegte, und sah ihn aufreizend an, während er sich die Stiefel auszog. Ihr spitzenbesetzter Peignoir hatte sich gelöst, und der Anblick ihres üppigen Körpers darunter ließ nicht viel Raum für Fantasie. Jonathan merkte, dass sein Blut in Wallung geriet, bewahrte jedoch einen kühlen Kopf. Eine Hure heiraten … Einen Moment lang malte er sich aus, wie Harriet als die neue Marchioness of Landor durch die Räume in Ashby Court gehen würde, doch der Gedanke, überhaupt eine Ehe zu schließen, lag ihm fern. Wann immer er daran dachte, verband sich damit das Bild von zwei Menschen, die sich in ihrem weitläufigen Leben gegenseitig Beleidigungen ins Gesicht schleuderten. Die Vorstellung war ihm zuwider.

Harriet zog ihn zu sich, und er streckte sich neben ihr aus. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er in Gedanken zwischen sich und Harriets hübschem, geschminktem Gesicht das von Amy Bainbridge und erlitt einen leichten Schock. Die kleine Miss Bainbridge, die so unansehnlich und abweisend war. Er hatte, als er sie beobachtete, die Abneigung deutlich in ihren Augen gesehen, ihre Antipathie gespürt, obwohl sie kein einziges Wort an ihn gerichtet hatte.

Gleichviel, er konnte sich nicht erklären, warum er an sie gedacht hatte. Aber die Vision ihres unschuldigen Antlitzes stand in krassem Gegensatz zu seiner augenblicklichen Umgebung. Er hatte schon vor vielen Jahren darauf verzichtet, sich für unerfahrene Frauen zu interessieren, und würde das auch jetzt nicht tun. Er überließ sich Harriets routinierten Zärtlichkeiten und versuchte, an nichts mehr zu denken.

Nachdem Amy mit Prudence den Empfangssalon sauber gemacht und die Mutter, als diese sich über die unnötigen Ausgaben für Kerzen und Heizung aufregte, mit dem Hinweis beschwichtigt hatte, Richard solle das Haushaltsgeld erhöhen, da Nettlecombe, der einzige ihm verbliebene Besitz, ihm ein Einkommen von wenigstens dreitausend Pfund im Jahr einbrächte, verließ sie den Raum. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, hörte sie eine Kutsche vorfahren. Sie lugte aus dem Fenster, lief noch einmal zur Mutter und kündigte ihr an, Mrs. Vestey, Lady Amherst und Mrs. Ponting seien zu Besuch gekommen. Dann zog sie sich zurück, weil sie viel zu erledigen hatte. Sie musste Medizin an ihr früheres Kindermädchen schicken, das in Windsor lebte und krank geworden war. Außerdem waren Besorgungen zu machen, da die Mutter darauf bestand, nur sie in der unglaublich teuren Stadt mit dem Einkauf von frischen Lebensmitteln zu betrauen. Amy hatte endlose Debatten mit ihr darüber geführt und sie darauf hingewiesen, auf dem Land könne man viel sparsamer wirtschaften. Lady Bainbridge hatte stets entgegnet, Richard brauche sie hier, und sie müsse sich um ihn kümmern. Amy wusste jedoch, dass die Mutter einfach Angst davor hatte, seine Spielleidenschaft könne außer Kontrolle geraten, sobald ihre und Amys Anwesenheit ihn nicht mehr daran gemahnten, dass es von ihm abhängige Menschen gab. Wurde ihr Bruder nicht ständig daran erinnert, wäre man schließlich doch genötigt, aufs Land zurückzukehren, wo man in Vergessenheit geriet und womöglich hungern musste.

Zwei Stunden später hatte Amy es geschafft, durch den klugen Kauf des billigsten Obstes und Gemüses, das sie auftreiben konnte, die Gefahr zu darben für die nächsten Tage abzuwenden. Es war ihr gelungen, auf dem Markt einige Schnäppchen zu machen, braun gewordenen Blumenkohl, der in der Mitte jedoch noch frisch war, Kartoffeln, die bereits keimten, und Äpfel mit Druckstellen.

Sie befand sich auf dem Heimweg durch Covent Garden, als sie eine vertraute Gestalt bemerkte. Sie kannte sie vom vergangenen Abend. Es war der Earl of Tallant, der die Freitreppe eines Hauses herunterkam und sich den Gehrock glatt strich. Sein kastanienbraunes Haar glänzte in der Sonne. Amy blieb stehen. Mit der athletischen Figur und dem energischen Gang wirkte er eher wie ein Sportler denn wie jemand, der den ersten Teil der Nacht am Spieltisch und den zweiten in … Amy spürte sich erröten. Sie wusste sehr gut, dass sich hinter den eleganten Fassaden dieser Häuser die Lasterhöhlen befanden, die Richard und seine Freunde frequentierten. Hastig wandte sie sich ab, denn das Letzte, was sie wollte, war, von dem Gentleman bemerkt zu werden. Der Gedanke, ihn begrüßen zu sollen, nachdem er sich soeben in einem Freudenhaus sein Vergnügen verschafft hatte, lähmte sie beinahe.

Sie tat einen unbedachten Schritt und stieß mit ihrem Einkaufskorb gegen die Seite eines Karrens. Der Korb entfiel ihrer Hand, und der Inhalt kullerte auf das Kopfsteinpflaster. Die Äpfel rollten in die Gosse. Amy schrie auf und kroch auf Händen und Knien hinter ihnen her. Sie konnte es sich nicht leisten, das kostbare Obst zu verlieren. Sie zwängte sich sogar unter den Karren, um zwei Kartoffeln zu retten, die zwischen den Rädern verschwunden waren. Dabei stieß sie sich heftig am Knie. Als sie unter dem Fuhrwerk hervorkam, war ihr Gesicht gerötet, und sie hatte schmutzige Hände. Das Letzte, was sie jetzt ertragen konnte, war, den Earl of Tallant sich zu ihr bücken und ihr ritterlich die Hand entgegenstrecken zu sehen.

„Miss Bainbridge? Sie scheinen in Schwierigkeiten zu sein. Erlauben Sie mir, Ihnen zu helfen.“

Er fasste sie unter dem Ellbogen und zog sie, ehe sie Einwände machen konnte, auf die Beine. Sie errötete, wich vor ihm zurück und stieß gegen den Karren. Rasch strich sie das Kleid glatt und stellte fest, dass sie sich den Rock schmutzig gemacht hatte. Sie sah, dass der Earl of Tallant sie musterte und lächelte, und fühlte die Hitze noch mehr ins Gesicht steigen.

„Vielen Dank, Mylord.“

„Haben Sie sich verletzt, Miss Bainbridge? Mir ist aufgefallen, dass Sie beim Aufstehen leicht zusammengezuckt sind.“

Zögernd machte sie einen Schritt und bemühte sich, nicht wieder zusammenzuzucken. „Nein. Mit mir ist alles in Ordnung.“ Sie bückte sich, nahm den Korb an sich und ließ unauffällig die beiden Kartoffeln hineinfallen.

„Kann ich Sie irgendwohin bringen?“, erkundigte sich der Earl of Tallant. „Vielleicht nach Haus?“ Er lehnte sich an den Karren und machte keine Anstalten, sich zu entfernen.

„Oh nein! Vielen Dank.“ Der Gedanke, er könne sie begleiten, entsetzte Amy. Konnte Lord Tallant nicht einfach verschwinden? Es lag ihm doch gewiss fern, den Galan zu spielen. „Ich laufe gern und bin sicher, dass Sie etwas anderes zu tun haben.“

Wider Willen richtete ihr Blick sich auf den offenen Eingang des Hauses, aus dem der Earl soeben gekommen war. Sie hatte keine Lust, darüber nachzudenken, welche anderen Aktivitäten er noch im Sinn haben mochte, fand es jedoch eigenartig schwer, von der Tür fortzusehen und ihre Gedanken von dem Haus zu lösen. Unwillkürlich gaukelte die entflammte Einbildungskraft ihr alle möglichen Dinge vor … Dann sah sie Seine Lordschaft an und merkte, dass er ihre Gedanken genau erraten hatte. Er zog die Brauen hoch und hatte einen grüblerischen Ausdruck in den Augen.

Sie wurde sich bewusst, dass sie nicht noch tiefer erröten konnte. Ihr Gesicht musste bereits die Farbe von Purpur haben. Hastig schaute sie auf das Kopfsteinpflaster, wo immer noch ein Apfel lag.

„Ich versichere Ihnen, dass ich erst später am Tag Verpflichtungen habe, Miss Bainbridge“, erwiderte der Earl und musterte sie amüsiert. „Wenn Sie meine Begleitung jedoch nicht wünschen, dann kann ich Ihnen eine Droschke besorgen.“

„Nein, vielen Dank“, sagte Amy erneut und sehr hastig. Sie konnte sich die Ausgabe für eine Fahrt mit der Mietkutsche nicht leisten und wollte nicht das Gefühl haben, Lord Tallant werde die Kosten begleichen. Fest umklammerte sie den Korbgriff und fuhr fort: „Ich werde laufen. Guten Tag, Sir.“

„Dann müssen Sie mir gestatten, Sie zu eskortieren, falls Sie unterwegs Unterstützung brauchen“, erwiderte Jonathan und schloss sich ihr an. „Bitte, erlauben Sie mir, Ihre Einkäufe zu tragen. So viele Äpfel und Kartoffeln! Ich hoffe, sie haben keinen Schaden genommen.“

„Es ist absolut unnötig, mich zu begleiten“, entgegnete Amy und hielt den Korbgriff fest, als der Earl of Tallant nach ihm fasste. „Vielen Dank für Ihr Entgegenkommen, doch auf Ihre Hilfe bin ich nicht angewiesen“, fügte sie ungnädig hinzu und befürchtete, etwas zu schroff geklungen zu haben.

Sie zerrte am Griff, aber der Earf of Tallant gab ihn nicht frei. Sie zerrte wieder. Seine Lordschaft umklammerte den Griff nur noch fester.

„Wollen wir mitten auf der Straße ein Tauziehen veranstalten, Miss Bainbridge?“

„Das ist lächerlich.“ Sie ließ den Korb los und starrte Seine Lordschaft erbost an. „Sie können unmöglich so durch die Londoner Straßen wandern, Mylord.“

„Ich versichere Ihnen, dass mein Ruf ebenso leiden würde, ließe ich zu, dass eine Dame eine solche Last trägt. Das wäre sehr ungalant von mir.“

„Sie benehmen sich absurd!“ Wütend warf sie dem Earl einen Blick von der Seite zu. „Sie haben es nicht nötig, sich diese Mühe zu machen. Mir wäre es lieber, Sie unterließen das.“

Er zuckte nur mit den Schultern, hängte sich den Korb über den rechten Arm und reichte Amy den linken, den sie jedoch geflissentlich übersah. Auf diese Weise ging man die Shaftesbury Avenue hinunter, meist schweigend, da Amy von sich aus nichts äußerte und auf die Bemerkungen des Earl nur einsilbig einging. Nach einigen äußerst unangenehmen Minuten sah sie zu ihm hin und bemerkte, dass er sie verhalten belustigt betrachtete. Abrupt wandte sie das Gesicht ab.

Innerlich tobte sie vor Wut. Es war schlimm genug, dass er so hartnäckig darauf bestand, sie trotz ihrer deutlich gezeigten Abneigung zu begleiten. Sie mochte nicht glauben, dass er schwer von Begriff war. Er musste gemerkt haben, wie sehr sie ihn hatte loswerden wollen. Noch schlimmer war jedoch, sie zum Gespött der Leute zu machen, indem er wie ein Lakai ihre Einkäufe trug. Sie sah Passanten sie anstarren und auf sie zeigen und wünschte sich, doch das Angebot angenommen zu haben, in einer Droschke heimzufahren.

„Sie sehen aus, als wünschten Sie mich zur Hölle, Miss Bainbridge.“

Sie schluckte schwer. „Ich kapiere einfach nicht, warum Sie so hartnäckig darauf bestehen, mich zu begleiten, Sir.“ Sie zwang sich zur Höflichkeit. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ganz unnötig.“

„Schätzen Sie es nicht, eskortiert zu werden?“

„Ich schätze es nicht, wenn jemand mir seine Gesellschaft aufzwingt“, antwortete Amy kalt.

„Ich verstehe.“ Der Earl of Tallant wirkte amüsiert. „Beziehen Sie sich dabei besonders auf meine, Miss Bainbridge?“

„Ich fühle mich geschmeichelt, dass Sie mich mit Ihrer Aufmerksamkeit beehren, Mylord, aber …“

„Das bezweifle ich. Sie können mich nicht ausstehen, nicht wahr, Miss Bainbridge?“

Überrascht schaute sie den Earl an. Es stimmte, was er gesagt hatte, doch ihr war nicht klar gewesen, dass sie das so deutlich zu erkennen gegeben hatte. Sie schämte sich etwas, weil sie ihre Antipathie nicht besser verhehlt hatte. Es war ihr gleich, ob sie seine Gefühle verletzte oder nicht, denn ein derart abgebrühter Weiberheld hatte bestimmt gar keine. Aber sie ärgerte sich, weil sie sich seinetwegen unhöflich benommen hatte.

„Nun, ich …“ Sie hielt seinem boshaften Blick stand und reckte unbewusst das Kinn. „Ja, natürlich lehne ich Sie ab.“

„Für junge Damen ist das ein Muss“, murmelte er. „Welche Gründe haben Sie, Miss Bainbridge?“

„Wenn Sie mich schon danach fragen, Mylord.“ Sie atmete tief durch. „Ich missbillige Spielleidenschaft und habe kein Verständnis für Menschen, die junge und leicht zu beeindruckende Naturen auf Abwege bringen.“

Jonathan lachte auf. „Du lieber Gott! Sie halten Ihren Bruder doch wohl nicht für in irgendeiner Weise beeinflussbar? Er könnte sogar noch routinierten Spielern die eine oder andere Sache beibringen.“

Flüchtig presste Amy die Lippen zusammen. „Ihre Einstellung bestätigt lediglich meinen Standpunkt, Mylord. Herren wie Sie oder der Duke of Fleet, denen ein Vermögen zur Ausübung ihrer Laster zur Verfügung steht, können es gern ganz nach Belieben vergeuden. Es ist jedoch etwas völlig anderes, wenn sie Leute zum Spielen ermutigen, die nicht die Mittel dafür haben.“

„Niemand zwingt Ihren Bruder, sich am Glücksspiel zu beteiligen“, entgegnete Jonathan trocken. „Wenn er es sich nicht leisten kann, dann sollte er nicht so hohe Einsätze wagen.“

Amy empfand eine beinahe überwältigende Abneigung gegen den Earl of Tallant. „Ich hätte mir denken können, dass Sie kein Verständnis haben oder sich absichtlich begriffsstutzig geben!“

„Ich verstehe Sie vollkommen, meine liebe Miss Bainbridge. Sie sind diejenige, die nicht begreift. Die Wahrheit ist, dass Ihr Bruder, würden Seine Gnaden und ich ihm nicht sein Geld abnehmen, es an jemand anderen verlieren würde. Die Spielleidenschaft ist sein Problem, nicht meins und auch nicht das Seiner Gnaden.“

Amy wurde noch wütender. Ihre blauen Augen blitzten. „Sie nutzen Richards Schwäche aus, Sir.“

Der Earl zuckte mit den Achseln. „Vielleicht.“ Er sah Amy an, und erbost bemerkte sie, dass er noch immer lächelte. „Ihr Bruder hat eindeutig doppeltes Pech, nicht wahr, Miss Bainbridge? Denn trotz seines Charmes scheint ihm die Charakterstärke zu fehlen, die Sie besitzen.“

Amy wandte den Blick ab. Sie war nicht gewillt, dieser Kritik an Richard zuzustimmen, ganz gleich, wie zutreffend sie war.

„Wir werden einfach zur Kenntnis nehmen müssen, dass wir unterschiedlicher Meinung sind, Mylord“, erwiderte sie verbissen. „Vielleicht sollten wir nichts mehr sagen, bis wir bei mir zu Hause sind.“

Jonathan zog die Augenbrauen hoch. „Müssen wir schweigen, Miss Bainbridge? Wir sind jetzt erst in Piccadilly, und ich habe immer wieder festgestellt, dass die Zeit schneller vergeht, wenn man beschäftigt ist. Vielleicht können wir uns über etwas Unverfängliches unterhalten, sodass ich Sie nicht erneut wütend mache.“

Amy schwieg. Sie war nicht absichtlich störrisch, jedoch so irritiert, dass ihr kein neutrales Thema einfiel. Nach einem Moment lachte der Earl. „Oje! Ist es so schlimm, Miss Bainbridge? Und übers Wetter haben wir schon geredet.“

Sie schaute ihn an. Er lächelte ihr zu, und in seinen Augen stand ein so freundlicher Ausdruck, dass sie sich auf eine gänzliche andere Weise unwohl zu fühlen begann. Das war sehr verwirrend. Sie verabscheute den Earl von Herzen, insbesondere, weil er ihre in Bezug auf den Bruder geäußerte Bitte so schnöde abgetan hatte. Dennoch war sie sich gewahr, dass sie sich für ihn zu erwärmen begann. Ganz bewusst versteifte sie sich wieder.

„Wir könnten wieder über das Wetter reden“, sagte sie kühl. „Schließlich ist es im Moment sehr sonnig.“

Jonathan neigte den Kopf. „Das stimmt. Ich glaube jedoch, dass es ein Gewitter geben wird, wenn diese Schwüle anhält. Haben Sie Angst vor Gewittern, Miss Bainbridge?“

„Ja, sehr.“ Sie schaute sich um. „Kälte ist mir lieber als Hitze. Zu viel Sonne kann sehr belastend sein.“

„Zu viel Schnee auch.“

„Da haben Sie recht.“ Amy blieb stehen. „Oh, wir sind schon fast in der Curzon Street.“

„Welch glücklicher Zufall! Ich glaube jedoch, das Gerede übers Wetter hätte uns noch über einige weitere Minuten hinweggerettet.“ Jonathan stellte den Korb auf den Bürgersteig, nachdem man ihr Zuhause erreicht hatte.

Amy zögerte. Sie wollte ihn nicht hineinbitten, doch es war ein Gebot der Höflichkeit, dies zu tun. „Möchten Sie nach dem anstrengenden Tragen meiner Einkäufe eine Erfrischung, Mylord?“

Der Earl lächelte und ergriff Amys Hand. „Nein, danke. Mir ist eingefallen, dass ich eine dieser dringenden Verabredungen habe, die Sie vorhin erwähnten. Ich befürchte daher, dass ich gehen muss. Vielen Dank für Ihre Gesellschaft, Miss Bainbridge. Ich hoffe, dass Sie sich bald besser fühlen werden. Ich habe gesehen, dass Sie leicht hinken.“

„Oh!“ Vor Verlegenheit wurde sie rot. „Das ist nicht der Rede wert, Mylord.“ Sie wollte sich losmachen. Der Earl of Tallant schien es nicht zu bemerken.

„Ich habe daran gedacht, Sie zu tragen“, fuhr er fort, „jedoch in Anbetracht des von Ihnen um den Korb gemachten Aufruhrs darauf verzichtet.“

„Sehr klug, Mylord“, erwiderte sie ungehalten. „Ich muss mich wohl bei Ihnen für Ihre Unterstützung bedanken. Guten Tag.“

Endlich gab der Earl ihre Hand frei und nickte lässig zum Abschied. „Leben Sie wohl, Miss Bainbridge. Ich bin sicher, dass wir uns bald wiedersehen werden.“

Schon auf den Stufen zum Eingang, drehte Amy sich um. „Das bezweifle ich, Mylord.“

Er grinste. „Sie können sich darauf verlassen, Miss Bainbridge. Sie können sogar darauf wetten, wenn Sie möchten. Es ist unumgänglich, wenn man versucht, jemanden zu meiden.“

Er wandte sich ab. Ein wenig irritiert sah sie ihn in die Clarges Street einbiegen. Sie hoffte, ihm nie wieder zu begegnen, wenngleich seine letzte Bemerkung ihrer Ansicht nach ein Körnchen Wahrheit enthielt. Unbehaglich zuckte sie mit den Schultern. Lord Tallant hatte etwas an sich, das sie vollkommen aus dem inneren Gleichgewicht brachte. Es war besser, ihn zu vergessen. Sie hatte nichts mit ihm gemein, nicht das Mindeste.

Sie betrat das kühle Entree. Die Stubentür stand ein Stück offen.

„Bist du das, Amy?“, rief Lady Bainbridge. „Oje! Ich habe soeben zu Mittag gespeist. Das Essen hat nicht für zwei gereicht. Ich habe so gehofft, dass du erst später zurückkehren würdest.“

„Schon gut, Mama“, erwiderte Amy und unterdrückte einen Seufzer. Sie suchte einen der im Korb zuoberst liegenden ramponierten Äpfel aus und ging zu ihrer Mutter. „Ich werde einen Apfel essen und etwas Käse und dann einen Kartoffeleintopf machen, der für die ganze Woche reicht.“ Sie neigte sich zur Mutter und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Ist mit dir alles in Ordnung?“

„Ja, meine Liebe“, antwortete Lady Bainbridge und lehnte sich im Sessel zurück. „Ich hatte einen sehr angenehmen Vormittag. Lady Vestey blieb allerdings länger als gedacht. Ich habe schon befürchtet, ich müsse noch eine Kanne Tee machen.“ Fragend sah sie die Tochter an. „Hast du vorhin mit jemandem geredet, mein Schatz? Ich glaubte die Stimme eines Mannes zu hören.“

„Nein, Mama“, log Amy und mied den Blick der Mutter. „Da war niemand.“

Lady Bainbridge sank in sich zusammen. „Wie schade! Noch habe ich nämlich, was dich betrifft, die Hoffnung nicht aufgegeben. Ich bin sicher, irgendwo gibt es einen netten Gentleman, der eine gute Frau haben möchte, vielleicht jemand Älteres, oder einen Witwer, der eine Mutter für seine Kinder braucht.“

„Das klingt erfreulich, Mama“, erwiderte Amy und dachte daran, wie sehr der Earl of Tallant sich von dieser Beschreibung unterschied. „Ich befürchte jedoch, dass ich keine solchen Herren kenne, die eine Ehefrau suchen. Außerdem habe ich keine Mitgift und sehe nicht besonders gut aus.“

Lady Bainbridge tätschelte Amy die Wange. „Nein, aber du bist ein liebes, süßes Wesen, Amy. Und wir dürfen nicht zu anspruchsvoll sein.“

„Nein, denn schließlich bin ich schon fast ein spätes Mädchen, Mama“, sagte Amy lächelnd. „So, und nun entschuldige mich bitte. Ich werde etwas essen, und danach muss ich Besuche machen.“

„Bei den Armen, nicht wahr? Du bist so gut, Amy. Mrs. Wendover, unsere frühere Hauswirtin … Du bestehst darauf, mit ihr in Kontakt zu bleiben, obwohl du dich nicht dazu genötigt fühlen müsstest.“

„Nein, Mama“, erwiderte Amy und biss in ihren Apfel. „Aber zumindest bekomme ich, wenn ich in Whitechapel bin, guten Obstkuchen.“

Lady Bainbridges Blick erhellte sich. „Oh, bitte bring mir ein Stück mit, mein Schatz. Du weißt, wie gern ich Obstkuchen esse.“

3. KAPITEL

Eine Tür knallte, und dann war Richards Stimme im Korridor zu hören. Einen Augenblick später stürmte der Bruder in seiner üblichen temperamentvollen Art ins Zimmer. Lady Bainbridge setzte sofort ein strahlendes Gesicht auf.

„Richard, mein Liebling! Gehst du heute Abend zum Ball bei Lady Aston? Oh, du siehst so weltmännisch aus!“

Amy empfand einen unerwarteten und schmerzlichen Anflug von Neid und zwinkerte. Seit ihrem katastrophalen gesellschaftlichen Debüt hatte sie sich geschworen, nie mehr den Fuß in einen prächtigen Ballsaal zu setzen, und bis zu diesem Abend hatte sie auch nie den Wunsch verspürt, ihre Meinung zu ändern. Es erschien ihr bemerkenswert, dass sie Richard sein Vergnügen missgönnte. Aber es war tatsächlich so. Sie dachte gründlich über ihre Gefühle nach. Ja, sie war neidisch auf das gute Aussehen des Bruders, seine elegante Erscheinung und noch mehr auf die Einladung, die er zu Lady Astons Ball erhalten hatte.

Sie schaute ihn an. Hoch gewachsen und blond, gab er in dem Galafrack ein beeindruckendes Bild ab und erinnerte sie so stark an den Vater, dass sie einen Moment lang tiefe Beklommenheit verspürte. Die Mutter machte viel Aufhebens um Richard, und gerechterweise fand Amy, das sei nicht überraschend. Wenn schon sie im Bruder den Vater sah, wie viel quälender musste das für die Mutter sein?

„Du musst unbedingt mit Miss Loring tanzen“, sagte Lady Bainbridge. „Man erzählt sich, ihre Mitgift betrüge fünfzigtausend Pfund.“

„Ich nehme nicht an, dass er viel vom Ballsaal sehen wird, Mama“, meinte Amy. „Bestimmt interessiert er sich mehr für den Spielsalon.“

Sowohl Lady Bainbridge als auch Richard hörten zu reden auf und sahen sie an. Amy wurde sich bewusst, dass sie die Bemerkung in ziemlich spitzem Ton gemacht hatte. Glücklicherweise war Richard so gutmütig, dass er sich nie gekränkt fühlte.

Er grinste. „Das klingt, als seist du neidisch, Amy. Ich dachte, du fändest kein Gefallen an gesellschaftlichen Vergnügungen.“

„Es tut mir leid, Richard. Ich bin schlecht gelaunt. Bestimmt legt sich das bald.“

„Beim Nähen oder bei der Lektüre einiger Kapitel eines lehrreichen Buchs?“ Richard hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass seine Interessen und die seiner Schwester sich gravierend unterschieden. „Du tätest besser daran, heute Abend mit mir zu kommen! Spiel Whist oder tanze.“

„Sie kann nicht ohne Anstandsdame ausgehen, und schon gar nicht zu Lady Aston. Ihr Haus ist ein Sündenpfuhl!“

„Das hoffe ich“, erwiderte Richard grinsend.

„Und von all den Verfehlungen ist das Whistspiel die verwerflichste“, sagte Amy. „Es ist noch gefährlicher als tanzen, weil es sehr teuer sein kann.“

Richard lehnte sich an einen Sessel und schaute die Schwester an. „Ich sage dir etwas, Amy. Du hast zu viel Obst gegessen. Dadurch bist du so sauer geworden.“

„Pah!“, äußerte sie verächtlich.

„Ich habe eine Idee. Ich werde dich nächste Woche zum Ball bei Lady Moon begleiten. Das ist doch sehr großzügig von mir, nicht wahr? Schließlich ist es eine öde Angelegenheit, die eigene Schwester auszuführen. Aber das tue ich nur, wenn du einwilligst, eine Partie Whist zu spielen. Du beschwerst dich dauernd über meine Spielleidenschaft. Jetzt wird es Zeit, dass du begreifst, worüber du dich beklagst.“

„Lady Moons Ball“, äußerte Lady Bainbridge nachdenklich. „Ich bin nicht ganz sicher, ob wir daran teilnehmen sollten, Richard. Wir können uns keine neuen Roben leisten.“

„Eine Woche dürfte reichen, um alte Kleider aufzumöbeln“, meinte Richard.

„Gewiss“, stimmte Lady Bainbridge zu. „Es wäre angenehm, andere Gesellschaft zu haben. Außerdem kann man sich bei einem solchen Fest so gut verköstigen, dass es für eine Woche reicht. Was meinst du, Amy?“

„Warum nicht?“ Amy zuckte die Schultern.

„Du könntest etwas begeisterter klingen, mein Schatz“, brummte Lady Bainbridge. „Es ist fast ein Jahr her, seit wir bei einem richtigen Ball waren. Das wird eine schöne Abwechslung für dich sein. Wer weiß? Vielleicht erregst du das Interesse eines Mannes.“

„Das glaube ich nicht, Mama“, sagte Richard. „Sie steht ja schon fast mit einem Fuß im Grab.“

„Ich dachte, du wolltest zu einem Ball“, äußerte Amy frostig. Der Bruder straffte sich. Wenn sie doch bloß einen Hauch seines guten Aussehens hätte! Dann würde sie ihm und der Mutter zeigen, dass sie noch keine alte Jungfer war.

Achtlos drückte er ihr einen Kuss auf die Wange und einen zweiten auf die der Mutter und verließ pfeifend den Raum. Die Haustür krachte hinter ihm ins Schloss. Lady Bainbridge stand auf und ging ebenfalls aus dem Zimmer.

Auch Amy erhob sich. Vielleicht würde sie den Abend damit verbringen, Prudence beim Silberputzen zu helfen. Das würde sie davon abhalten, noch misslauniger zu werden. Beschäftigung, nicht Muße, war das Zauberwort. Armut war zwar hart zu ertragen, die Situation der Familie indes längst nicht so bedrückend wie die der Leute im Elendsviertel von Whitechapel. Sogar heute beim Besuch bei Mrs. Wendover war Amy wieder über die tapferen Versuche der Witwe, inmitten des sie umgebenden Schmutzes ein sauberes Haus zu behalten, erschüttert gewesen. Sie unterdrückte ein Grinsen. Es gab nicht viele junge Damen, die von sich behaupten konnten, in Whitechapel gewohnt zu haben. Sie hatte jedoch schon zweimal dieses Privileg gehabt. Beim letzten Mal war sie sechzehn gewesen. Die finanzielle Lage war so prekär gewesen, dass es keine Alternative gegeben hatte. Jetzt konnte man sich zumindest ein kleines Haus in einem anständigen Stadtviertel leisten. Whitechapel war keine gute Gegend, der Aufenthalt dort jedoch sehr lehrreich gewesen. Geistesabwesend erstickte Amy das schwach brennende Feuer mit einer Schaufel Asche und dachte an die Zeit, die sie in dem Elendsviertel verbracht hatte.

Ein Stück Papier lag neben dem Kamin auf dem Teppich. Sie bückte sich und hob es auf. Es war ein Lotterielos. Sie wusste, dass Richard wie ein Großteil der Bevölkerung oft bei der nationalen wie auch bei privaten Lotterien mitspielte, bei denen Geldmittel für verschiedene Projekte eingenommen wurden. Soweit ihr bekannt war, hatte er nie etwas gewonnen. Es war nur eine weitere Art von Glücksspiel, bei dem er sein Geld verschleuderte.

Sie strich das zerknitterte Papier glatt. Die Ziehung sollte am nächsten Vormittag stattfinden. Richard musste das Los aus der Tasche verloren haben, ohne es zu bemerken. Amy steckte es hinter die Kaminuhr und nahm sich vor, es ihm morgens zurückzugeben. Sie war zwar strikt gegen Glücksspiele, aber etwas hinderte sie daran, das Los ins Feuer zu werfen. Schließlich konnte es einen Gewinn einbringen. Über den eigenen Optimismus lächelnd, ging sie Prudence suchen.

Am nächsten Tag holte Amy das Los hinter der Uhr hervor und suchte in der Absicht, es Marten auszuhändigen, damit dieser es ihrem Bruder zukommen lassen konnte, das Entree auf. Glücklicherweise kam der Kammerdiener soeben mit einem von Richards Gehröcken über dem Arm die Treppe herunter. Er verbeugte sich. Er erlaubte sich nie solche Freiheiten wie Prudence, sondern war immer sehr respektvoll.

„Guten Morgen, Marten. Ist mein Bruder schon wach?“

Der Kammerdiener verbeugte sich erneut. Seine Miene war ausdruckslos. „Ich befürchte, er ist noch nicht zurück, Madam. Der Ball hat wohl bis in die frühen Morgenstunden gedauert.“

„Ich vermute eher, Richard hat eine dringende Verabredung in einem Spielsalon.“ Amy bedachte den Kammerdiener mit einem scharfen Blick, den Marten jedoch unbeteiligt erwiderte.

„Schon möglich, Madam. Das kann sein.“

„Oder vielleicht hat er die Nacht woanders verbracht?“ Amy erinnerte sich an das zweifelhafte Etablissement, aus dem der Earl of Tallant am vergangenen Tag gekommen war. Marten lächelte höflich.

„Dazu kann ich nichts sagen, Madam.“

Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. Es war ärgerlich, dass ihr Bruder ausgerechnet jetzt, wo sie ihn sehen wollte, nicht anwesend war. Da die Lotterieziehung an diesem Vormittag stattfand, musste sie Richard das Los unverzüglich aushändigen. Sie wusste nichts über Lotterien, befürchtete jedoch, dass man den Gewinn gleich bei der Ziehung beanspruchen müsse. Richard würde nicht darüber hinwegkommen, wenn er das Geld nicht einstreichen konnte, weil er das Los zu Hause gelassen hatte.

Sie seufzte, steckte das kleine Stück Papier in die Tasche, nahm es wieder heraus und schaute es erneut an. Es hatte etwas Verführerisches. Amy verspürte eine gewisse Aufregung. Vielleicht konnte man damit zu einem Vermögen kommen. Kein Wunder, dass Leute sogar ernsthaft darum beteten zu gewinnen und ihren letzten Penny für ein Los ausgaben. Sie lächelte über ihre abwegigen Gedanken. Zum ersten Mal hatte sie sich versucht gefühlt, an einem Glücksspiel teilzunehmen, und die Absicht schwand so schnell, wie sie sie gehabt hatte.

Der Kammerdiener wartete immer noch ehrerbietig, wie er ihr behilflich sein könne. Amy hielt ihm das Los hin.

„Dies hier muss umgehend in die Hände meines Bruders gelangen, Marten“, sagte sie. „Haben Sie eine Ahnung, wo er heute Morgen sein könnte?“

Marten schüttelte den Kopf. „Ich bedaure, nein, Madam. Gestern Abend hat Ihr Bruder mir deutlich zu verstehen gegeben, dass er nicht die Absicht hat, vor dem Mittag nach Hause zu kommen, wenn überhaupt. Er kann überall sein, Madam.“

Sie zögerte. „Wissen Sie, wo die Ziehung der Lotterie stattfindet? Ich bin sicher, dass er dort hingeht. Ich könnte mich dort mit ihm treffen.“ Sie errötete. Die Miene des Kammerdieners zeigte zwar keinerlei Regung, aber Amy war überzeugt, dass er überrascht war. Schließlich war sie nicht dafür bekannt, dass sie an irgendeiner Art von Glücksspiel teilnahm.

„Soweit ich weiß, im Rathaus, Madam“, antwortete Marten ruhig, ganz so, als habe sie sich nach dem Wetter erkundigt. „Möchten Sie, dass ich Ihrem Bruder eine Nachricht überbringe?“

„Ja. Vielleicht …“ Amy hielt inne. Es wäre weitaus einfacher, den Kammerdiener zu der Lotterie zu schicken. Aber es war ein schöner Tag, und sie sehnte sich nach einem Spaziergang. Ehrlich gesagt, wünschte sie sich auch ein wenig Aufregung. Die schlechte Laune vom vergangenen Abend war noch nicht ganz verflogen, und eine Lotterieziehung war gewiss ein interessantes Spektakel.

„Nein, schon gut!“, fuhr sie fort und fühlte sich nach dieser jäh getroffenen Entscheidung ziemlich wagemutig. „Ich selbst werde hingehen. Ich muss in Holborn einen Brief abgeben, und das Wetter eignet sich für einen Gang durch die frische Luft.“

„Wie Sie wünschen, Madam“, murmelte der Kammerdiener. „Bitte zögern Sie nicht, mich zu rufen, falls ich Ihnen irgendwie dienlich sein kann.“

Er entfernte sich leise und machte die Tür zum Dienstbotenquartier hinter sich zu. Ehe sie anderen Sinnes werden konnte, rannte Amy die Treppe hinauf, legte die Schürze ab, setzte einen alten Hut auf und zog eine Pelisse an. Sie war noch damit beschäftigt, die Hutbänder unter dem Kinn zu verknüpfen, während sie schon die Treppe hinunterlief und das Haus verließ. Ihr Vorhaben war entschieden aufregender als Silberputzen oder die Abstimmung des Speiseplans mit der Köchin. Da es bis zum Rathaus ziemlich weit war, galt es, sich zu sputen. Es wäre zu ärgerlich, wenn sie zu spät einträfe und die Ziehung der Gewinne verpasste.

Amy hatte nicht mit einer so großen Menschenmenge gerechnet. Als sie im Rathaus ankam, war das Gedränge in dem Gebäude so groß, dass sie kaum vorwärts kam.

Ihr wurde bald klar, dass die Wahrscheinlichkeit, den Bruder in diesem Getümmel zu finden, sehr gering war. Sie hatte den Lockreiz einer Lotterie vollkommen unterschätzt.

Am Ende der Halle befand sich ein Podest, auf dem ein paar Männer eine komplizierte Maschinerie aufbauten, vermutlich die Lostrommel. Die Atmosphäre war prickelnd, berauschend wie Wein. In ihrem Leben geschah selten etwas Ungewöhnliches, doch nun hielt Amy das Lotterielos fest in der Hand und hatte das Gefühl, alles Mögliche könne geschehen.

Von links wurde sie von einer dicken Frau, die einen großen Einkaufskorb bei sich hatte, an eine Säule gedrückt. Andere Leute schoben sie vorwärts, und ein massiger Mann mit rotem Gesicht, der eine zu eng sitzende schimmernde Weste trug, wurde von rechts gegen sie gedrängt. Sie konnte kaum über die Köpfe der vor ihr stehenden Menschen sehen. Nachdem sie mehrmals vergeblich darum gebeten hatte, durchgelassen zu werden, Bitten, die wahrscheinlich von niemandem gehört worden waren, wurde ihr klar, dass sie wohl bis zum Ende der Veranstaltung eingeklemmt sein würde. Richard hätte nur zwanzig Schritte entfernt von ihr stehen können, doch für sie gab es keine Möglichkeit herauszufinden, ob er sich überhaupt hier befand. Sie fing an, ihre unüberlegte Handlungsweise zu bereuen.

Sie blickte sich um und bemerkte plötzlich in der Menge eine ihr vertraute Gestalt. Ihr stockte das Herz. Der Earl of Tallant stand links von ihr, lehnte lässig an der Wand und war mit einem hoch gewachsenen Herrn, in dem sie den Duke of Fleet erkannte, in ein Gespräch vertieft. Sie versuchte, sich hinter dem breiten Rücken des Mannes mit der glänzenden Weste klein zu machen, da sie nicht wollte, dass die beiden Gentlemen sie ausgerechnet bei einer Lotterieziehung sahen. Sie konnte kaum glauben, dass die Ankündigung des Earl sich so schnell bewahrheitet hatte. Sie hatte Seine Lordschaft meiden wollen, doch nun war er da. Das Schicksal hatte ihr einen boshaften Streich gespielt.

Irgendetwas erregte die Aufmerksamkeit des Earl of Tallant, und er schaute in ihre Richtung. Spöttisch hob er eine Augenbraue. Amy errötete. Es war leicht zu erraten, was er dachte. Sie erinnerte sich ihrer Äußerungen bei der letzten Begegnung mit ihm. Sie hatte gesagt, sie verabscheue die Spielsucht. Nachdem er sie jetzt gesehen hatte, war es kein Wunder, dass er, was ihre Behauptung anging, skeptisch war.

„Amy! Amy Bainbridge!“

Nicht die Stimme des Bruders war an ihr Ohr gedrungen, sondern die einer aufgeregten Frau. Mit einiger Mühe drehte Amy sich zur Seite und versuchte an dem massigen Gentleman vorbei etwas zu sehen.

„Entschuldigen Sie bitte!“ Charmant mit den Wimpern klimpernd, erreichte die junge Dame, dass der Mann neben Amy zur Seite trat. Dann fielen sie und Amy sich in die Arme, während die Menschenmenge sich um sie schloss.

„Amy!“

„Amanda!“

„Du meine Güte! Wo warst du im vergangenen Jahr?“

„Ich habe mich gefragt, was aus dir geworden sein mag.“

„Was machst du hier?“

„Ich bin bei meiner Tante zu Besuch.“

Amy und Lady Amanda Spry hatten gleichzeitig geredet und sich dabei aneinander geklammert. Amy hatte Amanda zuletzt vor drei Jahren während ihrer ersten Saison gesehen. Damals war die junge Dame verlobt gewesen, und Amy hatte ihr gesellschaftliches Debüt gegeben. Dann hatte der Vater sein ganzes Geld verloren, und Amys Familie hatte sich aufs Land zurückziehen müssen. Sir Frank Spry war mit seiner Gattin nach Irland gereist. Man war brieflich in Kontakt geblieben, wenngleich Amanda eine schlechte Briefschreiberin war. Nachdem sie Witwe geworden war, hatten sie überhaupt nicht mehr korrespondiert.

„Ich kann es kaum glauben!“, sagte sie, und ihre Augen glänzten. „Amy! Es ist fast zu schön, um wahr zu sein! Ich habe vor einiger Zeit deine Londoner Adresse verloren und gedacht, ich würde dich nie wiedersehen. Ich hätte mir denken können, dass ich dich hier antreffe. Gott und die Welt nehmen an Lotterien teil.“

„Ich bin zum ersten Mal dabei“, erwiderte Amy schüchtern. „Ich hatte keine Ahnung, dass so viele Leute da sein würden. Oh, Amanda! Es ist schön, dich zu treffen. Du siehst gut aus. Wo wohnt deine Tante? Du musst zu mir zum Tee kommen, damit wir ausgiebig plaudern können.“

Die Umstehenden drehten sich um und forderten Amy und Amanda mit bösen Blicken auf, still zu sein.

„Die Ziehung fängt gleich an!“, flüsterte Amanda der Freundin ins Ohr. „Wir werden uns später unterhalten. Jetzt dürfen wir nicht verpassen, welche Losnummern gezogen werden. Oh, ich finde das alles so aufregend!“ Sie holte ihr Los aus dem Ridikül. „Ich spiele jedes Mal, wenn ich in der Stadt bin, mit. Natürlich ist das nicht oft der Fall. In der übrigen Zeit male ich mir aus, was ich mit dem Geld machen würde, wenn ich etwas gewinne. Ich bin zwar gut situiert und habe genug, um bequem auf dem Land zu leben, aber wer würde dreißigtausend Pfund ausschlagen? Dreißigtausend, Amy! Mein Gott, das ist ein Vermögen!“

Amy verspürte einen leichten Schwindel. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass der Hauptgewinn so groß war. Aber Richard würde zweifellos auch eine solche Summe an einem Abend bei White’s verspielen. Das Wort „Vermögen“ war ein relativer Begriff.

Die beiden Lostrommeln wurden jetzt in Bewegung gesetzt, und die Menschenmenge fing an zu jubeln. Amy verrenkte sich den Hals, um zu sehen, was passierte. Auf dem Podest standen zwei Jungen, die die Lose zogen.

„Waisenjungen“, flüsterte Amanda. „Der eine zieht die Nummern der Lose aus der linken Trommel und der andere die Höhe der Gewinne aus der rechten. Welche Nummer war das eben? Nummer 2588? Was? Zwanzigtausend Pfund?“

„Dreißigtausend“, sagte der korpulente Gentleman neben ihnen und zerknüllte verärgert sein Los. Dabei sah er aus, als würde er nur aus Rücksicht auf die Anwesenheit von Damen nicht auf den Fußboden spucken. „Heute hat ein Gewinner alles eingestrichen, Madam. Dreißigtausend Pfund.“

„Nun, ich nicht“, sagte Amanda bedauernd und zuckte die Achseln. „Jetzt muss ich bis zum nächsten Mal warten, um wieder die Möglichkeit zu haben, ein Vermögen zu gewinnen. Amy! Amy!“

Amy hörte das aufgeregte Geraune der Leute kaum, da auf dem kleinen, zerknitterten Stück Papier, das sie in der Hand hielt, die Nummer 2588 zu lesen war. Sie starrte die Zahl an, bis sie ihr vor den Augen verschwamm.

„Ich glaube, da muss ein Irrtum vorliegen“, äußerte sie schwach.

Amanda sah das Los an und ergriff sie am Arm. „Amy!“, rief sie leise aus. „Du hast dreißigtausend Pfund gewonnen!“ Sie warf einen schnellen Blick in die Runde. Die Menge hatte begonnen, sich zum Ausgang zu drängen. Die Leute zerrissen ihre Lose und redeten fröhlich oder auch verdrossen miteinander. Amy sah einen Mann sein Los auf den Fußboden werfen und wütend darauf herumtrampeln.

„Steck das Los ins Ridikül“, flüsterte Amanda ihr ins Ohr. „Und lass dir nichts anmerken. Das wäre höchst gefährlich.“

Amy kam sich wie in einem Traum vor. Sie gehorchte, ließ sich willig von Amanda am Arm nehmen und zum Ausgang drängen. Immer wieder vernahm sie in Gedanken die Worte „dreißigtausend Pfund“. Die Menschenmenge trieb sie voran. Um sie herrschte ein schrecklicher Lärm. Ihr schwirrte der Kopf, und sie befürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Höchst erleichtert gelangte sie an die frische Luft und ließ sich von Amanda die Treppe hinabführen, vorbei an kleinen Gruppen von Leuten, die alle über die Ziehung redeten und sich wunderten, wer der Gewinner sein mochte.

„Warum nicht ich?“, hörte sie eine Frau, die einen schmutzigen Säugling an die Brust drückte, bedauernd zu einer anderen sagen. „Da Jack fort ist, brauche ich Essen für Emily.“

Amy zuckte heftig zusammen. Amanda neigte sich zu ihr und raunte ihr ins Ohr: „Hör nicht hin, Amy. So, wie ich dich kenne, würdest du dein Los und noch dein letztes Hemd opfern. Alle Welt braucht Geld. Und so, wie du aussiehst, brauchst du selber auch welches.“

Plötzlich erinnerte sich Amy, warum sie nichts von dem Geld weggeben konnte, selbst wenn sie das gewollt hätte. Das Los gehörte Richard, und damit auch der Gewinn. Die dreißigtausend Pfund waren sein Gewinn, und sie würde es ihm sagen müssen, sobald sie ihn sah. Einerseits war sie erleichtert, dass die Entscheidung ihr aus der Hand genommen war, und andererseits verstimmt, weil ihr klar war, dass ihr Bruder das Vermögen verschleudern würde. Wenn das Geld doch nur ihr gehörte! Mit den dreißigtausend Pfund hätte sie so viel anfangen können. Aber sie würde keinen Penny davon zu Gesicht bekommen. Einen Moment lang krampfte sie die Hand um das Ridikül mit dem kostbaren Inhalt und lockerte dann den Griff. Das Leben war ungerecht. Aber daran ließ sich nichts ändern. Sie würde das Geld nicht für sich ausgeben, und ganz gewiss konnte sie es nicht dafür verwenden, Gutes zu tun. Das Beste war, diese Gedanken sofort fallen zu lassen, ehe die Versuchung zu groß wurde.

Autor

Nicola Cornick

Die britische Schriftstellerin Nicola Cornick schreibt überwiegend Liebesromane, die in der Zeit des britschen Regency spielen. Sie ist aktives Mitglied der britischen “Romantic Novelists’ Association”, zudem erhielt sie zahlreiche Preise unter anderem den RITA-Award. Ihr erstes Buch wurde 1998 von Mills & Boon veröffentlicht. Sie zählt zu den Bestseller-Autoren der...

Mehr erfahren
Anne Herries

Anne Herries ist die Tochter einer Lehrerin und eines Damen Friseurs. Nachdem sie mit 15 von der High School abging, arbeitete sie bis zu ihrer Hochzeit bei ihrem Vater im Laden. Dann führte sie ihren eigenen Friseur Salon, welchen sie jedoch aufgab, um sich dem Schreiben zu widmen und ihrem...

Mehr erfahren