Im Bann des schönen Fremden

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"Ich bin eine enorme Unannehmlichkeit?" Julia ist empört. Scheich Azhar al-Farid ist der schönste Mann, den sie jemals gesehen hat. Und der hochmütigste! Leider ist er auch ihre einzige Möglichkeit, der Wüste zu entfliehen - also überredet sie ihn zähneknirschend, ihr zu helfen. Schnell wird sie gewahr, dass Azhar keineswegs so arrogant ist, wie es scheint. Seine zärtlichen Küsse sprechen eine ganz andere Sprache … Doch als Julia im Begriff ist, ihr Herz an den attraktiven Scheich zu verlieren, muss sie erkennen, dass ihr Liebster nicht der ist, für den sie ihn hält!


  • Erscheinungstag 21.02.2017
  • Bandnummer 574
  • ISBN / Artikelnummer 9783733767983
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Königreich Qaryma, im Frühling 1815

Es war Spätnachmittag, und die Wüstensonne brannte unerbittlich auf ihn herab, dennoch hatte sich Azhar den ganzen Tag über kaum eine Pause gegönnt. Sein Ziel lag nach der langen Reise endlich in Reichweite, und dieses Wissen trieb ihn an. Je eher er die ungeliebte Aufgabe hinter sich brachte, desto besser. Sein Vorhaben fiel ihm nicht leicht und könnte sich als schwierig und womöglich auch schmerzlich erweisen, doch es lohnte sich. Vor zehn Jahren hatte er seine Heimat verlassen und sich geschworen, nie wieder zurückzukehren. Wenn er Qaryma dieses Mal den Rücken kehrte, würde es tatsächlich für immer sein.

Azhar brachte sein Kamel zum Stehen und blickte, die Augen mit einer Hand abgeschirmt, in die Ferne. Der Anblick der Wüste veränderte sich stetig. Die knochentrockenen Winde formten die Dünen beständig neu, als wäre die Landschaft lebendig wie eine große, sich windende Schlange. An diesem Tag variierten die Farben von Gold zu verbranntem Orange und dunklem Schokoladenbraun, wo die hohen Sandberge Schatten in die Dünentäler warfen. Die endlose Weite, das strahlende Blau des Himmels und die flirrende Hitze erfüllten Azhar mit Ehrfurcht und wehmütigen Erinnerungen. Seine Handelsreisen hatten ihn durch viele Wüstenlandschaften geführt, doch keine berührte sein Herz so sehr wie diese.

Früher zumindest. Vor zehn langen Jahren hatte er diese Landschaft und ihre Menschen aus seinem Herzen und seinen Gedanken verbannt. Seine Erinnerungen sollten das neue Leben nicht durchdringen, das er sich aufgebaut hatte. Sein Handelsgeschäft machte ihn unabhängig. Er war niemandem Rechenschaft schuldig und musste für niemanden Verantwortung tragen. Sobald er besagte Angelegenheit in Qaryma erledigt und einen Schlussstrich gezogen hatte, würde er endlich frei sein.

Tief unter ihm schmiegte sich die Zazim-Oase ins Tal, umgeben von einem sattgrünen Gürtel üppiger Vegetation. In der reglosen, silbriggrünen Wasserfläche spiegelten sich die Dünen so klar, als wären sie gemalt. Die Oase war weithin bekannt und bei müden Reisenden beliebt, dennoch hoffte er auf eine letzte einsame Nacht, bevor er sich der schwierigen Aufgabe stellen musste, die ihn hergeführt hatte. Der ohnehin nur kleine Hoffnungsfunke erstarb jedoch endgültig, als er ins Tal hinunterritt.

Im Schatten der Palmen stand ein Zelt. Es ähnelte dem, das seine Maultiere trugen, ein Konstrukt aus schweren Wolldecken und Tierfellen, die über einen einfachen Holzrahmen gespannt wurden. Dieses Zelt war größer als seines, ähnlich den Zelten, die Beduinen benutzten, und nicht bloß für einen einzelnen Reisenden gedacht. Suchend ließ Azhar den Blick schweifen. Die ausgeprägte Stille in der Oase kam ihm merkwürdig vor; es gab keinerlei Anzeichen von Leben, weder Mensch noch Tier. Doch niemand würde einen solch wertvollen Besitz freiwillig im Stich lassen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, stets mit dem Unerwarteten zu rechnen, und so glitt Azhars Hand unwillkürlich zu seinem Krummsäbel, während sein Kamel und die an Leinen aneinander gebundenen Lasttiere langsam den Abstieg begannen.

Julia Trevelyan fuhr abrupt aus dem Schlaf hoch. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Schweißnass und kratzig vom Sand klebte ihr dünnes Leinenhemd an ihrer Haut. Die Luft im Zelt war stickig, und das Atmen fiel ihr schwer. Durch die Ritzen der Zeltplanen drang gleißendes Licht; es musste also schon spät am Nachmittag sein. Aber das war unmöglich.

Ihr Kopf schmerzte, und ihr Gaumen fühlte sich pelzig an, als wäre er mit Kamelhaar überzogen. Durstig griff sie nach der Trinkflasche neben ihrem Schlaflager, doch ihre Hände zitterten, weshalb es ihr erst nach mehreren Versuchen gelang, den Verschluss zu öffnen. Mit gierigen Schlucken trank sie das kostbare Wasser, ohne darauf zu achten, dass es ihr über Kinn und Brust tropfte. Das hämmernde Pochen in ihren Schläfen wuchs sich zu einem heftigen Schmerz aus, und ihr war glühend heiß. Rasch schüttete sie sich das restliche Wasser aus der Flasche über das Gesicht, um sich ein wenig Abkühlung zu verschaffen. Hanif, ihr Dolmetscher und Führer, wäre entsetzt über eine solche Verschwendung gewesen, aber Julia war es egal, und außerdem gab es in der Oase reichlich Wasser.

Wo steckte Hanif überhaupt? Warum hatte er sie nicht längst geweckt? Und wie spät war es eigentlich? Julia tastete nach Daniels Taschenuhr, die gewöhnlich neben ihrer Schlafmatte lag, aber sie konnte sie nicht finden. Nanu, hatte sie die Uhr vielleicht woandershin gelegt? Andererseits sah es ihr gar nicht ähnlich, achtlos mit einem so wertvollen Schmuckstück umzugehen. Sie runzelte die Stirn, worauf sich der Kopfschmerz verstärkte. Sie konnte sich nicht mal erinnern, dass sie zu Bett gegangen war.

Plötzlich fiel ihr die Stille auf. Angestrengt lauschte sie. Nichts. Keine Unterhaltung drang zu ihr herüber, keine Stimmen waren vernehmbar. Nicht mal ein Rascheln. Selbst das schrille Wiehern der Maulesel und das grüblerische Blöken der Kamele waren verstummt. Trotz der Hitze erschauerte sie. Unsinn! Das bildete sie sich bestimmt bloß ein. Hanif und seine Männer waren gut für ihre Hilfe bezahlt worden. Sie würden sie hier nicht einfach allein lassen.

Mitten in der Wüste.

Angst stieg in ihr auf. So etwas Albernes. Entschlossen schob Julia die Decke zurück und stand auf. Zu schnell. Das Zelt verschwamm ihr vor den Augen, und sie schwankte. War sie etwa krank? Ein Hitzschlag vielleicht? Oder hatte sie schlicht zu wenig getrunken?

Sie ging zum Eingang an der Vorderseite des Zeltes und steckte den Kopf hinaus. Die Sonne tauchte die Umgebung in ein blendend weißes Licht. Der Tag näherte sich dem Abend. Ungläubig schaute sie sich um. Die Kamele und Maultiere waren spurlos verschwunden, ebenso wie ihre Begleiter. Bloß die kalte Asche des Kochfeuers vom vergangenen Abend zeugte noch davon, dass Menschen hier gewesen waren. Kein Laut war zu hören. Kein Palmblatt rührte sich. Sie war allein.

Wut und Verwirrung verdrängten die Angst. Warum war sie nicht eher aufgewacht? Hanif und seine Männer konnten doch unmöglich alles so leise zusammengepackt haben, ohne dass sie etwas davon bemerkt hätte. Gewöhnlich hatte sie einen sehr leichten Schlaf. Sie drehte sich um und stellte fest, dass ihre Kleider im ganzen Zelt verstreut lagen. Die große Truhe, in der sie sich befunden hatten, war umgekippt. Julias Magen rebellierte. Wo war ihre andere Truhe? In dieser Truhe befand sich der Grund, warum sie überhaupt in diese entlegene Wüste gereist war, so weit entfernt von ihrer Heimat England. „Bitte, bitte, bitte“, flüsterte sie, als sie zur Rückseite des Zeltes eilte.

Doch die Truhe war fort. Nein, das durfte nicht sein. Irgendwo musste sie doch stecken. Hektisch suchte Julia das Zelt bis in die dunkelsten Ecken ab, wühlte sich durch Unterröcke und Kleidung und schaute sogar unter dem Kissen ihres Schlaflagers nach, doch die kleine Truhe blieb unauffindbar. Und damit auch ihr wertvoller Inhalt – die detailgetreuen Zeichnungen der Wüstenpflanzen und die sorgfältig etikettierte Pflanzenprobensammlung. Julia hatte kurz vor Vollendung ihrer Aufgabe gestanden. Die Seiten ihrer Notizbücher waren fast sämtlich mit farbenprächtigen Bildern gefüllt, die kleinen Schubladen der Truhe beinahe alle randvoll gewesen. Bald hätte sie ihr Versprechen erfüllen können; ihre Freiheit war bereits in Reichweite gerückt. Doch nun schien alles vergeblich gewesen zu sein.

Nein! Das durfte einfach nicht wahr sein. Bitte lass es nur ein grässlicher Albtraum sein, aus dem ich gleich erwache, betete sie stumm und sank niedergeschlagen in den Sand. Tränen schossen ihr in die Augen, und sie unterdrückte sie mühsam. Sie weinte sonst nie. Ich werde es schon schaffen, redete sie sich ein. Immerhin war sie schon die vergangenen Monate auf sich allein gestellt gewesen und hatte diese Situation ausgezeichnet gemeistert. Und sie war wahrlich schon mit weitaus schlimmeren Situationen konfrontiert gewesen. Einmal war ihre Barke, mit der sie und Daniel auf einem schlammigen Fluss den Dschungel durchquerten, in eine heftige Strömung geraten und gesunken. Sie hatten sich an die Wrackteile geklammert, während sie flussabwärts trieben, bis die Wasser seichter wurden und sie ans Ufer gelangen konnten. Durch das Unglück hatten sie alles verloren. Nein, nicht alles. Seine Uhr und Brieftasche hatte Daniel bei sich getragen.

Ihre Brieftasche! Julia holte das Kissen aus der Ecke, in die sie es bei ihrer Suche geworfen hatte, aber sosehr sie auch darin wühlte, die Lederbörse mit den Goldmünzen war weg. Vermutlich hatten die Männer auch Daniels Uhr gestohlen. Nun konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie hatten über ihrem schlafenden Körper gestanden, alles durcheinandergebracht, und sie hatte nichts davon bemerkt.

Lieber Gott, was hatte sie noch verschlafen? Verspätet suchte Julia ihren Körper nach verräterischen Anzeichen ab. Als sie keine fand, atmete sie erleichtert auf. Die Vorstellung, was ihr hätte zustoßen können, ließ sie erschauern. Sie hätten ihr auch ganz leicht die Kehle aufschlitzen können.

Halt!

Wenn sie ihre Gedanken in diese Richtung weiterlaufen ließ, erwartete sie nichts als Verzweiflung, und dafür hatte sie keine Zeit. „Es hat keinen Sinn, sich das Schlimmste auszumalen“, sagte sie nachdrücklich zu sich. „Mach dich nicht selbst verrückt, mach lieber eine Bestandsaufnahme deiner Situation.“ Zunächst einmal war sie zum Glück unverletzt. Ihre Goldmünzen waren allerdings gestohlen worden, ebenso wie das Andenken an Daniel, seine geliebte Uhr, aber das Geheimversteck, in dem sie ein paar Scheine aufbewahrte, hatten diese Schurken hoffentlich nicht entdeckt.

Leiser Hufschlag hielt sie jedoch davon ab, sofort nachzusehen. Vorsichtig hob Julia die Zeltplane am Vordereingang an und schaute hinaus.

Gefolgt von drei Lasttieren näherte sich ein einzelner Reiter auf einem Kamel der Oase. Sein Kopf und der Großteil seines Gesichts waren von einer weißen Kufija bedeckt, die von einem geflochtenen Band aus dunkelroten Tüchern gehalten wurde. Nur seine Augen und die hohen Wangenknochen lugten heraus. Er wirkte noch recht jung. Sie schätzte sein Alter auf höchstens fünfunddreißig. Über einem weiten dunkelroten Hemd trug er eine Abaya, einen Mantel aus ungebleichter Baumwolle. Seine langen braunen Reitstiefel bogen sich an den Spitzen nach oben. Der Staub auf seiner Kleidung verriet, dass er weit gereist sein musste. Obwohl sie ihn argwöhnisch beobachtete, schlug der Mann sie unwillkürlich in seinen Bann. Sie wusste nicht, was sie mehr an ihm faszinierte, ob seine aufrechte Haltung und die Leichtigkeit, mit der er sein Reittier führte, oder der Falke, der vor ihm im Sattel saß. Mit herablassendem Blick sah er sich um, als besäße er allein das Recht, sich in der Oase aufzuhalten.

Er schnalzte mit der Zunge, und das Kamel fiel gehorsam auf die Knie. Die Hand auf den gefährlich wirkenden Krummsäbel an seinem Gürtel gelegt stieg er ab. Aus Vorsicht beschloss Julia, sich in die Büsche am Rand der Wasserstelle zu flüchten, solange er mit dem Anbinden der Maultiere beschäftigt war.

Sie wollte sich gerade in den dunklen Schutz des Zeltes zurückziehen und auf der Hinterseite herauskriechen, um sich ein Versteck zu suchen, als sie den schlanken silbergrauen Saluki entdeckte. Leider bemerkte der Hund sie im selben Moment. Er spitzte die Ohren und drehte sich zu ihr. Hastig duckte Julia sich zurück, aber noch während sie die Plane aus Leder an der Rückseite öffnen wollte, traten zuerst der Hund und dann sein Besitzer ins Zelt.

Sie schnappte sich den nächstbesten Gegenstand als Waffe, den sie in die Finger bekam, und wandte sich den Eindringlingen zu. Der Hund stand so dicht vor ihr, dass sie seinen Atem auf ihren nackten Füßen spürte, als er die Zähne fletschte.

„Bleiben Sie, wo Sie sind, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist“, befahl Julia auf Italienisch. In dieser Sprache hatte sie sich auch mit Hanif unterhalten, denn Arabisch beherrschte sie leider nur mäßig. Die wenigen Worte, die sie kannte, waren wohl kaum für die hässliche Situation geeignet, in der sie sich befand.

Der Nomade ignorierte sie und kam ungerührt weiter auf sie zu. Seinen Krummsäbel hatte er nicht gezückt, doch in der Hand hielt er einen Dolch. Julia überlief es eiskalt. Er war mindestens einen Kopf größer als sie, dabei war auch sie nicht klein. „Ich meine es ernst“, warnte sie und richtete ihre provisorische Waffe – eine Haarbürste – auf ihn. In ihrer Angst war sie ins Englische verfallen. „Wenn Sie noch einen Schritt näher kommen, werde ich …“

Er machte nicht nur einen Schritt, sondern mehrere, und alle so schnell, dass sie keine Zeit hatte, sich zu wehren. Fest presste er ihr die Hand auf den Mund, um sie vom Schreien abzuhalten. Ein starker Arm legte sich um ihre Taille und drückte sie an seinen harten, unnachgiebigen Körper. Der Dolch am Ende dieses Arms sah spitz genug aus, um Metall zu zerschneiden, ganz zu schweigen von Stoff oder Fleisch. Die Haarbürste, mit der sie sich zur Wehr hatte setzen wollen, fiel in den Sand, als Julia sich mit aller Kraft loszureißen versuchte. Der Hund bellte, griff sie jedoch nicht an.

Völlig unbeeindruckt von ihren Anstrengungen warf der Mann sie über seine Schulter und durchquerte mit ihr das Zelt. Erst, als er sich versichert hatte, dass sich außer ihr niemand dort aufhielt, setzte er sie wieder ab. Er zog die Kufija vom Gesicht und schickte den Hund mit einem Fingerschnippen als Wachposten zum Eingang.

Sehr kurzes nachtschwarzes Haar brachte seine markanten Gesichtszüge vorteilhaft zur Geltung. Er hatte eine breite Stirn, hohe Wangenknochen und ein überraschend glatt rasiertes Kinn mit einem schmalen Grübchen, das die Aufmerksamkeit auf die perfekte Symmetrie seiner Züge lenkte. Seine dichten goldbraunen Wimpern erinnerten sie an die untergehende Sonne. Seine Nase war groß, doch die Strenge, die sie seinem Gesicht verlieh, wurde durch den weichen, sinnlichen Mund gemildert, der bei einem weniger maskulinen Gesicht zu feminin gewirkt hätte. Julias Künstlerauge nahm all diese Einzelheiten in wenigen Augenblicken auf. Er war einer der attraktivsten Männer, denen sie je begegnet war. Unter anderen Umständen hätte es ihr in den Fingern gejuckt, ihn zu zeichnen und seine lässige Anmut auf Papier festzuhalten.

Er hob die Bürste auf und gab sie ihr. „Was hatten Sie damit vor? Mich zu Tode bürsten?“ Er lachte auf, doch seine Augen blieben kühl. „Was tun Sie hier? Warum sind Sie in der Wüste allein unterwegs?“

Er sprach perfektes Englisch mit einem leichten Akzent. Dieser Mann war eindeutig kein armer Nomade, wie sie zuerst angenommen hatte. Julia wich zurück, ihr Blick flog zum Zelteingang.

„Das würde ich Ihnen nicht raten“, sagte er. „Ich bin gewiss schneller als Sie. Und selbst wenn nicht, Uday holt Sie ganz sicher ein.“ Der Hund spitzte bei seinem Namen die Ohren. „Uday bedeutet der Schnellrennende, und das ist er. Schnell wie der Wind.“ Der Hund bleckte die Zähne wie zu einem verächtlichen Lächeln. Er und sein Herr passten gut zueinander. Dennoch ging Julia weiter, denn ihr fiel kein anderer Ausweg ein.

Sie hatte kaum zwei Schritte gemacht, als er sie erneut hochhob und gleich darauf mitten im Zelt absetzte. „Madam, Ihnen droht mehr Schaden, wenn Sie ohne Hut, Schuhe und Wasser in die Wüste hinauslaufen, als durch meine Hände.“

Er hatte recht. Wie ärgerlich. Sie war unbewaffnet, im Gegensatz zu ihm. Und sie war nicht schneller als er, auch nicht stärker. Ihr blieb keine andere Wahl, als sich der Situation mutig zu stellen. Auf keinen Fall durfte sie ihre Angst zeigen. Sie faltete die zitternden Hände und funkelte den Mann an. „Ich habe nicht die Absicht wegzulaufen. Ich bin schließlich kein Eindringling. Das ist mein Zelt, und Sie haben kein Recht, sich hier aufzuhalten. Ich verlange, dass Sie sofort gehen.“

Verblüfft musterte er sie.

„Ich habe Sie gebeten, zu gehen“, wiederholte Julia, dieses Mal auf Italienisch.

Er rührte sich immer noch nicht. „Das habe ich verstanden“, antwortete er, ebenfalls auf Italienisch, ehe er wieder ins Englische verfiel. „Dieses Zelt mag Ihnen gehören, das Königreich jedoch nicht. Sie gehören nicht hierher. Daher wiederhole ich meine Frage: Was tun Sie hier?“

Julia machte sich nicht die Mühe, ihren Ärger zu verhehlen. „Das geht Sie bei allem Respekt nichts an.“

Gereizt schüttelte er den Kopf. „Sind Sie im Besitz gültiger Einreisepapiere? Wer hat Ihnen die Erlaubnis gegeben, sich hier aufzuhalten?“

Obwohl seine Stimme schroff klang, den Dolch hatte er zumindest weggesteckt. Julias Angst schwand und machte dem Ärger Platz. So ein arroganter Kerl! Sie verschränkte die Arme. „Natürlich habe ich gültige Einreisepapiere, es hat alles seine Ordnung.“

„Ich will sie sehen.“

Fordernd streckte er die Hand aus. Sie wollte ihn schon darauf hinweisen, dass es ihm nicht zustand, auch nur irgendetwas von ihr zu verlangen, als ihr einfiel, dass er womöglich im Auftrag der hiesigen Regierung handelte und es unklug sein könnte, ihn weiter aufzubringen, vor allem, da sie seine Hilfe brauchte. „Einen Moment, ich suche sie.“

Der Vorsehung sei Dank, dass sie ihre Papiere nicht bei ihren Wertsachen aufbewahrt hatte. Julia glitt mit den Fingern vorsichtig in den kleinen Schlitz, den sie ins Leder ihrer Kleidertruhe geschnitten hatte. Zu ihrer Erleichterung befanden sich die Dokumente immer noch in ihrem Versteck, ebenso wie das schmale Banknotenbündel, das sie jedoch für den Moment dort beließ. Nachdem sie die Knickfalten ein wenig geglättet hatte, reichte sie dem Mann die Papiere. „Es ist alles korrekt ausgestellt, wie Sie sehen werden.“

Der Mann runzelte die Stirn. „Das ist eine Aufenthaltsgenehmigung für das Königreich Petrisa.“

„Genau. Unterzeichnet von den zuständigen Behörden“, stimmte Julia zu. „Und dem britischen Konsul in Damaskus.“ Der ihr, ebenso wie Colonel Missett, der Generalkonsul in Kairo, haarsträubende Geschichten erzählt hatte, dass ihr Raub und sogar Mord drohen könnten, wenn sie diese Reise allein unternahm. Wie sich herausgestellt hatte, waren die Warnungen durchaus berechtigt gewesen. Ihre Motivation war jedoch so groß, dass sie jedes Risiko bereitwillig auf sich nahm und selbst das gute Zureden der beiden selbstherrlichen Gentlemen sie nicht hatte umstimmen können. Jedoch hatte sie die Herren auch nicht über die wahre Natur ihres Vorhabens aufgeklärt. Das ging nur sie etwas an. Schließlich war es ihr Leben, nicht deren. „Nun, zufrieden?“, fragte Julia.

Der Fremde runzelte immer noch die Stirn. „Wie Sie sagen, sind die Papiere in Ordnung. Es gibt nur ein Problem, und das ist, wie ich befürchte, von immenser Bedeutung. Sie sind nicht in Petrisa. Sie sind in der Zazim-Oase, und die befindet sich im Königreich Qaryma.“

Julia blickte ihn fassungslos an. Er musste sich irren. Oder er log aus unerfindlichen Gründen. Vielleicht, weil er sie für ihre Unhöflichkeit bestrafen wollte. „Unsinn, das kann nicht sein“, erwiderte sie nachdrücklich. „Ich hab noch nie von einem Land namens Karim gehört.“

„Qaryma.“

Ohje, wenn er recht hatte, saß sie tief im Schlamassel. Ohne gültige Reisepapiere war sie der Eindringling, nicht er. Sie durfte jetzt nicht die Fassung verlieren. Unbefugte Grenzüberschreitung konnte doch sicherlich nicht als Verbrechen geahndet werden, wenn es keine Absicht gewesen war, oder? Julia räusperte sich. „Mein Dragoman hat gesagt … sind Sie sicher, dass wir nicht in Petrisa sind?“

„Ich könnte mir gar nicht sicherer sein.“

Sein Ton war unversöhnlich. Er wirkte ein klein wenig einschüchternd, aber ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass er nicht log. Sie glaubte ihm. Sie war allein und hatte sich unabsichtlich strafbar gemacht. „Wie es aussieht, schulde ich Ihnen eine Erklärung“, sagte sie. „Offenbar habe ich wohl rein aus Versehen die Grenze übertreten.“

„Sie hatten doch sicher einen Führer, einen Dolmetscher, Träger. Wo sind die?“

Sein Ton ärgerte sie. Fest schlang sie die Arme um sich. „Ich bin allein durch die halbe Welt gereist. Ich bin kein hilfloses, dummes Gänschen.“ Nun ja, ein wenig hilflos fühlte sie sich im Moment schon. „Ich weiß nicht, wo mein Führer und seine Männer abgeblieben sind“, gab sie widerwillig zu. „Sie sind unerwartet mitten in der Nacht verschwunden.“

„Und die Kamele und Lasttiere?“

„Sie haben alles mitgenommen.“ Als sie die Worte laut aussprach, kam sie sich wie eine Närrin vor. Beschämt senkte sie den Blick. „Ich konnte sie nicht aufhalten. Vermutlich haben sie mir gestern Abend unbemerkt ein Schlafmittel in den Tee gegeben.“

Seine Hand glitt zum Griff seines Säbels, und er fluchte leise auf Arabisch. „Hat man Ihnen etwas angetan?“

Ihre Wangen glühten. „Nein. Ich … nein. Jedenfalls nicht auf diese Art, wenn ich Ihre Frage richtig verstehe.“

„Zum Glück. Es tut mir aufrichtig leid, Madam, dass Sie einer solchen Barbarei zum Opfer gefallen sind. Ich versichere Ihnen, dass kein Bürger von Qaryma sich derart widerwärtig gegenüber Fremden verhalten würde. Diese Schurken haben Sie vielleicht nicht misshandelt, aber sie haben unbefugt die hoheitlichen Grenzen von Qaryma übertreten und Sie dann bestohlen.“

Er wirkte nicht nur zornig, sondern auch irritiert. Erneut betrachtete er ihre Papiere und runzelte die Stirn. „Sie reisen wirklich ganz ohne Begleiter?“

„Ja, den ganzen weiten Weg von England bis hierher“, sagte Julia mit leichtem Lächeln.

Der Mann schien ihren Stolz auf diese Leistung nicht zu teilen. Vielmehr machte er einen entsetzten Eindruck. „Sie sind verheiratet“, sagte er und deutete auf den Ring an ihrer Hand. „Wo ist ihr Gatte? Ich bin mir sicher, dass selbst ein Engländer eine Frau den Gefahren einer solchen Reise nicht schutzlos ausliefern würde. Ich jedenfalls würde mit der Sicherheit meiner Gattin gewiss nicht so fahrlässig umgehen, wenn ich verheiratet wäre. Das ist eine Sache der Ehre, ganz zu schweigen …“

„Von der Tatsache, dass wir das schwache Geschlecht sind“, beendete Julia den Satz für ihn. „Zum Glück ist mein Gatte anderer Ansicht gewesen.“ Was genau genommen nicht stimmte. Daniel hatte zu ihrem großen Ärgernis ganz selbstverständlich angenommen, dass er ihr in jeder Hinsicht überlegen war. Wenn es ihm jedoch zupassgekommen war und es ihm zum Vorteil bei seinen Expeditionen gereicht hatte, war er nur allzu geneigt gewesen, ihre Talente und Fähigkeiten anzuerkennen, selbst wenn er ihr diese kurz zuvor noch abgesprochen hatte.

„Eigentlich wollte ich sagen, dass Ihr Gatte das am Hochzeitstag gegebene Versprechen einhalten und Sie beschützen sollte.“

„Ich bin durchaus in der Lage, mich selbst zu schützen“, erklärte Julia. Seine gehobene Augenbraue und sein skeptischer Blick durch das verwüstete Zelt ließen ihr die Röte in die Wangen steigen.

„Sie sagten, Ihr Gatte sei anderer Ansicht als ich gewesen.“

„Welche?“

„Nein, was ich meinte … Sie sprachen von ihm in der Vergangenheit.“

„Ich bin Witwe“, antwortete Julia. „Daniel ist vor einem Jahr an einem Fieber in Südamerika verstorben.“

„Mein aufrichtiges Beileid.“

„Danke.“ Zu Hause in Cornwall hatte sie um den Mann getrauert, den sie so viele Jahre ihres Lebens gekannt hatte, zunächst als Freund, dann als Assistenten ihres Vaters und zuletzt sieben Jahre lang als ihr Gatte. Sie vermisste immer noch den Freund, den Botaniker, den Weggefährten, aber den Gatten? Abstand, Zeit und sechs Monate des Alleinreisens ließen ihre Ehe in einem anderen Licht erscheinen.

Dass Daniel jedoch in der Tat ziemlich nachlässig mit ihrer Sicherheit umgegangen war, war nicht Angelegenheit dieses Fremden. Ebenso wie es nicht ihre Angelegenheit war, dass so ein atemberaubender Mann wie er noch ungebunden war. Dennoch benötigte sie seine Hilfe. Sie konnte gar nicht glauben, dass sie so viel kostbare Zeit verschwendet hatte, ehe sie darum bat.

Sie schenkte ihm ein hoffentlich einnehmendes Lächeln. „Nun, da Sie meine Situation kennen, werden Sie gewiss verstehen, warum ich Sie um Ihre Unterstützung bitten muss, um die Männer zu finden, die mein Vertrauen missbraucht haben. Weit können sie nicht gekommen sein, und in ihrem Besitz befindet sich etwas, das ich unbedingt wiederhaben muss.“ Er schüttelte bereits den Kopf. „Oh bitte“, unterbrach sie, als er zum Sprechen ansetzte. Ihre Verzweiflung schimmerte in ihrer Stimme durch. „Ich flehe Sie an. Die Maultiere und Kamele sind mir egal. Selbst das Geld und der Schmuck, abgesehen von Daniels Taschenuhr, die einen großen sentimentalen Wert für mich hat. Mir geht es jedoch vor allem auch um eine gewisse, für mich sehr wertvolle Sache, die mir mehr bedeutet als alle meine Besitztümer zusammengenommen. Die Männer haben mir zwar mein Gold gestohlen, aber ich besitze noch etwas Geld. Ich kann Sie bezahlen, wenn Sie …“

„Ich bin kein Dragoman, Madam, und Ihr Geld will ich ganz sicher nicht und brauche es auch nicht.“

Er musterte sie so verächtlich, dass sie unwillkürlich unter seinem Blick zusammenzuckte. „Ich bitte um Verzeihung, ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich bin verzweifelt. Es ist für mich lebenswichtig, dass …“

„Nein.“ Er blieb unerbittlich. „Die Suche wäre sinnlos. Was immer sie Ihnen gestohlen haben, ist längst auf irgendeinem Markt verkauft. Diebesgut wird gewöhnlich schnell weitergegeben, und es finden sich stets skrupellose Käufer, die keine Fragen stellen, wenn sie ein gutes Geschäft wittern.“

„Aber …“

„Ich bin selbst Händler – ein ehrenwerter, wie ich hinzufügen möchte, aber ich weiß, wie diese Schurken vorgehen. Es tut mir leid. Ich wünschte, es wäre anders, vor allem wegen der Uhr, aber ich fürchte, Sie müssen Ihre Wertsachen als verloren betrachten.“

Sein Ton war unnachgiebig. Gezwungen, die Wahrheit zu akzeptieren, überfiel Julia Enttäuschung. Sie stellte sich vor, wie Daniels Truhe auf einem Souk verkauft wurde. Die für sie so wertvollen Pflanzen waren von den Dieben sicher weggeworfen worden. Ihre Farben und die kleine Kelle würden verkauft werden, aber ihre Notizbücher und Zeichnungen – nein, die wären für diese Männer wertlos. Sie ahnten nichts von ihrer enormen Bedeutung.

Die Wut kochte in ihr hoch; sie war nicht bereit aufzugeben. Wenn sie ihre Arbeit nicht retten konnte, dann musste sie eben von vorn anfangen. Auf keinen Fall würde sie nach Cornwall zurückkehren, ohne ihre Aufgabe erfüllt zu haben. Sie war so weit gekommen, hatte so viele Hindernisse überwunden, sie würde sich auf keinen Fall wegen einer Bande von Schurken geschlagen geben.

„Na schön“, erwiderte Julia. „Wenn Sie mir nicht helfen wollen, diese Diebe zu fangen, würden Sie mir dann vielleicht helfen, einen vertrauenswürdigeren Dragoman zu finden? Ich bitte Sie lediglich, mich über die Grenze nach Petrisa zu bringen, mir zu helfen, mir neue Kamele und Lasttiere zu kaufen und …“

Sie hielt inne, denn er schüttelte schon wieder den Kopf. „Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Ich habe keine Zeit, umzukehren. Dringende Geschäfte führen mich in die Hauptstadt Al-Qaryma, die keinen Aufschub dulden.“

Verärgert blickte Julia ihn an. „Sie wollen mich also hier gestrandet zurücklassen, ohne gültige Papiere und ohne die Mittel, nach Petrisa zurückzukehren? Was in aller Welt soll ich denn tun?“

Eine ausgezeichnete Frage, dachte Azhar und betrachtete die Frau mit einer Mischung aus Ärger und Neugier. Sie war älter, als er anfänglich angenommen hatte, vielleicht sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig. Nicht mehr in der Blüte der Jugend, aber zu jung, um Witwe zu sein, und sicher zu jung, um allein in der Weltgeschichte herumzureisen, ganz egal, für wie fähig sie sich hielt.

Auch wenn er ihr eine gewisse Furchtlosigkeit zugestand, wenn sie tatsächlich, wie sie behauptete, ganz allein von England hergereist war. Und er zweifelte nicht an ihren Worten. In ihren palmgrünen Augen schimmerten Klugheit und Aufrichtigkeit. Ihr fehlte es vielleicht an Urteilsvermögen, aber sie hatte Mut und war hartnäckig. Obwohl sie eine unerwünschte Ablenkung darstellte, fand er sie ungewöhnlich anziehend.

Dabei entsprach ihr Aussehen keineswegs dem gängigen Schönheitsideal. Dafür war sie etwas zu groß, ihr Gesicht etwas zu lang und ihre Stirn zu breit. Dennoch prägte sich ihre Erscheinung ins Gedächtnis ein, dank dieser Masse an kupferrotem Haar und ihrer großen grünen Augen. Das hässliche Nachthemd ließ ihre schlanke Figur erahnen, und ihre Haarfarbe verriet ein stürmisches Temperament. Ihr Mund hatte einen sinnlichen Schwung, wenn er nicht zu einer schmalen Linie gepresst war.

Entsetzt über die lüsterne Richtung, die seine Gedanken genommen hatten, wendete er den Blick ab. Als hätte er nicht schon genug Sorgen, musste er nun auch noch Verantwortung für eine Fremde übernehmen. Ihm blieb jedoch keine andere Wahl. Er konnte sie schließlich nicht ihrem Schicksal überlassen. Erneut flammte Zorn auf diese Schurken in ihm auf, die sie ausgeraubt hatten. Dass die Mistkerle die Frechheit besaßen, unerlaubt die Grenzen von Qaryma zu überschreiten, feuerte seine Wut noch an. Vor zehn Jahren hätte sich niemand eine solche Respektlosigkeit erlaubt. Offenbar hatte sich während seiner Abwesenheit einiges verändert, und nicht unbedingt zum Guten.

Azhar seufzte. Ein Problem nach dem anderen. Er wandte seine Aufmerksamkeit der dringendsten Angelegenheit zu. „Ich kann Sie nicht guten Gewissens hierlassen, aber ich kann Sie auch nicht zurück zur Grenze bringen. Deshalb bleibt mir keine andere Wahl, als Sie mit nach Al-Qaryma zu nehmen.“

Sie sah wenig erfreut darüber aus. „Ich habe aber keine Papiere. Man wird mich ins Gefängnis werfen.“

Das hatte er selbst angedeutet. Hätte er seine Zunge bloß besser im Zaum gehalten. „Keine Sorge, ich werde Ihnen in der Stadt gültige Papiere beschaffen.“

„Wie können Sie das versprechen? Ich dachte, Sie seien Händler.“

Warum konnte sie sich nicht einfach bedanken und die Sache auf sich beruhen lassen! „Das bin ich auch und erfolgreich dazu. Deshalb habe ich einflussreiche Kontakte, Madam …“

„Trevelyan.“

„Trevelyan“, wiederholte Azhar langsam. „Das klingt nicht typisch Englisch.“

„Es ist ein kornischer Name, mein Mann und ich stammen aus Cornwall, der schönsten Grafschaft in England, Sir … Sayyid …“

Sayyid, die höfliche Anrede, auf die er jahrelang reagiert hatte. Inzwischen hatte er sich damit abgefunden, ein namenloser Mann ohne Wurzeln zu sein. „Nennen Sie mich Azhar.“

„Azhar“, wiederholte sie.

„Das bedeutet glänzend oder hell.“

„Ich heiße Julia. Ich fürchte, das bedeutet nichts Besonderes. Vermutlich würden Sie mich eher eine Last oder Bürde nennen.“

Sie verschränkte die Arme und hob dabei unabsichtlich die Brüste unter ihrem Baumwollhemd an. Zu seinem Missfallen spürte er, wie sein Blut in Wallung geriet. Seit dem Eintreffen des schicksalhaften Briefes war seine Leidenschaft gänzlich erloschen, doch nun flammte sie unpassender Weise wieder auf. Und er hatte ganz sicher keine Zeit, sich von dieser englischen Witwe bezaubern und in Versuchung bringen zu lassen, zumal sie tatsächlich das genaue Gegenteil einer Versuchung darstellte.

„Was Sie sind, Madam Julia Trevelyan, ist eine enorme Unannehmlichkeit“, sagte Azhar. „Der Tag neigt sich dem Abend zu. Ich werde auf die Jagd gehen und uns eine Mahlzeit zubereiten. Sie sind eingeladen, mir Gesellschaft zu leisten. Ich werde Sie auch nicht betäuben, womöglich aber unabsichtlich vergiften, da meine Kochkünste leider zu wünschen übrig lassen. Ich werde jedoch mein Bestes geben. Eine tote Engländerin ist schließlich das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann.“

„Ich bin also eine enorme Unannehmlichkeit“, murmelte Julia, als er das Zelt verließ. „Wie unangenehm war es wohl für mich, Mr. Nennen-Sie-mich-Azhar, ausgeraubt und zum Sterben zurückgelassen zu werden.“

Da sie keine Antwort erhielt, seufzte Julia auf. Sie war höchst undankbar. Er ließ sie wenigstens nicht im Stich. Sie überlegte sich, ob sie seine Einladung zum Essen ausschlagen sollte, aber ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie seit gestern nichts mehr gegessen hatte. Sie konnte hier sitzen und schmollen oder sich ankleiden, sich zusammenreißen und die dringend benötigte Nahrung zu sich nehmen.

Sie beschloss, nicht die Märtyrerin zu spielen, und sammelte ihre Kleidung auf.

Da sie ihren Ehegatten nicht mehr verärgern und seine Missbilligung hervorrufen konnte, hatte sie nach den ersten Tagen ihrer Reise beschlossen, auf das einengende Korsett zu verzichten. Es war die reinste Folter, wenn Sand ins Korsett geriet, der bei jeder noch so kleinen Bewegung auf der empfindlichen Haut rieb.

Ihre gesamte Garderobe war für das heiße Klima ziemlich ungeeignet. Sie streifte einen groben Wollrock und eine Bluse über die Chemise und schlüpfte in eine Jacke. Bereits jetzt lief ihr der Schweiß den Rücken hinunter. Nicht zum ersten Mal wünschte sich Julia, mutig und vernünftig genug zu sein, um sich eine der lockeren Tuniken zu kaufen, die für die Hitze der Wüste weitaus besser geschaffen waren. In Damaskus hätte sie beinahe mal eine gekauft, aber dann war ihr plötzlich Daniels abschätziger Gesichtsausdruck vor ihrem inneren Auge erschienen, und sie hatte ihre Meinung geändert. Was sie nun zutiefst bereute. Er selbst war stets tadellos gekleidet gewesen, ob in einem Mangrovensumpf oder auf einem Berg.

Und das, obwohl er ein Mann der Wissenschaft gewesen war. Er hatte sie seine Frau der Wissenschaft genannt. Zu Anfang war sie unglaublich stolz auf diese Bezeichnung gewesen. Inzwischen jedoch … nun ja, jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt, um Rückschau zu halten. Sie musste sich darauf konzentrieren, ihr Versprechen einzuhalten. Sie war so nahe dran gewesen, hatte bereits einen Blick auf das Licht wahrer Freiheit am Ende des Tunnels erhascht. Und wenn sie ihre Aufgabe erledigt hatte, durfte sie vielleicht auf eine Zukunft blicken, in der sie ihr eigenes Glück schmieden konnte. Einen Moment lang überkam sie Niedergeschlagenheit, doch sie riss sich schnell wieder zusammen. Sie würde sich in der Stadt einen neuen, verlässlicheren Führer besorgen. Vielleicht fand sie in diesem fremden Königreich auch bisher unentdeckte und seltene Pflanzen. Ein Silberstreif am Horizont, der durch die dunklen Wolken blitzte.

Sie zog die Strümpfe hoch und schnürte sich die Schuhe. Daniel hatte nie an das Schicksal geglaubt, aber Julia war nicht länger dazu verpflichtet, mit ihm einer Meinung zu sein. Sie hatte ihre eigene Meinung. Das Schicksal hatte sie mit diesem mysteriösen Mann zusammengeführt. Und nun lag es an ihr, das Beste aus der Situation zu machen.

2. KAPITEL

Die wunderschöne Wüstenlandschaft raubte Julia immer noch jedes Mal den Atem. Fasziniert beobachtete sie, wie der leuchtend orangerote Himmel in ein blasses Dunkelblau überging, als ob die Sonne bei ihrem raschen Untergang am Horizont einen Bühnenvorhang hinter sich herzog. Die wenigen Schäfchenwolken verfärbten sich in ein allmählich dunkler werdendes Grau und wurden von der sich ausdehnenden Schwärze schließlich gänzlich verdeckt. Die funkelnden Sterne schienen Julia zum Greifen nah zu sein, und der Mond leuchtete buttergelb über ihr. In seinem Schein hoben sich die Umrisse der Dünen scharf in der düsteren Landschaft ab, manche erstreckten sich sanft herabfallend ins Tal, andere ragten wie steile Klippen empor. Auch die Luft veränderte sich, von trocken und staubig zu weich und salzig. Tief atmete sie ein und hob das Gesicht zum Himmel, genoss die sanfte Brise, die leicht durch die Palmen der Oase strich.

Den Falken sah sie zuerst. Von Hanif wusste sie, dass er ein wichtiger Begleiter für jeden Wüstenreisenden war. Wie aus dem Nichts stürzte er vom Himmel herab und ließ sich auf dem Sattel des Kamels nieder. Gleich darauf tauchte Azhar aus der Dunkelheit auf, den schlanken Saluki auf den Fersen. Erneut war sie von seiner gebieterischen Ausstrahlung beeindruckt, wobei er nicht arrogant wirkte. Vielmehr schien er sich in seiner Umgebung sichtlich wohlzufühlen. Ein klein wenig einschüchternd fand sie ihn dennoch. Aber auch umwerfend attraktiv.

Umwerfend? War das das richtige Wort? Sie war sich nicht sicher, ob es überhaupt ein Wort dafür gab, gleichwohl zu faszinieren wie auch zu provozieren. Nein, provokant war er nicht, eher … gebieterisch. Ein Mann mit unwiderstehlicher Ausstrahlung, der jedoch selbst nicht leicht zu beeindrucken war. Unnahbar – war das der treffende Ausdruck? Nein, sie verhielt sich albern. Dennoch war Azhar unleugbar ein aufsehenerregender Mann, nach dem sich jede Frau umgedreht hätte. Julia juckte es abermals in den Fingern, seine Züge zu malen, den sinnlichen Schwung seines Mundes. Ja, es war sein Mund, mehr noch als sein gutes Aussehen oder sein gestählter Körper, der den Wunsch nach flammenden Küssen in ihr weckte. Auch wenn sie keine Vorstellung davon hatte, wie sich ein flammender Kuss anfühlte. Sie hegte jedoch keinen Zweifel daran, dass Azhar sich darauf verstand. Seltsam, dass sie sich dessen so sicher war. Noch seltsamer aber war, dass allein sein Anblick ein heißes Kribbeln in ihr auslöste und höchst unziemliche Gedanken in ihrem Kopf kreisen ließ.

Offenbar hatten die flirrende Hitze und die urtümliche, fast magische Schönheit der Wüste ihr den Verstand benebelt. Als sie beobachtete, wie Azhar einige Sachen aus den Satteltaschen der Maultiere nahm, kam es ihr so vor, als wären sie die einzigen Menschen auf der Welt, so weit von Cornwall und dem Leben, das sie kannte, entfernt, wie nur möglich. Sie konnte ein Niemand oder ein Jemand sein. Sie konnte wilde, seltsame Fantasien haben, sie sogar ausleben, und niemand würde je davon erfahren.

Nicht dass sie das wagen würde. Schon einmal hatte sie so empfunden, damals in Südamerika. Obwohl sie verheiratet waren und ganz allein, war Daniel bis ins Mark erschüttert gewesen, als sie ihn leidenschaftlich geküsst und ihm vorgeschlagen hatte, sich unter dem Sternenhimmel zu lieben. Als Azhar sich ihr näherte, errötete sie beim Gedanken an die Erinnerung und verbannte jegliche Unschicklichkeit aus ihrem Kopf.

„Sie haben sich also entschlossen, mir beim Essen Gesellschaft zu leisten“, sagte er.

Julia setzte ein strahlendes Lächeln auf. „Wenn es genug für zwei gibt, dann gerne.“

„Können Sie ein Feuer in Gang bringen? Meine erlegte Beute kocht sich nicht von allein.“

Ihr Lächeln erstarb. Es stimmte, statt zu träumen, hätte sie sich lieber nützlich machen sollen. Das hieß jedoch noch lange nicht, dass sie sich ihr Versäumnis vorhalten lassen wollte. „Ich kann ein Feuer in Gang bringen“, erwiderte sie schroff. „Ich kann das Kaninchen, das Sie da haben, auch abziehen und sogar kochen. Geben Sie her.“

Die Bitte klang unabsichtlich wie ein Befehl. Azhars Miene wurde herablassend. Wie machte er das nur, bloß mit einem Heben der Augenbrauen? Ein kaltes Funkeln stand in seinen Augen. „Das ist kein Kaninchen, sondern ein Hase.“

Und ja, wieder einmal hatte er recht. „Dann ist der aber ziemlich klein“, entgegnete Julia. „In England sind sie doppelt so groß.“

Er zog seinen Dolch aus dem Gürtel und machte sich mit geschickten Händen daran, ihr Abendessen zu häuten. „Wir sind in Arabien, nicht in England. Der Hase lebt hier in einer kargen Umgebung.“

Sein Falke, der reglos im Sattel saß, beobachtete die Szene mit hoffnungsvollem Blick in den Knopfaugen. „Ich gehöre nicht zu diesen arroganten Leuten, die nur durch die Welt reisen, um zu beweisen, dass England allen anderen Nationen überlegen ist, falls Sie das denken.“

Azhar lächelte leicht – sehr leicht – aber es war dennoch ein Lächeln. Julia betrachtete das als Fortschritt. „Ich war noch nie in England“, sagte er. „Es soll grün und blühend sein, deshalb glaube ich gern, dass die Hasen dort größer sind als hier. Würden Sie jetzt bitte ein Feuer anmachen? Ich würde gern noch vor Sonnenuntergang speisen.“

Rasch entzündete sie ein Feuer und hoffte, sie wirkte dabei geschickt, denn sie war sich bewusst, dass Azhar sie nicht aus den Augen ließ. Unter seinen Blicken wurde sie unruhig. „Sehen Sie, ganz so unfähig bin ich nicht.“

„Stimmt.“ Der Hase lag inzwischen im Topf, und der Falke und der Hund fraßen bereits die Stücke, die Azhar ihnen gegeben hatte. Aus den Falten seines Kaftans holte er eine Handvoll duftender Wildkräuter hervor. Er goss Wasser in den Topf und stellte ihn übers Feuer.

„Es ist nicht meine Schuld, dass die von mir angeheuerten Männer sich als Schurken herausgestellt haben“, meinte Julia. Sein „Stimmt“ hatte sie geärgert. Ist es meine Schuld? fragte sie sich. Hätte Daniel verlässlichere Führer ausgewählt? Wenn er hier gewesen wäre, hätte er sicher nicht gezögert, dies zu behaupten. Nein, er hätte einen Weg gefunden, ihr die Schuld zuzuschieben. Sie erinnerte sich daran, dass er sie auch für den Untergang der Barke verantwortlich gemacht hatte. Sie habe ihn im entscheidenden Moment abgelenkt, hatte er gesagt, als sie durchnässt und zitternd auf dem schlammigen Ufer des Flusses lagen. Da sie froh gewesen war, noch am Leben zu sein, hatte Julia ihm nicht widersprochen und später – oh, später hatte sie das getan, was sie immer tat, und versucht, den Vorfall aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Sie hatte geglaubt, es sei ihr gelungen. Merkwürdig, dass ihr so viele dieser Erinnerungen in letzter Zeit wieder durch den Kopf gingen. Was sie an etwas anderes erinnerte.

„Azhar, darf ich Sie etwas fragen, über das ich mich schon die ganze Zeit wundere? Warum hat Hanif so lange gewartet, um mich auszurauben?“

„Was meinen Sie damit?“

„Ich reise schon seit über einem Monat mit ihm durch die Wüste. Warum jetzt erst? Warum hat man mich nicht schon am ersten Abend oder in der ersten Woche betäubt und ausgeraubt?“

„Ein ganzer Monat!“ In Azhars Augen glitzerte Wut. „Das lässt darauf schließen, dass diese Banditen absichtlich gewartet haben, bis sie die Grenze von Petrisa überschritten haben.“

„Aber warum?“

Er presste die Lippen zusammen. „Dafür kann ich mir nur einen Grund vorstellen. Sie hielten es für sicherer. Was bedeutet, dass die Gesetze in Qaryma sehr viel laxer verfolgt werden“, meinte er grimmig. „Falls dem so ist, haben sich die Dinge grundlegend verändert.“

„Verändert? Sie waren also schon länger nicht hier?“

„Zehn Jahre“, antwortete Azhar. „Seit zehn Jahren war ich nicht zu Hause.“

„Zu Hause? Sie sind in Qaryma zu Hause?“ Fragend blickte Julia ihn an.

Azhar fluchte innerlich. Die Bemerkung war ihm unabsichtlich herausgerutscht. Er hatte ein Haus, aber kein Zuhause. „Ich war es, jetzt nicht mehr“, sagte er. „Erklären Sie mir doch bitte, womit Sie sich so lange in der Wüste beschäftigt haben.“

Es klang eher wie ein Befehl statt wie eine Bitte, aber die Worte hatten die gewünschte Wirkung. Obwohl sie kurz zögerte, akzeptierte Julia den Themenwechsel. „Pflanzen“, sagte sie. „Ich sammele Pflanzenproben. Ich bin Botanikerin.“

Überrascht lachte er auf. „Pflanzen! Sie sind hier, um Pflanzen zu sammeln?“

„Eher Wurzeln und Samen“, erwiderte Julia. „Hauptsächlich aber fertige ich Skizzen von den Pflanzen und ihrer Umgebung an und mache mir Notizen zu ihren Nachbarpflanzen und derlei Dinge.“

„Sie sind also eine Künstlerin, Madam Trevelyan?“

„Julia, bitte. Wenn ich Sie Azhar nennen darf, sollten Sie Julia zu mir sagen. Ich bin recht geschickt im Zeichnen.“

„Und wo sind Ihre Bilder?“, hakte er nach, obwohl er die Antwort bereits kannte.

„Weg“, bestätigte sie. „Ebenso wie meine Farben, Notizbücher und all meine Proben. Sie waren in einer Truhe, mit vielen kleinen Schubladen und Einsätzen.“

Sie runzelte die Stirn und verschränkte die Finger. Ihre Entschlossenheit, nicht die Fassung zu verlieren, war weitaus anrührender als der Anblick von Tränen. „Deshalb wollen Sie diese Truhe also unbedingt zurückhaben. Ist sie Ihnen denn noch wichtiger als die Uhr Ihres Gatten?“, fragte Azhar.

Julia nickte und zwang sich zu einem Lächeln. „Wie Sie jedoch so unmissverständlich klargemacht haben, ist alles sicher längst verkauft. Ich hoffe und würde es sehr schätzen, wenn Sie mir in Al-Qaryma dabei helfen könnten, einen anderen Führer zu finden.“ Ein weiteres Lächeln. „Jemanden, der vertrauenswürdiger ist als Hanif.“

Nun erstaunte sie ihn sehr. Jede andere Frau – ja sogar jeder andere Mann – in ihrer Lage hätte sich sicher nach Hause geflüchtet, um sich die Wunden zu lecken. „Sie können doch nicht ernsthaft weiter die Wüste durchstreifen wollen, nach allem, was passiert ist.“

„Es ist mein einziger Wunsch. Ich muss von vorn anfangen. Bitte Azhar.“ Sie schaute ihn aus großen grünen Augen an. „Helfen Sie mir.“

„Was hatten Sie denn mit den Pflanzen vor? Wollten Sie sie verkaufen? Durch meine Handelsreisen ist mir bekannt, dass es einen lukrativen Markt für exotische Pflanzen gibt. Botanische Gärten gewinnen zunehmend an Beliebtheit.“

„Ja, mein Gatte und ich haben verschiedene botanische Gärten mit Pflanzen versorgt, die wir von unseren Reisen nach Südamerika mitgebracht haben. Daniel war jedoch eigen und weigerte sich, seine wissenschaftlichen Forschungen dem Kommerz zu opfern, weshalb er keine Zahlung dafür annahm. Ich allerdings hätte angesichts unserer angespannten finanziellen Lage gern eine Aufwandsentschädigung angenommen. Aber das ist nicht der Rede wert.“

Ein Gatte, der seine Frau der Armut aussetzte, gleich, welch wissenschaftliche Prinzipien er hatte, war für Azhar durchaus der Rede wert, aber er sprach es nicht aus. „Was ist denn dann der Punkt?“, fragte er.

Autor

Marguerite Kaye

Marguerite Kaye ist in Schottland geboren und zur Schule gegangen. Ursprünglich hat sie einen Abschluss in Recht aber sie entschied sich für eine Karriere in der Informationstechnologie. In ihrer Freizeit machte sie nebenbei einen Master – Abschluss in Geschichte. Sie hat schon davon geträumt Autorin zu sein, als sie mit...

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