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Ein Kutschenunfall in einer eiskalten Winternacht beschert Beatrice ein unvergessliches Erlebnis: Sie und ihr Mitreisender Lord Taris Wellingham müssen in einer abgelegenen Scheune Unterschlupf suchen, wo sie sich überraschend schnell näher kommen. In seinen starken Armen, unter seinen zärtlichen Berührungen erwacht in ihr eine nie gekannte Leidenschaft. Doch als der Morgen graut, blickt Taris ihr nicht in die Augen. Voller Scham glaubt Beatrice, dass der Lord sie für zu unscheinbar hält und die Liebesnacht bereut. Sie ahnt nichts von seinem düsteren Geheimnis …


  • Erscheinungstag 05.04.2016
  • Bandnummer 0566
  • ISBN / Artikelnummer 9783733763411
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Maldon, England – Januar 1826

Dunkelheit! Sie zerrte ihn hinab, sosehr er sich mühte, ihr zu entkommen. Weit riss er die Augen auf, um den winzigen Funken Licht zu erhaschen, der vor ihm aufflackerte, ihm einen gierigen Schrei entlockte, weil er unbedingt ein letztes Mal die Farben sehen wollte, ehe völlige Finsternis ihn umfing …

„Sir, Sir, wachen Sie auf. Sie träumen!“

Die Stimme kam von nahebei, und Lord Taris Wellingham zuckte aus dem Schlummer auf und fand sich im warmen Innenraum der Postkutsche, die gen Süden auf London zurollte. Undeutlich und verschwommen sah er ein Gesicht vor sich, doch in der trüben Düsternis konnte er nicht erkennen, ob die Frau jung oder alt war. Ihre Stimme war weich, fast schon melodisch, das ‚S‘ ein zartes Lispeln – einer vornehmen Erziehung im Norden des Landes geschuldet?

Hastig wandte er sich ab, und umklammerte mit steifen Fingern den runden silbernen Knauf seines Gehstocks aus Ebenholz.

„Ich bitte um Vergebung, Madam, für mein mangelhaftes Betragen.“

Ihr leises Auflachen überraschte ihn. „Oh, die ist Ihnen gewährt, Sir.“

Nun lag in ihrem Tonfall eindeutig Belustigung und noch eine andere verborgene Regung. Er wünschte, er könnte die Farbe ihrer Augen oder ihres Haars sehen, doch welche Farbschattierung sie haben mochten, hätte er ja selbst in hellem Sonnenlicht längst nicht mehr erkennen können, für ihn gab es nur noch graue verzerrte Umrisse.

Eine jenseitige Welt. Seine Welt. Die ganze Würde, die ihm geblieben war, bestand in der Kraft, seinen Makel zu verbergen.

Kurz stockte er, atmete tief ein und überlegte, wie er vorgehen sollte. Er gab vor, auf der Uhr, die an seiner Uhrkette hing, die Zeit abzulesen; zwar widerte ihn dieses Täuschungsmanöver an, doch er sah sich in Gesellschaft dazu gezwungen – ein Mann am Abgrund seiner Welt und ständig in Gefahr, hinabzustürzen.

„Noch anderthalb Stunden bis zur Ankunft, denke ich.“ Die Schätzung der Frau war nachgerade ein Geschenk, denn so erhielt er einen Zeitrahmen, in den er seine Vorstellung, wo sie sich gerade befanden, einfügen konnte.

„Außer das Wetter wird noch schlechter.“ Er hörte, dass draußen der Wind auffrischte, und die Temperatur war während des kurzen Zeitraums seines Schlummers beträchtlich gefallen. Lauschend neigte er den Kopf ein wenig, horchte auf den Klang der Wagenräder und kam zu dem Schluss, dass der Schnee höher liegen musste als zuvor.

Unerwartet erfasste ihn Anspannung. Etwas stimmte nicht. Das Schnurren des Rades auf der rechten Seite war unregelmäßig, Stahl knirschte und kratzte.

Er verwarf seine Bedenken und verfluchte sein überempfindliches Gehör; er sollte sich besser auf anderes konzentrieren. Im Wagen saßen vier weitere Leute; er hatte sie beim Einsteigen gezählt. Auf seiner Seite war nur die Frau, die ihn angesprochen hatte, einer der Männer auf der anderen Bank schlief und schnarchte leise im nächtlichen Dunkel, der andere Mann sprach zu einer älteren Frau über Haushaltsangelegenheiten und die Einstellung neuer Dienstboten – zu seiner Mutter vielleicht.

Das mit dem Rad wurde schlimmer; zusätzlich zu dem Geräusch vibrierte nun das Chassis der Kutsche. Er spürte es dort, wo er mit seinen Finger die Fensterscheibe berührte. Er konnte die Gefahr nicht länger ignorieren, hob seinen Stock und hämmerte mit dem Knauf gegen das Wagendach.

Doch zu spät! Das Fahrzeug schlingerte nach rechts, als die Achse brach. Unheimlich hallte der Schrei des Kutschers durch die Nacht, Holz splitterte, die Tür an seiner Seite ratschte kurz über Erde, ein furchterregender Aufprall, und alle stürzten übereinander. Ein scharfer Schmerz, als sein Kopf gegen etwas Metallenes stieß.

Und dann Stille.

Überall Körper. Das Stöhnen der älteren Frau als Oberton, das keuchende Schluchzen ihres Sohnes unterdrückt und angstvoll. Die anderen beiden Insassen gaben keinerlei Geräusche von sich, und Taris streckte tastend eine Hand aus.

Die Frau neben ihm atmete – er spürte den warmen Hauch auf seinen Fingern –, während der zuvor schlummernde Mann weder Atmung noch Puls hatte, und sein Hals, fühlte Taris, hing in einem seltsamen Winkel.

Tiefste Schwärze umfing nun alles, die Wagenlampen waren erloschen, und der Mond war in dieser Nacht nur eine schmale nutzlose Sichel.

Das ist meine Welt! Viel einfacher für mich als Tageslicht. Er ließ den Stock fallen und sprang auf.

Beatrice-Maude Bassingstoke konnte kaum glauben, was passiert war. Der Kopf tat ihr weh, und die Innenseite ihrer Oberlippe war eingerissen.

Ein Unfall. Ein entsetzlicher Unfall, wurde ihr klar. Sie begann heftig zu zittern und presste die Lippen fest aufeinander, damit man nicht hörte, wie laut ihre Zähne aufeinanderschlugen.

Im schwachen Licht der Mondsichel hob der dunkelhaarige fremde Gentleman sanft den leblosen Körper eines Mannes an, der, wie sie sehen konnte, wahrhaftig tot war, und legte ihn wieder auf den Boden. Die ältere Frau ihr gegenüber brach in lautstarkes Jammergeschrei aus, und ihr jüngerer Begleiter versuchte vergebens, sie zu trösten.

„Genug, Madam!“ Der Ton des hochgewachsenen Fremden duldete keinen Widerspruch, und die Frau verstummte, auch da im selben Moment ein größeres Problem sich ihr aufdrängte.

„Es … i…ist eisig kalt.“

„Wenigstens leben wir noch, Mama, und ich bin sicher, dass dieser Gentleman uns helfen kann.“ Ihr erwachsener Sohn sah mit eindringlich flehender Miene zu Taris auf, verharrte jedoch neben seiner Mutter und schlang ihr in dem vergeblichen Bemühen, sie zu wärmen, einen Arm um die Schultern, denn die andere Seite der Kutsche war zerstört, und wo der Wagenschlag gewesen war, gähnte ein Loch.

„Gewähren Sie mir einen Augenblick, ich will versuchen, die Öffnung irgendwie zu schließen.“ Das Cape des großen Mannes blähte sich im Wind, als er aus dem in sich verschobenen Gestell kletterte, das seinen Ausstieg stark behinderte.

Sein Haar löste sich aus dem Band, von dem es gehalten wurde, und fiel nachtschwarz über den dunklen Stoff seiner Kleidung; der Schnee bildete einen weißen Rahmen um das Bild, und Beatrice konnte ihre Augen kaum von dem Unbekannten abwenden.

Er war der schönste Mann, den sie je erblickt hatte! Der Gedanke traf sie mit überraschender Wucht, und schnell unterdrückte sie diese lächerliche Anwandlung.

Auch Frankwell Bassingstoke war ein gut aussehender Mann gewesen, und man schaue, wohin es sie gebracht hatte. Sie schluckte, wandte sich der älteren Frau zu und kramte in ihrem Retikül nach einem Taschentuch, das sie ihr reichte.

„Wo ist der Mann hin? Warum ist er noch nicht wieder hier?“ Die Frau klang völlig kopflos, doch sie nahm das Tuch und schnäuzte sich gründlich. Ihre unbeherrschte Angst schien sich durch die Erkenntnis zu steigern, dass ihrer aller Leben von dem Mann abhing, der gerade fortgegangen war, um die fehlende Tür zu suchen. Schon war die Temperatur weiter gesunken, jeder Atemzug begann zu schmerzen. Gott, dachte Beatrice, wie muss es erst draußen in Wind und Schnee auf den vereisten Wagenspuren sein, wo nur der winzigste Lichtschimmer glimmt?

Vielleicht war der Mann schon umgekommen oder brauchte, verirrt in der weißen Ödnis, eine Stimme, die ihn zurück zum Wagen lotste? Vielleicht tat er in dem edlen, doch vergeblichen Versuch, sie alle zu retten, jetzt gerade seinen letzten Atemzug, während sie hier herumsaßen?

Ebenso zornig über ihre Vorstellungskraft wie über ihr Verharren auf dem Sitz wand sie sich ihren Umhang um den Kopf, bis nur ihre Augen herausschauten, und kroch hinaus in die Kälte, um zu helfen.

Der Mann war etwa zehn Schritt entfernt und zog gerade Mr. Brown, den Kutscher, unter einer Hecke hervor, behutsam, um dessen Genick möglichst nicht zu belasten. Der Unbekannte trug keine Handschuhe, und seinen weiten Mantel hatte er dem verletzten Mann umgelegt, als spärlichen Schutz gegen die bittere Kälte. Ohne den dicken Wollstoff stand er nur im dünnen, fast durchscheinenden Hemd da, das gegen den eisigen Niederschlag eine recht nutzlose Barriere war.

„Brauchen Sie Unterstützung?“, rief sie. Der Wind trug ihre Worte zu ihm, und er richtete suchend seinen Blick auf sie, während er sich ihr zuwandte, die Augen zu Schlitzen zusammenkneifend, da es nun auch noch begonnen hatte zu hageln.

„Gehen Sie zurück, Sie werden hier draußen erfrieren.“ Als er den Kutscher hochhob und mit ihm auf den Armen auf sie zukam, erkannte sie, wie stark er war. Sie kletterte zurück in den schützenden Wagen, in die vergleichsweise angenehme Wärme, und streckte dem Mann die Arme entgegen, um ihm behilflich zu sein.

„Hier ist nicht Platz genug“, murrte die alte Dame und wollte nicht einmal ein kleines Stück rücken, daher schob Beatrice ihr Retikül, das sie auf ihrem Platz hatte liegen lassen, beiseite und drückte sich eng in die Ecke.

Im Dunkel schwebte ihr Atem wie eine weiße Wolke vor ihrem Mund, als sie erklärte: „Legen Sie ihn hierher, Sir, hier ist Platz.“

Der große Gentleman legte den Mann sanft auf den Sitz, machte aber keine Anstalten, selbst hineinzukommen.

Ein Mann tot, einer verletzt, eine alte Frau am Rande eines Zusammenbruchs und ein junger Mann völlig nutzlos. Beatrices Auflistung der Umstände beinhaltete weder ihre eigenen Verletzungen noch die des Fremden, doch als er an der Tür stand, hatte sie gesehen, dass ihm ein roter Blutsfaden entlang des einen Auges herunterlief und die weiße Front seines Hemdes färbte.

Er benutzt seine Hände außergewöhnlich oft, dachte sie. Er hatte damit über die Wangen des toten Mannes getastet und jetzt über die Arme und Beine des Kutschers, der neben ihr lag. Er schien nach gebrochenen Knochen zu suchen und die Körpertemperatur zu prüfen.

Als sie nach dem Unfall wieder zu sich gekommen war, hatte sie gespürt, wie er mit seinen Fingern ihren Puls gefühlt hatte. Sofort war Hitze in ihr aufgestiegen und hatte den Wunsch erzeugt, er hätte sie gründlicher untersucht, sich weiter vorgewagt, und das drängende Verlangen, das sie überkam, war ihr so fremd, dass ihr schwindelte …

Fassungslos ob ihrer Gedanken verscheuchte sie diese Tagträume. Sie war achtundzwanzig und eine Witwe – sowohl Sehnsucht als auch Verlangen nach einem Mann waren ihr gründlich abhandengekommen. Für immer. Zwölf Jahre in der Hölle hatten sie kuriert.

Aufgeschreckt durch die alte Dame und deren Sohn kehrte sie in die Gegenwart zurück, denn die beiden machten sich gerade daran, dem Kutscher den geliehenen Mantel fortzunehmen, um sich selbst damit zu wärmen. Beatrice griff nach dem Stoff und hielt ihn fest.

„Ich glaube nicht, dass der Gentleman, der ihm den Umhang umlegte, mit Ihrem Tun einverstanden wäre.“

„Der hier ist nur der Kutscher …“, setzte der junge Mann an, als ob die gesellschaftliche Stellung die Rangfolge des Sterbens vorgäbe, doch er hielt inne, als der Fremde wieder von draußen auftauchte.

„Machen Sie Platz.“ Seine Stimme zitterte vor Kälte, nachdem er eine gute Viertelstunde nur wenig bekleidet in den unwirtlichen Elementen verbracht hatte. Aber er hielt den Wagenschlag in den Händen.

Er schwang sich ins Innere und klemmte die Tür in die ausgebrochene Öffnung, was die Lage im Wageninnern um ein Vielfaches verbesserte, wenn es auch durch die Ritzen immer noch heftig zog.

Dem Mann rann geschmolzener Schnee über das Gesicht, und sein Hemd klebte nass an seiner Haut, sodass sein muskulöser sehniger Körper deutlich erkennbar war. Ein Körper, der an Arbeit und sportliche Betätigung gewöhnt war. Beatrice holte ein Tuch aus ihrer Reisetasche, fasste den Mann beim Arm und drückte es ihm in die Hand. Er lächelte, wie sie in der Finsternis der Kutsche am Aufblitzen seiner weißen Zähne sah. Ihre Finger berührten sich, und wie ein Schlag durchfuhr sie urtümliches Erkennen.

Beatrices Welt der Bücher rückte näher: Chariklea und Theagenes, Daphnis und Chloe, nur zwei von vielen Liebenden der Antike, an deren Geschichten von Leidenschaft sie viel Vergnügen gefunden hatte.

Leidenschaft, die es für sie nicht gab.

Ihr reizloses Gesicht würde niemals die Aufmerksamkeit eines Mannes wie diesem erregen. Eben jetzt wandte er sich dem Kutscher zu, suchte dessen Handgelenk und zählte die Pulsschläge.

„Sie haben das schon früher gemacht?“ Sie war froh, dass ihre Stimme so ruhig klang. So vernünftig.

„Ja, schon oft.“ Er strich sich das Haar aus der Stirn, das ihm tropfnass ins Gesicht hing. Es war lang, viel länger, als die Männer es üblicherweise trugen. In seinem Lächeln blitzte Arroganz auf, es war die Miene eines Mannes, der wusste, dass Frauen ihn attraktiv fanden. Alle Frauen. Und ganz gewiss eine, deren Jugendblüte schon eine Weile zurücklag.

Ihr Herz schlug unangenehm heftig, und sie blickte rasch zur Seite. „Was meinen Sie? Wird man uns zu Hilfe kommen?“

Noch eine Frage, dieses Mal nur auf die Postkutsche bezogen.

„Kein Mensch!“ Das war der junge Mann. „Nicht vor dem Morgen, und bis dahin wird Mama …“

„Tot sein, erfroren“, beendete seine Mutter den Satz und bekräftigte mit ihrem unnützen Gejammer die Einschätzung ihres Sohnes, was die Situation anbetraf.

„Wenn wir uns dicht zusammendrängen, um uns gegenseitig zu wärmen, können wir ein paar Stunden durchhalten.“ Der Fremde klang ein wenig ungeduldig, der erste Anflug einer emotionalen Regung, die Beatrice an ihm wahrnahm.

„Und dann …?“, fragte der junge Mann mit bebender Stimme.

„Wenn bis Mitternacht niemand aufgetaucht ist, werde ich mit einem der Pferde Richtung Brentwood reiten.“

Beatrice räusperte sich. „Aber liegt das nicht mindestens eine Stunde entfernt von hier? Und bei dem Wetter …?“ Den Rest sprach sie nicht aus.

„Dann müssen wir hoffen, dass noch andere Reisende auf dieser Straße unterwegs sind“, entgegnete er, wobei er aus seiner Tasche eine silberne Flasche zum Vorschein brachte; das Metall schimmerte hell in dem mageren Licht.

Nachdem er einen guten Schluck daraus genommen hatte, wischte er die Öffnung ab und reichte die Flasche an Beatrice weiter.

„Das wärmt“, erklärte er. „Geben Sie sie weiter, wenn Sie getrunken haben.“ Obwohl sie selten Alkohol anrührte, gehorchte sie ihm, und als das Getränk ihr brennend durch die Kehle rann, vertrieb es die Kälte ein wenig. Ihre beiden Mitreisenden allerdings wollten nichts davon haben. Unsicher, was sie nun tun sollte, versuchte Beatrice, dem Mann, der eng an sie gedrückt saß, die Flasche zurückzugeben.

Als er weder danach griff noch ablehnend den Kopf schüttelte, legte sie sie auf ihrem Schoß ab, nachdem sie den Verschluss, so fest sie konnte, zugeschraubt hatte, damit auch nicht ein Tropfen verschwendet würde. Sie erklärte sich seine Unachtsamkeit damit, dass ihm bestimmt gerade viel im Kopf herumging, da war die Flasche wohl seine letzte Sorge.

Sie tastete nach ihrer Tasche unter dem Sitz und kramte den Weihnachtskuchen daraus hervor, den sie in Brampton besorgt hatte. Vor drei Tagen? Kaum zu glauben, dass es noch nicht länger her war. Sie schlug das Einwickelpapier von der Köstlichkeit zurück und sah umher.

„Möchte jemand etwas davon? Ich habe ihn in Brampton gekauft.“

Die beiden gegenüber streckten sofort die Hände aus, und sie reichte ihnen eine großzügige Portion, doch der hochgewachsene Mann tat nichts, sondern legte nur den Kopf ein wenig schräg, als lauschte er auf etwas. Während sie den Kuchen wieder einpackte, überlegte sie, was wohl seine Aufmerksamkeit gefangen hielt. Auch sie aß nichts, denn ihr war die Vermutung gekommen, dass der Mann den Vorrat vielleicht rationieren wollte, falls der Schneesturm anhielt und niemand zu ihrer Hilfe erschien.

Niemand. Allein das Wort lenkte ihre Gedanken in eine andere Richtung. In London war niemand, der sie abholen würde, niemand, der sie vermissen würde, wenn sie nicht eintraf. Sei es diese oder die nächste Woche.

Höchstens der Gärtner, mit dem sie sich in den letzten paar Wochen angefreundet hatte, mochte sich vielleicht eines Tages wundern, warum sie nie zu Besuch gekommen war, wie sie es versprochen hatte, doch das wäre das Äußerste. Sie konnte hier vergehen und vom Schnee verschluckt werden, und ihr Verschwinden würde nicht die kleinste Welle schlagen.

Achtundzwanzig Jahre alt und ganz ohne Freunde. Die Tatsache hätte sie viel stärker betrübt, wenn sie nicht aus guten Gründen ihre Distanziertheit kultiviert hätte. Ihre Reserviertheit war hilfreich gewesen und hatte sie geschützt, als Frankwell sich während seiner letzten Jahre zu einem Menschen entwickelt hatte, der über jeden alles wissen wollte.

Gott! Sie lächelte innerlich kopfschüttelnd in sich hinein. Zumindest war es dann einfacher mit ihm gewesen als zuvor. Mit dem Zeigefinger zeichnete sie verstohlen die Narbe nach, die über ihrem Unterarm verlief und deren Ränder schlecht verheilt waren. So schlecht verheilt, wie der Arzt stümperhaft gewesen war, der sie nach dem „Unfall“ behandelt hatte. Die Narbe war so unansehnlich, dass Beatrice seitdem selbst im Sommer nur langärmlige Kleider trug.

Sommer? Warum dachte sie an Wärme, da doch die Temperatur hier im Wagen unter dem Gefrierpunkt liegen musste?

Plötzlich stöhnte der Kutscher laut, schlug die Augen auf und versuchte, sich aufzusetzen. Sein Gesicht war merkwürdig blass. „Was ist passiert?“

Der große Mann antwortete ihm. „Ein Rad löste sich vom Wagen, und wir stürzten um.“

„Und die Pferde? Wo sind die Pferde?“

„An einem Baum in der Nähe angebunden. Im Schutz, den die tief hängenden Zweige bieten, sollten sie es ein paar Stunden aushalten können.“

„Bis Brentwood ist es noch eine Stunde, und Colchester liegt zwei Stunden hinter uns.“ Resigniert ließ der Fahrer den Kopf hängen und lugte zu den drei Gestalten gegenüber. Als er den Toten sah, verzog sich sein Gesicht angstvoll.

„Wenn die mir die Schuld daran geben, verliere ich meinen Posten – und dann …“

„Das rechte Rad sprang von der Achse. Das kann jeder Prüfer auf den ersten Blick sehen. Und falls nötig, kann ich bestätigen, dass Sie ein geschickter Fahrer sind.“

„Und wer sind Sie wohl, Sir?“

„Taris Wellingham.“

Beatrice dachte, dass sie noch nie einen interessanteren Namen gehört hatte. Taris … Sie grübelte über den ungewöhnlichen Namen nach, während der Kutscher nicht aufhörte zu klagen.

„Selbst wenn wir in Brentwood vermisst werden, wird die nächste Kutsche erst im Morgengrauen hier eintreffen. Die werden nämlich denken, dass wir in dem Wetter in Ingatestone untergeschlüpft sind oder schon vorher angehalten haben. Bis zum Morgen sind wir alle da, wo der schon ist.“ Er schaute zu dem Toten, senkte jedoch den Blick, als die alte Frau in Wehklagen ausbrach.

„Dazu wird es nicht kommen, Madam“, beschwichtigte Taris Wellingham die Frau. „Ich versprach doch, per Pferd Hilfe zu holen.“

„Aber nicht allein, Sir!“ Beatrice war selbst von ihren Worten überrascht, doch bei diesem Wetter konnte ein einziger Fehltritt den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten. Zu zweit würde man aufeinander achtgeben können. „Ich bin eine gute Reiterin.“ Oder war es einmal, dachte sie, vor fünfzehn Jahren – auf unserem Land in Norwich.

„Ich kann nicht versprechen, dass wir unser Ziel erreichen, Madam“, erwiderte er, „daher kommt das überhaupt nicht infrage.“

Doch Beatrice ließ sich nicht beirren. „Wie viele Pferde stehen uns zur Verfügung?“

„Vier, aber eines lahmt.“

„Ich bin kein Kind. Wenn ich Sie also zur nächsten Stadt begleiten will und es gibt ein Pferd für mich, sehe ich keinen Grund, warum Sie mir vorschreiben sollten, was ich zu tun oder zu lassen habe.“

„Sie könnten auf dem Weg sterben.“

„Oder hier, wenn es Ihnen nicht gelingt zurückkehren.“

„Diese Straße ist viel befahren …“

„So befahren, dass wir seit unserem Aufbruch nach dem Lunch kein anderes Gefährt mehr gesehen haben.“

Sein warmes Lächeln erkannte sie selbst bei diesem ungünstigen Licht und errötete unwillkürlich. „Es wäre gefährlich.“

„Weniger gefährlich zu zweit.“

„Dann nehme ich den Kutscher mit.“

„Sie sehen doch bestimmt, dass seine Hand so merkwürdig gekrümmt ist. Sie ist gebrochen, der Mann kann nicht mit.“

Daraufhin folgte Schweigen, doch Beatrice hörte, wie er sehr gemessen den Atem einsog und ebenso gemessen wieder ausatmete.

„Wie heißen Sie?“ Sein gebieterischer Ton ließ sie vermuten, dass dieser Mann es nicht gewohnt war, dass man sich ihm widersetzte.

„Mrs. Bassingstoke. Mrs. Beatrice-Maude Bassingstoke.“ Besonders glücklich war sie nie, wenn sie ihren Namen nannte. Das war auch in dieser Lage nicht anders, doch obwohl sein Blick auf sie geheftet war, fand sie darin nicht das sonst übliche Amüsement. Nein, eher schien er über sie hinwegzusehen, als schaute er in die Ferne, als plante er schon ihre Route.

„Also gut, Mrs. Bassingstoke. Haben Sie zusätzliche Kleidung in Ihrer Reisetasche?“

„Ja.“

„Dann würde ich sie an Ihrer Stelle auspacken und möglichst viel davon überziehen.“ Er reichte ihr das Tuch, das sie ihm kurz zuvor gegeben hatte. „Diesen Schal werden Sie auch brauchen.“

„Sir, das ist ein einfacher Streifen feiner Baumwolle. Darin war der Kuchen gehüllt.“

Er zögerte kurz. „Es wird als Schal dienen können.“

Verdammt, dachte Taris, das Ding fühlte sich genau wie ein Frauenschal an. Manchmal ließ ihn sein Tastsinn genauso im Stich wie sein Augenlicht, und er hatte in der Entgegnung dieser Mrs. Beatrice-Maude Bassingstoke definitiv eine Frage mitschwingen hören.

Ihre Stimme passte nicht zum scharfen Klang ihres Namens, doch in ihrer sorgsam modulierten Aussprache bildete er sich ein, Geheimnisse wispern zu hören.

Bassingstoke? Eine Norfolk-Familie, und sie hatte Brampton erwähnt. Erst letzten Monat hatte er etwas über die Norfolk-Bassingstokes gehört, nur konnte er sich nicht erinnern, was. Ob diese Frau derselben Linie entstammte? Die ruhige Kraft in ihrer Stimme war ihm bisher sehr hilfreich gewesen, und sie hatte ebenfalls nichts von dem Kuchen gegessen. Er hatte nicht zugegriffen, weil ihm nicht klar gewesen war, was sie ihm angeboten hatte. Immer noch hing der vage Duft von Rosinen und Rum in der Luft, und er wünschte, er hätte sie bitten können, das Paket noch einmal zu öffnen und ihm ein Stück abzugeben.

Darüber musste er unwillkürlich lächeln, so wenig heiter die Situation auch war. Wenn nicht bald ein Wagen oder ein Reiter vorbeikäme, würde er selbst aufbrechen müssen, denn die alte Frau gegenüber atmete schon viel flacher, ein Zeichen, dass die Kälte ihr heftig zusetzte. Wenigstens schien die Dame neben ihm fest entschlossen zu sein, ihn zu begleiten, und darüber war er froh. Auf der eisigen Straße würde er ein Augenpaar brauchen, das selbst den geringsten Lichtschimmer aus einem Bauernhaus oder einer Kate weiter hinten in den Feldern noch erkennen konnte. In dieser Kälte war er für jede Hilfe dankbar. Vorhin draußen im Freien hatte er nach seinem eigenen Gepäck Ausschau gehalten, doch im Schnee nicht einmal irgendeinen Umriss ausmachen können. Allerdings war die Kutsche noch ein paar Meter nach vorn geschleudert, ehe sie endgültig umgestürzt war; sein Koffer konnte wer weiß wo sein. Ein Jammer, denn die Kleidung darin wäre ihm nun gut zupassgekommen. Doch wenigstens würde er seinen Reisemantel zurückfordern können, da der Fahrer sich erholt hatte.

Er lauschte dem Rascheln von Stoff, das besagte, Beatrice-Maude Bassingstoke legte zusätzliche Kleidung an. Ihr Arm stieß dabei an den seinen. Ein sehr zarter Arm, bemerkte er, sehr zerbrechlich.

Endlich schien sie fertig zu sein. Er hätte gern gefragt, ob sie einen Hut hatte, wollte wissen, ob sie festes Schuhwerk trug, äußerte jedoch weder die eine noch die andere Frage. Er war der Meinung, dass Schweigen die bessere Wahl sei, und Mrs. Bassingstoke schien ihm, selbst nach so kurzer Bekanntschaft, eine recht tatkräftige Frau zu sein, die genügend Verstand besaß, sich gegen die Elemente vernünftig zu wappnen.

2. KAPITEL

Als sie eine halbe Stunde später ins Freie schlüpften, hatte sich das Wetter weiter verschlechtert. Sorgsam setzte Taris Wellingham den Wagenschlag wieder an Ort und Stelle und verstopfte die Lücken, die er rechts und links ertastete, mit Schnee.

In gewissem Sinne war Beatrice erleichtert, von der Kutsche fortzukommen und etwas zu tun, denn in der extremen Kälte war das Warten schlimmer als dieser gemeinsame Vorstoß, tätig zu werden, wenn auch ihr Herz schneller schlug vor Angst, dass der Sturm sie abdrängen und sie sich im Dunkeln verirren könnte.

Als ob der Mann ihre Gedanken gelesen hätte, streckte er eine Hand aus und legte sie über die ihre, zog sie so mit sich zu den Pferden, die sichtlich unruhig waren.

Taris ließ seine Finger über den Kopf des großen kräftigen Grauen direkt vor ihm gleiten und über die Seite bis hinab zum ledernen Geschirr, das von der Kälte ganz steif war.

„Sie nehmen dieses.“

Er bot ihr seine verschränkten Hände als Steighilfe, und sie schwang sich ohne Rücksicht auf Anstand und Sitte im Herrensitz auf den Pferderücken. Fest fasste sie die Zügel und lenkte das Tier auf den Fahrdamm. Gott sei Dank hatte ihr Hut eine breite Krempe, die die Schneeflocken auffing und ein wenig vor dem Wind schützte. Sie sah zu, wie Taris ebenfalls aufsaß und sein Pferd zu ihr lenkte. Er trug nun wieder seinen Mantel, dazu, tief über die Ohren gezogen, einen Hut, den er sich von dem jungen Mann ausgeborgt hatte.

„Wir reiten nach Süden.“

Also in die Richtung, die sie sowieso verfolgt hätten, eine vernünftige Entscheidung, da auf der bisher zurückgelegten Strecke meilenweit keine Behausung, kein Gebäude am Wegrand zu sehen gewesen war.

Bitte, Gott, lass da ein Haus oder eine Scheune sein oder Reisende, die den Weg kennen. Bitte lass uns Wärme und Sicherheit finden und Männer, die die anderen retten. Gebetsmühlenartig wiederholte Beatrice diese Bitte an eine stets gegenwärtige, allmächtige Gottheit, wenn auch der Gedanke an all ihre anderen über die Jahre nicht erhörten Gebete sie ein wenig beunruhigte.

Nein, so etwas sollte sie nicht denken, denn nur dankbare Untertanen des Herrn wurden erhört. Hatte Frankwell das nicht immer gesagt? Bewusst schirmte sie ihren Geist vor der Erinnerung ab. Die Augen gegen das Schneetreiben zusammengekniffen beugte sie sich tief über den Hals des Pferdes, dessen Wärme ihr ein wenig Erleichterung von der Kälte verschaffte.

Eine Viertelstunde später wusste sie, dass sie es nicht schaffte. Ihr ganzer Körper war taub vor Kälte. Taris Wellingham auf dem Pferd neben ihr machte den Eindruck, als fühlte er sich keineswegs unwohl, obwohl er, wie sie wusste, viel dünner bekleidet war als sie. Der Mann war wohl an derart unwirtliches Wetter gewöhnt, nahm sie an. Ein Mann, der so sicher durchs Leben schritt, wie es nur angeborenes Selbstbewusstsein ermöglichte. So ganz anders, als es bei ihr war.

Als die Umrisse zweier Reitersleute aus dem Schneegestöber auftauchten, konnte sie kaum glauben, dass sie echt waren.

„Da … vor uns …“, schrie sie und zeigte aufgeregt mit der Hand, erstaunt, dass Taris Wellingham auf den Anblick noch nicht reagiert hatte. Rufe drangen zu ihnen, und sie warteten still, bis die beiden vor ihnen anhielten.

„Die Postkutsche aus Colchester ist nicht angekommen, deswegen wurden wir ausgeschickt. Gehören Sie zu den Reisenden?“

„Ja“, rief Taris, „aber die andern sind gut fünfzehn Minuten hinter uns. Ein Rad brach von der Achse …“

„Was ist mit den anderen Passagieren?“

„Einer tot, zwei sind noch im Wagen, dazu der Kutscher, schwer verletzt.“

Einer der Männer fluchte.

„Fünfzehn Minuten, sagen Sie? Wir müssen die Leute zu Bob Winters Hof bringen für den Rest der Nacht, aber das ist noch mal zwanzig Minuten von hier entfernt, und Sie sehen aus, als würden Sie das nicht überstehen.“

„Was ist mit der Scheune vom alten Smith?“, schrie der andere. „Die ist voll mit Heu und hat feste Wände.“

„Wo ist die?“ Taris Wellingham klang müde; beunruhigt sah Beatrice, dass die Platzwunde an seiner Schläfe noch immer blutete.

„Noch fünf Minuten weiterreiten, dann kommt, mit einem großen weißen Stein markiert, links ein Seitenpfad. Den nehmen Sie. Warten Sie in der Scheune auf Hilfe. Wir schicken jemanden, wenn es möglich ist.“

Wenn es möglich ist? Allein die Vorstellung brachte Beatrice auf. „Ich kann nicht …“

Doch die Männer hatten ihre Tiere schon wieder angetrieben, die Not, der eisige Wind und die dicke weiße Schneedecke ließen sie vorwärtsdrängen.

„Es ist unsere einzige Chance!“, meinte Taris, und ein heftiger Donnerschlag gab ihm recht. Beim nächsten Blitz stieg Beatrices Pferd; zwar konnte sie sich oben halten, doch begann ihre verletzte Lippe durch den Ruck wieder zu schmerzen. Tränen schossen ihr in die Augen und rannen ihr heiß über die Wangen, das einzig Warme in der Eiseswelt ringsum.

„Es tut mir leid.“ Als sie zu ihm sah, stellte sie fest, dass seine Miene unbeteiligt war. Er gehörte wohl zu den Männern, die Dramen nicht ausstehen konnten.

„Halten Sie Ausschau nach dem Pfad, Mrs. Bassingstoke. Wir müssen einfach nur die verdammte Scheune finden.“

Reizbar. Selbstherrlich. Hochfahrend.

Einem solchen Mann gegenüber Schwäche gezeigt zu haben war ihr widerwärtig. Sie wischte sich die Tränen an dem nassen Samt ihres Umhangs ab.

Der Pfad war nicht zu finden. Kein Stein als Hinweis, keine Fußstapfen, keine Lücke in den Hecken am Straßenrand, keine Wagenfurchen, die eine häufig befahrene Strecke vermuten ließen.

„Schauen Sie auch gründlich?“

Herrgott, das fragte er sie nun schon zum fünften Mal! Sie wunderte sich, warum er abgestiegen war und sein Pferd am Zügel führte. So dicht am Straßengraben ging er, dass er fast hineinzurutschen drohte. Tastete er mit den Füßen nach etwas? Wonach? Was suchte er? Warum ritt er nicht einfach zügig in die angegebene Richtung?

Noch während dieser Überlegung wurde ihr die Antwort klar! Die fünf Minuten waren längst vorüber; was, wenn sie den Pfad verfehlt hatten …?

Plötzlich ragte eine Baumreihe vor ihnen auf.

„Hier! Hier ist es!“

Er wandte sich ihr zu und wartete. „Wo? Was sehen Sie?“

„Bäume, eine Allee, zehn Schritt nach links.“

Der Stein war genau an der bezeichneten Stelle, doch von Schnee bedeckt und im Weiß der Umgebung kaum zu sehen, sodass man den Pfad, den er markierte, nur erkennen konnte, wenn man von ihm wusste.

Als Taris Wellingham mit den Füßen gegen den Stein stieß, beugte er sich weit darüber und schob – mit einer seltsam verhaltenen Geste, wie Beatrice fand – den Schnee mit vor Kälte blau gefrorenen Fingern hinunter. So in sich gekehrt wirkte er, dass er vor den schwankenden Bäumen im Wehen des Sturms und mit seinem flatternden weiten Mantel sehr bühnenhaft aussah. Ein Mann, gefangen in einer Sekunde der Zeit, die harten Flächen seines Gesichts gen Himmel erhoben wie im Gebet.

Gott sei Dank, wir haben die Scheune gefunden, dachte Taris Wellingham und spähte mit zusammengekniffenen Augen ins Dunkel, mühte sich so angestrengt, den Weg zu erkennen, dass ihm die Augen tränten.

Beatrice-Maude Bassingstoke, die hinter ihm geblieben war, hatte während der letzten Augenblicke kein Wort gesagt, doch er hörte, wie ihre Zähne erschreckend laut aufeinanderschlugen.

„Schaffen Sie es noch bis zur Scheune?“, fragte er. Er klang sehr besorgt.

„Natürlich.“ So kalt war ihr, dass die Silben nur stockend aus ihrem Mund kamen.

„Brauchen Sie Hilfe?“

„N…nein.“ Sie war den Tränen nahe.

„Sind Sie immer so widerborstig, Mrs. Bassingstoke?“ Mit Wut konnte er besser umgehen als mit Nöten, und die Erfahrung hatte Taris gelehrt, dass ein bisschen Verdruss Frauen Kraft verlieh.

Doch diese hier war anders; ihr Schweigen wurde nun von einem Schniefen unterbrochen, gedämpft, vermutete er, hinter dem dicken Samt ihres Umhangs.

Eine Frau am Ende ihrer Kräfte, und wer konnte es ihr verdenken? Sie war nicht in der Kutsche sitzen geblieben und hatte erwartet, dass andere sie retteten, oder hatte die Kälte beklagt oder den Unfall. Sie hatte nicht wegen des getöteten Mitreisenden gejammert und sich nicht beschwert, als sie ihren Sitz für den verletzten Kutscher ungefragt räumte. Nein, diese Frau war eine Lady, die sich jeder Schwierigkeit mit der Seelenstärke einer Person gestellt hatte, die allen Unbilden gewachsen war. Bis jetzt. Bis zum Schluss, da die warme Scheune winkte und die Hoffnung auf Sicherheit.

Im Krieg, in den Jahren auf dem Kontinent, hatte er Ähnliches erlebt, wenn Soldaten erst nach der Schlacht zusammenbrachen, fassungslos, weil sie unverletzt davongekommen waren, wo doch so viele andere sterben mussten.

Diesen Punkt schien Mrs. Bassingstoke erreicht zu haben.

Er wünschte, er hätte ihre Miene lesen können, um zu sehen, wie ihr zumute war, doch er hatte nichts als ihr leises Schnüffeln, woran er sich halten konnte.

Als sie mit jedem Schritt in tieferen Schnee gerieten, fragte Taris sich allmählich, wie weit es wohl noch war, allerdings sagte eine Luftströmung ihm, dass in der Nähe ein Gebäude sein musste, durch das der Wind Auftrieb bekam.

Außerdem hatte er inzwischen die Fähigkeit entwickelt, Gegenstände quasi zu erahnen; die anderen geschärften Sinne glichen den verfluchten Mangel an Sehkraft aus. Er legte eine Hand an solides Holz und dankte Gott für ihre Errettung, während er nach den Zügeln des Tiers seiner Begleiterin griff.

„Ich helfe Ihnen herunter.“

„D…danke.“

Sie legte ihm die Hände auf die Schultern, als er die Arme hob und ihre Taille umfasste – eine Taille, die besorgniserregend schmal war. Doch als Beatrice unten war, klammerte sie sich an ihn, die Hände in sein Cape gekrallt.

Fragend legte er den Kopf schräg.

„Ich kann meine F…füße nicht spüren“, erklärte sie, immer noch mit klappernden Zähnen.

„Dann trage ich Sie.“ Er hob sie hoch und tastete sich ein paar Schritte bis zur Ecke des Baus. Dort, auf der Südseite, spürte er unter den Händen eine Tür, durch die man in die Scheune gelangte. Die Pferde folgten ihnen willig.

Drinnen roch es stark nach Heu und Kleefutter und nach noch etwas. Hühner, dachte er, und horchte nach dem verräterischen Kratzen. Vielleicht gab es gar Eier hier.

Taris mochte es, wie Beatrices Atem über sein Schlüsselbein strich, sachte Wärme, überraschend wie eine Zärtlichkeit. Wie alt war sie? Als ihre Hand auf seiner Haut ruhte, spürte er ein goldenes Band auf dem dritten Finger ihrer Linken.

Beunruhigt fragte er sich, ob es da irgendwo einen Gemahl gab, verrückt vor Sorge um sie.

„I…ich sehe dahinten in einer E…ecke, glaube ich, ein paar Decken. V…vielleicht können wir uns damit wärmen.“ Sie zitterte so sehr, dass sie kaum die Worte herausbekam.

In welcher Ecke? Mit seinem eingeschränkten Sehvermögen konnte Taris so eben die Wände ringsum wahrnehmen. Dann kam ihm ein ermutigender Gedanke – wenn er sie absetzte, würde sie ihn vielleicht direkt darauf zuführen.

Als sie den gestampften Boden berührte, ächzte Beatrice leise, denn inzwischen kehrte Leben in ihre Füße zurück und erzeugte ein Gefühl wie tausend Nadelstiche, wodurch das Auftreten unerträglich schmerzte. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so durchfroren gewesen zu sein. Der Schmerz drang ihr bis ins Mark, was ihre Bewegungen ganz ungeschickt und schwerfällig machte. Sie war so froh, als sie sich endlich in der Ecke auf das Heu sinken lassen konnte. Eilig zog sie ihre Stiefel aus und steckte ihre Füße unter die kratzige, graue, aber wärmende Pferdedecke.

Allerdings war ihre Kleidung steif und nass vom Schnee, und plötzlich schien ihr die Kälte, anders, als sie gedacht hatte, trotz der verbesserten Lage wieder zuzunehmen.

Neben ihr schälte Taris Wellingham sich aus seinem Mantel und ließ das nasse Hemd folgen.

Beim Anblick seiner kräftigen Muskeln und des prachtvollen Brustkorbs, die davon zeugten, dass er sich wohl häufig im Freien betätigte, sog sie scharf den Atem ein und schaute rasch fort.

„Legen auch Sie Ihre Cape ab“, sagte er, während er zu ihr unter die Decke kroch und seinen Umhang zusätzlich darüber breitete.

„Was … was machen Sie da?“ Aufsteigende Angst ließ ihre Stimme schrill klingen.

„Kälte kann einen in kürzester Zeit töten. Haut an Haut können wir uns gegenseitig wärmen.“

„Äh … Haut an Haut?“ Gott, dass er auch nur wagte, das vorzuschlagen!

„Fühlen Sie“, war seine Antwort. Er ergriff ihre Hand und legte sie an ihre Kehle. Die Haut war kalt und klamm und der Puls darunter flach und schnell.

„Und nun hier.“

Jetzt lagen ihre Finger an seiner Brust, die Härchen dort kitzelten ihre Handfläche. Doch was sie überzeugte, war die Wärme, die von ihm ausging; sein gesamter Körper kam ihr vor wie ein lodernder Glutofen.

Sie brachte es nicht über sich, sich wieder zurückzuziehen, sich schicklichen Betragens zu erinnern. Sie wollte sich einfach nur dichter an ihn schmiegen, und als er ihr behilflich war, das nasse Cape abzustreifen, hielt sie ihn nicht davon ab.

„Wie alt sind Sie?“, fragte er in ihr Schweigen.

„Achtundzwanzig.“

Autor

Sophia James
Romane von Georgette Heyer prägten Sophias Lesegewohnheiten. Als Teenager lag sie schmökernd in der Sonne auf der Veranda ihrer Großmutter mit Ausblick auf die stürmische Küste.
Ihre Karriere als Autorin nahm jedoch in Bilbao, Spanien, ihren Anfang. Nachdem ihr drei Weißheitszähne gezogen wurden, lag sie aufgrund starker Schmerzmittel tagelang flach. Die...
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