Verführt von einem Bastard

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"Ich bin der uneheliche Sohn eines italienischen Adeligen." Lady Cressida stockt der Atem, als der berühmte Maler Giovanni ihr die Wahrheit über seine Herkunft gesteht. Erfolgreich hat sie bis jetzt jeden Heiratskandidaten abgewehrt - denn sie möchte sich niemals einem Mann unterordnen, ihr Herz gehört der Wissenschaft! Doch der attraktive Giovanni versteht ihr Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit - und als er sie porträtiert erwacht in Cressida brennendes Verlangen. Sie sehnt sich nach seinen Küssen, seiner Liebe. Aber einem Bastard darf sich niemals hingeben …


  • Erscheinungstag 24.03.2015
  • Bandnummer 0558
  • ISBN / Artikelnummer 9783733762339
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

Prolog

Wunderbar. Ein Triumph.“ Wohlgefällig betrachtete Sir Romney Kirn das Gemälde, das der Künstler soeben für ihn enthüllt hatte, und rieb sich die fleischigen Hände mit den kurzen, dicken Wurstfingern. „Signor di Matteo hat mich wirklich hervorragend getroffen. Findest du nicht auch, meine Teure?“

„Absolut, mein Lieber“, pflichtete seine Gattin ihm bei. „Fast könnte man denken, er habe dich noch stattlicher und bedeutender dargestellt, als du in Wirklichkeit bist – sofern das überhaupt möglich ist.“

Wenn Sir Romney, dessen beachtliche Leibesfülle davon zeugte, wie sehr er dem Genuss von Portwein und gehaltvollem Essen zugetan war, in diesem Moment vor Freude errötete, so war dies nicht zu erkennen, da sein Gesicht infolge seines Lebenswandels ohnehin einen ungesunden Rotton aufwies. Er schenkte seiner Gemahlin ein Lächeln, das sie indes kaum wahrnahm, weil sie ihre Aufmerksamkeit dem Maler zuwandte. Als sie sich zu Giovanni di Matteo umdrehte, gab ihr Korsett ein verstörendes Knarren von sich.

„Sie werden Ihrem Ruf, ein Genie zu sein, wahrhaftig gerecht, Signore.“ Lady Kirn lachte aufreizend und klimperte mit den Wimpern.

Schämte sie sich nicht, in Anwesenheit ihres Ehemanns mit ihm zu flirten? Giovanni di Matteo seufzte unhörbar. Es stieß ihn ab, wenn verheiratete Frauen ihm Avancen machten. Überhaupt behagte es ihm seit langem nicht mehr, dass er so anziehend auf die Damenwelt wirkte. Mit einer angedeuteten Verbeugung erklärte er: „Ich bin nur so gut wie mein Modell, Mylady.“

Die Lüge kam ihm erschreckend leicht über die Lippen. Tatsächlich empfand Giovanni kaum mehr als Gleichgültigkeit gegenüber Sir Romney, der ihm ein beachtliches Honorar zahlen würde.

Reich geworden war der kürzlich zum Ritter geschlagene Emporkömmling mit dem Anbau und dem Verkauf von Hopfen. Darüber hatte er stundenlang geredet, während er Modell gesessen und dabei, auf eigenen Wunsch, ein Exemplar von Adam Smiths „The Wealth of Nations“ in der Hand gehalten hatte – ein Werk, das er vermutlich ebenso wenig gelesen hatte wie all die anderen Bücher in seiner Bibliothek. Es hieß, er habe die in Leder gebundenen Bände samt der schweren Regale von einem verarmten Adeligen erworben. Jedenfalls hatte er darauf bestanden, dass eben diese Bibliothek als Hintergrund für das Portrait gewählt wurde. Er war sehr stolz auf seinen neuen Titel und die damit verbundene gesellschaftliche Stellung.

Giovanni di Matteo musterte das Gemälde noch einmal mit kritischem Blick. Technisch war das Portrait wirklich gelungen. Alles stimmte: das Licht, die Perspektive, die Farbgebung, die Platzierung des Modells innerhalb der Gesamtkomposition … Man sah Sir Romney im Halbprofil, was seine Leibesfülle ein wenig kaschierte und sein Gesicht männlicher erscheinen ließ, als es in Wirklichkeit war. Auf den Betrachter des Bildes wirkte der Hopfenhändler genau so, wie er gesehen werden wollte.

Das war Giovannis Stärke: Zuverlässig erfüllte er die Erwartungen seiner Auftraggeber. Seine Portraits gaben die gewünschte Illusion von Reichtum, von Klugheit, Charme oder auch Sinnlichkeit. Deshalb wandte man sich an ihn. Deshalb waren seine Klienten bereit, astronomische Summen zu zahlen. Deshalb war er jetzt, zehn Jahre, nachdem er nach England gekommen war, auf dem Höhepunkt seines Erfolgs angelangt.

Und genau deshalb verachtete er sich selbst.

Das war nicht immer so gewesen. Er erinnerte sich an Zeiten, in denen eine leere Leinwand ihn mit Vorfreude erfüllt, in denen er mit Begeisterung und Hingabe gemalt hatte. Zeiten, in denen ein fertiggestelltes Bild ihn in freudige Erregung versetzt hatte, statt ihn ausgelaugt und gelangweilt zurückzulassen. Damals waren Kunst und Sinnlichkeit für ihn das Wichtigste im Leben gewesen, und er hatte das eine mithilfe des anderen zelebriert. Doch das eine wie das andere hatte sich als Illusion erwiesen, so wie die Bilder, die er heutzutage malte, weil es sein Ehrgeiz war, reich und berühmt zu sein.

Kunst und Sinnlichkeit … Giovanni unterdrückte einen Seufzer. Malen und Frauen hatten für ihn zusammengehört. Und seit er die Frauen aufgegeben hatte, erschien ihm die Kunst kalt und reizlos.

Die Stimme seines Auftraggebers riss ihn aus seinen Gedanken.

„Nun, Signore, lassen Sie uns das … das Geschäftliche erledigen.“ Sir Romney Kirn hielt die prall gefüllte Lederbörse in der Hand wie ein Verbrecher, der vorhat, einen Tatzeugen zu bestechen.

„Grazie.“ Belustigt steckte Giovanni sein Honorar ein. Wie so viele seiner Klienten, schien auch Sir Romney den Akt des Bezahlens äußerst unangenehm zu finden. Als würde das Geld die Kunst beschmutzen. Als dürfe Schönheit keinen Preis haben …

Das Glas Madeira, das die Dame des Hauses ihm anbot, lehnte Giovanni zur größten Enttäuschung von Lady Kim ab. Er schüttelte Sir Romney die Hand und verließ eilig das Haus.

Am nächsten Tag würde er sich mit seinem neuen Auftraggeber treffen. In London diesmal. Wieder würde er eine leere Leinwand mit Farbe füllen. Wieder würde er der Eitelkeit eines Klienten schmeicheln. Wieder würde eine stattliche Summe Geldes den Besitzer wechseln. Wieder würde Giovanni seinen Reichtum mehren. Und nur darum ging es schließlich.

Finanziell war er längst unabhängig. Und das sollte so bleiben! Nie wieder wollte er sein Verhalten nach den Wünschen anderer richten und fremden Erwartungen entsprechen müssen. Deshalb würde er auch das Erbe seines Vaters nie antreten. Deshalb würde er sich nie wieder zum Spielzeug einer Frau machen lassen. Und natürlich würde er erst recht keinem Mann zu Willen sein, obwohl es genug Männer gab, die mehr Interesse an seinem Körper zeigten als an seinem Talent als Maler.

Ja, er war fest entschlossen, seine Unabhängigkeit zu wahren. Selbst wenn das bedeutete, dass er nicht so malen konnte, wie er das eigentlich wünschte.

Der Saal, den die renommierte Londoner Astronomische Gesellschaft in einem Gebäude nahe Lincoln’s Inn Fields gemietet hatte, war schon gut gefüllt, als ein junger Mann hereinschlüpfte und sich unauffällig einen Platz suchte. An den Treffen der gelehrten Astronomen und Mathematiker durften nur Mitglieder der Gesellschaft sowie geladene Gäste teilnehmen. Zu den Letzteren zählte auch der junge Mann, für den Charles Babbage, einer der Gründer der Gesellschaft, sich auf Drängen seiner Gattin Georgiana eingesetzt hatte. Der Grund dafür waren verwandtschaftliche Bande. Georgiana war eine Cousine von Mr Brown. So jedenfalls lautete der Name, unter dem der junge Mann bei Gelegenheiten wie dieser auftrat. Zwischen Charles Babbage und ihm hatte sich eine verschwörerische Freundschaft entwickelt, was wohl in erster Linie auf ihre gemeinsame Begeisterung für die Mathematik zurückzuführen war.

An diesem Abend stellte John Herschel, der Präsident der Gesellschaft, seine Forschungsergebnisse zur Bedeutung von Doppelsternen vor, eine Arbeit, für die er kürzlich öffentlich geehrt worden war.

Es war ein Thema, das Mr Brown nicht mit vorrangigem Interesse verfolgte, denn zu seinem Bedauern besaß er kein eigenes Teleskop und konnte daher nicht selbst in die Erforschung des Nachthimmels eintauchen. Dennoch hatte er auf den Vortrag nicht verzichten wollen und machte sich eifrig Notizen. Vielleicht würde es ihm ja gelingen, seinen Vater von der Notwendigkeit zu überzeugen, ein Teleskop anzuschaffen, denn ein solches Instrument konnte gewiss nützlich sein für die Bildung der jüngeren Familienmitglieder. Im Übrigen war Mr Herschel ein durch und durch logisch argumentierender Mensch, was allein schon genügte, um Mr Browns Bewunderung zu wecken.

Die Luft in dem überfüllten Saal war schlecht, doch niemand beschwerte sich. Immerhin gab es kostenlose Getränke. Während einige der Anwesenden ungehemmt dem Brandy zusprachen, nippte Mr Brown nicht einmal an einem Glas Wein. Auch widerstand er trotz der unangenehmen Hitze dem Wunsch, seinen etwas zu groß geratenen Gehrock aufzuknöpfen. Seine bartlosen Wangen waren rosig überhaucht, was ihm, zusammen mit den unter dem Biberhut hervorlugenden braunen Locken, ein beinahe feminines Aussehen verlieh. Nun, er war wohl beträchtlich jünger als die anderen Anwesenden. Und schüchtern. Jedenfalls vermied er jeden direkten Blickkontakt mit seinen Nachbarn, sodass diesen entging, von welch ungewöhnlichem Blau seine Augen waren, und niemand sich fragte, ob es sich bei dem mutwilligen Blitzen darin um ein Zeichen von Widerborstigkeit oder Belustigung handelte.

Hin und wieder biss Mr Brown sich auf die Unterlippe. Auf ein empfindsames, von innerer Rastlosigkeit getriebenes Wesen wies auch die Tatsache hin, dass der junge Mann Nägel kaute. Überhaupt machte er keinen besonders gesunden Eindruck, blass und schmächtig, wie er war. Aber es gab viele gelehrsame Jünglinge, die über ihren Studien vergaßen, wie wichtig es war, den Körper zu kräftigen. Die Mitglieder der Londoner Astronomischen Gesellschaft waren an den Anblick wissbegieriger, unterernährt wirkender junger Gentlemen gewöhnt.

Sobald der Vortrag beendet, der Applaus verklungen und auch die letzte Frage aus dem Publikum beantwortet war, erhob Mr Brown sich und verließ den Saal ebenso unauffällig, wie er ihn betreten hatte. Als jemand ihn freundlich fragte, ob Herschels Vortrag ihm gefallen habe, nickte er ernst und eilte ohne ein Wort weiter. Als einer der Ersten trat er auf die Straße hinaus. Dann allerdings zögerte er unmerklich. Der kürzeste Weg nach Hause führte durch den Park, der nun, da er im Dunkeln lag, unheimlich wirkte.

„Sei ein Mann“, murmelte Mr Brown zu sich selbst. Woraufhin ein amüsiertes Lächeln über sein Gesicht huschte. Er straffte die Schultern und schritt tapfer voran.

Die Häuser von Lincoln’s Inn Fields, die einst wohlhabenden Städtern gehört hatten, wurden nun fast ausschließlich von Anwälten und anderen bei Gericht tätigen Gentlemen genutzt. Jetzt, um zehn Uhr abends, lagen die meisten Gebäude im Dunkeln. Nur hier und da war ein erleuchtetes Fenster zu sehen. Das änderte sich, als der junge Mann Covent Garden erreichte. In diesem Stadtteil war es zwar heller, aber gewiss nicht weniger gefährlich. Es wäre klug gewesen, eine Mietdroschke zu nehmen, doch Mr Brown zog nur den Biberhut tiefer ins Gesicht und würdigte die Spielhöllen und Freudenhäuser, an denen er vorbeieilte, keines Blickes. Indem er der Oxford Street folgte, erreichte er wenig später die Straßen von Bloomsbury, wo er sich endlich gestattete, sein Tempo zu drosseln.

Nun war es nicht mehr weit bis zum Cavendish Square, wo Lord Henry Armstrong ein elegantes Stadthaus besaß. Erstaunlicherweise verloren Mr Browns Augen ihren Glanz, als er sich dem vornehmen Gebäude näherte. Die Schultern des jungen Manns sanken nach vorn; langsam, beinahe widerwillig, setzte er einen Fuß vor den anderen. Der Vortrag war so anregend, so beflügelnd gewesen, doch der Anblick seines Elternhauses hatte eine bedrückende Wirkung auf ihn. Vergeblich kämpfte er gegen das Gefühl an, nicht wirklich hierher zu gehören. Leider gab es kein Entrinnen. Leise öffnete er die Haustür und schlüpfte ins Foyer.

Aus der halb geöffneten Tür der Bibliothek, die Lord Armstrong auch als Arbeitszimmer diente, fiel Licht in die Eingangshalle. Der hochgeachtete Diplomat, dessen Name nicht nur in England einen guten Klang hatte, saß noch am Schreibtisch. Sein Einfluss war noch weiter gewachsen, seit der Duke of Wellington ihm eine Position in seiner Regierung angeboten hatte.

„Cressida? Bist du das?“, ertönte seine tiefe Stimme.

Einen Fuß auf der untersten Treppenstufe, blieb Lady Cressida alias Mr Brown abrupt stehen. Sie flüsterte eine höchst undamenhafte Verwünschung. Dann antwortete sie mit klarer Stimme: „Ja, Vater. Ich gehe jetzt zu Bett. Gute Nacht!“

In einem Anfall von Aberglauben kreuzte sie die Finger, so als könne die Geste sie vor der Entdeckung retten. Dann holte sie tief Luft und eilte die Treppe hinauf.

1. KAPITEL

London, März 1828

Die Standuhr in der Eingangshalle schlug zwölf Mal. Mittag. Cressie hob den Blick von ihrer Arbeit und musterte ihr Spiegelbild. Unglücklich krauste sie die Nase. Der hohe Spiegel an der Wand gegenüber zeigte eine junge Frau, deren lockiges rotes Haar kaum zu bändigen war. Im Augenblick erinnerte es eher an das Nest eines großen Vogels als an irgendetwas, das man Frisur hätte nennen können. Wenn sie wenigstens noch genug Zeit gehabt hätte, nach der Zofe zu schellen! Aber dazu war es jetzt zu spät. Ihr Vater erwartete absolute Pünktlichkeit.

Den größten Teil des Vormittags hatte Lady Cressida damit zugebracht, sich Notizen zu ihrer Theorie über die mathematischen Gesetze der Schönheit zu machen. Schon seit längerem beschäftigte sie sich mit der Frage, wie das, was Menschen als schön empfanden, mithilfe mathematischer Formeln beschrieben werden konnte. Und nun wollte sie darüber einen Artikel für die Zeitschrift „Kaleidoskop“ verfassen. Einen leicht verständlichen Artikel.

Sie wusste, dass sie selbst in keiner Weise den allgemein anerkannten Ansprüchen an weibliche Schönheit gerecht wurde. Es lag nicht nur an ihrem Haar, sondern auch an anderen Mängeln und nicht zuletzt an ihrem wenig ausgeprägten Modebewusstsein. Ihr Vormittagskleid aus braun gemusterter Baumwolle war einfach geschnitten und entsprach nicht der herrschenden Mode. Zudem sah man ihm an, dass es viel getragen und oft gewaschen worden war.

Seufzend machte Cressie sich auf den Weg nach unten und versuchte sich für das Gespräch mit ihrem Vater zu wappnen. Gleichgültig, aus welchem Grund Lord Armstrong sie zu sich bestellt hatte, es würde gewiss keine angenehme Begegnung werden. „Sei ein Mann“, murmelte sie kaum hörbar zu sich selbst. Dann atmete sie tief durch und klopfte an die Tür zur Bibliothek. Ohne auf eine Antwort zu warten, betrat sie mit kampflustig gerecktem Kinn das Zimmer, knickste, und setzte sich auf den Stuhl, der vor dem schweren Schreibtisch des Hausherrn stand. „Guten Tag, Vater.“

Lord Armstrong nickte ihr kurz zu. Und zu ihrem Erstaunen entdeckte sie ein kleines Lächeln auf seinen noch immer anziehenden Zügen. Überhaupt sah er für seine fünfundfünfzig Jahre nicht schlecht aus.

„Ich habe heute Morgen einen Brief von deiner Stiefmutter bekommen“, sagte er statt einer Begrüßung. „Du darfst mir gratulieren, Cressida. Sir Gilbert Mountjoy hat bestätigt, dass Bella abermals guter Hoffnung ist.“

„Oh!“, war alles, was Cressie über die Lippen brachte. Betreut von dem berühmten Arzt, hatte Bella in acht Jahren vier Jungen zur Welt gebracht. Waren vier männliche Nachkommen nicht genug? Zumal ein Mann im Alter Seiner Lordschaft ihrer Meinung nach an gewissen Dingen kein Interesse mehr hätte haben sollen. Unwillkürlich runzelte sie die Stirn. Sie wollte sich nicht einmal vorstellen, dass ihr Vater und Bella es noch taten! Dann wurde ihr klar, dass der stolze Ehemann und werdende Vater auf ihre Glückwünsche wartete. „Noch ein Geschwisterchen.“ Es gelang ihr zu lächeln. „Wie überaus … angenehm. Es wäre eine nette Abwechslung, wenn es diesmal ein Mädchen würde, nicht wahr?“

Lord Armstrong trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und starrte seine Tochter an. „Ich hoffe sehr, dass Bella vernünftig genug ist, mir einen weiteren Sohn zu schenken. Ich will nicht leugnen, dass auch Töchter ihren Nutzen haben. Aber es sind die Söhne, die die Familientradition fortsetzen und die Grundlagen schaffen, die es ermöglichen, die gesellschaftliche Position der Familie zu wahren.“

Wenn er über seine Kinder spricht, hört sich das an, als plane er die nächsten Züge in einem Schachspiel, dachte Cressie bitter. Natürlich wagte sie nicht, den Gedanken laut zu äußern. Sie kannte ihren Vater gut genug, um zu wissen, dass seine bisherigen Ausführungen nur der Auftakt zu irgendeinem unangenehmen Thema darstellten. Wenn Seine Lordschaft sie zu sich rief, wollte er unweigerlich, dass sie etwas für ihn tat. Töchter hatten eben, wie er so treffend formulierte, durchaus ihren Nutzen.

„Im Übrigen gibt es da noch etwas, das ich mit dir besprechen möchte“, fuhr er auch schon fort und schenkte ihr jenes wohlwollende Lächeln, das nicht unwesentlich zu seinem Erfolg als Diplomat beigetragen und oft genug dafür gesorgt hatte, dass unangenehme Zwischenfälle vergessen wurden. Unzählige erregte oder erzürnte Regierungsmitglieder in ganz Europa hatten sich durch dieses Lächeln beschwichtigen lassen.

Cressie allerdings verspürte genau den gegenteiligen Effekt. Was auch immer ihr Vater zu sagen beabsichtigte, es würde ihr nicht gefallen. Das wusste sie genau.

„Deine Stiefmutter war in letzter Zeit nicht so gesund und kräftig, wie ich es von ihr gewöhnt bin. Sir Gilbert sah sich sogar veranlasst, ihr Ruhe zu verordnen. Das ist überaus bedauerlich, da ich darauf vertraut habe, dass Bella deine Schwester Cordelia in der nächsten Saison in die Gesellschaft einführt. Nun sieht es ganz so aus, als müsse Cordelia ihr Debüt in London vorerst verschieben.“

Cressie riss die Augen auf. „Oh nein! Cordelia zählt schon die Tage bis zum Beginn ihrer ersten Saison! Sie wird schrecklich enttäuscht sein! Könnte nicht Tante Sophia für Bella einspringen?“

„Meine Schwester Sophia ist zweifellos eine wundervolle Frau, und ich wüsste nicht, was ich in all den Jahren nach dem Tod eurer Mutter ohne sie getan hätte. Aber leider ist sie nicht mehr die Jüngste. Ja, wenn es nur um Cordelia ginge … die zweifellos leicht zu verheiraten sein wird, so schön, wie sie ist.“ Ihr Vater krauste nachdenklich die Stirn. „Vermutlich könnte ich dafür sorgen, dass Lord Barchester ihr einen Antrag macht. Er hat hervorragende Verbindungen. Doch leider ist Cordelia nicht die Einzige, an die es zu denken gilt. Es macht mir Sorgen, dass du noch immer keinen Gatten gefunden hast, Cressida. Deshalb hatte ich gehofft, Bella würde sich in der nächsten Saison um euch beide kümmern. Als deine Stiefmutter und als erfahrene Frau sollte sie einen gewissen Einfluss auf dich haben. Wie du weißt, musst auch du dich irgendwann entschließen, in den Stand der Ehe zu treten, meine Liebe.“

Der Diplomat warf seiner Tochter einen bedeutungsvollen Blick zu.

Lady Cressida wiederum fragte sich, ob ihr Vater sich überhaupt vorstellen konnte, wie Cordelia auf den Vorschlag reagieren würde, Barchester zu heiraten. Einen alten Mann, der – sofern man den Gerüchten trauen konnte – nur deshalb noch Zähne im Mund hatte, weil sie einem seiner Pächter aus dem Mund gebrochen und ihm eingesetzt worden waren.

„Wenn es dein Wunsch ist, Cordelia mit Lord Barchester zu vermählen“, sie starrte auf ihre im Schoß gefalteten Hände, „können wir nur hoffen, dass er von ihr mehr angetan ist als damals von mir.“

„Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt“, pflichtete Lord Armstrong ihr bei und begann erneut mit den Fingern auf die Tischplatte zu trommeln.

Cressie, die nicht daran gewöhnt war, Zustimmung für irgendeine ihrer Bemerkungen zu ernten, warf ihm einen misstrauischen Blick zu.

„Glücklicherweise ist Cordelia um einiges jünger als du“, fuhr ihr Vater fort. „Die Gentlemen werden sich scharenweise um sie bemühen. Einen Gatten für dich zu finden, Cressida, ist dagegen nicht so leicht. Schließlich bist du schon achtundzwanzig.“

„Sechsundzwanzig“, korrigierte sie ihn.

Er zuckte die Schultern. „Der Punkt ist doch, dass du alle Gentlemen in die Flucht geschlagen hast, die auf meine Anregung hin Interesse an dir zeigten. Nun, ich beabsichtige jedenfalls, einige von ihnen auf deine Schwester aufmerksam zu machen. Aber weder ihnen noch mir würde es gefallen, wenn du sie und Cordelia mit Argusaugen beobachtest und womöglich unpassende Bemerkungen machst. Deshalb stelle ich meinen Plan, dich angemessen zu verheiraten, vorerst zurück. Zumal deine Tante Sophia – worauf ich bereits hingewiesen habe – eigentlich zu alt ist, um die Verantwortung für zwei junge Damen zu übernehmen.“ Er unterbrach sich und musterte Cressie streng. „Nein, meine Liebe, du brauchst gar nicht so zu tun, als seist du enttäuscht. Ich kenne dich zu gut, um darauf hereinzufallen.“

Beharrlich hielt Cressida den Blick auf ihre Hände gerichtet.

„Ich bin sicher, dass deine Schwester sich bald verloben wird, wenn niemand ihr im Weg steht“, schloss Lord Armstrong nüchtern.

Das saß. Schon vor Jahren hatte Cressie beschlossen, sich nicht anmerken zu lassen, wenn ihr Vater sie kränkte. Deshalb verzog sie keine Miene. Ihre Fingerknöchel allerdings, die weiß hervortraten, weil sie die Hände so fest zusammenpresste, verrieten, dass sie noch immer nicht unempfindlich war gegenüber Lord Armstrongs taktlosen Bemerkungen. Sie wusste genau, wie er dachte, und hätte eigentlich nicht enttäuscht sein sollen, wenn er eine seiner kleinen Bosheiten von sich gab. Dennoch trafen seine Worte sie stets aufs Neue. Er würde sie nie verstehen, und nie würde er ihr echte Achtung entgegenbringen. Das war ihr seit langem klar. Gleichwohl konnte sie nicht aufhören, sich um seine Wertschätzung und seine Zuneigung zu bemühen.

Sie seufzte unhörbar. Warum, um Himmels willen, tat sie das bloß? Weil er ihr Vater war und sie ihn liebte. Aber er machte es ihr wirklich schwer, ihn zu mögen.

Lord Armstrong nahm den Brief seiner Gattin zur Hand, faltete ihn auseinander und starrte auf die die eng beschriebenen Seiten. „Denk nicht, dass ich meine Pläne für deine Verehelichung endgültig aufgebe“, wandte er sich an Cressie. „Doch vorerst brauche ich dich an anderer Stelle. Diese dumme Gouvernante, die ich für die Jungen eingestellt hatte, war so unverschämt, sich einfach davonzumachen. James hatte eine Schweinsblase mit Wasser gefüllt und ihr ins Bett gelegt. Daraufhin kehrte sie Killellan Manor den Rücken, ohne auch nur die Kündigungsfrist einzuhalten.“ Seine Lordschaft stieß ein bellendes Lachen aus. „Feiner Junge, mein Stammhalter, oder nicht? Kommt offenbar ganz nach mir. Als ich in Harrow zur Schule ging, spielten wir Lehrern, die wir nicht leiden konnten, genau den gleichen Streich.“

„James“, begann Cressie, all ihren Mut zusammennehmend, „ist unsäglich verwöhnt. Und ich finde es erschreckend, dass Harry sich in allem ein Beispiel an ihm nimmt.“

Sie hätte wissen müssen, dass ihr Vater diese Ansicht nicht teilte. Auch hätte ihr klar sein sollen, dass er, wenn er sie brauchte, eine besonders unangenehme Pflicht für sie bereithielt. Letztendlich war es auch keineswegs überraschend, dass die Aufgabe in irgendeinem Zusammenhang mit seinen Söhnen stand. Cressie brachte ihren Halbbrüdern durchaus Zuneigung entgegen, aber es schmerzte sie, dass die vier Knaben ihrem Vater so viel mehr bedeuteten als seine Töchter.

„Um zum Kern der Angelegenheit zu kommen …“ Lord Armstrong ging nicht auf ihre Bemerkung ein. „Deine Stiefmutter ist nicht in der Verfassung, kurzfristig eine fähige Gouvernante zu finden, und ich muss mich um wichtige Staatsangelegenheiten kümmern. Wie du weißt“, verkündete er nicht ohne Stolz, „verlässt Wellington sich ganz auf mich.“

Das bildete ihr Vater sich ein. Allerdings plusterte er sich auf, als sei er tatsächlich davon überzeugt, unentbehrlich zu sein für den Duke. Cressida lächelte bei dem Gedanken, doch der nächste Satz ihres Vaters ließ sie aufhorchen.

„Da es andererseits nicht infrage kommt, die Erziehung meiner Söhne zu vernachlässigen, habe ich mir überlegt, was wir tun könnten, und bin schließlich zu einer naheliegenden Lösung gelangt.“

„Welche?“, fragte sie misstrauisch.

„Eigentlich ist es ganz einfach: Du wirst eine Zeitlang die Aufgaben der Gouvernante übernehmen, Cressida. Das bringt mehrere Vorteile. Cordelia kann in die Gesellschaft eingeführt werden, ohne dass du ihr irgendwie im Weg stehst. Und du kannst deinen Verstand, auf den du dir so viel einbildest, endlich einmal für einen guten Zweck einsetzen. Während du die Jungen in Killellan Manor unterrichtest und zudem die Gelegenheit bekommst, das Verhältnis zu deiner Stiefmutter zu verbessern, wird sich eure Tante Sophia um Cordelia kümmern. Deine Schwester kann in London die Bekanntschaft geeigneter Gentlemen machen, die als Ehemann für sie infrage kommen. Mit etwas Glück ist sie im Herbst bereits verheiratet.“

Oh Gott!

Lord Armstrong wirkte hochzufrieden mit sich. „Es gehört zu meinen diplomatischen Fähigkeiten, dass ich stets die beste Lösung für eine schwierige Situation liefern kann.“ Er spitzte nachdenklich die Lippen. „Was zweifellos der Grund dafür ist, dass Lord Wellington mich so außerordentlich schätzt.“

Am liebsten hätte Cressida die Augen verdreht. Auch sie würde diplomatisch vorgehen müssen, und zwar wirklich diplomatisch. Sie musste einen Weg finden, die Pläne ihres Vaters zu durchkreuzen. Doch gerade als sie den Mund aufmachte, um irgendetwas Kluges zu erwidern, fiel ihr ein, dass es womöglich gar nicht so schlecht war, eine Zeitlang in Killellan Manor zu leben.

„Du möchtest, dass ich die Jungen unterrichte?“, vergewisserte sie sich stirnrunzelnd. Ihre Brüder waren anstrengend. Aber vielleicht konnte sie ihnen mithilfe der Fibel, die sie selbst geschrieben hatte, die Grundlagen der Geometrie beibringen. Ein solcher Erfolg würde sicher auch Mr Freyworth davon überzeugen, dass es sich lohnte, das unter einem Pseudonym verfasste Lehrbuch zu veröffentlichen.

Tatsächlich war Cressies erster Besuch in den Räumlichkeiten von Freyworth & Sohn sehr vielversprechend verlaufen. Der Verleger hatte ihr versichert, dass er die Werke einer ganzen Reihe von Autorinnen herausbrachte, die aus verständlichen Gründen anonym bleiben wollten. Doch als er erfahren hatte, dass es sich nicht um einen Roman, sondern um ein Mathematikbuch handelte, war seine Stimmung umgeschlagen. In diesem Fall, so hatte er bemerkt, erscheine es ihm notwendig, dass das Buch zuerst in der Praxis erprobt würde. Schließlich könne er sich einen finanziellen Misserfolg nicht leisten.

Die Veröffentlichung ihrer „Einführung in die Geometrie“ war für Cressie von größter Bedeutung. Das so verdiente Geld würde den ersten Schritt zu ihrer finanziellen Unabhängigkeit darstellen. Und die wiederum war der erste Schritt in die Freiheit.

Ihre Gedanken wanderten zurück zu der Aufgabe, die ihr Vater ihr zugedacht hatte. Sie würde prüfen können, ob ihre Geometriefibel als Lehrbuch geeignet war. Außerdem – doch das wagte sie kaum zu hoffen – würde sie vielleicht endlich in der Achtung ihres Vaters steigen, wenn es ihr gelang, seinen Söhnen mehr beizubringen als all die Gouvernanten zuvor, die die vier Knaben aus dem Haus getrieben hatten.

Der größte Vorteil eines Aufenthalts in Killellan Manor war jedoch ein anderer: Sie würde nicht an der Saison teilnehmen und ihre Verehrer wieder einmal davon abbringen müssen, ihr einen Antrag zu machen. Voller Grauen erinnerte sie sich daran, was ihr Vater sich hatte einfallen lassen, um sie unter die Haube zu bringen. Beinahe jedes Mittel war ihm recht gewesen. Nur eine Suchanzeige in der Morning Post hatte er bisher nicht aufgegeben. Wobei er wahrscheinlich nicht einmal davor zurückscheuen würde, wenn seine Verzweiflung erst groß genug war.

Sie konnte sich den Text einer solchen Annonce genau vorstellen. Natürlich würde Lord Armstrong das größte Gewicht auf die Abstammung und die politischen Überzeugungen seines zukünftigen Schwiegersohns legen.

Gesucht: Politisch ambitionierter Ehemann mit exzellenter Abstammung für mäßig hübsche junge Dame aus guter Familie mit hervorragenden diplomatischen Verbindungen. Tory angenehm, jedoch nicht Bedingung. Kaufleute und Gentlemen von zweifelhafter Herkunft werden nicht berücksichtigt.

Es tat ihr weh, dass er nie müde wurde, sie daran zu erinnern, wie unzufrieden er mit ihr war. Sie sah weder so gut aus wie seine anderen Töchter, noch besaß sie deren Anmut und vornehme Haltung. Dass viele sie für intelligenter als ihre Schwestern hielten, konnte Cressie nicht trösten. Denn im Verlauf ihrer dritten Saison hatte sie den größten Fehler ihres Lebens begangen und das Wertvollste, das sie einem Gatten zu bieten hatte, ausgerechnet an Giles Peyton verschwendet.

Sie erschauderte, als sie sich ins Gedächtnis rief, wie verzweifelt sie in jenem Jahr gewesen war. Auch jetzt noch hielt sie die Erinnerung an ihre Schande kaum aus. Es war ein Desaster gewesen. So entsetzlich, dass sie sich nur eines vorstellen konnte, was noch schlimmer gewesen wäre, nämlich, dass sie nicht nur ihre Unschuld, sondern auch ihren guten Ruf verloren hätte. Doch da Giles, den sie hatte heiraten wollen, noch im selben Monat als Offizier nach Indien gegangen war, gab es außer ihr selbst niemanden in England, der von dem beschämenden Vorkommnis wusste.

Natürlich hatte ihr Vater auch in ihrer vierten Saison versucht, sie zu vermählen. Ebenso wie in allen darauffolgenden. Er war gut darin, andere nach seiner Pfeife tanzen zu lassen, ohne dass sie es merkten. Deshalb lag der Verdacht nahe, dass er es jetzt auch wieder tat. Dennoch hegte sie die Hoffnung, in diesem Fall ihre eigenen Ziele verfolgen und erreichen zu können. Ja, sie würde die Zeit in Killellan Manor zu ihrem eigenen Vorteil nutzen.

Die Vorstellung verursachte ihr einen Anflug von Genugtuung. „Wenn es das ist, was du wünschst, Vater“, sagte sie, ohne sich ihre Gefühle anmerken zu lassen, „werde ich die Aufgaben der Gouvernante selbstverständlich übernehmen.“

Offenbar hatte sie genau den richtigen Ton getroffen. Jedenfalls stellte Lord Armstrong herablassend fest: „Natürlich werden die Knaben einen richtigen Hauslehrer brauchen, ehe sie nach Harrow gehen. Aber ich hoffe doch, dass du ihnen die Grundlagen der Mathematik, des Lateinischen und Griechisch beibringen kannst.“

Die Grundlagen? Traute er ihr wirklich nicht mehr zu?

Offenbar nicht. Denn gelassen fuhr er fort: „In der übernächsten Saison, wenn Cordelia vorteilhaft verheiratet ist, wirst du den ersten akzeptablen Antrag annehmen, den man dir macht. Das ist deine Pflicht. Und ich erwarte, dass du sie erfüllst. Hast du mich verstanden?“

Sie begann am Nagelhäutchen ihres Zeigefingers zu zupfen. Wie immer hatte Lord Armstrong ihr mehr als deutlich zu verstehen gegeben, wie wenig er von ihr hielt.

„Cressida, ich habe dir eine Frage gestellt und warte auf die Antwort.“

Sie zögerte, zerrissen zwischen Schmerz und Wut. Verflixt, in den nächsten Monaten musste sie eine Möglichkeit finden, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen und der Abhängigkeit von ihrem Vater zu entkommen!

„Ich habe dich sehr gut verstanden“, brachte sie schließlich hervor.

„Gut. Da wäre noch etwas anderes. Ich …“

Es klopfte. Im nächsten Moment ging die Tür auf und der Butler stand auf der Schwelle. „Entschuldigen Sie die Störung, Mylord, aber Signor di Matteo ist da. Er lässt fragen, ob Sie Zeit für ihn haben.“

„Der Portraitmaler“, wandte Lord Armstrong sich zu seiner Tochter, als habe er sie längst in seine Pläne eingeweiht. „Um ihn wirst du dich ebenfalls kümmern müssen. Das Ganze wäre einfach zu viel für deine Stiefmutter.“

Auf die diskrete Handbewegung des Butlers hin trat Giovanni di Matteo in die Bibliothek. Augenblicklich spürte er die angespannte Stimmung. Der Bedienstete schien daran gewöhnt zu sein, oder vielleicht bemerkte er sie nicht einmal. Jedenfalls zog er sich zurück, ohne auch nur einen Blick auf die junge Frau zu werfen, deren gesamte Körperhaltung hilflosen Zorn verriet. Ihre Miene allerdings war ausdruckslos, zweifellos ein Zeichen lang eingeübter Selbstbeherrschung.

Giovanni verbeugte sich vor dem Hausherrn und wartete ab. Es war eine angenehme Begleiterscheinung seines Ruhms, dass er seinen Klienten gegenüber keine Unterwürfigkeit heucheln musste. Wie immer trug er modische Kleidung, wenn auch in dem zurückhaltenden, beinahe strengen Stil, den er bevorzugte – einen schwarzen Gehrock, darunter eine hoch geknöpfte Weste, ein weißes Leinenhemd mit hohem Kragen und eng anliegende Pantalons. Dazu auf Hochglanz polierte schwarze Schuhe und ein kunstvoll geschlungenes weißes Krawattentuch. Es machte ihm Spaß, die Erwartungen seiner Auftraggeber, die mit einem farbenfroh und auffallend gekleideten Künstler rechneten, zu konterkarieren. Daher wählte er stets nur schwarze und weiße Kleidungsstücke. Bei einem Italiener nahm man diese spezielle modische Vorliebe als überraschend wahr, erst recht, wenn er ein berühmter Kunstmaler war.

„Signor di Matteo.“ Lord Armstrong deutete eine Verbeugung an. „Darf ich Ihnen meine Tochter vorstellen. Lady Cressida.“

Cressie warf ihrem Vater einen bösen Blick zu, auf den er mit einem winzigen Lächeln reagierte. Für Giovanni war klar, dass der Streit zwischen den beiden nichts Einmaliges war. Vermutlich fochten sie ihn schon seit Jahren aus.

Er verbeugte sich vor der jungen Dame, weniger flüchtig als vor ihrem Vater. Als er sich aufrichtete, trafen sich ihre Blicke, und er hielt verblüfft den Atem an. Ihre Augen waren strahlend blau – so blau wie das Mittelmehr im Sommer. „Mylady!“

Statt zu knicksen, reichte sie ihm die Hand, wie ein Gentleman es getan hätte. „Guten Tag, Signore.“ Ihr Griff war überraschend fest, ihre Stimme angenehm. Die Augen verrieten eine wache Intelligenz. Doch ihre Frisur konnte man nur als Katastrophe bezeichnen, und ihr schreckliches braun gemustertes Kleid hätte besser zu einer Gouvernante gepasst als zu einer vornehmen jungen Dame.

War sie es, die er malen sollte? Nun, zumindest hatte sie ein interessantes Gesicht. Auch wäre es eine echte Herausforderung, ihr hinter so viel Selbstbeherrschung verborgenes Temperament in einem Portrait zum Vorschein zu bringen. Aber – das war ihm gerade wieder eingefallen – Lord Armstrong hatte ihm schriftlich mitgeteilt, dass er seine Söhne portraitieren lassen wollte. Schade, denn Lady Cressida hatte sein Interesse geweckt. Sie gehörte gewiss nicht zu den oberflächlichen, langweiligen Mitgliedern der guten Gesellschaft. Sie war eindeutig etwas Besonderes.

„Nehmen Sie Platz“, forderte der Hausherr ihn auf. „Wie ich Ihnen bereits mitteilte, sollen Sie meine vier Söhne malen, die in Killellan in Sussex leben. James ist acht, Harry sechs, und die Zwillinge George und Frederick werden fünf. Ich wünsche ein Gruppenbild.“

„Gemeinsam mit ihrer Mutter?“, erkundigte Giovanni sich.

„Um Himmels willen, nein! Meine Gattin … Nein, nur die Jungen.“

„Vielleicht zusammen mit ihrer Schwester?“ Er wandte sich Cressida zu.

„Nur die Jungen!“, wiederholte Lord Armstrong ungeduldig. „Ich möchte, dass Sie die Vorzüge meiner Söhne besonders herausarbeiten.“

Was wohl bedeutete, dass er Lady Cressida keine Vorzüge zubilligte. Leider war es nicht ungewöhnlich, dass die Mitglieder der Aristokratie nur ihre männlichen Nachkommen wirklich schätzten. Giovanni fand die Haltung bedauerlich, ja, sogar dumm. Doch er hatte gelernt, seine Ansichten für sich zu behalten. „Ein Portrait Ihrer bewunderungswürdigen Söhne also“, stellte er kühl fest.

„Es sind richtige Jungen“, verkündete Lord Armstrong stolz. „Keine verweichlichten Muttersöhnchen. Und das soll das Gemälde zum Ausdruck bringen. Was den Hintergrund betrifft …“

„Das Arrangement können Sie beruhigt mir überlassen.“ Giovanni hatte sich damit abgefunden, dass seine Auftraggeber sehr konkrete Vorstellungen von den fertigen Portraits hatten. Aber einen gewissen Einfluss auf die Gesamtkomposition wollte er sich unbedingt erhalten. „Ich nehme an, Sie kennen einige meiner Werke?“

„Nein. Sie wurden mir empfohlen.“

Damit hatte Giovanni nicht gerechnet. Genauso wenig wie Lady Cressida. Das verriet ihm ihr erstaunter Blick.

„Ich wüsste nicht, warum ich mir Ihre Gemälde hätte anschauen sollen“, stellte Lord Armstrong herablassend fest. „Als Diplomat bin ich darauf angewiesen, dem Urteil anderer zu vertrauen. Wenn es in Portugal oder Ägypten Probleme gibt, kann ich nicht dorthin reisen, um mir selbst ein Bild von der Lage zu machen. Ich lese Depeschen. Das muss mir genügen. Man versicherte mir, Sie seien der beste Porträtmaler. Deshalb habe ich Sie gewählt. War diese Information falsch?“

„Wohl kaum. Tatsächlich musste ich in den letzten Monaten mehrere Aufträge aus Zeitmangel ablehnen.“ Er hätte stolz darauf sein sollen. Doch sein Erfolg vermittelte ihm kein Gefühl der Freiheit. Meist kam Giovanni sich wie in einem Gefängnis vor. Das Schlimmste allerdings war, dass er um der finanziellen Sicherheit willen seine Kreativität vernachlässigte. Mit jedem Auftrag schien die Freude an der Arbeit nachzulassen.

Das allerdings konnte Lord Armstrong nicht wissen. Und es hätte ihn auch nicht interessiert. Seine Lordschaft erhob sich und streckte dem Maler die Hand entgegen. „Gut. Mein Sekretär wird die geschäftlichen Dinge mit Ihnen regeln. Sie reisen dann so bald wie möglich nach Killellan Manor. Dort wird Lady Cressida sich um alles kümmern, da meine Gattin zurzeit … indisponiert ist. Und nun entschuldigen Sie mich bitte. Ich werde in Apsley House erwartet. Es gibt wichtige Dinge zu besprechen. Möglicherweise muss ich Lord Wellington nach Sankt Petersburg begleiten.“ Damit nickte er seiner Tochter kurz zu und eilte aus dem Raum.

Nun, da Cressie allein war mit dem Maler, von dem sie schon so viel gehört hatte, wagte sie endlich, ihn genauer anzuschauen. Erstaunt stellte sie fest, dass er bedeutend jünger war, als sie angenommen hatte. Und dass er gut aussah. Dunkles Haar, ein klassisches Profil, kluge Augen und Lippen … Wahrhaftig, diese Lippen mussten jede Frau betören, so wohlgeformt und sinnlich waren sie.

Giovanni di Matteo entsprach genau ihrem mithilfe mathematischer Regeln entwickelten Schönheitsideal.

Bei dem Gedanken machte ihr Herz einen kleinen Sprung.

Dann wurde ihr klar, wie unhöflich es war, einen Fremden anzustarren. Der Maler allerdings schien daran gewöhnt zu sein. Kein Wunder, denn vermutlich gab es keine einzige Frau auf der Welt, die ihn nicht voller Bewunderung mustern würde.

Im Gegensatz zu ihrem Vater kannte Cressie einige der Bilder des Italieners. Sie hatte sie im Zusammenhang mit ihren Untersuchungen eingehend studiert. Seine Werke waren – genau wie er selbst – Beispiele für klassische Schönheit. Ja, sie waren fast zu perfekt. Nicht dass man die von ihm portraitierten Gentlemen, Damen und Kinder nicht sogleich wiedererkannte, doch Cressie war aufgefallen, dass er seine Modelle in einem sehr schmeichelhaften Licht darstellte. Was ihre Theorie stützte: Schönheit ließ sich auf ein paar mathematische Formeln reduzieren.

Es würde faszinierend sein, ihm bei der Arbeit zuzuschauen!

Plötzlich erinnerte sie sich wieder an ihre Pflichten. „Ich gehe davon aus, Signore, dass Sie beabsichtigen, meine Brüder von ihrer besten Seite zu zeigen. Mein Vater betet seine Söhne an!“

„Oh ja, die Vorzüge.“

Lag da etwa eine Spur von Ironie in seiner Stimme? Konnte ein Künstler es wagen, sich über seinen Auftraggeber lustig zu machen?

„Meine Brüder sind hübsche, kluge Jungen und zum Glück gesund. Aber Vorzüge?“ Sie lachte. „Es sind durchtriebene Lausbuben. Deshalb hat ihre Gouvernante gerade fristlos gekündigt. Vorübergehend werde ich ihren Platz einnehmen.“

„Sie?“

„Ja, ich bin – wie ich meinem Vater soeben versichert habe – durchaus in der Lage, ihnen die Grundlagen der Mathematik zu vermitteln.“

„Daran zweifle ich nicht. Ich dachte eher daran, dass bald die Saison beginnt und dass Sie sicher an Bällen und …Verzeihung, das geht mich nichts an.“

„Ich verrate Ihnen trotzdem, dass ich bereits mehr als genug Erfahrung mit den Vergnügungen der Saison sammeln konnte. Ich bin inzwischen sechsundzwanzig und beabsichtige nicht, mir einen Gatten … Aber das ist unwichtig.“

Giovanni hob die Brauen. „Sie hegen nicht den Wunsch zu heiraten?“

Es war eine äußerst unhöfliche Frage. Doch sie wurde in einem Ton gestellt, der alles andere als unhöflich war. Also entschied Cressie sich, zu antworten. „Es gibt Frauen, die für die Ehe nicht gemacht sind. Und ich gehöre dazu. Leider ist mein Vater anderer Ansicht. Wenn ich meine Aufgabe als Gouvernante erfüllt habe, wird er mich zweifellos wieder auf den Heiratsmarkt bringen wollen.“

Ihre Freimütigkeit schien ihn zu verblüffen. Sie verblüffte sie selber. Eine kleine senkrechte Falte erschien an seiner Nasenwurzel, dann zuckte ein Lächeln um seine Mundwinkel.

„Es war nicht meine Absicht, Sie zu amüsieren, Signore!“

„Oh, ich bin lediglich fasziniert. Nie zuvor ist mir eine Dame begegnet, die so offen den Wunsch äußert, ledig zu bleiben, und die so vehement betont, dass sie mehr als die Grundlagen der Mathematik beherrscht.“

Verflixt, er machte sich tatsächlich über sie lustig! Cressie wollte aufbrausen, sagte dann aber nur: „Ich habe ein paar Artikel über mathematische Probleme veröffentlicht und arbeite an einem Aufsatz über die Gesetze der Schönheit. Auch habe ich Mr Lardners Trigonometrie-Buch für die Presse besprochen. Und kürzlich habe ein selbst eine Einführung in die Geometrie verfasst, die hoffentlich bald gedruckt wird.“

„Sie sind also eine bekannte Autorin?“

„Mein Pseudonym ist Penthesilea.“

Himmel, warum habe ich dieses Geheimnis gelüftet? Cressie war entsetzt über sich selbst.

„Penthesilea? Die kluge Kriegerin der Amazonen? Wie passend!“

„Ich muss Sie um Diskretion bitten. Mein Vater …“ Sie holte tief Luft. „Er ist überzeugt, dass niemand eine Frau heiraten will, die intelligent ist und logisch denken kann. Und es stimmt: Die meisten Gentlemen schätzen es nicht, wenn ihre Gattin etwas von Mathematik und Naturwissenschaften versteht.“

Kurz umwölkte sich Signor di Matteos Blick. So, als dächte er an etwas Unangenehmes zurück. Dann erklärte er: „Die Welt ist nun einmal überzeugt davon, dass Abstammung und Äußerlichkeiten wichtiger sind als alles andere.“

Cressie runzelte die Stirn. Als Maler verdiente dieser Mann sein Geld mit Schönheit. Aber was wusste er über die Bürde der Abstammung? Leider wäre es einer Beleidigung gleichgekommen, ihn danach zu fragen.

„Sie interessieren sich also für Schönheit und Mathematik“, fuhr er im Plauderton fort. „Dann kennen Sie sicher das Werk meines italienischen Kollegen Pacioli.“

Tatsächlich hatte sie „De Divina Proportione“ gelesen. Und es freute sie, dass Signor di Matteo ihr zutraute, die Theorien Paciolis zu verstehen. „Sind Sie auch der Meinung, dass man Schönheit in Regeln fassen kann?“

Er nickte. „Symmetrie und Proportionen, ja. Aber wenn das alles wäre, könnte jeder ein Künstler werden.“

„Wie haben Sie so meisterhaft malen gelernt?“

„Ich habe die alten Meister studiert, ich bin bei einigen bekannten Künstlern in die Lehre gegangen, und ich habe jahrelang an meiner Technik gefeilt.“

„Die Malerei ist also ein Handwerk, das man erlernen kann?“

„Nein“, widersprach er entschieden, „sie ist viel mehr als das.“ Seine Stimme klang ärgerlich.

„Ich verstehe nicht, womit ich Sie erzürnt habe. Ist es nicht die Aufgabe der Kunst, die Menschen zu erfreuen? Und was könnte uns mehr erfreuen als die Schönheit? Wenn sich nun die Verhältnisse von Symmetrie und Proportion, wie sie in der Natur herrschen, in mathematischen Regeln erfassen lassen, dann …“

„… dann muss man nur diese Regeln lernen und wird ein guter Maler?“

Sie zuckte die Schultern. „Ich wollte lediglich sagen, dass Sie ein Meister darin sind, die Regeln der Natur zu erkennen und ihnen Ausdruck zu verleihen.“

„Die Regeln der Natur? Nun, die Natur hat auch Sie erschaffen, Mylady. Aber nach den Gesetzen, von denen Sie sprachen, kann Ihr Aussehen nicht als schön bezeichnet werden.“

Seine Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht! Das Leuchten in Cressies Augen erlosch. „Sie haben recht, Signor. Ich bin nicht schön.“

„Es liegt Schönheit in allem, wenn man weiß, wie man sie erschauen kann und worauf man den Blick richten muss.“

Di Matteo stand dicht vor ihr, und sie war sich seiner Ausstrahlung mit jeder Faser bewusst. Er hatte sie verletzt, und dennoch faszinierte er sie. Verflixt! Zornig wollte sie ihn zur Seite schieben und den Raum verlassen, doch er hielt sie am Arm fest. Seine Finger waren schlank und makellos sauber, ohne auch nur den winzigsten Farbklecks darauf. Cressie hob den Kopf. Sie reichte ihm kaum bis an die Schulter. Ihr Atem beschleunigte sich, und sie spürte, wie ihr Hitze in die Wangen stieg.

Wie konnte er sich eine solche Vertraulichkeit erlauben? „Lassen Sie mich sofort los!“

Er beachtete ihre Worte nicht. „Ihre Nase ist nicht ganz gerade, was die Symmetrie Ihrer Gesichtszüge stört.“

Jetzt kochte sie vor Wut.

„Ihre Augen stehen so weit auseinander, dass sie – wenn man Pacioli glaubt – kein harmonisches Verhältnis zu Ihrem Mund bilden.“

Er legte ihr einen Finger unters Kinn und zwang sie sanft, den Kopf zu heben. Flirtete er mit ihr? Er hatte schöne Augen mit langen Wimpern. Sein Blick und seine Berührung weckten seltsame Gefühle in Cressida.

„Mein Kinn passt auch nicht zu meiner Stirn“, stieß sie heiser hervor. „Und was meinen Mund betrifft …“

„Was Ihren Mund betrifft …“ Mit einem Finger folgte er sanft der Linie ihrer Lippen. Dann murmelte er etwas auf Italienisch und beugte sich zu ihr.

Wollte er sie küssen? Ihr Herz hämmerte wie verrückt. Sie spannte sich an, um sich aus seinem Griff zu befreien, aber ihre Muskeln schienen ihr nicht gehorchen zu wollen. Soll er mich doch küssen, wenn er es wagt, fuhr es ihr durch den Kopf.

Sein Mund war nur noch Millimeter von ihrem entfernt. Fast meinte Cressie die Berührung bereits zu spüren.

Mit einem Rück befreite sie sich. „Was erlauben Sie sich!“ Nun, er war eben ein Italiener. Vermutlich stimmt es, dass dieser Menschenschlag seine leidenschaftlichen Gefühle nicht kontrollieren konnte.

Sie holte tief Luft. „Um auf mein Gesicht zurückzukommen: Es ist weder symmetrisch noch richtig proportioniert.“

„Und dennoch schön. Denn Schönheit ist nicht von mathematischen Gesetzen abhängig.“

Er schien überhaupt kein schlechtes Gewissen zu haben.

„Sie hätten mich nicht küssen dürfen!“, fuhr Cressie ihn an.

„Ich habe Sie nicht geküsst. Und Sie hätten nicht so herablassend über meine Bilder sprechen dürfen, zumal Sie sie nie gesehen haben.“

„Im Gegensatz zu meinem Vater kenne ich einige Ihrer Gemälde. Und ich habe lediglich darauf hingewiesen, dass …“

„Sie täuschen sich“, fiel er ihr ins Wort. „Kunstwerke kann man nicht auf mathematische Regeln reduzieren.“ Doch noch während er es sagte, hatte er das erschreckende Gefühl, dass die junge Frau genau zu dem Punkt vorgedrungen war, der ihn so unzufrieden machte. Seit langem schon malte er mit dem Kopf und nicht mit dem Herzen … Früher einmal war das anders gewesen. Doch es hatte ihm nur Spott und Verachtung eingebracht. Daran allerdings mochte er in diesem Moment nicht denken. Er verbeugte sich und wollte sich mit ein paar höflichen Worten von Cressie verabschieden.

Stattdessen nahm er ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf.

Es war, als träfe ihn ein Blitzschlag aus heiterem Himmel. Und wie er an Lady Cressidas schockierter Miene erkannte, hatte sie diesen Blitzschlag genauso gespürt wie er …

2. KAPITEL

Giovanni di Matteo sprang aus dem Gig, das ihn von der Poststation einer unbedeutenden Stadt in Sussex nach Killellan Manor gebracht hatte. Es war ein unfreundlicher Tag, und weder die lange, unbequeme Reise mit der Postkutsche noch die anschließende Fahrt im Einspänner hatte seine Laune verbessert. Giovanni zog seinen Reisemantel fester um sich und machte ein paar Schritte, um die kalten Füße zu wärmen. Er mochte England, doch an das Wetter hatte er sich nie gewöhnen können.

Einen Moment lang betrachtete er das beeindruckende Herrenhaus der Armstrongs. Der aus grauem Sandstein errichtete Hauptbau wurde von zwei Seitenflügeln ergänzt. Im fahlen Licht der hinter den Wolken verborgenen Sonne machte das Anwesen einen abweisenden Eindruck.

Statt die Treppen hinaufzusteigen und den Klopfer an der schweren Eichentür zu betätigen, beschloss Giovanni, einen Spaziergang zu machen. Es würde ihm guttun, sich zu bewegen. Und zudem konnte er sich so einen Überblick über die Umgebung verschaffen, in der er die nächsten Wochen verbringen würde.

Er folgte dem Weg, der hinter das Haus führte, wo sich, wie erwartet, die Stallungen befanden. Auch einen von Mauern umgebenen Küchengarten gab es hier. Ohne ihm viel Beachtung zu schenken, ging Giovanni daran vorbei. Plötzlich trat die Sonne hinter den Wolken hervor und tauchte die sanft hügelige Wiesenlandschaft, die sich vor ihm ausbreitete, in frühlingshaft helles Licht. Giovanni blieb stehen und genoss den Anblick, der sich ihm bot. Inmitten des sattgrünen Grases leuchteten weiß und gelb Osterglocken und Narzissen. Das Flüsschen, das die Wiese begrenzte und an dem malerisch eine Mühle lag, gurgelte und plätscherte über Kieselsteine dahin. Eine geschwungene Holzbrücke führte über den Wasserlauf, auf dessen anderer Seite sich weitere von Hecken durchzogene Hügel erstreckten.

Autor

Marguerite Kaye

Marguerite Kaye ist in Schottland geboren und zur Schule gegangen. Ursprünglich hat sie einen Abschluss in Recht aber sie entschied sich für eine Karriere in der Informationstechnologie. In ihrer Freizeit machte sie nebenbei einen Master – Abschluss in Geschichte. Sie hat schon davon geträumt Autorin zu sein, als sie mit...

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