Historical Saison Band 15

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DER DUKE UND DIE DIRNE von MCPHEE, MARGARET
"Ich soll deine Mätresse werden?" Arabella zögert, als der Duke of Arlesford ihr diesen Vorschlag macht. Das Freudenhaus, in das die Not sie getrieben hat, verlassen? Sofort! Aber abhängig von dem Mann sein, der ihr einst den Glauben an die Liebe nahm? Niemals! Doch seine heißen Küsse lassen sie alle Bedenken vergessen …

SKANDAL UM LADY CAROLINE von HALE, DEBORAH
Lady Caroline wird in eine skandalöse Liebesfalle gelockt. Unerbittlich verbannt ihr Gemahl sie daraufhin nach Cornwall. Doch kaum ist sie in ihrem Exil angekommen, macht sie eine stürmische Entdeckung: Er ist ihr gefolgt! Und während die ersten Frühlingsblumen erblühen, erwacht in Caroline eine neue Hoffnung …


  • Erscheinungstag 12.03.2013
  • Bandnummer 0015
  • ISBN / Artikelnummer 9783954465118
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Margaret McPhee, Deborah Hale

HISTORICAL SAISON BAND 15

MARGARET MCPHEE

Der Duke und die Dirne

London, April 1809: Der Duke of Arlesford besucht ein exklusives Freudenhaus – und ist sofort von der geheimnisvollen Miss Noir fasziniert. Zwar verbirgt sie ihr Gesicht hinter einer Maske, doch er erkennt sie schnell: Es ist Arabella, seine große Liebe, die vor vielen Jahren einen anderen geheiratet hat. Was macht sie bloß in einem Bordell?

DEBORAH HALE

Skandal um Lady Caroline

Hat Caroline unseren Sohn entführt? Ungläubig starrt der Earl of Sterling in das leere Kinderbett. Sicher, nach dem Aufruhr um ihre angebliche Untreue hatte er ihr befohlen, die Stadt zu verlassen. Aber allein! Nun muss er seinen Sohn zurückholen und wird beim Wiedersehen mit seiner verführerischen Frau zum Gefangenen seiner unbezähmbaren Leidenschaft …

1. KAPITEL

London, April 1809

Arabella Marlbrook wanderte durch den großen, geschmackvoll eingerichteten Salon in Mrs Silvers „Haus der bunten Freuden“, das im Londoner St. James’s District lag. Verzweifelt versuchte sie ihre Angst zu überwinden.

Ihr hauchzartes schwarzes Seidenkleid war eigentlich für eine schlankere Frau geschneidert und schmiegte sich deshalb geradezu unanständig an ihre Brüste und Hüften. Dass sie weder ein Korselett noch Unterröcke trug, bereitete ihr zusätzliches Unbehagen. Obwohl sie fröstelte, fühlten sich ihre Handflächen feucht an. Außerdem fürchtete sie, dass die schwarze Federmaske, die sie trug, ihre Identität nicht gut genug zu verbergen mochte.

Fünf andere Frauen warteten verführerisch postiert im Salon, jede in eine andere Farbe gehüllt und alle in Gewändern, die sie selbst viel zu vornehm erscheinen ließen.

„Setz dich, Arabella“, forderte Alice – Miss Rouge – sie seufzend auf. Entspannt streckte sie sich auf einer der Chaiselongues aus und präsentierte ihre scharlachroten Dessous mit den passenden Strümpfen. „Wenn du dauernd herumläufst, machst du mich ganz schwindlig. Spar dir deine Kräfte lieber für heute Nacht. Dann werden viele unternehmungslustige Gentlemen zu uns kommen. Und einige von ihnen sind ziemlich anspruchsvoll, um es milde auszudrücken.“ Sie lächelte anzüglich, und ihre Augen hinter der roten Federmaske schimmerten fast schwarz.

„Lass sie in Ruhe, Alice, und denk dran, wie du dich in deiner ersten Nacht gefühlt hast“, mahnte Miss Rose. „Natürlich flattern ihre Nerven.“ In zarte rosafarbene Seide gehüllt, lehnte sie am Kaminsims, flackernde Flammen beleuchteten ihre Beine durch den dünnen Stoff und erweckten den Eindruck, sie würde gar keinen Rock tragen. Sie schaute zu Arabella hinüber. „Mach dir keine Sorgen, Mädchen, das wirst du schon schaffen.“

Arabella warf ihr einen dankbaren Blick zu, bevor sie Miss Rouge ersuchte: „Bitte, sprechen Sie mich nicht mit meinem richtigen Namen an. Ich dachte, wir benutzen die Namen, die Mrs Silver uns gegeben hat.“ Keinesfalls sollte der Mann, mit dem sie die Nacht verbringen würde – allein schon bei dem Gedanken daran drehte sich ihr der Magen um – ihre wahre Identität erfahren. Nicht einmal der Hauch einer Schande durfte auf die Menschen zurückfallen, die sie liebte.

„Das ist nur ein Name, Miss Noir“, zischte Miss Rouge. „Stell dich nicht so an!“

„Morgen früh wird sie ganz genau wissen, wie sie sich hier anstellen muss“, kicherte eine blau gekleidete kleine Blondine, die in einem Sessel saß.

Um ihre Schamröte zu verbergen, schritt Arabella zum Bücherregal, gab vor, die Titel der Romane zu lesen, und rang nach Fassung. Als ihre Miene die erlittene Demütigung nicht mehr bekundete, wandte sie sich wieder den Frauen zu.

Alice, Miss Rouge, polierte ihre Fingernägel. Gähnend schloss Ellen, Miss Vert, die Augen und machte es sich auf ihrer Chaiselongue gemütlich. Lizzie, Miss Bleu, und Louisa, Miss Jaune, unterhielten sich leise. Und Tilly, Miss Rose, las einen Liebesroman.

Arabella versuchte sich von der Tortur abzulenken, die ihr bevorstand, und betrachtete das Dekor des Salons – ein schöner Raum, vielleicht einer der schönsten, die sie je gesehen hatte. Auf dem Parkett aus blankem Eichenholz lag ein golden, blau und elfenbeinfarben gemusterter türkischer Teppich. Die hellblauen Wände verliehen dem Raum eine friedliche Atmosphäre. Von der Mitte der Stuckdecke hing ein großer Kristalllüster und funkelte ebenso wie die passenden Wandleuchter im Kerzenlicht.

Die meisten der Möbel bestanden aus Eichenholz, die Sessel und Sofas waren mit hellblau und elfenbeinfarben gestreiften oder goldgelben Stoffen bezogen. Auf einem kleinen Ecktisch befanden sich duftende gelbe und weiße Frühlingsblumen in einer edlen Vase.

Einen solchen Salon erwartete man eher in dem Wohnhaus einer respektablen, vornehmen Londoner Familie. Arabella staunte über den Kontrast zwischen der gediegenen Einrichtung und den vulgären Aktivitäten, die in diesen Mauern stattfanden.

Um Himmels willen, worauf habe ich mich eingelassen?

Ihr graute vor dem Moment, wo ein Gentleman eintreffen und ihre „Dienste“ kaufen würde. Immer wieder musste sie den Impuls bekämpfen, einfach davonzulaufen und nach Hause zu flüchten. Doch das durfte sie nicht tun. Nur zu gut wusste sie, warum sie hier war – warum sie die Demütigung ertragen musste.

Die Augen geschlossen, versuchte sie die Übelkeit und die Angst zu bezwingen, die kalte Schweißperlen auf ihre Stirn treten ließen. Hundert Guineas pro Woche hatte Mrs Silver ihr versprochen. Ein Vermögen.

Für hundert Guineas würde sie sich verkaufen – und ihre Familie retten.

Dominic Furneaux, Seine Gnaden, der Duke of Arlesford, ließ den Brandy in seinem Schwenker kreisen und studierte die vier Karten in seiner Hand. Nachdem er einen Entschluss gefasst hatte, leerte er das Glas in einem Zug und bedeutete dem Bankhalter, ihm noch eine Karte zu geben.

Um den Spieltisch des Dukes im White’s Gentlemen’s Club hatten sich elegant gekleidete Männer versammelt. Nun hielten alle den Atem an. In der Tischmitte häuften sich Guineas. Den höchsten Betrag hatte Dominic Furneaux gesetzt.

Direkt vor ihm landete eine Karte auf dem grünen Filz, mit dem Motiv nach oben.

Marcus Henshall, Viscount Stanley, reckte den Hals und schaute über die Köpfe der Gentlemen hinweg, die vor ihm standen.

Das Herzass.

„Ein Omen der Liebe“, flüsterte jemand.

Dominic ignorierte den Kommentar. „Fünf-Karten-Stich.“ Gelassen lächelte er und legte seine Karten offen auf den Tisch.

„Verdammt will ich sein!“, rief ein anderer Gentleman. „Arlesford hat wahrlich das Glück des Teufels!“

Gelächter und Gemurmel mischten sich in das Geräusch scharrender Stuhlbeine, als seine Freunde ihre Karten beiseite warfen und aufsprangen.

„Wollen wir uns den restlichen Abend ein anderes Vergnügen gönnen?“, schlug Lord Bullford vor.

Stürmischer Applaus erklang.

„Da kenne ich genau das richtige Etablissement“, verkündete Lord Devlin. „Dort wird interessante Ware feilgeboten, reizvoll genug, um höchste Ansprüche zu befriedigen.“

Neues Gelächter und frivole Scherze folgten.

Dominic beobachtete, wie Stanley sich entschuldigte und den Spielsalon verließ. Zweifellos würde der Viscount nach Hause eilen, zu seiner Gemahlin und dem Neugeborenen. Bitterkeit und Neid erfüllten seine Brust. Auf ihn warteten weder Ehefrau noch Kind. Im Arlesford House gab es nichts, was ihn erfreuen könnte, abgesehen von einem Keller voller erlesener Weine. Andererseits wollte er es so, denn Frauen waren schließlich treulose Geschöpfe.

„Komm schon, Arlesford“, drängte Sebastian Hunter, der Erbe eines riesigen Vermögens. „Natürlich lassen wir dich nicht allein feiern.“

„Wann habe ich jemals allein gefeiert?“ Nonchalant zuckte Dominic die Achseln.

„Noch nie, alter Junge“, bestätigte Bullford. „Aber die Freuden in dem Paradies, in das Devlin uns führen will, dürften dich überraschen. Sicher werden sie übertreffen, was immer das Püppchen dir zu bieten hat, das in deinem Bett wartet.“

Dominic lächelte müde und schüttelte den Kopf. Gewiss, er hatte reichliche Erfahrungen mit Frauen gesammelt und verdiente den Titel eines Lebemanns, den er in der Londoner Gesellschaft innehatte.

Aber in seinem Bett hatte noch nie ein „Püppchen“ gewartet. Er brachte keine Frauen in sein Haus. Stattdessen sank er in die Betten von Liebhaberinnen, die keine Forderungen stellten. Sie erhielten Geld und teure Geschenke, jedoch nichts von ihm selbst. Er gab nichts von sich preis, sodass er nicht verletzt werden konnte. Und er war stets diskret. Deshalb beabsichtigte er auch nicht, das Etablissement zu besuchen, das Devlin empfohlen hatte.

Seufzend musterte er die übermütige Tischrunde. Der junge Northcote war bereits ziemlich angeheitert. Nun trank er direkt aus der Flasche, die Fallingham ihm gereicht hatte. Von seinem Kinn rann rubinrote Flüssigkeit auf sein Krawattentuch und das Hemd.

„Wie großartig Arlesford sich benimmt!“, schrie er. „Sicher will er Misbourne und seine Tochter beeindrucken. Nette kleine Erbin – und eine noch nettere Mitgift!“

Die Tischgesellschaft lachte.

„Da du ihre Vorzüge offenbar zu schätzen weißt, solltest du um sie werben, Northcote“, riet Dominic dem jungen Mann. „Denn ich werde ganz sicher nicht in die Ehefalle tappen.“

„Oh, das sieht der alte Misbourne anders“, spöttelte Fallingham. „Neulich wurden hundert Guineas drauf gewettet, dass der Duke of A. sich noch vor dem Ende der Saison mit einer gewissen Lady M. verloben wird.“

„Dann wird der Narr hundert Guineas verlieren!“, stieß Dominic hervor.

„Au contraire“, erwiderte Bullford. „Hier im Club wurde Misbourne belauscht, als er verkündete, er sei fest entschlossen, seine Tochter mit dir zu verheiraten. Das hält er für eine Frage der Ehre.“

„Offenbar hat der Earl nicht nur mich, sondern auch das Wesen der Ehre missverstanden“, meinte Dominic verächtlich. Der bedeutsame Blick, den Viscount Hunter ihm bei Bullfords Worten zugeworfen hatte, war ihm nicht entgangen.

Nur Sebastian Hunter kannte die Wahrheit. Er wusste, was Dominic bei seiner Heimkehr vor fast sechs Jahren in Amersham, einem Dorf in Buckinghamshire, vorgefunden hatte. Und deshalb verstand er, warum sein Freund nicht heiraten wollte.

Devlins Blick schweifte zur Tür. „Wenn man vom Teufel spricht … Soeben ist Misbourne mit seinen Kumpanen hereingekommen. Zweifellos will er seinen künftigen Schwiegersohn zu einer Partie Karten überreden“, fügte er grinsend hinzu.

„Höchste Zeit, in Devlins Freudenhaus zu verschwinden“, murmelte Hunter.

Devlin lachte schallend. „Dort wird der junge Northcote den Unterricht erhalten, den er verdient.“

„Nachdem er so tief ins Glas geschaut hat, wird er wohl kaum ein gelehriger Schüler sein“, bemerkte Dominic.

„Wie unfair du bist, Arlesford! Natürlich wird er seinen Mann stehen. Da seht ihr’s – er beweist es schon.“

Taumelnd erhob sich Northcote, rülpste und fiel auf seinen Stuhl zurück.

„Mach dich nicht völlig zum Idioten, Junge!“, schimpfte Dominic.

„Offensichtlich musst du mitkommen, Arlesford“, warf Hunter ein. „Wer sonst könnte Northcote vor einer Riesenblamage retten?“

Dominic gab sich geschlagen. Dann würde er Northcote zuliebe eben einen Abend in einem erstklassigen Bordell ertragen – und vielleicht sogar ein bisschen flirten, wenn es sein musste. Er folgte seinen Freunden zur Tür, wobei er Misbourne nur kurz zunickte, um keine falschen Hoffnungen zu schüren. Niemals würde er heiraten.

Mrs Silver führte die vier Gentlemen in ihren Salon, und Arabellas Angst steigerte sich zur Panik. Was sie mit einem dieser Männer für Geld tun sollte – unvorstellbar … Sekundenlang wurde sie fast überwältigt von dem Drang, sofort zu flüchten. Doch dann entsann sie sich, warum sie die Qual erdulden musste, und dieser Gedanke gab ihr die nötige Kraft.

Nach einem tiefen Atemzug wandte sie sich den Besuchern zu. Alle waren noch ziemlich jung, nicht viel älter als sie selbst mit ihren vierundzwanzig Jahren. Und alle trugen höchst elegante Kleidung. Die Wangen gerötet, die Augen funkelnd, wirkten sie angeheitert, insbesondere der Jüngste. Bis zum anderen Ende des Raums drang der Geruch von Wein und Brandy. Hier hatte sie sich hinter dem gestreiften Sofa verschanzt, obwohl ihr die Barriere eines Möbelstücks die Erniedrigung wohl kaum ersparen würde.

Welcher Gentleman würde sie wählen? Womöglich keiner, und was sollte sie dann tun? Sosehr sie die Situation auch verabscheute, in der sie sich befand – mit leeren Händen heimzukehren, wäre noch schlimmer.

Begierig schauten sich die Männer um, und Arabella erschauerte. Dann musterte sie die beiden älteren Gentlemen, die soeben eingetreten waren und sich zu ihren Freunden gesellten. Beinahe blieb ihr das Herz stehen …

In ihrer Kehle drohte der Atem zu stocken, und das Blut rauschte so laut in ihren Ohren, dass sie fürchtete, sie würde in Ohnmacht fallen. Sie musste Halt suchen, umklammerte die Rückenlehne des Sofas und krallte sich mit den Fingernägeln in den teuren elfenbeinfarbenen Bezug.

„Das kann nicht sein“, wisperte sie entgeistert.

Es ist sicher ein Irrtum …

Nein! Diesen hochgewachsenen dunkelhaarigen Mann würde sie überall erkennen, obschon sie ihm fast sechs Jahre lang nicht begegnet war.

Allzu sehr hatte er sich nicht verändert. Die Schultern waren breiter geworden, die Gestalt wirkte kräftiger. Und das Leben hatte einige Linien in die attraktiven Züge geprägt. Doch es gab keinen Zweifel, dieser Mann war eindeutig Dominic Furneaux oder der Duke of Arlesford, wie er mittlerweile hieß. Während er den Raum und die Anwesenden betrachtete, bekundete seine Miene eine gewisse Langeweile. Offenbar hielt er sich unfreiwillig in Mrs Silvers Salon auf. Sein Blick glitt über Arabella hinweg – und kehrte sofort zu ihrem Gesicht zurück.

Bitte, lieber Gott, Dominic darf mich nicht erkennen, er am allerwenigsten!

Sie berührte ihre schwarze Federmaske und prüfte, ob sie richtig saß. Aber Dominic starrte sie immer noch an, nicht mehr gelangweilt, sondern sichtlich interessiert.

Als der erste Champagnerkorken knallte, zuckte sie zusammen. Doch sie zitterte nicht wegen des Lärms. Viel schlimmer fand sie den bedeutungsvollen Blick, den ihr die unentwegt lächelnde Mrs Silver zuwarf. Dabei zeigte die Frau auf die Kristallkelche, und Arabella erinnerte sich plötzlich, dass sie den Gentlemen Champagner anbieten musste.

Den Inhalt der ersten Flasche hatte Miss Rouge bereits verteilt. Nun entkorkte einer der Männer die zweite und begann Gläser zu füllen. Ich darf nicht einfach reglos dastehen und Dominic anstarren, ermahnte sich Arabella. Wenn sie sich beschäftigte, würde er vielleicht aufhören, sie mit diesen dunklen Augen zu fixieren, die alles zu sehen schienen.

Und so ging sie zu Mrs Silver, ergriff zwei Kelche und versuchte ihre Angst zu bekämpfen. Vielleicht würde eines der anderen Mädchen Dominics Interesse wecken. Aber würde es ihr gefallen, mit anzusehen, wie er mit Miss Rouge oder Miss Vert nach oben ging? Konnte sie kokett lächeln und einem anderen Mann die Treppe hinauf folgen, während er sich hier aufhielt? Unvorstellbar …

Eine Hand berührte ihren Ärmel, und sie wandte sich zu der Besitzerin des Etablissements, die sie warnend und besorgt anschaute.

„Hundert Guineas pro Woche“, wisperte Mrs Silver. „Denken Sie an das Geld.“

Arabella nickte und bot ihre ganze Willenskraft auf, um ihre Gefühle zu zügeln.

Noch ein tiefer Atemzug, dann drehte sie sich um – und sah Dominic direkt vor sich stehen.

„Miss Noir, nehme ich an.“ Langsam schweifte sein Blick über das dünne, fast durchsichtige Kleid und kehrte zu ihrem Gesicht zurück. „Arlesford, zu Ihren Diensten, Ma’am.“

Also erkannte er sie nicht. Gott sei Dank! Leise atmete sie auf und stählte ihre Nerven, um die Rolle einer Frau zu spielen, die sie nicht war.

„Euer Gnaden.“ Höflich knickste sie, aber sie konnte nicht lächeln. Diese Begegnung – allerdings in einer anderen Situation – hatte Arabella zunächst ersehnt und dann gefürchtet. So fest hatte sie geglaubt, er würde ihr nichts mehr bedeuten, sie wäre über ihre Liebe hinweggekommen. Doch das war eine Illusion gewesen.

Voller Wehmut betrachtete sie den Mann, den sie niemals vergessen würde, mochte sie sich auch noch so sehr darum bemühen. Dann wandte sie den Blick ab – sonst würde er den emotionalen Aufruhr womöglich in ihren Augen lesen – und sah sich im Salon um.

Inzwischen hatten sich alle Paare gefunden, die Frauen lächelten und kokettierten. Mrs Silver stand in einer Ecke. Sichtlich verärgert beobachtete sie „Miss Noir“ und wies unauffällig auf die beiden Champagnerkelche, die Arabella immer noch krampfhaft umklammerte.

Es gab kein Entrinnen, keine Zuflucht. Mit dem Mut der Verzweiflung hob Arabella den Kopf und zwang sich, Dominic wieder anzuschauen. „Möchten Sie ein Glas Champagner, Euer Gnaden?“

Ohne die Frage zu beachten, musterte er sie immer noch mit seinen dunkelbraunen, so beunruhigend vertrauten Augen. Sekunden schienen Minuten zu dauern, während sie sich schweigend anstarrten.

Schließlich nahm er ihr ein Glas aus der Hand. „Der zweite Kelch ist wohl für Sie bestimmt, Miss Noir. Wollen wir unseren Champagner gemeinsam trinken? In der oberen Etage?“

Arabella blieb der Atem in der Kehle stecken, ihre Welt drohte einzustürzen.

Was das bedeutete, wusste sie.

Dominic hatte sich für sie entschieden.

Nur mühsam unterdrückte sie das Zittern, das ihren ganzen Körper zu erfassen drohte.

War es das Schlimmste, was ihr zustoßen konnte, oder das Beste? Fast sechs Jahre … Trotzdem glaubte sie manchmal immer noch, ihre Lippen würden von seinen Küssen brennen, ihre Haut von seinen Berührungen prickeln. Wenn sie sich diesem Mann nun für Geld hingeben müsste, würde es ihren Stolz zutiefst verletzen.

Wie gern hätte sie ihm den Inhalt ihres Glases ins Gesicht geschüttet und ihn wütend angeschrien, mit grausamen Worten abgewiesen und vor seinen Freunden lächerlich gemacht … Aber diese Genugtuung konnte sie sich nicht leisten. Sie musste ihren Zorn zügeln und an ihre Verantwortung denken, durfte die harten Tatsachen nicht vergessen, die sie in Mrs Silvers „Haus der bunten Freuden“ geführt hatten.

Und sie war ehrlich genug, um sich einzugestehen, wenn es denn sein musste, würde sie lieber mit Dominic schlafen als mit einem Fremden.

Erneut musterte sie die anderen Gentlemen im Salon, die verschwitzten Gesichter, von Alkohol gerötet, die blitzenden Augen, die ihre Gelüste verrieten. Ja, ohne jeden Zweifel – die Erniedrigung war leichter zu verkraften, wenn sie mit Dominic nach oben gehen würde, nicht mit einem dieser Männer.

Und solange sie ihre Maske trug, würde er nicht erfahren, wen er für die erotischen Dienste bezahlte.

Entschlossen schaute Arabella ihm in die Augen. Dann nickte sie und führte ihn die Treppe hinauf, zu dem Zimmer, das Mrs Silver ihr gezeigt hatte.

In dem Schlafzimmer, das ganz in Schwarz gehalten war, konnte Dominic seinen Blick nicht von Miss Noir losreißen. Er wusste, auf welch ungehörige Weise er sie anstarrte. Doch er konnte es nicht ändern. Sobald sie ihm in Mrs Silvers Salon aufgefallen war, hatte er seine Absicht vergessen, den jungen Northcote vor Dummheiten zu bewahren. Nun kam es ihm so vor, als wäre die Vergangenheit lebendig geworden … als würde eine andere Frau vor ihm stehen.

„Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“, fragte Arabella besorgt.

Verdammt, auch die Stimme klingt so wie ihre.

Unruhig tastete Miss Noir nach ihrer Maske.

„Verzeihen Sie meine Manieren“, bat er. „Aber Sie erinnern mich an eine Dame, die ich vor einigen Jahren kannte.“ Nur aus diesem Grund hatte er mit ihr das Schlafzimmer dieses Bordells aufgesucht. Und aus demselben Grund müsste er sich jetzt abwenden und davongehen. Der Schmerz kehrte zurück, die Bitterkeit … Und doch begehrte er gleichzeitig diese schwarzgekleidete Frau mit einer Glut, die an Verzweiflung grenzte.

Weil sie wie Arabella Tatton aussah.

Sie lächelte nicht kokett, äußerte keine spielerischen oder betörenden Worte. Eigentlich hätte sie die Verschnürung ihres Kleid lösen oder vor das Kaminfeuer treten müssen, um ihm durch den dünnen Stoff die Umrisse ihrer Beine zu zeigen, oder ihre Strümpfe, indem sie mit hochgerafften Röcken auf die Chaiselongue gesunken wäre. Stattdessen wirkte ihre Miene eher ernst und ihr Verhalten unbehaglich, wenn sie das auch zu verbergen suchte. Sie stand einfach nur da und beobachtete ihn – nur scheinbar ruhig und gelassen, denn ihre Finger, die sie jetzt fest ineinander geschlungen hatte, verrieten ihre innere Anspannung.

Neben ihr, auf einen kleinen Beistelltisch, zwischen zusammengerollten schwarzen Seidenschnüren, Federn und Fächern, funkelten die Bläschen in ihrem unberührten Champagnerglas. Dominic leerte seinen eigenen Kelch und versuchte die machtvollen Gefühle zu unterdrücken, die ihre verwirrende Ähnlichkeit mit einer anderen Frau in ihm entfachten. „Sie erscheinen mir etwas nervös, Miss Noir.“

„Nun, das ist mein erster Abend in diesem Haus, Sir. Verzeihen Sie, wenn ich mit der üblichen Etikette noch nicht vertraut bin. Ich …“ Zögernd verstummte sie und musste sich offenbar zwingen, weiterzusprechen. „Ich möchte natürlich Ihre Wünsche erfüllen, Euer Gnaden.“ Aber ihr hocherhobener Kopf strafte die Unterwürfigkeit, die ihre Worte ausdrückten, eindeutig Lügen. Sogar ihr Kinn reckte sie vor. Alles an ihrer Haltung wirkte aufsässig und angespannt, als würde sie einem kämpferischen Gegner gegenüberstehen statt einem Mann, den sie zu verführen suchte. „Soll ich mich entkleiden?“

Dominic stellte sein leeres Glas neben ihr volles. Geradezu unheimlich, wie sehr sie Arabella glich … Viel zu heiß und zu schnell rauschte sein Blut durch die Adern. Und sosehr er sich auch bemühte, die Erinnerungen zu verdrängen – sie stürmten so lebhaft auf ihn ein, als hätte er die geliebte Frau erst gestern in den Armen gehalten.

Die Intensität seines Verlangens erschreckte ihn, denn er war sich sicher gewesen, sein Zorn hätte es längst gelöscht. Aber nun pulsierte sein Körper vor Begierde – als würde Arabella vor ihm stehen.

Und weil Miss Noir wie Arabella aussah, würde er nicht ablehnen, was sie ihm anbot. Ohne einen weiteren Gedanken an Northcote zu verschwenden, zog er seinen Frackrock aus.

„Gewiss wird es uns beiden ein größeres Vergnügen bereiten, wenn ich Sie entkleide“, meinte er und ließ sie nicht aus den Augen.

Bei seinem Vorschlag senkte sie die Wimpern. Nicht kokett. Vielmehr gewann er den Eindruck, sie wollte etwas vor seinem prüfenden Blick verbergen. Er musste endlich aufhören, sie so unhöflich anzustarren. Doch das gelang ihm nicht.

„Wie Sie wünschen.“ Sie trat vor ihn hin, und er betrachtete ihr Kleid, das ihre reizvollen Rundungen eher betonte als verhüllte. Wenigstens darin unterschied sie sich von Arabella, die so groß gewesen war wie diese Frau, aber schlanker gebaut.

Arabella. Wispernd schien ihr Name in der Stille des Raums zu erklingen. Und die Erinnerungen tauchten in seiner Fantasie auf – Arabella, die unter ihm lag; ihr Lächeln; sein Gesicht, vergraben in der goldblonden Seide ihres Haars, das sich auf dem Kissen ausbreitete; und seine Lippen, die Liebesworte flüsterten, während er ihre zarte Haut streichelte …

Trotz des Zorns in seinem Herzen wuchs seine Begierde. Mit einiger Mühe zügelte er die drängenden Gefühle. Arabella Tatton. Er verachtete sie. Und er sollte dieser Frau den Rücken kehren, die ihr glich – die all die Erinnerungen weckte, die er in die dunkelsten Tiefen seiner Seele verbannt hatte. Das riet ihm sein Verstand. Aber dem gehorchte er nicht.

Stattdessen löste er die Verschnürung an der Rückseite ihres schwarzen Kleides, bis das Oberteil hinabrutschte und ihre herrlichen Brüste entblößte. Als er die rosigen Knospen berührte, richteten sie sich auf.

Dominic neigte den Kopf hinab und küsste Miss Noirs weiche Wange. Durch die Schlitze der Halbmaske sah er, wie sich ihre Pupillen weiteten. Umgeben von einer Iris von der gleichen Farbe wie Arabellas Augen – leuchtend blau wie ein Sommerhimmel.

Arabella – die Qual der Erinnerung verstärkte sich ebenso wie die Leidenschaft.

Während er das Kleid an ihren Armen hinunterstreifte, wanderte sein Mund über ihren schlanken Hals und hauchte dann Küsse auf ihre Schultern. Dann liebkoste er ihren Busen, umkreiste mit seiner Zunge ganz sanft ihre Spitzen und spürte, wie Miss Noir unter den Berührungen erschauerte.

Behutsam saugte er an einer Knospe und hob ihre bezaubernden Brüste mit seinen Händen an. Dabei fühlte er Herzschläge, die sich beschleunigten. Er blickte auf und sah leicht gerötete Wangen. In den blauen Augen hinter der Maske las er sogar Sehnsucht … bis sie wieder die Lider senkte. Sie zog ihre Arme aus dem Kleid und stieg aus der schwarzen Seidenwolke, die nun ihre Füße umgab – nackt bis auf die Maske, die Strümpfe und die zierlichen Abendschuhe.

Miss Noir posierte nicht, um ihn zu bezirzen. Das hatte sie auch nicht nötig. Hoch aufgerichtet, den Kopf erhoben, stand sie da.

Arabella, wollte er flüstern. Die Frau, die ihr ähnelte, hatte alte Wunden aufgerissen. Trotzdem begehrte er sie so heftig, als wäre sie tatsächlich seine frühere Geliebte. Er schlüpfte aus seiner Weste, nahm das Krawattentuch ab und zog das Hemd aus.

Dass Miss Noir seine nackte Brust musterte, entging ihm nicht, ebenso wenig ihr Blick, der zur Wölbung seiner Männlichkeit in den Pantalons schweifte. Als sie wieder aufschaute, bemerkte er einen eigenartigen Ausdruck in ihren Augen, den er nicht ergründen konnte. Nun riss er sie an sich und küsste sie so leidenschaftlich, wie er es sich vom ersten Moment an, als er sie in Mrs Silvers Salon entdeckte, gewünscht hatte.

Zunächst versteifte sie sich, dann schmiegte sie ihren Körper an seinen, erwiderte den Kuss, und er glaubte die echte Arabella zu umarmen. Nicht einmal die Augen musste er schließen, um sich vorzugaukeln, sie wäre es wirklich.

Er küsste sie wie die Frau, die er geliebt hatte, mit all dem tiefen Schmerz in seiner Seele. Zu seiner Verwirrung erwiderte sie den Kuss auf dieselbe leidenschaftliche Weise, wie Arabella es immer getan hatte. Um wieder in ihre Augen zu schauen, ließ er sie los. Da wandte Miss Noir sich ab und begann, ihre Strumpfbänder zu entfernen.

Aber er hinderte sie daran. „Lassen Sie das, ich möchte Sie ansehen.“

Wortlos trat sie ein paar Schritte zurück, und er bewunderte die langen hellen Beine in den dunklen Strümpfen, die schön geschwungenen Hüften, das kleine blonde Dreieck zwischen den Schenkeln, den weichen Bauch.

Unter seinem forschenden Blick errötete sie, als wäre sie wirklich keine erfahrene Kurtisane, die jede Nacht mit einem anderen Mann schlief, sondern Arabella. Seine Männlichkeit presste sich immer härter gegen den feinen Wollstoff seiner Pantalons.

Noch immer legte Miss Noir die Maske nicht ab. Und er bat sie auch nicht darum, denn er wollte sich an die Illusion klammern, die ihn in dieses Zimmer geführt hatte.

Dominic befreite sich von seiner restlichen Kleidung. Dann ging er zu Miss Noir und umarmte sie wieder. Arabella, formten seine Lippen lautlos an ihrer Wange.

Während er sie zum Bett trug, schlang sie ihm die Arme um den Nacken. Er legte sie auf die Matratze, und der Kontrast zwischen ihrer hellen Haut und den schwarzen Seidenlaken schien ihre Ähnlichkeit mit seiner früheren Geliebten noch stärker zu betonen. Nun begehrte er sie so heiß, dass er keinen anderen Gedanken mehr kannte, und sank auf sie hinab, presste seine Hüften zwischen ihre Schenkel.

Warm und feucht war sie und so bereit für ihn. Alles an ihr – der Duft, der Geschmack ihres Mundes, die Gefühle – glich Arabella. Und als er in ihre weiche Hitze eindrang, war sie es. Immer schneller bewegte er sich in ihr, bis beide nach Luft rangen, bis er beinahe die Erlösung fand. Doch kurz vor seinem Höhepunkt zog er sich zurück.

Welch eine exquisite Tortur …

Aber sobald er von Miss Noirs Körper hinabglitt, bereute er seinen Entschluss, ihr die Treppe hinauf zu folgen.

Sie war nicht Arabella, und er hatte nur schlecht verheilte Wunden aus der Vergangenheit aufgerissen. Jetzt fühlte er sich so leer und einsam und unglücklich wie zuvor. Möglichst schnell wollte er diesen Raum verlassen, und so stieg er aus dem Bett.

„Danke“, sagte er unbeholfen und brachte es nicht über sich, die Frau, die reglos dalag, mit ihrem Namen anzureden. Hastig schlüpfte er in sein Hemd und die Pantalons.

Aus der Richtung des Betts drang ein leiser Laut zu ihm, der wie ein unterdrücktes Schluchzen klang.

Als er die Frau anschaute, drehte sie sich zur Seite und kehrte ihm den Rücken zu. Er sah die goldenen, aus ihrem Haarknoten gelösten Locken, die schmale Taille, die wohlgeformten Hüften, das verlockende Gesäß.

Plötzlich erstarrten seine Finger über den Hosenknöpfen, die er schließen wollte. Sein Blut drohte sich in Eis zu verwandeln, und er konnte kaum atmen. Bestürzt starrte er auf ihre glatte weiße Haut und das dunkle Muttermal auf der rechten Pobacke, an das er sich so gut erinnerte.

Alles andere in der Welt schien zu entschwinden. Ungläubig registrierte er die so offenkundige Wahrheit, dass er sich fragte, warum er sie nicht sofort erkannt hatte.

„Arabella?“ Nur ein Flüstern. Aber es hallte so laut durch den Raum, als hätte er aus voller Kehle geschrien.

Da spannte sich ihr ganzer Körper an und bestätigte den Verdacht, den Dominic viel zu langsam geschöpft hatte. Er beobachtete den Schauer, der sie durchfuhr, ehe sie sich in das Laken wickelte und so ihre Nacktheit verhüllte, bevor sie aus dem Bett stieg. Erst danach erwiderte sie seinen Blick.

Noch immer fiel es seinem Gehirn schwer, die überwältigenden Tatsachen zu akzeptieren, und er erwartete, sie würde ihre Identität abstreiten. Doch sie schwieg.

Entschlossen eilte er zu ihr. Mit einer Hand zog er sie an sich und merkte kaum, dass das Laken hinabsank, mit der anderen Hand entknotete er die Bänder der gefiederten Augenmaske, die zu Boden fiel. Und dann starrte er in ein blasses, angsterfülltes Gesicht, in Augen voll von schimmernden Tränen. Sie war es, Arabella Tatton, ohne jeden Zweifel … Oder Arabella Marlbrook, wie sie jetzt hieß.

2. KAPITEL

Viel zu fest presste Dominic sich gegen ihren nackten Körper. Voller Entsetzen über ihre Enttarnung, konnte Arabella einige Sekunden lang nur in die Augen des Mannes starren, den sie geliebt hatte. Dann kam sie zur Besinnung und versuchte, sich loszureißen.

„Arabella!“, mahnte er in schroffem Ton.

Verzweifelt schlug und trat sie nach ihm. Da packte er ihre Arme, drehte sie ihr auf den Rücken und umklammerte ihre Handgelenke – nicht schmerzhaft, aber unnachgiebig.

„Arabella.“ Diesmal leiser, trotzdem genauso bedrohlich.

„Nein!“, schrie sie.

Unerbittlich hielt er sie fest. „Was machst du hier?“ Wie Kohlen glühten die dunklen Augen in seinem blassen Gesicht. Und sein kaum gezügelter Zorn passte nicht zu dem Mann, an den sie sich erinnerte.

Sie versuchte ihre Nerven zu beruhigen. Aber ihr Atem ging stoßweise. Und jedes Mal, wenn sie Luft holte, spürte sie die geschwollenen Knospen ihrer Brüste, die sich an Dominics Hemd rieben.

„Erlaube mir wenigstens, mich anzuziehen, bevor wir dieses Gespräch führen“, bat sie mit einer ruhigen Stimme, die ihre wahren Gefühle verbarg. „Ein bisschen Respekt solltest du mir zollen.“

Provozierend ließ er seinen Blick über ihren nackten Körper schweifen, und sie fürchtete, er würde ihren Wunsch nicht erfüllen. Doch dann ließ er sie los und wandte sich ab.

Arabella hob das schwarze Kleid vom Boden auf. Hastig schlüpfte sie hinein, den Rücken zu Dominic gewandt. So gut sie es vermochte, verschnürte sie das Oberteil an ihrem Rücken. Alle Bänder erreichte sie nicht. Die restlichen hingen locker herab, und so wurde dennoch zu viel von ihrem Busen entblößt.

Gewiss keine respektable Aufmachung, dachte sie, aber immerhin besser, als würde ich ihm nackt gegenüberstehen. Verlegen zerrte sie den Ausschnitt etwas höher und drehte sich um. Dominic hatte seine Pantalons inzwischen zugeknöpft und beobachtete Arabella mit derselben unverhohlener Bestürzung, die auch sie empfand.

„Nun frage ich dich noch einmal.“ In seiner Stimme schwang helle Wut mit. „Was machst du hier?“

„Was jede Frau in seinem solchen Haus tut.“ Herausfordernd starrte sie ihn an, fest entschlossen, ihre Scham hinter einer stolzen Fassade zu verstecken.

„Also bist du eine Hure, die sich verkauft!“, stieß er hervor.

„Ich versuche nur zu überleben“, erwiderte Arabella so würdevoll wie möglich. Tapfer hielt sie seinem verächtlichen Blick stand.

„Und wo zum Teufel steckt Henry Marlbrook, während du in einem Bordell ‚überlebst‘? Was für ein Ehemann ist das, der dich einer solchen Schande ausliefert?“ Als er Henrys Namen aussprach, nahm seine Stimme einen noch härteren Klang an.

„Wage es bloß nicht, ihn zu erwähnen!“, fauchte sie.

„Warum nicht?“, konterte er. „Hast du Angst, ich würde ihn aufstöbern und niederstechen?“

„Verdammt, Dominic, er ist tot!“

„Dann hat er mir die Mühe erspart“, entgegnete er frostig.

Zutiefst erschrocken über seine Grausamkeit, schnappte sie nach Luft. Und dann, ehe sie sich eines Besseren besinnen konnte, schlug sie ihn mit aller Kraft ins Gesicht. Das klatschende Geräusch hallte von den Wänden wider. Danach war es vollkommen still im Raum. Sogar im schwachen flackernden Kerzenlicht sah Arabella die roten Spuren, die ihre Finger auf Dominics Wange hinterlassen hatten.

Schon vorher hatten sich seine braunen Augen verdüstert. Jetzt waren sie schwarz wie die Nacht.

Aber Arabella gab nicht klein bei. „Das hast du verdient.“ Für alles, was er ihr angetan hatte. „Henry war ein guter Mann, ein viel besserer als du, Dominic Furneaux!“

In der Tat war sie überaus dankbar für Henrys Güte und Freundlichkeit.

Nun sah sie etwas in Dominics Augen aufflammen.

„So wie er es schon damals war“, sagte er tonlos. „Das habe ich nicht vergessen, Arabella. An keinem einzigen Tag.“

Seine Worte riefen die Erinnerung an vergangene Emotionen wach … Auch sie hatte nichts vergessen: Die Freude und das Glück, als sie ihr Herz an Dominic verloren und sich ihm hingegeben hatte, die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft. Alles Lügen und Illusionen. Ihm hatten die Liebesstunden nichts bedeutet, sie war ihm gleichgültig gewesen. Nur eine weitere Kerbe an seinem Bettpfosten … Mit knapp neunzehn Jahren hatte sie das primitive Wesen der Männer und deren Gelüste noch nicht verstanden, jetzt, mit vierundzwanzig, wusste sie es besser.

„Du hast keine Zeit verschwendet, um ihn zu heiraten“, fügte er hinzu, „weniger als vier Monate, nach allem, was ich erfuhr.“

Sie hörte die Anklage aus seiner Stimme heraus, die Eifersucht, und das fachte das Feuer ihres Zorns erneut an. „Was hast du dir denn vorgestellt?“, zischte sie.

„Dass du auf mich gewartet hättest, Arabella!“

Ungläubig schüttelte sie den Kopf. „Ich sollte warten? Für was für eine Frau hältst du mich denn?“ Dachte er allen Ernstes, sie hätte ihn mit offenen Armen willkommen heißen müssen? Nachdem er sie so schmählich im Stich gelassen hatte? „Ich konnte nicht warten, Dominic, denn ich war …“ Ihr Blick suchte seinen.

Was warst du?“

Zögernd schwieg sie. An ihrem Hals pochte ein warnender Puls.

„Eine Närrin“, antwortete sie schließlich. Eine Närrin, die seinen Lügen geglaubt, die ihm vertraut hatte. „Was du hier wolltest, hast du bekommen, Dominic. Jetzt geh und lass mich in Ruhe.“

„Damit du in Mrs Silvers Salon hinunterlaufen und dem nächsten Gentleman ein Glas Champagner anbieten kannst? Zweifellos warten sehr viele Interessenten darauf, mit dir das Schlafgemach aufzusuchen.“ Seine Stimme triefte geradezu vor Verachtung. „Nein, das wirst du nicht tun.“

Wie kann er es wagen? Warum verurteilt er mich, nach allem, was er mir zugemutet hat? In diesem Moment hasste sie ihn mit einer Leidenschaft, die den letzten Rest ihrer Selbstbeherrschung bedrohte. Sie wollte ihn anschreien, noch einmal ohrfeigen, sich rächen für alles, was er ihr gerade antat. Aber sie zwang sich zur Ruhe.

Er fixierte sie mit seinem Blick. Zwischen ihnen schien die Luft vor Anspannung zu knistern. Dann trat er hinter einen der beiden schwarzen Polstersessel beim Kamin.

„Setz dich, Arabella, wir müssen reden.“

„Lieber nicht, Euer Gnaden.“ Sie war stolz auf sich selbst, weil ihre Stimme ebenso kühl und emotionslos klang wie seine – weil sie ihr Zittern so erfolgreich unterdrückte.

„Wenn du dich wegen des Geldes sorgst … Sei versichert, ich habe für die ganze Nacht bezahlt.“

Nun glichen seine Augen schwarzen Steinen. Obwohl ihre Kehle wie zugeschnürt war, schaute Arabella ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken, verbarg ihre Scham und den Aufruhr ihrer Gefühle. Keinesfalls durfte er den Verdacht schöpfen, sie würde ihm etwas verheimlichen.

„Komm, Arabella.“ Er wies auf den Sessel, der vor ihm stand. „Setz dich. Nach allem, was soeben zwischen uns geschehen ist, solltest du dich nicht zieren.“ Seine Stimme klang schroff, seine Miene bekundete unbeugsame Entschlossenheit. Zweifellos würde er darauf bestehen, seinen Willen durchzusetzen.

„Zur Hölle mit dir“, flüsterte sie. Die Narben ihrer seelischen Wunden brannten, als wären sie niemals verheilt. Und das Wiedersehen mit Dominic – nachdem sie jahrelang geglaubt hatte, sie würde ihm nie mehr begegnen – weckte Ängste, die ihr erst in diesem Moment richtig bewusst wurden.

Erst nachdem sie sich gesetzt hatte, nahm er in dem Sessel ihr gegenüber Platz.

„Hast du sofort erkannt, dass ich es bin?“, fragte sie.

„Natürlich nicht!“, protestierte Dominic, wütend auf Arabella und sich selbst. Ganz egal, was sie getan hatte – niemals wäre er aus reiner Rachsucht mit ihr ins Bett gesunken.

„Und wie hast du es gemerkt?“

„Warum ich nicht früher dahinterkam?“ Diese Frage stellte er sich selbst. „Ausgerechnet ich, der deinen Körper so gut kannte …“ Eine schäbige Maske mit schwarzen Federn hat genügt, um mich zu täuschen, dachte er bitter. Zudem hätte er niemals erwartet, Arabella in einem Bordell anzutreffen.

Was aus ihr geworden war – und dass er sie wie eine Hure behandelt hatte, erschütterte ihn zutiefst. Er hatte gehofft, sie aufzuspüren, und sich danach gesehnt. Aber nicht auf diese Weise … So etwas hatte er sich nicht einmal in seinen schlimmsten Albträumen vorgestellt. Verstört strich er durch sein Haar und versuchte seine Gefühle zu kontrollieren.

Dann musterte er Arabellas blasses Gesicht, ihre beherrschte Miene.

Die Zeit hatte ihre Schönheit reifen lassen. Jetzt war sie kein hübsches Mädchen mehr, sondern eine voll erblühte, hinreißende Frau. Er merkte ihr eine gewisse Vorsicht an, ein allgemeines Misstrauen, das sie früher nicht gezeigt hatte. Damals war sie unschuldig und sorglos gewesen, von unbändiger Lebensfreude erfüllt – nun sah er eine kühle, entschlossene Fremde, die er nicht wiedererkannte.

Plötzlich erinnerte er sich an das halb erstickte Schluchzen, das er gehört hatte, an den Tränenglanz in ihren Augen, und sein eigener Zorn verebbte ein wenig.

„Du hast erwähnt, Marlbrook sei gestorben.“

Widerstrebend nickte sie. „Vor zwei Jahren.“

„Ließ er dich unversorgt zurück?“ Den anklagenden Unterton in seiner Stimme konnte er nicht unterdrücken.

„Nein!“, rief sie entrüstet.

Warum verteidigte sie den elenden Schurken, den sie geheiratet hatte, so leidenschaftlich?

„Nein“, wiederholte sie etwas ruhiger. „Für eine bescheidene Existenz war genug Geld vorhanden …“ Zaudernd verstummte sie und schien zu überlegen, wie viel sie ihm erzählen sollte.

Drängende Fragen brannten ihm auf der Zunge. Doch er sprach keine einzige aus und zwang sich trotz seiner Ungeduld, auf eine Erklärung zu warten.

Statt zu erläutern, was ihr widerfahren war, presste sie die Lippen zusammen und wich seinem forschenden Blick aus.

Eine gefühlte Ewigkeit verging.

Schließlich hob er die Brauen. „Dann bist du ohne Not in Mrs Silvers Haus gelandet? Sondern, weil es dir hier gefällt?“

„Ja“, bestätigte sie und schaute ihn provozierend an. „Da siehst du, was für eine Frau aus mir geworden ist. Nachdem das feststeht – willst du noch immer nicht gehen?“

„Nein, ich bleibe bei dir.“

Resigniert senkte sie den Kopf.

„Was hält dein Vater von dem Beruf, den du gewählt hast, Arabella? Und dein Bruder?“

„Papa und Tom sind an der Schwindsucht gestorben, die auch Henry dahingerafft hat.“

„Diesen schmerzlichen Verlust bedaure ich …“ Die Neuigkeit bestürzte Dominic, denn er hatte Arabellas Familie gut gekannt und gemocht. „Und Mrs Tatton?“

„Die Krankheit hat meine Mutter sehr geschwächt. Aber sie ist am Leben geblieben.“

„Weiß sie, wo du bist?“

Nur für einen kurzen Moment verriet ihr Gesicht gewisse Schuldgefühle. „Nein …“ Dann hob sie wieder einmal herausfordernd ihr Kinn. „Nicht, dass es dich etwas anginge!“

In dem Schweigen, das nun folgte, hörte er ein Bett im Nebenraum knarren, achtete aber nicht weiter darauf.

Dominic musterte Arabella nachdenklich. Noch eine Frage musste er ihr stellen, obwohl er die Antwort bereits zu kennen glaubte, weil sie sich in Mrs Silvers „Haus der bunten Freuden“ aufhielt.

„Gab es nach Marlbrooks Tod einen anderen Mann? Einen Gemahl oder Beschützer?“

„Nein“, erwiderte sie mit gepresster Stimme. In ihren Augen las er unmissverständliche Abneigung. „Wäre es anders, würde dich aber auch das nichts angehen.“

Eine Zeit lang starrten sie einander wütend an, bevor Arabella aufstand und zu den langen schwarzen Vorhängen schritt, die das Fenster verdeckten.

Sie konnte einfach nicht still sitzen und sich von Fragen bestürmen lassen, denn sie fürchtete, wohin sie führen mochten. Außerdem hatte Dominic kein Recht, sie zu verhören. Mit seinem Entschluss vor all den Jahren hatte er das Recht verwirkt, irgendetwas über ihr Leben zu erfahren.

Sollte er doch das Schlimmste von ihr denken, wenn es ihn an weiteren Fragen hinderte und aus diesem Zimmer trieb … Ja, sollte er sie für die Hure halten, zu der er sie gemacht hatte. Das fand sie besser als die andere Möglichkeit.

Würde er die Wahrheit über meine Situation kennen – das könnte ich nicht ertragen. Besser seine Verachtung spüren als sein Mitleid …

Durch den schmalen Spalt zwischen den Vorhängen sah sie eine schwarze Nacht ohne Sterne.

Nach einer Weile warf Arabella einen Blick über ihre Schulter. Reglos starrte Dominic in den Kamin, auf die kleinen flackernden Flammen über den glühenden Kohlen. Seine Miene wirkte so düster wie die Nacht da draußen.

„Dass ich dich hier angetroffen habe, in einem verdammten Bordell, kann ich einfach nicht glauben!“ Noch immer beschleunigte das quälende Entsetzen seinen Puls.

Fast sechs Jahre lang hatte Dominic sich vorgestellt, wie er sie eines Tages finden würde. Verschiedene Situationen waren ihm durch den Sinn gegangen – und natürlich kam keine einzige auch nur annähernd an die schreckliche Realität heran. Seine geliebte Arabella war nun eine Dirne in einem luxuriösen Freudenhaus! Miss Noir, verfügbar für alle Gäste, die genug bezahlten … Bei diesem Gedanken wurde ihm übel.

„Dann geh doch und rede dir ein, wir hätten uns nie wiedergesehen“, schlug sie leise vor, ohne ihn anzuschauen.

Minutenlang durchbrach nur das schwache Knistern des beinahe heruntergebrannten Feuers die Stille, bis Dominic entgegnete: „Das kann ich nicht, Arabella.“ Trotz seines Zorns – ein solches Leben verdiente sie nicht.

In einem hauchdünnen schwarzen Seidenkleid, das mehr enthüllte, als es verbarg, stand sie da. Der Anblick ihres fast nackten Rückens weckte neue Lust in ihm.

Warum begehrte er sie immer noch, nachdem sie die Treue gebrochen und Marlbrook geheiratet hatte? Nach allem, was er ihr in dieser Nacht unter so würdelosen Umständen schon abverlangt hatte? Es erfüllte ihn keineswegs mit Stolz oder Genugtuung, dass er sie wie eine Hure behandelt hatte – obwohl sie nichts anderes war. Niemals hätte er sie angerührt, wäre ihm ihre Identität schon vorher bewusst geworden.

„Warum kannst du es nicht?“, fragte sie. „Genau das will ich. Geh – und komm nicht wieder!“

„Um früherer Zeiten willen, Arabella …“

„Erspar mir dein Mitleid!“ Erbost fuhr sie zu ihm herum und stemmte die Hände in die Hüften. „Was uns einmal verbunden hat, ist längst entschwunden!“

„Oh, das weiß ich sehr gut.“

In ihren Augen funkelte ein wildes Temperament, das Dominic damals nie gesehen hatte. Ihre Lippen waren von seinen Küssen gerötet und geschwollen, unter heftigen Atemzügen hoben und senkten sich ihre Brüste, und er sah, wie der lockere schwarze Stoff hinunterglitt und rosige Knospen entblößte.

Sobald sie seinen Blick bemerkte, zerrte sie die Seide hastig nach oben und hielt sie fest.

„Dafür ist es jetzt zu spät, Arabella.“

Im Gegensatz zu ihm war ihr bewusst gewesen, mit wem sie vorhin geschlafen hatte. Von ihren Lippen kam ein seltsames Echo, wie aus einer fernen Vergangenheit – und jetzt erkenne ich, warum … Mochte die Liebe auch gestorben sein, das Feuer erotischer Sehnsucht brannte immer noch zwischen ihnen.

Wenn er ihr auch nicht verziehen hatte – er durfte sie nicht in diesem Haus zurücklassen.

Vergeben konnte er ihr nicht, aber er begehrte sie nach wie vor.

In seinem Gehirn nahm eine Idee Gestalt an, die ihm vielleicht endlich helfen würde, seine Dämonen zu verscheuchen.

Kurz entschlossen stand er auf. Als er Arabella erschauern sah, holte er seinen Frackrock und legte ihn um ihre Schultern. In ihren Augen las er Verblüffung, Argwohn und unausgesprochene Fragen.

„In diesem Haus musst du nicht bleiben …“, begann er.

„Was ich tue, geht dich nichts an“, unterbrach sie ihn heftig.

„Ich könnte dir helfen.“

„Vielen Dank, Dominic, ich brauche deine Hilfe nicht.“

„Mag sein. Trotzdem wirst du mir zuhören.“

Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber er spürte ihre innere Abwehr deutlich.

„Wenn du mein Angebot annimmst, müsstest du nicht mit einem Mann nach dem anderen schlafen und nicht befürchten, auf der Straße zu landen. An nichts würde es dir mangeln.“

Nun runzelte sie die Stirn, dann schüttelte sie verständnislos den Kopf.

„Ich stelle dir ein Haus und Geld zur Verfügung, deine Existenz wäre gesichert. Und ich würde dich beschützen.“

„Beschützen?“, wiederholte sie und blinzelte verwirrt.

„Dieses Arrangement wäre für uns beide vorteilhaft.“

Entgeistert rang sie nach Luft. „Soll ich deine Mätresse werden?“

„Wenn du es so nennen willst.“

Drückendes Schweigen trat ein, draußen im Flur erklang das Kichern einer Frau, vermischt mit dem Geräusch von den schweren Schritten eines Mannes, der wohl gerade aus einem der Zimmer kam.

In Arabellas Gesicht las Dominic unverkennbares Entsetzen. Was immer sie erwartet haben mochte – das nicht. Und für einen kurzen Moment glaubte er Trauer in ihren Augen zu sehen, einen tiefen Schmerz, ähnlich den Qualen in seinem eigenen Herzen, die ihn jahrelang begleitet hatten. Doch dieser Blick verschwand sofort. Er hatte es sich gewiss nur eingebildet …

„Arabella“, flüsterte er und berührte ihren Arm.

Bevor sie sich losriss, spürte er ihr Zittern.

„Glaubst du, das wäre so einfach?“, fragte sie zynisch.

„Einfach genug“, erklärte er vorsichtig. „Ich würde Mrs Silver angemessen entschädigen. Sei versichert, sie würde uns keine Steine in den Weg legen.“

Sie schluckte und schlang ihre Finger ineinander. Versuchte sie eine schwierige Entscheidung zu treffen?

„Seit ich den Titel meines Vaters geerbt habe, bin ich steinreich, Arabella. Ich würde ein schönes Stadthaus für dich mieten, es nach deinem Geschmack einrichten lassen und alle deine Wünsche erfüllen.“

„Ja, ich verstehe, was du mir anbietest“, entgegnete sie kühl.

„Und wie lautet deine Antwort?“

„Darüber muss ich nachdenken. Und dafür brauche ich Zeit.“

„Was gibt es da zu überlegen?“, fragte Dominic ironisch. „Worum es geht, weißt du doch. Das habe ich klar und deutlich gesagt.“

„Trotzdem werde ich dir erst eine Antwort geben, wenn ich über deinen Vorschlag nachgedacht habe.“

Ihre unnachgiebige Haltung ärgerte ihn ebenso wie die Verachtung, die sie nicht verhehlte. Jede andere Frau in ihrer Position würde ein solches Angebot ohne Zaudern und überglücklich annehmen.

„Also gut, Arabella, du kannst dein sonderbares Spiel mit mir treiben. Aber wie wir beide wissen, tun alle Dirnen das, was reiche Männer wollen. Und ich bin jetzt ein reicher Mann. Mittlerweile ist ein neuer Tag angebrochen. Bis zu meiner Rückkehr heute Abend musst du dich entscheiden. In der Zwischenzeit werde ich Mrs Silver bezahlen, damit dich kein anderer Kunde anrührt. Was ich mir aneignen möchte, gehört nur mir allein. Hoffentlich begreifst du das.“

Die Lippen zusammengepresst, als müsste sie eine scharfe Entgegnung unterdrücken, streifte sie seinen Frackrock von ihren Schultern und hielt ihn ihm hin. Er zog ihn an, dann ging er nach einer knappen Verbeugung zur Tür hinaus.

Während der Morgen über London graute, verließ er Mrs Silvers „Haus der bunten Freuden“. Aber seine Gedanken verharrten immer noch in dem Zimmer mit der schwarzen Bettwäsche und den schwarzen Vorhängen, bei der Frau in dem schwarzen Seidenkleid …

3. KAPITEL

Wenige Stunden später betrat Arabella eine heruntergekommene Pension in der Flower and Dean Street und stieg die Stufen hinauf. Die helle Frühlingsmorgensonne drang schwach durch die Fenster, die der winterliche Regen monatelang beschmutzt hatte.

Auch auf dem erneuerten Schloss der Tür am ersten Treppenabsatz schimmerte das Licht. Als Arabella die Schwelle des gemieteten Zimmers überquerte, wehte ihr feuchte Kälte entgegen.

„Mama!“ Ein dunkelhaariger kleiner Junge saß neben einer älteren Frau auf einer Matratze, die auf dem Boden lag und der einzige Einrichtungsgegenstand war, den der Raum enthielt. Nun schüttelte er eine dünne graue Wolldecke von seinen Schultern, sprang hoch und lief zu Arabella.

„Archie!“, rief sie lächelnd. Bei seinem Anblick schlug ihr Herz höher. „Warst du ein braver Junge und hast gut auf deine Großmutter aufgepasst?“

„Ja, Mama“, beteuerte er pflichtbewusst.

Aber sie sah im Gesichtchen ihres Sohnes den Tribut, den Hunger und Armut forderten, die Schatten unter den Augen, die eingefallenen Wangen, die sie einige Tage zuvor noch nicht bemerkt hatte.

Von schmerzlichen Schuldgefühlen erfasst, drückte sie ihn an sich. „Ich habe ein bisschen Brot und Kuchen mitgebracht“, erklärte sie und schüttelte den Inhalt ihrer Tasche, den sie letzte Nacht von den Tabletts für Mrs Silvers Salon entwendet hatte, auf die Matratze. „Erst am Wochenende wird der Lohn bezahlt.“

Sie legte eine Hälfte des Essens auf das Fensterbrett für eine spätere Mahlzeit, die andere gab sie ihrer Mutter und ihrem Sohn. Schweren Herzens beobachtete sie, wie Archie sie mit einem flehenden Blick um Erlaubnis bat, bevor er eine Brotscheibe ergriff.

Schweigend verzehrten Archie und seine Großmama ihr karges Frühstück, als wäre es ein Festmahl. Arabella nahm ihren Umhang ab und legte ihn um die gebeugten Schultern ihrer Mutter. Dann setzte sie sich auf den Matratzenrand.

„Du isst ja gar nichts, meine Liebe.“ Ein trockenes Kuchenstück in der Hand, hielt Mrs Tatton inne.

Lächelnd schüttelte Arabella den Kopf. „Oh, ich habe schon auf dem Heimweg gefrühstückt.“ Das war eine Lüge. Aber sie hatte so wenige Speisen mitgebracht, und sie ertrug es nicht, ihre Mutter und ihren kleinen Sohn hungern zu sehen.

Erst am späteren Tag würde die Sonne durch das Fenster hereinscheinen und ein bisschen Wärme spenden. Für Kohle oder Brennholz fehlte das Geld. Jetzt war das Zimmer kalt und leer bis auf die Matratze – so leer, wie sie es bei ihrer Heimkehr vor vier Tagen vorgefunden hatten. Kurz zuvor war hier eingebrochen worden, und die Diebe hatten die wenigen Habseligkeiten gestohlen, sogar die alten Möbel.

„Wie war es in der Schneiderwerkstatt?“ Sorgsam pickte Mrs Tatton die Kuchenkrümel von ihrem Schoß und steckte sie in den Mund. „Waren die Leute mit deiner Arbeit zufrieden?“

„Ja, ich glaube schon.“ Arabella konnte den fragenden Blick nicht erwidern, voller Angst, die Mutter würde ihr die tiefe Scham anmerken.

„Du bist viel zu blass. Und deine Augen sind ganz rot. Als hättest du geweint.“

Unbehaglich spürte Arabella, wie aufmerksam sie gemustert wurde. „Ich bin nur müde, und meine Augen tun ein bisschen weh, weil ich im Kerzenlicht nähen musste“, log sie. Was würde Mama sagen, wenn sie wüsste, wie ihre Tochter die Nacht wirklich verbracht hatte? „Nur ein paar Stunden Ruhe – dann geht es mir wieder gut.“ Beschwichtigend lächelte sie ihre Mutter an.

Mrs Tatton seufzte bedrückt. „Wenn ich dir bloß helfen könnte! Welch eine Belastung ich für dich bin, weiß ich …“

„Rede keinen Unsinn, Mama! Wie um alles in der Welt sollte ich denn zurechtkommen, wenn du dich nicht um Archie kümmern würdest?“

Da nickte ihre Mutter und zwang sich zu einem Lächeln. Aber ihre Augen blieben glanzlos, voller Trauer. Das Zittern in ihren Händen und die geschwollenen Fingerknöchel entgingen Arabella nicht, ebenso wenig der heisere Husten.

Liebevoll strich Mrs Tatton das Haar aus der Stirn ihres Enkels, der inzwischen sein Brot und ein Stück Kuchen verspeist hatte. Nun stand er auf und ging in eine Ecke. Dort stand ein kleiner Holzeimer, eine Leihgabe von einer Nachbarin. Mit einem hölzernen Becher schöpfte Archie etwas Wasser aus dem Eimer und trank es gierig.

Mrs Tatton senkte ihre Stimme, damit er ihre Worte nicht hörte. „Gestern Abend hat er sich vor lauter Hunger in den Schlaf geweint, Arabella. Sein leises Schluchzen brach mir das Herz. Ach, der arme Kleine!“

Arabella presste eine Faust auf ihren Mund und wandte sich ab. Dass sie einem Zusammenbruch nahe war, sollte ihre Mutter nicht sehen.

„Aber diese neue Arbeit, die du gefunden hast, ist wirklich ein Segen“, meinte Mrs Tatton, „die Antwort auf unsere Gebete. Ohne diese Stellung würden wir alle im Armenhaus landen.“

Bei diesem Gedanken schloss Arabella sekundenlang die Augen. Lieber würde ich sterben …

Archie brachte ihr einen mit Wasser gefüllten Becher, und sie nahm einen Schluck. Den Rest überließ sie ihrer Mutter.

Danach streckten sich der kleine Junge und seine Großmutter auf der Matratze aus, in die graue Wolldecke gehüllt.

„Letzte Nacht wurden wir immer wieder von einem schrecklichen Lärm da draußen geweckt“, erklärte Mrs Tatton, und Arabella nickte verständnisvoll. Zweifellos hatten betrunkene Männer gegrölt und zuchtlose Frauen kreischend gelacht.

Arabella breitete eine zweite Decke auf dem Boden neben der Matratze aus und legte sich darauf. Mit ihrem Umhang und dem Schal ihrer Mutter zugedeckt, spürte sie den kleinen Körper ihres Sohnes an ihrer Seite. Archie kuschelte sich an sie, und sie küsste sein zerzaustes dunkles Haar. „Alles wird gut“, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Bald schlummerte er ein, und sie hörte seine leisen, flachen, rhythmischen Atemzüge, kurz danach die pfeifenden Geräusche, die aus den Lungen ihrer dösenden Mutter drangen.

Obwohl Arabella letzte Nacht kein Auge zugetan hatte, würde sie auch jetzt keinen Schlaf finden, weil sie von wirren Gedanken verfolgt wurde. Und alle drehten sich um Dominic Furneaux.

Als sie an die erotische Szene in dem schwarzen Bett dachte, musste sie beinahe weinen. Vor Scham und Wut und einer bittersüßen, tiefen Wehmut. So schmerzlich war die Erinnerung an frühere Zeiten. Damals hatte sie sich ihm in reiner Liebe hingeben – und an seine Liebe geglaubt. Jetzt zürnte sie nicht nur ihm, sondern auch sich selbst.

Denn sobald sie gestern Abend seinen vertrauten Duft gerochen hatte, nach Bergamotte, Seife und Dominic Furneaux, war sie unfähig gewesen, ihr Verlangen zu zügeln. Und als er sie nahm – nicht aus Liebe, wer sie war, wusste er gar nicht –, hießen ihre verräterischen Lippen und ihr Körper ihn willkommen, erkannten seine Küsse und die Liebkosungen seiner Hände entzückt wieder. Ohne Rücksicht auf ihre verletzten Gefühle hatte sie in der intimen Nähe geschwelgt. Und das beschämte sie noch tiefer als die Tatsache, dass sie sich ihm verkauft hatte.

Nun wollte er sie erneut kaufen, für längere Zeit. Wann immer ihn nach ihr gelüstete, müsste sie ihm zur Verfügung stehen, dem Mann, der ihr Herz gebrochen hatte.

So raffiniert waren seine Lügen damals gewesen, all die geheuchelten Beteuerungen und Liebesschwüre hatte sie geglaubt …

Sollte sie sich einem solch gewissenlosen Schurken auf Gedeih und Verderb ausliefern, ihm Nacht für Nacht zu Willen sein und die schmachvolle Begierde ihres Körpers verbergen? Konnte sie sich einem Mann unterwerfen, der sie nicht liebte und für eine Hure hielt?

Verzweifelt schlug sie ihre Hände vors Gesicht, denn sie kannte die Antwort auf diese Fragen. Und sie wusste auch, was ihr drohte, wenn sie Dominic Furneaux’ Angebot ablehnte.

Nur zu lebhaft entsann sie sich, wie die Gentlemen am Vorabend in Mrs Silvers Salon getreten waren, dachte an die Panik angesichts der albtraumhaften Nacht, die ihr bevorstehen würde, wenn sie ihren Körper einem Fremden verkaufen musste.

Und dann dachte sie an die bittere Not, in der sie mit ihrer Familie dahinvegetierte. Da wusste sie es – sie konnte nur eine einzige Entscheidung treffen. Allerdings gab es gewisse Aspekte, die sie bei den Verhandlungen mit Dominic penibel beachten musste.

Unwillkürlich überlegte sie, wie sein und ihr Leben verlaufen wäre, wenn er sie geliebt und getreu seinem Versprechen geheiratet hätte …

Schon am frühen Abend traf Dominic in Mrs Silvers Haus ein, diesmal ohne seine Freunde. Im Salon saßen die Frauen, in die verschiedenen Farben gehüllt, wie es dem Namen des Bordells entsprach.

Nur die Farbe Schwarz fehlte. Also war Arabella nicht hier, und eine böse Ahnung stieg in ihm auf. Würden sich die Dinge vielleicht doch nicht so entwickeln, wie er es geplant hatte?

„Die Vielfalt ist die Würze des Lebens, Euer Gnaden. Darf ich Sie mit einer anderen Farbe verlocken?“ Mrs Silver wies auf die Mädchen, die ihn hingerissen anstarrten.

„Nein, danke, ich bevorzuge Schwarz. Miss Noir …“ Bestürzt verstummte er. War Arabella geflohen, nachdem er sie entlarvt hatte? Versteckte sie sich in einem anderen Teil Londons, in einem anderen Freudenhaus, an irgendeinem Ort, wo er sie niemals finden würde?

„Jeden Moment wird sie hier sein, Euer Gnaden, da bin ich mir ganz sicher“, behauptete Mrs Silver. Aber ihre Augen drückten eine gewisse Skepsis aus.

Dominic runzelte die Stirn. Würde Arabella tatsächlich dieses elende Leben dem Luxus vorziehen, den er ihr anbot? Auf den Gedanken, sie könnte davonlaufen, war er gar nicht gekommen. Wütend über seine Naivität presste er die Lippen zusammen.

„Wenn Sie warten möchten, Euer Gnaden …“ Einladend zeigte Mrs Silver auf ein Sofa.

Er nickte, aber er setzte sich nicht, blieb stehen und ignorierte die Platte mit den Delikatessen auf dem Tischchen an seiner Seite, das gefüllte Champagnerglas.

Fünf Minuten verstrichen. Dann zehn. Die Frauen gaben ihre Bemühungen auf, ihn in verführerische Gespräche zu verwickeln.

Was soll ich tun, wenn sie nicht kommt?

Nach zwanzig Minuten wanderte er rastlos umher. Allmählich erschienen einige Gäste.

Vierzig Minuten. Nur mehr er selbst und Miss Rouge hielten sich im Zimmer auf, es herrschte ein peinliches Schweigen.

Nach fünfzig Minuten verschwand auch Miss Rouge mit einem Gentleman, und Dominic fühlte sich genauso wie vor fast sechs Jahren – zornig, fassungslos, wie ein Narr, dessen Stolz zutiefst verwundet wurde.

Als er um seinen Hut, den Spazierstock und die Handschuhe bitten wollte, betrat Arabella endlich das Zimmer.

„Miss Noir, Euer Gnaden“, verkündete Mrs Silver lächelnd und geleitete sie in den Salon. Dann ging sie hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Nur die tickende Uhr auf dem Kaminsims durchbrach die Stille. Daneben stand das Glas mit dem schalen Champagner.

Sie trug dasselbe skandalöse Kleid wie am Vorabend, dieselbe gefiederte Maske. Darunter war ihr Gesicht weiß gepudert.

Als sie vor ihm stand, hielte er den Atem an, wagte die Frage nicht zu stellen. Längst war seine Überzeugung geschwunden, Arabella würde auf seinen Vorschlag eingehen.

Und dann begann sie zu sprechen. „Ich nehme das Angebot an, Euer Gnaden“, sagte sie leise und emotionslos. So bleich wirkte sie, so steif und kalt, dass er den absurden Wunsch empfand, sie zu umarmen und zu wärmen und zu schwören, alles würde sich zum Guten wenden. Aber sie wandte sich ab und stellte sich hinter den cremefarbenen Sessel. „Erörtern wir die Einzelheiten.“

Er nickte, und sie begannen wie zwei Fremde, die ein Geschäft abschließen wollten, zu verhandeln.

Als Arabella am späten Abend in die Flower and Dean Street zurückkehrte, lagen Mrs Tatton und Archie aneinandergeschmiegt auf der Matratze.

„Nur ich bin’s“, wisperte Arabella ins Dunkel. Aber ihre Mutter stand bereits mühsam auf, den Nachttopf in der Hand, eine behelfsmäßige Waffe.

„Oh Arabella, du hast mich erschreckt!“

„Verzeih mir, Mama.“ Im trüben Licht einer Straßenlampe, das durch das kleine Fenster hereinschien, trat Arabella näher.

„Warum bist du so früh daheim? Ich habe dich erst am Morgen erwartet.“ Über Mrs Tattons Schulter hing ein langer grauer Zopf, und sie trug dasselbe zerknüllte Kleid wie an den letzten fünf Tagen. „Hat man dir in der Werkstatt gekündigt?“, fragte sie angstvoll.

„Heute Abend hat sich einiges geändert …“ Hastig fügte Arabella hinzu: „Keine Bange, wir werden nicht ins Armenhaus geschickt, sondern ein viel besseres Leben führen, dank eines neuen Arrangements.“

„Was meinst du?“, fragte ihre Mutter verwirrt.

„Nun, wir werden ein beheiztes, schön eingerichtetes Haus in einer respektablen Gegend bewohnen, saubere Kleider tragen und jeden Tag drei Mahlzeiten bekommen. Nie mehr muss Archie hungrig einschlafen. Ich werde genug Geld für deine Medizin haben und …“ Arabella unterbrach sich und lauschte auf Schritte im Treppenhaus. „Wir müssen uns nie mehr vor Einbrechern fürchten.“

Langsam stellte Mrs Tatton den Nachttopf auf den Boden. „Was für ein Arrangement ist das denn?“

Brennend stieg das Blut in Arabellas Wangen, und sie musste sich zwingen, den Blick ihrer Mutter zu erwidern. Sie wollte das heikle Gespräch hinter sich bringen, bevor Archie womöglich erwachen und zuhören würde. Ihrer Mama musste sie die Wahrheit gestehen, wenn auch nicht die ganze. „Ein Arrangement – mit einem Gentleman.“

„Um Himmels willen!“ Erschrocken griff Mrs Tatton an ihre Kehle. „So etwas kannst du nicht tun …“

„Dass du schockiert bist, verstehe ich.“ In ruhigem Ton, der den Aufruhr ihrer Gefühle überspielte, sprach Arabella weiter. „Und ich bin wirklich nicht stolz darauf …“ In Grund und Boden schämte sie sich. Aber das ließ sie sich nicht anmerken, sie musste stark sein. „Bitte, glaub mir, es ist die beste Lösung unserer Probleme. Versuch nicht, mich davon abzubringen, Mama, mein Entschluss steht fest.“

„Also hast du gar nicht in einer Schneiderwerkstatt gearbeitet?“, fragte Mrs Tatton tonlos.

„Nein.“

„Und der Gentleman?“

Arabella senkte den Kopf. „Vorerst muss du seinen Namen nicht kennen.“ Keinesfalls durfte Mama erfahren, dass ihre Tochter sich an Dominic Furneaux verkaufte. Sonst würde sie es zu verhindern suchen.

„Wirklich nicht?“ Mrs Tattons harte Stimme bekundete ihre Entrüstung deutlich genug. „Hast du ihm von Archie und mir erzählt?“

„Nein.“ Nur mühsam verhehlte Arabella ihre kalte Angst. „Von euch beiden braucht er nichts zu wissen.“

„Aber es ist sein Haus. Glaubst du, er wird es nicht merken, wenn ihm eine ältere Frau und ein Kind den Weg zu seiner Geliebten versperren?“, fragte ihre Mutter verächtlich.

Oh ja, Archie würde ihm sofort auffallen, überlegte Arabella beklommen. „Das Haus ist sehr groß. Und er wird mich nicht allzu oft besuchen.“ Bei ihren Verhandlungen mit Dominic hatte sie vor allem an die Sicherheit ihres Sohnes gedacht und wie eine eiskalte, geschäftstüchtige Kurtisane ihre Bedingungen gestellt. „Wenn er zu mir kommt, müsst ihr euch einfach nur verstecken.“ Leichter gesagt als getan … wie schwierig es sein würde, die Wahrheit zu verbergen, wusste sie. Aber sie wollte ihre Mutter beruhigen, was ihr jedoch misslang.

„Offenbar hältst du dich für sehr schlau und bildest dir ein, du hättest alles unter Kontrolle. Wenn du dich da bloß nicht täuschst, Arabella! Hast du an die Dienstboten gedacht? Der Gentleman bezahlt ihre Gehälter. Deshalb sind sie ihm gegenüber zur Loyalität verpflichtet. Schon bei der ersten Gelegenheit werden sie hinter deinem Rücken dein Geheimnis ausplaudern. Dann wird er Archie und mich wegschicken.“

„Glaubst du, ich würde ohne euch in seinem Haus bleiben? Gewiss, er bezahlt die Dienstboten. Aber wenn ich meine Vereinbarung mit dem Gentleman für ungültig erkläre – und das muss ich tun, wenn sie ihm von Archie und dir erzählen – sind sie genauso arbeitslos wie ich. Also werde ich ihnen klarmachen, es sei auch in ihrem Interesse, das Geheimnis zu hüten.“

„Für solche Männer gibt es genug willige Frauen, und du solltest dich nicht in Illusionen wiegen“, mahnte Mrs Tatton. „Vielleicht bist du ihm nicht so wichtig, wie du es vermutest.“

Arabella lächelte bitter. „Ach Mama, ich bin ihm gar nicht wichtig. Aber er bezahlt das Haus und die Dienstboten für mich. Wenn ich ihn verlasse, wirft er sie hinaus. Und das wollen sie sicher vermeiden.“

„Hoffentlich hast du recht“, seufzte ihre Mutter. Bevor sie sich abwandte, sah Arabella Tränen auf ihren von Sorgen zerfurchten Wangen schimmern.

Mrs Tatton legte sich nicht mehr zu Archie auf die Matratze. Stattdessen trat sie vor den kalten, leeren Kamin. Tröstend legte Arabella ihr einen Arm um die Schultern. Aber ihre Mama riss sich los, als könnte sie die Berührung einer gefallenen Frau nicht ertragen.

Unglücklich ließ Arabella ihre Hand sinken, und die qualvolle Scham kostete sie einen weiteren Teil ihrer Seele. Was würde meine Mutter denken, wenn sie wüsste, dass ich in ein Bordell zurückkehren müsste, wenn ich das Arrangement abgelehnt hätte?

Und dass der Gentleman Dominic Furneaux heißt?

4. KAPITEL

Etwas mühsam zwang Dominic sich zur Aufmerksamkeit, während sein Sekretär die Korrespondenz durchsah, die sich zwischen ihnen auf dem Schreibtisch häufte.

„Die ‚Philanthropic Society‘ hat Sie zu einem Dinner im Juni eingeladen, Euer Gnaden“, erklärte Barclay und blickte vom Terminkalender des Dukes auf. „An diesem Abend hätten Sie Zeit.“

„Dann gehe ich hin.“ Dominic hörte die Feder des Sekretärs über Papier kratzen und sah, wie er den nächsten Brief ergriff. Aber er dachte nur an Arabella und die innere Unrast, die er seit ihrer letzten Begegnung verspürte.

„Hier teilt uns die ‚Royal Humane Society‘ mit, dass sie mehr Boote brauchen. Als einer der Schirmherren dieses Wohlfahrtsverbandes erhalten Sie einen umfassenden Bericht über …“

Barclays Erläuterungen verhallten. Zunächst hatte Dominic geglaubt, es wäre eine perfekte Lösung des Problems, Arabella zu seiner Geliebten zu machen. Aber im kalten Tageslicht, nach einer fast schlaflosen Nacht, zweifelte er daran. In langen finsteren Stunden hatte er sich immer wieder an die letzten Gespräche erinnert, Wort für Wort. Und nun konnte er ein wachsendes Unbehagen nicht verdrängen.

Sie hatte von „Überleben“ gesprochen – dieses Wort passte nicht zu ihrer Behauptung, die Arbeit in Mrs Silvers Haus habe ihr „gefallen“.

Barclay räusperte sich.

„Interessant“, bemerkte Dominic, obwohl er nicht zugehört hatte, was der Bericht enthielt. „Schicken Sie der Society hundert Pfund.“

„Sehr wohl, Euer Gnaden.“

„Ist das alles für heute?“ Dominic konnte seine Ungeduld kaum verhehlen. Jetzt wolle er endlich allein sein und nachdenken.

„In der Tat, Sir.“ Barclay blickte in den Terminkalender. „Abgesehen von zwei Verpflichtungen, an die ich Sie erinnern muss … Heute Nachmittag um zwei Uhr werden Sie im Somerset House erwartet. Dort findet ein Vortrag der Royal Society statt. Und morgen wird im Oberhaus über die Übernahme von Sir John Craddocks Kommando in Portugal durch Sir Arthur Wellesley debattiert.“

„Danke, Barclay.“

Nachdem der Sekretär die Bibliothek mit einem Stapel Papiere unter dem Arm verlassen hatte, lehnte Dominic sich in seinem Sessel zurück und konzentrierte seine Gedanken ungestört auf Arabella.

Zwei Tage lang flehte Mrs Tatton ihre Tochter an, sich nicht so schmachvoll zu entwürdigen, und betonte warnend, sobald es geschehen sei, würde es kein Zurück mehr geben. Sie weinte und klagte, brachte alle nur erdenklichen Gegenargumente vor. Aber nachdem das Entsetzen ein wenig verebbt und Arabella nicht von ihrem Entschluss abzubringen war, verstummte ihre Mutter. Anscheinend fügte sie sich in ein unvermeidliches Schicksal.

Erleichtert atmete Arabella auf und beobachtete, wie ihre Mama sich für die schwierige Zukunft wappnete.

Am Freitagmorgen hielt eine stattliche Kutsche vor der Pension in der Flower and Dean Street. Alle Fußgänger auf der Straße gafften sie an. Etwas so Prächtiges hatten sie hier nie zuvor gesehen. Aufgeregt starrte Archie durch das Fenster des Zimmers auf das Gespann hinab und fragte, ob er hinunterlaufen und sich die Pferde genauer anschauen dürfe.

Das versagte Arabella ihm schweren Herzens und zog ihn vom Fenster weg, weil sie fürchtete, Dominic könnte in der Kutsche sitzen.

„Bald, mein Liebling“, wisperte sie, „nicht heute.“

„Oh Mama!“, stöhnte der kleine Junge enttäuscht.

„Er muss wirklich steinreich sein“, meinte Mrs Tatton trocken und warf ihrer Tochter einen vernichtenden Blick zu.

Beschämt zuckte Arabella zusammen. Aber sie war froh, weil an dem schwarz lackierten Wagen wenigstens kein verräterisches Arlesford-Wappen prangte. Nun musste sie nur noch befürchten, ihre Mutter würde die eleganten grünen Livreen des Lakaien, des Reitknechts und des Kutschers wiedererkennen. Glücklicherweise ließ Mrs Tatton sich nichts dergleichen anmerken.

„Ich glaube, er erwartet mich im Haus“, erklärte Arabella, „und ich brauche etwas Zeit, um mit den Dienstboten zu reden. Entweder wird die Kutsche euch abholen, oder ich komme allein zurück.“

Autor

Deborah Hale

Deborah Hale konnte es nie richtig glauben, wenn ihre Eltern erzählten, sie hätte schon mit sieben Monaten zu sprechen begonnen. Aber wie auch immer, eines ist sicher: Deborah liebt es, Geschichten zu erzählen, seit sie denken kann.

In ihrer Jugend las sie unendlich viele Romane über das Meer und schrieb...

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