Historical Saison Band 41

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MISS AMANDAS SÜßE WEIHNACHTSKÜSSE von KELLY, CARLA
Festlicher Duft empfängt Ben Muir, als er den Teeladen der entzückenden Amanda Mathison betritt. Im Dorf heißt es, sie habe eine dunkle Vergangenheit. Doch nach einem zärtlichen Kuss von ihr ist Ben viel wichtiger, was die Zukunft bringt …

DER VISCOUNT UND DER MISTELZWEIG von LEE, GEORGIE
Erschrocken sieht Lily, dass auch Gregor St. James, der neue Viscount Marbrook, zum Fest auf Helkirk Place ist! Der Mann, der ihr früher das Herz gebrochen hat - und sie jetzt zärtlich zum Weihnachtstanz auffordert …

EIN COTTAGE IM WINTERWALD von LETHBRIDGE, ANN
Um ein bisschen Immergrün bittet die arme Cassandra den Diener des Anwesens. Wie nett, dass er sie sogar in den verschneiten Winterwald begleitet! Sie ahnt nicht, dass der Viscount persönlich ihr gerade einen Mistelzweig reicht …

SCHNEESTURM ÜBER HAYDON CASTLE von ROLLS, ELIZABETH
Heiraten Sie mich im neuen Jahr, Mylord!" Schockiert liest Lord Ashton den Brief von Madeleine Kirkby. An Liebe mit ihr hat er nie gedacht. Obwohl die Aussicht auf die Hochzeitsnacht verlockend ist …

DAS SCHÖNSTE GESCHENK FÜR DEN DUKE von MERRILL, CHRISTINE
Als Ehrenmann beschließt der Duke of Montford: Zu Weihnachten wird er das Eheversprechen erfüllen, das sein törichter Neffe der jungen Gwendolyn gab - und brach. Doch deren schöne Mutter Generva weckt das Verlangen des Adeligen …


  • Erscheinungstag 01.11.2016
  • Bandnummer 0041
  • ISBN / Artikelnummer 9783733765699
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Carla Kelly, Georgia Lee, Ann Lethbridge, Elizabeth Rolls, Christine Merill

HISTORICAL SAISON BAND 41

CARLA KELLY

Miss Amandas süße Weihnachtsküsse

Weihnachten steht vor der Tür – und vielleicht auch das Glück? Denn Amanda vermietet ein Pensionszimmer an den attraktiven Ben Muir, der in ihr eine nie gekannte Sehnsucht weckt …

GEORGIA LEE

Der Viscount und der Mistelzweig

Zwei Wünsche hat Viscount Marbrook zum Heiligen Abend: Er will sich bei Lily Rutherford für das entschuldigen, was er ihr einst angetan hat – und sie unter dem Mistelzweig küssen!

ANN LETHBRIDGE

Ein Cottage im Winterwald

Adam ertappt sich dabei, dass er ein Weihnachtslied singt. Es muss an Cassandra, seiner reizenden Begleitung im Winterwald, liegen! Und daran, dass bald das Fest der Liebe ist …

ELIZABETH ROLLS

Schneesturm über Haydon Castle

Heirat ist für Madeleine der letzte Ausweg, sonst ist das Anwesen verloren. Aber woher einen Mann nehmen? Da trifft sie ihre Jugendliebe Ashton Ravensfell wieder. Mutig macht sie dem Lord einen Antrag …

CHRISTINE MERILL

Das schönste Geschenk für den Duke

Ein Duke in ihrem bescheidenen Heim! Generva ist zwischen Aufregung und Empörung hin- und hergerissen. Der Duke of Montford mag ein Ehrenmann sein. Aber er ist auch ein Verführer!

1. KAPITEL

Sie haben doch sicher nicht erwartet, auf Walthan Manor zu wohnen, Master Muir?“

Was ist Seekadett Tommy Walthan doch für ein überheblicher, eingebildeter Kerl, dachte Navigations- und Segelmaster Benneit Muir, dabei ist er ein solch affiges Würstchen, dieser Sohn eines Earls. Gott bewahre!

„Ach? Ich nahm an, da ich Ihnen die Kunst der Navigation einpauken soll, sei es sinnvoll, nahebei zu sein.“ So musste man mit dem Bürschchen umgehen. Vergrößern würde sich die Chance des elenden Jungen, sein Leutnantsexamen im nächsten Jahr – das war 1811 – erfolgreich abzulegen, wohl durch noch so viel Unterricht nicht, doch Weihnachten stand bevor, und der Master hatte keine Pläne für die Festtage.

Um heim nach Schottland zu reisen, war die Zeit zu kurz, und es gab auch keinen Grund dafür. Die Mädchen, denen Ben vor Jahren nachgelaufen war, waren mittlerweile verheiratet und vermutlich mehrfache Mütter. Seine eigene Mutter war tot, sein Vater zu alt, um noch zu reisen, und seine Brüder lebten in Kanada.

Walthan stieß das aufreizende, hohe Kichern aus, das, wie Ben wusste, dessen Kameraden fast rasend machte, aber zumindest so unangenehm war, dass es sie antrieb, ihr Examen und damit Seiner Majestät Fregatte, die „Albemarle“, so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Selbst der Kapitän, ein erstaunlich geduldiger Mann, hatte schon angemerkt, dass wohl nichts als der Verlust seines Schiffes sie je von Tom Walthan befreien würde, denn kein anderer Kapitän wollte ihn unter seine Fittiche nehmen, so hochgeboren seine Familie auch war.

„Also auf Walthan wohnen – nein, Master Muir! Undenkbar, was meine Mama sagen würde, wenn Sie mit Ihrem Seesack aus der Postkutsche kletterten. Sie suchen sich besser eine Unterkunft im Dorf, Sir.“ Der Offiziersanwärter hüstelte vornehm hinter seinem Ärmel. „Sie wissen schon, eher unter Ihresgleichen.“

Im Dorf würde Ben wenigstens nicht Walthans grässliches Kichern ertragen müssen, trotzdem entschied er, die Segel nicht völlig zu streichen.

„Dann übernehmen Sie Unterkunft und Verpflegung?“ Ben durchbohrte den jungen Mann mit dem tödlichen Blick, den er sich sonst für das Achterdeck vorbehielt. Nicht, dass er es sich nicht hätte leisten können, selbst für sich zu sorgen, doch es reichte ihm gewaltig, dass er die Gesellschaft dieses unausgegorenen Seekadetten in der Postkutsche so lange hatte aushalten müssen.

Walthan stieß einen langgezogenen, affektierten Seufzer aus. „Wenn es sein muss …“

„Ich fürchte, ja. Wissen Sie, wo man in Venable unterkommen kann?“

„Wie sollte ich!“ Vage wedelte der junge Bursche in Richtung der klippenbewehrten Küste Devons. „Venable hat eine Poststation. Versuchen Sie es da.“

Ben seufzte, wenn auch bei Weitem nicht so theatralisch wie zuvor Tom Walthan, denn er neigte nicht zu Drama. Er hatte gehofft, ein ruhiges Plätzchen zu finden, wo er sich endlich bequem mit dem Buch „Die Wissenschaft der nautischen Mathematik“ zum Lesen niederlassen könnte. Nur waren Poststationen nicht als Orte der Stille berühmt.

„Außerdem muss ich daheim noch erklären, warum ich Sie hergebeten habe“, äußerte Walthan angelegentlich. „Als ich das letzte Mal an Mama schrieb, war ich so sicher, dass ich bestehen würde.“ Wieder hüstelte er vornehm. „Was ich ihr auch mitteilte.“

„Dieser Versuch auf Malta?“, fragte Ben. Er erinnerte sich, wie die Barkasse vier hoffnungsvolle Kadetten in den Hafen gebracht hatte, wo der Prüfungsausschuss in Gestalt von vier Kapitänen wartete. Zurückgekehrt waren, aufgeregt und voller Zukunftspläne, drei junge Männer, unter ihnen jedoch nicht Walthan. Die Enttäuschung des denkträgen Burschen teilten alle in der Offiziersmesse, die ihn gern von hinten gesehen hätten.

„Das waren hinterhältige Fragen“, erklärte Walthan mit der ganzen Wucht seiner gekränkten Würde.

Ben unterdrückte ein Lächeln. „Ah ja? Und Sie halten es nicht für notwendig, den Kurs von Australiens Küste nach Batavia berechnen zu können?“

„Ich, Sir, würde einen Nautiker haben, der das für mich erledigt“, sagte Walthan. „Sie zum Beispiel. Es ist Ihre Aufgabe, die Windverhältnisse und die Tiden zu kennen und den Kurs in die Karten einzuzeichnen.“

Hmm. Kaum lässt der Einfaltspinsel seinen Stand als Untergebener auf der „Albemarle“ hinter sich, wird er beinahe grob, dachte Ben. „Und wenn ich tot umfiele, wo blieben Sie dann? Aber genug davon. Ich will mein Bestes tun, Ihnen ein bisschen Mathematik einzutrichtern. Ich bleibe hier. Wir sehen uns morgen früh, vier Glasen, auf Walthan Manor. Zehn Uhr, Dummkopf“, fügte er erklärend hinzu, während er aus der Postkutsche stieg und seinen Seesack schulterte.

Und jetzt wohin? Ben stand vor dem Schankraum der Poststation und spähte durch die geöffnete Tür ins Innere, wo sich die Fahrgäste dicht drängten, voller Hoffnung auf einen Imbiss, ehe die Klänge des Posthorns sie zwangen, die Zehrung stehen zu lassen oder selbst zurückzubleiben. Sicherlich hatte der Ort Venable selbst mehr zu bieten.

Ben schaute umher, bemerkte in der Ferne ein Schild und schlug die Richtung ein, bis er die Worte entziffern konnte. „Mandy’s Rose“. Irgendein Dorfkünstler hatte eine Rosenknospe darauf gemalt. Darunter stand „Tee und gute Verpflegung“.

„Verpflegung“, sagte er laut. „Verpflegung.“ Wenn Fässer voller Nahrungsmittel in den Schiffsbauch gehievt wurden, sah er das Wort oft genug auf den Ladescheinen, die er gegenzeichnete – auch eine seiner Pflichten. Ach, zum Henker, ihm oblag die gesamte Organisation der Fregatte! Verpflegung. An Land klang das Wort merkwürdig.

„Aber gute Verpflegung heißt es hier“, sprach er vor sich hin und rückte seinen Seesack zurecht. Er bemühte sich um einen festen Gang, ohne die rollenden Hüftbewegungen, die ihm an Deck halfen, das Gleichgewicht zu halten. Schon seit achtzehn Jahren. An Land fühlte er sich unbeholfen, was nie ganz nachließ, dank Napoleon und dessen Träumen von der Weltherrschaft.

Eine Glocke ertönte, als er die Tür zum „Mandy’s Rose“ öffnete. Er zögerte. Die Gäste hier gehörten zur einer besseren Klasse als die in der umtriebigen Poststation. Dass das Ale im „Mandy’s Rose“ so gut war wie dort, bezweifelte er, doch der Duft der Speisen ließ ihn trotz der erstaunten Blicke gut gekleideter Ladys und Gentlemen seine aufkeimende Schüchternheit vergessen. Offensichtlich kamen die Fahrgäste der Postkutsche selten bis hierher.

Seine Verlegenheit steigerte sich, da sein Seesack sich im Umfang unverhältnismäßig zu vergrößern schien und ihm vorkam, als würde er nicht durch die Tür passen. Das war Unsinn, er besaß die nötigen Mittel, um einen Platz in jedem öffentlichen Lokal in Anspruch nehmen zu können. Er lehnte das Gepäckstück in eine Ecke und wünschte unversehens, das schäbige Ding würde unauffällig davonkrabbeln.

Die Speisenden hatten sich wieder ihren Tellern zugewandt, und da stand er nun, ein durchaus gut aussehendes männliches Exemplar, wenn er den lockenden Worten mandeläugiger, braunhäutiger Frauen in den exotischen Häfen glauben durfte. Schon fasste er den Türknauf, bereit zum Rückzug, und so weit wäre es auch gekommen, doch in dem Moment flog eine Schwingtür auf, die vermutlich in die Küche führte, und ein zierliches weibliches Wesen erschien, das mit dem Gewicht eines großen Tabletts kämpfte.

Im Leben hätte er sich nicht eingemischt, wäre ihr nicht eine Katze nachgelaufen, die ihr unter die Füße zu geraten drohte.

Zahllose Kampfhandlungen auf hoher See hatten Ben Muir darauf getrimmt, rasch zu reagieren. Ohne auch nur nachzudenken, sprang er hinzu und nahm der Frau das Tablett ab, ehe noch die Katze sie zum Stolpern bringen konnte. Zwei Schüsseln wackelten ein wenig, doch nichts schwappte über.

„Du liebe Güte, das war knapp!“, rief die junge Frau keuchend, packte das Katzentier, klemmte es sich unter den Arm und brachte es zurück in die Küche, während er dastand und sie anstarrte und sich fragte, ob das Mandy sei. Rosig genug war sie.

Kaum ein Wimpernschlag, und sie war zurück, noch rosiger als zuvor und ein wenig scheu dreinblickend, da sie versuchte, ihm das Tablett abzunehmen. Er wehrte ab.

„Nay, es ist zu schwer!“ Ah, damit erntete er ein Lächeln! Gott sei Dank, sie war nicht verärgert, weil er Unruhe in einen offensichtlich gepflegten Speiseraum gebracht hatte.

„Ich lade das Tablett auch wirklich oft zu voll“, sagte sie in dem lieblich-weichen Akzent Devons. Nur um ihr zu lauschen, hätte er diese Last noch Stunden tragen mögen. „Bleiben Sie einfach hier stehen, Sir, ich nehme Ihnen das gleich ab.“

Er gehorchte, zufrieden, sie anmutig von Tisch zu Tisch eilen zu sehen, während sie servierte, was ihm langsam das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Eine Berührung an der Schulter hier, ein leises Lachen dort, und er wusste, sie war mit den Gästen gut bekannt. So war es eben in kleinen Ortschaften. Er dachte an sein eigenes Dorf oben in Schottland und empfand plötzlich schmerzhaft, dass er schon zu lange fort gewesen war.

Und alles nur, weil er ein Tablett trug, das mit jedem Halt an einem der Tische leichter wurde. Einen Moment nur noch, und er hätte nichts mehr zu tun. Doch er wollte nicht wieder gehen.

„So!“, sagte sie und befreite ihn von seiner Last. „Vielen Dank.“

Er nickte ihr zu und steuerte die Tür an. Er gehörte nicht hierher.

Ohne würdelose Eile erreichte sie dennoch vor ihm die Tür und legte ihre Hand auf den Griff. „Nun sind Sie an der Reihe. Was wäre Ihnen recht?“

„Ich gehöre hier nicht her“, sagte er leise.

„Haben Sie Hunger?“

„Aye. Wer wohl nicht, wenn er riecht, wie gut es hier duftet.“

„Dann gehören Sie hierher.“

Es waren nicht nur ihre Worte. Ihre Augen schauten so freimütig und so freundlich. Er spürte, wie seine Anspannung nachließ. Die kleine Miss wollte, dass er sich in einem Speiselokal niederließ, das den Schankwirtschaften und Hafenkneipen weit überlegen war, die er sonst frequentierte. Eigentlich mochte er auch nicht wieder weggehen.

Sie führte ihn zu einem Tisch beim Fenster und fragte: „Möchten Sie die Speisekarte sehen?“

„Nicht nötig, bringen Sie mir einfach, wovon reichlich da ist“, bat er.

Er errötete wie eine zarte Maid, als sie die Stirn runzelte und sich näher zu ihm beugte. „Ich glaube, ich habe Sie nicht verstanden, Sir“, meinte sie, nicht weniger heftig errötend.

Er wiederholte die Worte, ein wenig missmutig, weil sein Dialekt nach all den Jahren, die er von Galloway schon fort war, immer noch zu hören war. Hoffnungsvoll sah er sie an, bereit, sich aus dem Staub zu machen, wenn sie ihn nun immer noch nicht verstand.

„Wir haben einen prächtigen Rinderbraten mit Soße und saftigen Eierkuchen, und das ist nicht alles.“

Zur Hölle, das klang einfach zu verlockend! Soße. Ob er sie bitten sollte, ihm gleich eine ganze Schale samt Löffel zu bringen? Aber nein, er widerstand.

„Und was möchten Sie trinken?“

„Wasser, und bitte sehr viel. Wir waren lange auf See, am Blockadegürtel.“

Sie nickte und ging zur Küche, blieb aber auf dem Weg dorthin kurz stehen, tätschelte einem Gast die Schulter und lachte warmherzig. Ben beobachtete sie fasziniert, denn wenn sie lachte, verengten ihre Augen sich, sodass sie wie kleine blaue Glasscherben blitzten. Es wirkte so heiter, dass er unwillkürlich lächeln musste.

An der Schwingtür verharrte sie und schaute zu ihm zurück. Ihr Haar war glatt, dunkel und, ähnlich wie sein eigenes, mit einem Band im Nacken zusammengehalten. Er hatte sie aus der Nähe gesehen, sodass er wusste, Sommersprossen zierten ihre Nase. Dass sie sich nach ihm umgeschaut hatte, berührte ihn und weckte in ihm die Frage, ob ihr wohl gefiel, was sie sah. Doch ehrlich, das konnte nicht sein. Er war erschöpft und wirkte ärmlich, wollte die Blockade einfach ausblenden, und wenn nur für ein paar Wochen. Sein Schiff würde für mindestens sechs Wochen im Trockendock sein, doch er war der Segelmaster, und für noch das Geringste an Seil, Segeltuch, Ballast und Ladung war er verantwortlich, nicht zu erwähnen die Kursberechnung auf See.

Er hatte eingewilligt – was nur hatte er sich dabei gedachte –, drei Wochen darauf zu verwenden, in Thomas Walthans leeres Hirn genug Mathematik zu stopfen, dass der sein Leutnantsexamen bestehen würde. Ob erfolgreich oder nicht, Ben musste sich in drei Wochen in Plymouth zur Stelle melden, wo die Pflicht rief. Er sah zum Fenster hinaus, wo hinter den Scheiben Schneeregen auf das Pflaster klatschte. Zumindest würde er sich gut genährt auf den Rückweg machen und mit der Erinnerung an ein Küchenmädchen, das seinen Blick erwidert hatte. Das war so ziemlich alles, was ein Mann in gefährlichen Zeiten verlangen konnte.

„Tante, drüben am Fenster sitzt ein ganz bemerkenswerter Mann“, erzählte Mandy. „Er trägt Uniform, aber ich weiß nicht, was für eine. Jedenfalls ist er kein gewöhnlicher Matrose. Er ist aus Schottland. Und er möchte essen, egal was, Hauptsache, es ist viel, und er möchte ganz viel Wasser. Und, Tantchen, im Nacken hat er eine sehr merkwürdige Tätowierung. Es sieht wie lauter kleine Pünktchen aus.“

„Allzu viele Tätowierungen sehen wir im ‚Mandy’s Rose‘ nicht“, meinte Tante Sal. „Auch Ohrringe?“

„Himmel, nein!“

Tante Sal lächelte auf die Soße nieder, die sie gerade umrührte, dann stellte sie den Topf auf einem Gitter ab, wandte sich dem Braten zu und setzte das Messer an, um ihn zu zerteilen. „Reicht das?“

„Gib noch ein Stück zu. Ja, so. Und viel Soße. Du hättest sehen sollen, wie er mit den Blicken der Soße folgte, die ich Pfarrer Winslow auffüllte. Und nimm den größten Eierkuchen. Den da. Haben wir nicht noch Karotten?“

„Langsam, Kind!“, mahnte Tante Sal, während sie ein großzügiges Stück Braten abschnitt und üppig mit Soße begoss. Zusätzlich füllte sie etwas in eine kleine Schale. Mandy wählte den größten Eierkuchen, setzte ihn auf einen zweiten Teller und trug beides samt Besteck in den Speiseraum.

Kurz hielt sie inne, um den Seemann zu betrachten. Das Kinn in die Hände gestützt, schaute er zum Fenster hinaus in das Schneetreiben: Er hatte seinen Zweispitz abgenommen, und das hübsche dunkle Rot seiner Haare bezeugte seinen Anspruch, ein Sohn Schottlands zu sein. Er war offensichtlich ein kraftvoller Mann, wirkte jedoch erschöpft. Er muss Schlimmes durchgemacht haben bei dieser Blockade, dachte Amanda, während sie zu seinem Tisch ging.

„Zuerst Eierkuchen mit Soße“, sagte sie, um ihn aus seinen Gedanken zu reißen. „Wasser bringe ich noch, und dann gibt es Braten mit Karotten. Ist das recht?“

„Mehr als Sie sich vorstellen können.“ Er steckte die Serviette in den Kragen seiner Uniform.

Sie stellte den Teller vor ihm ab und sah lächelte zu, wie er den würzigen Eierkuchen beinahe in Soße ertränkte. Er schnitt ein Stück ab und schob es sich in den Mund, und dann überzog ein glückseliger Ausdruck sein Gesicht. Nichts erfreut Mandy mehr, als einen Gast so strahlen zu sehen. Sie hätte sich gern zu ihm gesetzt und ihn ein paar Dinge gefragt, doch Tante Sal hatte ihr bessere Manieren beigebracht.

Oder? Ehe sie merkte, was sie tat, saß sie ihm gegenüber an dem kleinen Tisch. Verwundert über ihr dreistes Verhalten wollte sie sich wieder erheben, doch er bedeutete ihr mit einer Geste, sitzen zu bleiben, und sah sie fragend an.

„Vermutlich wundern Sie sich, wo mein Betragen geblieben ist“, sagte sie.

„Ich sah die Frage in Ihren Augen. Immer heraus damit, solange es Sie nicht stört, dass ich weiter esse. Auf See bin ich an Fragen gewöhnt.“

Er hatte einen reizenden Akzent, fand Mandy, und mittlerweile konnte sie ihn auch verstehen. Wie es innerhalb von zehn Minuten dazu gekommen war, wusste sie selbst nicht. „Sehen Sie, Sir – ich wundere mich über Ihre Uniform. Ein gewöhnlicher Matrose sind Sie nicht, das weiß ich, aber ich sehe auch kein Übermaß an Gold und Flitter auf Ihrem blauen Rock.“ Sie lächelte, was ihm aus irgendeinem Grund ebenfalls ein Lächeln entlockte. „Sind Sie ein Offizier der strengen Quäker und verpflichtet, eine schlichte Uniform zu tragen?“

Er ließ das Besteck sinken, warf den Kopf in den Nacken und lachte. Es war so ansteckend, dass Mandy dezent in sein Lachen einfiel.

„Oh, Gott“, sagte er endlich. „Das muss ich in der Offiziersmesse erzählen, Miss … Miss …?“

„Mandy Mathison.“

„Sie sind ‚Mandy’s Rose‘?“, fragte er, während er sich wieder seinem Eierkuchen zuwandte.

„Ja, das bin ich! Mein Name ist Amanda, aber Tante Sal hat mich immer nur Mandy gerufen. Als ich erst zwei war, riss ich ein paar Rosenblüten ab und musste dann wegen der Dornen weinen.“

„Eine frühzeitige Lektion – Rosen haben Dornen.“

„Wie wahr. Als sie dann das Haus hier mietete und das Speiselokal eröffnete, benannte sie es nach mir. Aber Sir, Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“

„Ich bin zu hungrig“, erwiderte er, und Mandy wusste, dass sie es mit ihrer Neugier übertrieben hatte. Abermals setzte sie zum Aufstehen an, und wieder bedeutete er ihr zu bleiben. „Ich bin Segelmaster auf der ‚Albemarle‘, einer Fünfundvierziger-Fregatte. Fünfundvierzig Kanonen“, erläuterte er, da er ihren ratlosen Blick sah. „Für uns Segelmaster gibt es erst seit drei Jahren eine Uniform.“ Er hob einen Arm. „Dies ist noch das erste Modell. Wie ich hörte, tragen die neueren jenen Flitter auf den Ärmeln.“

„Ich hätte das nicht so nennen sollen.“ Sie lächelte reuig. „Was genau sind Ihre Aufgaben?“

Er kaute, schluckte und sah umher. Rasch sprang Mandy auf, eilte in die Küche und kam mit einem Krug Wasser und einem Glas zurück.

„Das hatte ich vergessen“, meinte sie entschuldigend und schenkte ihm ein.

In einem Zug trank er das Glas leer und auch das zweite, nachdem sie ihm nachgefüllt hatte. Dann seufzte er befriedigt.

„Auf dem Schiff haben wir so schlechtes Wasser“, erklärte er, nahm das Besteck wieder auf und machte mit dem Eierkuchen kurzen Prozess.

Mandy kehrte inzwischen mit den leeren Tellern anderer Gäste zurück in die Küche. Als sie mit dem gewaltigen Stück Braten samt Soße und Karotten zurückkam, stellte sie alles mit elegantem Schwung vor ihn hin.

„Setzten Sie sich“, bat er, wobei er sich schon über den Rinderbraten hermachte. Nach ein paar Bissen leerte er ein weiteres Glas Wasser. „Ich trage die Verantwortung für Segel, Takelage, Verteilung der Fracht, Ballast … alles, was darauf Einfluss hat, obliegt mir.“

„Ich staune, dass Sie überhaupt das Schiff verlassen dürfen“, äußerte Mandy. Sie zögerte, und er sah sie fragend an. „Kehren Sie über Weihnachten heim?“

„Das ist zu weit, Mädel.“ Sich zurücklehnend, sah er sie prüfend an. „Kennen Sie sich in Venable gut aus?“

„Ich wohne hier schon mein ganzes Leben.“

„In einer sehr schwachen Minute willigte ich ein, Thomas Walthan die Mathematik für sein Leutnantsexamen einzupauken.“ Er dämpfte die Stimme. „Er ist ein aussichtsloser Fall, es wäre sein vierter Versuch. Ich bleibe drei Wochen, dann muss ich zurück nach Plymouth und mich jenen Aufgaben widmen, die ich erwähnte. Kennen Sie die Walthans?“

Oh, und wie sie sie kannte. Zwar würde sie den Segelmaster nach dieser Mahlzeit wohl nie wiedersehen, dennoch war sie der Meinung, er müsse nicht alles wissen. „Sie sind der Adel am Ort. Sein Vater ist Lord Kelso, ein Earl.“ Unwillkürlich lächelte sie. „Thomas besteht seine Prüfungen nicht?“

Der Master schüttelte den Kopf. „In dem Kopf, fürchte ich, steckt ein recht kleines Hirn. Aber mein Käpt’n wünscht, dass er besteht und sich umgehend von der ‚Albemarle‘ verabschiedet.“

Damit richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf sein Mahl, und sie begann, an dem letzten Tisch abzuräumen, dem des Pfarrers und seiner Gemahlin, die jeden Mittag hier speisten.

„Mir scheint, du flirtest mit ihm“, flüsterte die Pfarrersfrau, als Mandy der lieben alten Dame in den Mantel half, derweilen Pfarrer Winslow den Fremden lange musterte „Erinnere dich nur an all die Predigten über Seeleute!“

Mandy nickte. Hoffentlich hatte der Master das nicht gehört. Doch ein Blick zu ihm zeigte ihr das fröhliche Funkeln in seinen Augen. Er hatte es gehört.

„Ich werde mich sehr in Acht nehmen“, wisperte sie, während sie dem Paar die Tür öffnete.

Nun war der Gastraum leer, abgesehen von dem Segelmaster, der sich stetig durch sein Mahl arbeitete. Als er meinte, sie schaue nicht her, löffelte er den Rest der Soße auf.

„Kann ich Ihnen noch etwas bringen?“, fragte Mandy, entschlossen, nach ihrer Fragenkanonade nun endlich pure Professionalität walten zu lassen.

„Was gibt es denn noch in Ihrer Küche?“

„Nur noch eine süße Creme und meine Tante Sal“, antwortete sie, worüber er lachen musste.

„Wie wäre es dann mit der Creme? Mit Ihrer Tante kann ich vielleicht später plaudern.“

Sie kam rechtzeitig genug in die Küche, um ihre Tante von der Tür zurücktreten zu sehen.

„Ich war neugierig. Ein gut aussehender Bursche ist er, und diese Tätowierung ist wirklich seltsam“, flüsterte Tante Sal. „Futtern kann er jedenfalls!“

„Ich glaube, das Leben auf einem Blockadeschiff ist nicht mit etwas wie auch nur annähernd guter Küche gesegnet. Er möchte gern von der Creme.“

Die Tante teilte eine große Portion aus, überlegte kurz und füllte eine zweite, kleinere auf, die sie Mandy hinschob. „Du hast davon noch nichts gehabt, Kind. Wie mir scheint, hätte er nichts dagegen, wenn du dich zu ihm setztest.“

„Tantchen! Wenn ich an all deine Lektionen über …“ Sie senkte die Stimme. „… die Gefährlichkeit von Männern denke … und da kommst du und schlägst vor, ich soll mich zu ihm setzten?“

Tante Sal lächelte wehmütig, was Mandy überraschte, sodass sie sich fragte, ob es wohl im Leben ihrer Tante einmal einen Mann, einen Seemann, gegeben hatte. „Weihnachten ist nicht mehr fern, und wir sind im Krieg, Mandy“, sagte sie.

„Das stimmt. Ein wenig Freundlichkeit kann wohl nicht schaden.“

„Das denke ich auch. Habe ich dich also doch gut erzogen.“

Mit den Tellern beladen ging Mandy durch die Schwingtüren. Der Master zeigte mit betont höflicher Geste auf den Stuhl ihm gegenüber, und sie ließ sich nieder, unversehens ein wenig schüchtern.

„Schauen Sie, Miss Mathison, was der alte Herr da auch sagte, ich habe doch genug Benehmen, nicht zuerst mit dem Essen zu beginnen. Fangen Sie an.“

Was sie tat. Sie genoss den Hauch Rum, den ihre Tante stets an die Creme zu geben pflegte.

Auch er aß mit sichtlichem Vergnügen. Schließlich zog er die Serviette aus seinem Uniformkragen und legte die Gabel nieder.

„Ich habe da ein Problem, Miss Mathison …“, begann er.

„Die meisten Gäste sprechen mich mit Mandy an“, warf sie ein.

„Ich kenne Sie ja kaum eine Stunde … aber wenn Sie es möchten … Dann also Mandy. Ich bin übrigens Benneit Muir.“ Er wischte sich über den Mund. „Mein Problem ist folgendes: Thomas Walthan wollte nichts davon hören, mich auf Walthan Manor unterzubringen. Offensichtlich bin ich nicht hoch genug geboren.“ Er schmunzelte. „Na, bin ich ja auch nicht.“

Mandy seufzte. „Das sieht den Walthans ähnlich.“

„Ich könnte wohl in der Poststation ein Zimmer finden, aber ich wünsche mir vor allem Ruhe und Frieden, damit ich lesen kann. Wüssten Sie eine Bleibe für mich?“

„Venable hat kein …“, begann sie, brach dann ab. „Ich werde meine Tante fragen.“

Tante Sal war dabei, den restlichen Braten zu zerteilen. Mandy bereitete das schmutzige Geschirr zum Abwasch vor, da nun die Mittagszeit vorbei war.

„Tante, er heißt Benneit Muir, und er hat ein Problem.“

Die Tante schenkte ihr einen durchdringenden Blick. „Mandy, du warst noch nie so sehr an einem unserer Gäste interessiert.“

„Da, du sagst es – er ist ja auch interessant. Außerdem hast du mir praktisch nahegelegt, freundlich zu ihm zu sein, weil bald Weihnachten ist.“ Lange betrachtete sie ihre Tante, eine noch hübsche Frau, der Jugendblüte längst entwachsen, doch gütig, sehr gütig. „Er hat sich erboten, Thomas Walthan in Mathematik zu unterrichten, aber du kennst die Walthans – sie lassen ihn nicht im Herrenhaus wohnen.“

„Das wundert mich nicht.“ Tante Sal nahm ihre Schürze ab.

„Die Poststation ist zu laut, und er möchte Ruhe, um zu lesen, wenn er nicht unterrichtet. Wir haben oben dieses überzählige Zimmer. Was meinst du?“

„Ein Zimmer, in dem der Staub zollhoch liegt.“ Tante Sal lugte erneut durch den Türspalt. „Wir kennen den Mann nicht einmal.“

Mandy überlegte. Sie hatte nie um etwas gebeten und gebettelt, hauptsächlich, weil sie alles Nötige hatte. Jetzt würde sie nicht damit anfangen, doch der Segelmaster hatte etwas an sich, das ihr gefiel.

„Nein, wir kennen ihn nicht“, gab sie zögernd zu. „Vielleicht erdrosselt er uns in unseren Betten. Oder er saust über das Regenrohr davon und lässt uns mit der Rechnung sitzen.“

„Das ist doch zu bezweifeln, Liebes. Er will nur Ruhe und Frieden? Davon haben wir hier genug.“

Mandy sagte nichts mehr, sie kannte ihre Tante.

Nach kurzem Nachdenken äußerte Tante Sal: „Nach einer Stunde glaubst du ihm vertrauen zu können?“

„Nein.“ Mandy war zu Ehrlichkeit erzogen worden. „Aber du sagst immer, ich könnte Leute gut einschätzen. Und außerdem – hast du mich nicht gerade bestärkt?“

Tante Sal verschränkte die Arme vor der Brust. „Da hast du den Spieß aber schön herumgedreht! Erinnere mich daran, demnächst nicht mehr so weichherzig zu sein.“

„Vielleicht bin ich es ja auch leid, dass mein Halbbruder stets anderen gegenüber so herablassend ist“, sagte Mandy beklommen.

Tante Sal legte ihr die Hände auf die Schultern und neigte sich zu ihr. „Hätte ich das ‚Mandy’s Rose‘ in einem anderen Ort eröffnen sollen?“

„Nein, Tante. Hier ist auch unsere Heimat.“

Die Tante küsste Mandy auf die Stirn. „Gehen wir und reden mit dem Segelmaster.“

Da kommt die Abordnung, dachte Ben, als die Tür zur Küche aufschwang. Na, wenigstens bin ich noch nicht auf Grund gelaufen.

Das konnte nur Tante Sal sein. Mit einem Blick taxierte er sie, eine Frau, die die besten Jahre hinter sich hatte, doch immer noch lebhaft, und offensichtlich um ihre Nichte besorgt. Er wusste, vor ihm stand eine achtsame Ziehmutter. Höflich erhob er sich.

Sie trat näher und nickte ihm zu, was er mit einer kleinen Verbeugung erwiderte. Dann zog sie sich vom Nebentisch einen Stuhl heran, während Mandy sich an seinen Tisch setzte, ein Zeichen, auf wessen Seite sie stand. Da dachte er, dass er gewinnen könnte. In so etwas hatte er sich nie versucht – immerhin war seit achtzehn Jahren Krieg und er seit ebenso langer Zeit auf See.

„Ich bin Sal Mathison, Inhaberin dieses Lokals. Mandy sagte mir, dass Sie für ein paar Wochen eine ruhige Unterkunft suchen.“

„Aye. Ich bin Benneit Muir, Segelmaster der ‚Abemarle‘, die zurzeit in Plymouth im Trockendock liegt. Ich werde drei Wochen hier sein, um dem jungen Thomas Walthan etwas Mathematik ins Hirn zu hämmern. Eine undankbare Aufgabe, fürchte ich, und eine ruhige Unterkunft für den Abend würde ich wirklich zu schätzen wissen, um die Tage besser durchzustehen.“

„Bezahlt er Sie?“, fragte Sal Mathison.

„Tante!“, flüsterte Mandy.

„Nein, nein, das ist schon in Ordnung“, sagte er, im Stillen amüsiert. „Fünfzig Pfund zahlt er mir.“

Er sah der Dame an, dass der Wind trotz Mandys sachter Mahnung nicht zu seinen Gunsten blies. Ehrlichkeit erforderte noch mehr Ehrlichkeit.

„Ich bin müde, Miss Mathison. Oft bleibe ich einfach bei dem Schiff, weil ich da ständig gebraucht werde. Schottland ist zu weit, um für die Weihnachtstage heimzureisen, und außerdem … meine Mutter ist tot, und meine Brüder leben in Kanada. Ich … ich wollte mal etwas anderes. Und nein, ich brauche das Geld nicht. Ich zahle regelmäßig auf Brustein und Carters Bank in Plymouth ein.“ Das sollte Beweis genug sein für meine solide Finanzlage, selbst für eine vorsichtige Tante, dachte er.

„Es war grob zu fragen“, meinte Sal Mathison.

„Ich denke eher, besonnen“, entgegnete er, dann legte er die Hände bittend auf den Tisch. „Einfach ein ruhiges Fleckchen … aber ich weiß nicht einmal, ob Sie ein Zimmer zu vermieten haben.“

Die Hände im Schoß verschränkt, musterte Tante Sal ihn eine Weile, und er erwiderte den Blick. Diese Dame konnte man nicht einwickeln – nicht, dass er das Talent überhaupt besessen hätte. Er konnte seine Lage nur freimütig schildern.

„Ich trinke nicht, außer an Bord die tägliche Ration Grog. Ich rauche nicht, denn das ist auf einem Schiff gefährlich. Ich bleibe für mich. Ich bin, wie Sie mich hier vor sich sehen, und bei Gott, ich bin wirklich müde.“

Ohne hinzuschauen, wusste er, dass diese Worte Mandy erweichen würden, denn er besaß eine gute Menschenkenntnis, eine wertvolle Eigenschaft für einen Master. Hier allerdings musste er Sal Mathison überzeugen.

Ihre Miene wurde sanfter. „Das Zimmer erstickt in Staub. Es gehörte früher meiner Mutter, Mandys Großmama.“ Sie zögerte. Endlich nickte sie, und er wusste, er hatte gewonnen. „Zwei Schilling die Woche – einschließlich der Mahlzeiten – im Voraus zu zahlen.“

Seit langer Zeit richtig froh, fischte er sechs Schilling aus seiner Tasche und reichte sie ihr. „Staub wischen und saubermachen kann ich selbst, Miss Mathison.“

„Das überlasse ich Ihnen auch. Mandy mag helfen. Ich muss mich um das Abendessen kümmern.“ Sie stand auf, und er tat es ihr gleich. Sie winkte ihm, ihr in die Küche zu folgen.

„Mandy, geh hinauf und öffne die Fenster. Es muss gelüftet werden.“

Mandy gehorchte sofort. Neugierig blickte er ihr nach, wie sie im Begriff war, durch eine Tür zu treten, hinter der es zum Obergeschoss gehen musste. Und da war es wieder – einen winzigen Augenblick schaute sie zurück zu ihm. Es war, als fiele ihm eine Last von den Schultern. Doch als er Miss Mathison ansah, wusste er, was kommen würde.

„Sie werden meiner Nichte auf gar keinen Fall zu nahe treten, Master Muir“, ließ sie ihn wissen. „Sie ist mein kostbarster Schatz. Sie verstehen mich?“

„Ja.“

„Und jetzt kommen Sie mit. Ich hole Besen und Kehrschaufel.“

Mit besagter Ausrüstung bewaffnet eilte er nach oben, übergab sie Mandy mit einer ritterlichen Verbeugung und eilte zurück, um Lappen, Mopp und Eimer zu holen. Mandy hatte ihr Haar mit einem Tuch zurückgebunden, sodass ihr ebenmäßiges Gesichts zur Geltung kam. Er sah, sie war nicht mehr in der ersten Blüte der Jugend, doch sie strahlte eine wunderbare Frische aus. Anderen Tags mochte ihn der Gedanke an all seine – Bonaparte zu Dank – verpassten Gelegenheiten mit Missmut erfüllt haben. Jetzt gerade fühlte er sich ein wenig jünger, als er eigentlich war. Vielleicht durfte er solch angenehme Empfindungen der Weihnachtszeit zuschreiben.

Aber da stand das Mädchen, den Besen in der Hand und schürzte die Lippen. „Äh, ich habe für das Zimmer sechs Schilling bezahlt“, scherzte er, sodass sie doch lachen musste.

„Master Muir …“, begann sie.

„Ben für Sie, wenn Sie Mandy sind.“

„Also gut, Sir.“

„Ben.“

„Ben! Wir teilen uns die Arbeit.“

Sie nahm sich das Nachttischchen vor, er widmete sich der Kommode. Danach entledigte er sich seiner Uniformjacke und der Krawatte, ehe er sich über ein weiteres Möbelstück hermachte.

„Warum haben Sie dieses schöne Zimmer nicht schon längst vermietet?“, erkundigte er sich.

„Tante und ich kommen auch ohne Untermieter ganz gut durch. Außerdem ist es erst zwei Jahre her, dass Großmama starb.“ Mandy unterbrach ihre Arbeit und strich sanft über das Kopfteil des Bettes. „Sie war so lieb.“

Als sie sich wieder ans Abstauben machte, begann sie leise ein weihnachtliches Lied vor sich hin zu pfeifen, was Ben ganz reizend fand. Lachend sagte sie: „Stimmen Sie doch ein.“

Zu seinem eigenen Staunen tat er genau das, und als sie den letzten Vers sogar sang, mit hübschem klaren Sopran, sang er das ‚la-la-la‘ begeistert mit. „Kennen Sie ‚The Boar’s Head‘?“, fragte er.

Sie kannte es, und sie stimmten es an und endeten ihr Werk genau auf den letzten Noten dieses Liedes.

„Wir haben offensichtlich Talent“, meinte sie vergnügt, sodass er sich lachend auf das Bett sinken ließ. „Runter hier“, verlangte sie, immer noch mit freudestrahlendem Blick. „Die staubigen Überzüge müssen nach unten gebracht werden.“

Er wartete, bis sie mit frischen Bezügen zurückkam, und gemeinsam bezogen sie das Bett.

„Tante Sal findet, wir sind zu laut.“ Mandy schob ein Kissen in einen Bezug mit zarter Stickerei darauf, wie er es bisher in keinem Gasthaus vorgefunden hatte. „Ich sagte ihr, dass Sie morgen Abend mit mir zur Chorprobe in die Kirche kommen wollen.“ Sie spähte über das Kissen hinweg zu ihm, ihre Augen ganz klein, was ihm sagte, das ein weiterer Lachanfall nicht fern war. „Machen Sie’s? Ja? Unser Chor braucht im schlimmsten Fall noch einen Bariton.“ Sie klopfte das Kissen zurecht und legte es aufs Bett. „Wenn ich es recht bedenke, ist unser ganzer Chor eher der schlimmste Fall.“

„Es wird mir eine Ehre sein, Sie zur Kirche zu begleiten.“ Und das meinte er wortwörtlich so.

Spielerisch knickste sie, und ihr Blick verharrte auf seinem Nacken, von dem man nun, ohne die Krawatte, mehr Haut sah. Er wusste, sie war zu höflich, um zu fragen. Daher wies er auf die blauen Pünktchen, die unter dem Ohr ansetzten und sich um seinen Nacken zogen.

„Das ist vom Schießpulver – wenn man den Kanonen zu nahe kommt“, erklärte er.

„Das tun Sie hoffentlich nie wieder“, meinte sie. Es rührte ihn, dass sie sich wegen einer Verletzung sorgte, die schon ein Jahrzehnt alt war.

„Es passierte, als wir eine französische Fregatte enterten. Seitdem höre ich auf diesem Ohr auch nicht mehr so gut, und dieses blaue Muster bedeckt auch große Teile meines Rückens.“

Als sie sanft errötete, wusste er, er hätte nach dem tauben Ohr schweigen sollen.

„Ich habe mir mal den Finger in der Tür geklemmt“, erzählte sie. „Wir haben, glaube ich, sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht in unserem Leben.“

„Das denke ich auch. Aber jetzt rüste ich mich für ein Weihnachtsfest an Land.“

„Das können wir bewerkstelligen“, versicherte sie ihm, offensichtlich froh, das Thema zu wechseln, was er irgendwie liebenswert fand. „Helfen Sie mir jetzt mit dem Oberbett?“

Nachdem sie noch für frische Handtücher, Wasserkrug und Waschschüssel gesorgt hatte, verkündete sie, das Zimmer sei bereit. „Unten wartet noch ihr Seesack, Master Muir, und ich gehe nun besser beim Abendbrot helfen: Wir essen um sechs Uhr.“

Er folgte ihr, holte sein Gepäck und verschwand damit nach oben. Als er die Tür öffnete und sich umsah, fühlte er sich irgendwie unzufrieden. Ohne Mandy war das Zimmer leer.

„Ohne sie fehlt frische Luft“, sagte er laut, „für sechs Schilling sollte die inklusive sein.“

2. KAPITEL

Mandy, du träumst“, bemerkte Tante Sal während einer winzigen Pause in der geschäftigen Routine der Dinnerzeit, in der noch viel mehr zu tun war als sonst, da nicht nur der Pfarrer samt Gattin, sondern dazu die halbe Pfarrgemeinde den Weg zum „Mandy’s Rose“ gefunden hatte.

„Aber nein“, antwortete sie mit ihrer üblichen Munterkeit. „Es ist nur so, Tante Sal – wann hatten wir je einen so interessanten Gast wie Master Muir?“

„Ich kann mich nicht erinnern.“ Tante Sal knuffte ihre Nichte sanft. „Die Schäferpastete an Tisch vier.“

Mandy servierte den Teller wie angewiesen und stellte erfreut fest, dass Pfarrer Winslow zwei Tische zusammengerückt hatte, um den Segelmaster in die Gesellschaft einzubeziehen. Die gesamte Aufmerksamkeit gehörte Ben Muir, und die Gemeindemitglieder wollten Seefahrtgeschichten von ihm hören. Sie wäre gern geblieben, um auch zu lauschen.

Mit dem leeren Tablett in der Hand verharrte sie kurz, ein wenig stolz, dass der Master ihr Untermieter war. Seine Uniform war abgetragen, doch er war schmuck und sein Haar säuberlich in einem altmodischen Zopf zusammengefasst. Er hatte eine gerade Nase und seine Wimpern waren doppelt so lang wie ihre eigenen …

Aber tatenlos stehen und träumen brachte den Gästen keine Mahlzeit auf den Tisch. Sie huschte in die Küche und widmete sich ihren Pflichten.

Als die Türglocke hinter dem letzten Gast verklang, taten Mandy die Füße weh, und sie wünschte nur noch, sich endlich selbst zum Essen niederzusetzen.

Tante Sal half ihr, in der Gaststube die Tische abzuräumen. „Das war für uns ein guter Abend“, frohlockte sie, während sie die Teller in das Abwaschbecken stellte. „Mandy, geh und sammle die Tischdecken ein.“

Mandy tat, wie ihr geheißen, war aber ein wenig verstimmt, denn der Master musste geradewegs sein Zimmer aufgesucht haben. Doch als sie eben das Leinenzeug zusammengelegt hatte, läutete die Türglocke, und Ben Muir kam herein.

„Ich hätte Ihnen geholfen, aber der Pfarrer wollte mir zeigen, wo St. Luke ist.“

„Die Kirche ist kaum zu verfehlen. Es ist das größte Bauwerk im Ort.“

„Er rechnet mit mir – und auch mit Ihnen – morgen Abend um sieben. Ich sagte, ich würde der Bitte nachkommen. Und jetzt, kann ich noch etwas für Sie tun?“

Verdutzt ertappte Mandy sich bei der Vorstellung, dass er sie vielleicht küssen könnte, verdrängte diesen vorwitzigen Gedanken aber hastig. „Für heute habe ich meine Arbeit getan. Jetzt bin ich mit Essen an der Reihe.“

Na, fein, schick ihn weg! schalt sie sich, und hoffte, er werde ihre knappen Worte ignorieren. Doch warum wünschte sie das? War es ihr nicht einerlei?

„Wäre Ihnen etwas Gesellschaft recht?“, fragte er. „Zwar ruft ‚Die Wissenschaft der nautischen Mathematik‘, aber nicht so laut, wie ich erwartet hätte.“

„Mich würde sie im Leben nicht rufen“, sagte sie ehrlich, worüber er lachen musste.

„Dann danken Sie Gott, dass es mein Los ist und nicht Ihres. Glauben Sie, Ihre Tante hätte noch etwas Nachtisch übrig?“

„Sehr wahrscheinlich. Und ich habe immer gern Gesellschaft, falls es Ihnen nichts ausmacht, in der Küche zu sitzen.“

„Nie.“ Er stieß die Schwingtüren für sie auf. „Ich kenne nur die Küche, Mandy. Mein Vater war Fischer in einem Ort, nicht größer als Venable.“

Was nun? fragte Mandy sich. „Ich könnte die Zimperliche spielen und nur ein Häppchen essen, aber dann würde ich nicht satt“, platzte sie heraus. Warum erzählte sie ihm das nur?

„Und dann würde ich Sie für höchst albern halten, was Sie, wie ich gewiss glaube, nicht sind“, entgegnete er. „Greifen Sie zu, Amanda, und ordentlich“, befahl er in seinem besten Befehlston.

Ohne weiter zu zögern, aß sie und nickte dankbar, als er ihr das Brot hinschob. Tante Sal brachte Ben den Rest des Desserts, und er schwang seinen Löffel, froh, sich mit gutem Essen sättigen zu können, das nicht aus lange gelagerten Fässern und Bottichen kam, wie er zwischen zwei Mundvoll erklärte.

Als Mandy den ersten Hunger gestillt hatte, entschied sie, trotz seines Rangs von weiteren Förmlichkeiten abzusehen. Natürlich nur, weil sie ihn interessant fand.

„Sie nennen mich Amanda“, meinte sie. „Da sind Sie der Einzige.“

„Mandy ist hübsch, aber ich mag Amanda.“

„Also, dann …“

Mit fragendem Blick lockerte er seine Krawatte. „Sie haben doch nichts dagegen?“

„Meine Güte, nein! Und ich ziehe meine Schuhe aus, schließlich war ich den ganzen Tag auf den Beinen.“

„Berichten Sie mir von den Walthans“, bat er. „Ich kenne diesen unbegabten Kadetten seit drei Jahren. Aber wie ist die Familie? Ich meine, ich war ihm nicht gut genug, um bei ihnen zu wohnen. Sind die alle so?“

Was sage ich nun? Ratlos schaute Mandy zu ihrer Tante am Spülbecken, die sich zu ihnen umgedreht hatte. „Tante Sal?“

„Mandy und Thomas sind Halbgeschwister“, verkündete Tante Sal und wandte sich wieder ihrer Aufgabe zu. „Nun bist du dran, Mandy.“

Mandy zweifelte, dass der Master je derart verblüfft worden war. Mit großen Augen starrte er sie an.

„Das finde ich …“

„… schwer zu glauben?“, endete sie. „Da ist eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit.“

Fast musste sie über seine Miene lachen, so hoch zog er die Brauen. Tante Sal stellte ihm ein Glas hin und füllte es aus einer Flasche, die sie, wie Mandy wusste, für solche Überraschungen aufbewahrte.

„Das brauchen Sie jetzt“, sagte Tante Sal trocken.

„Eine hässliche Geschichte“, sagte Mandy. Die sie nie zuvor erzählt hatte, da jeder in Venable sie sowieso kannte. Ausgenommen Thomas Walthan und seine Schwester Violet. Während Mandy nun schilderte, wie ihre Mutter und der jetzige Lord Kelso sich ineinander verliebt hatten, suchte sie verstohlen in Bens Gesicht nach Ablehnung, fand jedoch nur Interesse.

„Beide waren sie erst achtzehn. Sie brannten durch nach Gretna Green und wurden über dem Amboss getraut. Der alte Lord Kelso war rasend vor Wut, und damit hatte es sich. Die Ehe wurde prompt annulliert, doch zu dem Zeitpunkt …“ Er war ein erwachsener Mann, er konnte es sich ausrechnen.

„Ah, ja …“ Er zwirbelte den Stiel des Glases zwischen den Fingern, „und da sind Sie nun, weder Fisch noch Fleisch, nicht wahr?“

So hatte es noch nie jemand ausgedrückt, aber er hatte ja recht. „Wahrscheinlich wäre ich auf Walthan Manor noch weniger willkommen als Sie“, sagte sie. „Meine Mutter starb bei meiner Geburt, und so war es meiner allerliebsten Tante hier überlassen, mich aufzuziehen.“

„Das ist Ihnen wunderbar gelungen.“ Ben verneigte sich leicht in Richtung der Tante. Mandy wurde ganz warm ums Herz.

„Das denke ich auch!“ Tante Sal setzte sich zu ihnen an den Tisch. „Sie ist mein Schatz.“ Sacht streichelte sie Mandys Wange: „Lass mich weitererzählen, Kind. Der alte Lord Kelso gab mir eine kleine Summe Geldes, die ich vermutlich hätte nutzen sollen, um mit seiner Enkelin in einen anderen Ort zu verschwinden. Stattdessen blieb ich, mietete dieses Haus und eröffnete ein Speiselokal.“

„War Lord Kelso wütend?“, fragte Ben.

„Außer sich war er!“ Tante Sals Augen verdunkelten sich. Sie griff nach Mandys Hand. „Im Laufe der Jahre wurde er zugänglicher, vor allem, da James, der jetzige Lord Kelso, im Jahr darauf eine bessere Partie machte – mit einem Drachen von Frau, die ihm zwei Kinder schenkte. Thomas …“

„Den beschränkten Kadetten.“ Bens Augen funkelten.

„Und Violet, die nun schon die zweite Saison in London mitgemacht hat, ohne auch nur einen Antrag zu bekommen“, trumpfte Tante Sal auf. Dann verzog sie das Gesicht. „Ich sollte nicht so gemein sein, aber wenn es meine Mandy gewesen wäre …“

„Das Leben kann einem wehtun“, meinte Ben.

„Nur wenn man es sich gefallen lässt“, sagte Mandy und fuhr fort: „Der alte Lord Kelso wurde wirklich milder. Dann und wann kam er sogar her zum Tee, und zu Ostern wegen Tante Sals berühmter Rosinenbrötchen.“

„Und auf einen heißen Apfelwein, und Weihnachten wegen des Dattelpuddings“, ergänzte Tante Sal. Sie blickte zu Mandy. „Als er vor zwei Jahren starb, haben wir ihn tatsächlich vermisst.“

Mandy nickte. Es war seltsam gewesen, echte Trauer zu empfinden, ohne sie offiziell zeigen zu dürfen. „Ich … ich war sogar versucht, dem neuen Lord Kelso – also meinem Vater – mein Mitgefühl auszusprechen, aber er hätte ja nur gelacht. Trotzdem fehlt mir der alte Lord“, erklärte sie schlicht.

Sie stand auf und räumte ihren und Bens Teller ab. „Es ist spät, Sir, und im ‚Mandy’s Rose‘ müssen wir früh aufstehen. Ich bringe Ihnen noch einen Krug heißes Wasser aufs Zimmer.“

„Den trage ich schon selbst und Ihren dazu“, meinte der Master. „Ich muss erst am Vormittag um zehn Uhr im Herrenhaus sein.“ Er verneigte sich vor ihr. „Nach Jahren auf See ist das nachgerade ausschweifend.“

„Ich denke, Sie haben es sich verdient.“ Sie goss heißes Wasser in zwei Krüge.

Die Treppe hinauf ging sie voraus, wie es sich gehörte, doch sie war befangen, da sie wusste, dass er ihre Knöchel sehen würde, wenn sie ihre Röcke raffte, um nicht zu stolpern. Aber ich habe hübsche Knöchel, dachte sie und fragte sich, ob er es bemerken würde.

Sie hatte einen Leuchter mitgenommen, und so bat er, sie möge zuerst in ihr Zimmer gehen, wohin er ihr folgte und den einen Krug auf ihrem Waschtisch abstellte. Sie zündete die Kerze auf ihrem Nachtschränkchen an und händigte ihm dann den Leuchter aus, abermals befangen.

„Vielen Dank.“

„Wofür?“, fragte er, mit seinem so erfreulich humorvollen Ausdruck in den Augen.

„Dass Sie zum ‚Mandy’s Rose‘ gekommen sind.“ Das war ehrlich, kam ihr jedoch ein wenig gewagt vor. „Wir werden Ihnen ein fröhliches Fest bereiten.“

„Das merke ich schon jetzt“, sagte er, während er ihre Tür schloss.

In dieser Nacht lag sie lange wach. Sie fragte sich, wie weit über seinen Rücken hinab sich wohl jene blauen Punkte zogen.

Als Ben am nächsten Morgen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, bequem ausgestreckt in seinem Bett lag, schien ihm das Geheimnis des Lebens das richtige Thema, um Luftschlösser zu bauen. „Nautische Mathematik“ ruhte immer noch ungeöffnet auf seinem Nachtschränkchen. Er ließ seine Gedanken schweifen. Wie wäre es wohl, wenn Amanda Mathison, den Kopf auf seiner Brust, sich an seine Seite schmiegte?

Natürlich hatten schon Frauen so neben ihm gelegen, die jedoch gingen, nachdem er sie bezahlt hatte. Wie wäre es wohl, eine Ehefrau zu haben, die nach dem Liebesspiel bei ihm blieb? Eine Ehefrau mit ihm am Frühstückstisch, die er bewundernd betrachten könnte. Eine Ehefrau, die sein Baby in sich trüge. Ihr Kind tadelte und es dann an sich zöge und küsste. Die er kosen und streicheln könnte. Die ihm, wenn nötig, auch die Leviten läse. Die ihm die Tür öffnete, wenn er an einem verschneiten Abend nach langer Zeit auf See heimkehrte.

Es war schwer, sich auszumalen, ihm könne tatsächlich ein derartiges Leben vergönnt sein. Aber er konnte nicht aufhören, daran zu denken und brach infolgedessen nach dem Frühstück in ungewohnt mürrischer Stimmung auf. An der Tür zur Gaststube lüpfte er vor Mandy den Hut, und ihn überkam die höchst wundersame Ahnung, dass sie, wenn er nun zurückschaute, immer noch in der geöffneten Tür stehen würde. Er widerstand dem Drang, sich umzuschauen, denn schließlich war er ein erwachsener Mann. Erst ganz am Ende der Straße wandte er den Kopf, und da war sie, immer noch an der Tür. Mit grandioser Geste schwenkte er seinen Hut und sah, dass sie die Hand vor den Mund presste. Also lachte sie!

„Ich werde langsam zum Narren“, sprach er vor sich hin. Er dachte an seinen seit Jahren feststehenden Entschluss, keiner Frau das Leben mit einem Mann zuzumuten, der immer auf See war. Da der Krieg nicht enden wollte, hatte er immer seltener überhaupt eine Ehe erwogen, denn welche Frau würde bei vollem Verstand einen Seemann heiraten? Er kannte keine. Seine ungewohnten Gedankengänge musste er wohl der festlichen Jahreszeit zuschreiben. Er wusste, es würde nichts daraus werden.

Der Gedanke beschäftigte ihn, während er durch den Ort und die lange Auffahrt entlangstapfte, die, von einer Allee jetzt kahler Bäume gesäumt, zu einem ansehnlichen dreistöckigen Herrenhaus mit sichelförmigem, kiesbestreutem Vorplatz führte.

Ein Butler ließ ihn ein; nach einer nur angedeuteten Verbeugung geleitete er ihn direkt in eine Bibliothek. Welch großartiges Gebäude dies doch war! Weit jenseits allem, was ein Segelmaster der Royal Navy sich je leisten könnte. Mit echter Freude blickte er sich um, sog den Duft nach altem Leder und Papier ein. Er legte seine Karten auf einem Tisch ab, holte Tabellen, Kompass und Winkelmesser hervor, überzeugt, dass Tom Walthan nicht daran gedacht hatte, sein eigenes Zubehör vom Schiff mitzubringen.

Statt des Butlers kam nun ein Hausmädchen herein, das ein Teetablett in den Händen trug. Sie setzte es auf einem der Tische ab und wollte hinaushuschen, doch er bedeutete ihr, ihm seinen Umhang und Dreispitz abzunehmen, was dem Butler wohl nicht eingefallen war.

Dann traf ihn plötzlich die Erkenntnis, dass man ihn in diesem Herrenhaus, vermutlich durch Bemerkungen des kleinen Laffen, für einen Seemann mit kaum höherem Dienstgrad als dem eines einfachen Matrosen hielt. Eine demütigende Vorstellung. Vielleicht brauchte er ja diese Brüskierung! Man konnte sich an Ehrerbietung gewöhnen, bis man vergaß, dass man nur ein Segelmaster war und kein Earl.

Die Zeit zog sich hin, und die Uhr schlug elf, bevor Thomas Walthan auftauchte, schlecht gelaunt und verdrossen. Dem elenden Jüngling war offensichtlich entfallen, wie sehr er den Segelmaster bestürmt und angefleht hatte, ihm die dringend benötigte Nachhilfe zu geben. Und je eher sie begannen, desto eher würde er …

Desto eher was? Master Ben Muir wurde bewusst, dass er eigentlich nur eines wollte: geradewegs zurück zum „Mandy’s Rose“, in Amanda Mathisons Nähe sitzen, sie ansehen und dabei vor sich hinträumen. Aber das war ihm eben nicht bestimmt! Ben war schon immer Realist gewesen.

„Setzen Sie sich, Walthan“, knurrte er. „Sie kommen eine Stunde zu spät. Fangen wir endlich an.“

Gegen vier Uhr, als langsam die Dunkelheit hereinbrach, begann Mandy nach dem Segelmaster Ausschau zu halten, wonach ihr eigentlich schon eine ganze Weile der Sinn gestanden hatte. Nur war ihr nicht eine einzige Ausrede eingefallen, um in den Gastraum zu gehen. Dass nur der einen Blick auf die Straße gestattete, war wirklich ein Kreuz, fand sie plötzlich.

Ganz prosaisch hatte Tante Sal ihr nach dem Frühstück aufgetragen, das Zimmer des Masters in Ordnung zu bringen. Vor der geschlossenen Tür hatte Mandy scheu gezögert – völlig grundlos, da sie wusste, dass er fort war.

Das Zimmer war schon aufgeräumt. Alles lag präzise an Ort und Stelle, nichts am falschen Platz, bis hin zu dem einschüchternden Buch auf dem Nachtschrank. Sie betrachtete es und bemerkte kopfschüttelnd, dass er es noch nicht einmal aufgeschnitten hatte. Ich verschwende seine Zeit, dachte sie, brachte sich dann in Erinnerung, dass sie ihn schließlich nicht gezwungen hatten, ihr gestern Abend beim Essen Gesellschaft zu leisten. Es schien ihm ehrlich Spaß gemacht zu haben.

Mandy trödelte im Zimmer herum, schnupperte an seiner stark duftenden Zitronenseife, fragte sich, ob er auf dem Rücken oder auf der Seite schlief. Ärgerlich über sich selbst, fegte sie den Boden, zog die Tür hinter sich zu und beschloss, nicht mehr an den Segelmaster zu denken, an diesen Mann, den sie kaum kannte.

Dieser Beschluss hielt bis vier Uhr. Was ist mit den verflixten Walthans los? fragte sie sich nun mit verstimmter Miene, was ihr einen tadelnden Blick von Tante Sal einbrachte.

Zu ihrer Erleichterung kam einer der regelmäßigen Dinnergäste früher als sonst, so konnte Mandy im Speiseraum bleiben. Nie zuvor hatte ein Gast so viel Aufmerksamkeit von ihr erfahren. Sie schenkte dem alten Herrn die zweite Tasse Tee ein, als sie durchs Fenster den Segelmaster näher kommen sah.

Er schritt zielstrebig dahin, mit jenem wiegenden Gang, der ihn wahrscheinlich auf ewig als Seemann kennzeichnen würde. Und nein, sie bildete sich nicht nur ein, dass er rascher ging, je näher er dem „Mandy’s Rose“ kam.

„Gib acht, Mandy“, mahnte ihr Gast. „Ich will keinen Tee in der Untertasse.“

Abrupt hob sie die Kanne und lächelte Mr. Cleverly reuevoll – wie sie hoffte – an.

„Wo ist dein feiner Bursche mit dem blauen Hals?“, fragte er.

Mein Bursche?“, fragte sie verwirrt. „Was meinen Sie denn nur? Oh, er ist nicht mein …“ Sie brach ab, als die Türglocke ertönte und jener Bursche mit dem blauen Hals in die Gaststube trat.

Er wirkte wie ein Mann mit Kopfweh: Seine Stirn war gefurcht, und seine Schultern hingen ein wenig herab. Er lächelte sie an, doch es war ein müdes Lächeln. Wortlos bedeutete sie ihm, ihr Hut und Umhang zu reichen, was er tief aufseufzend tat.

„Ein langer Tag …“ Mehr sagte er nicht, nickte ihr jedoch zu und steuerte dann die Treppe an. Im nächsten Moment hörte sie, wie er die Tür seines Zimmers schloss.

Ich würde nie freiwillig einen Tag auf Walthan Manor zubringen“, verkündete Mr. Cleverly.

Nachdem er gegangen war, räumte Mandy den Tisch ab und ging in die Küche, wo Tante Sal sie mit einem prüfenden Blick bedachte und dann fragte, was los sei.

„Ich glaube, Ben hat Kopfweh. Es muss ein grässlicher Tag gewesen sein.“

„Du kannst ihm etwas …“ Tante Sal schwieg. Sie hörten Schritte auf der Treppe.

Bitte komm einfach in die Küche, flehte Mandy stumm und seufzte, als sich nach leisem Klopfen die Küchentür öffnete.

Er sah Mandy an, dann Tante Sal, dann wieder Mandy. „Ob Sie wohl ein Mittel gegen Kopfweh für mich hätten?“, bat er.

Tante Sal eilte zu einem Bord, auf dem sie diverse Hausmittel verwahrte, während Mandy Ben beim Arm nahm und an den Küchentisch setzte. Einige geheimnisvolle Blätter in ein Teesieb, heißes Wasser darauf, Honig dazu, dann stellte die Tante das Gebräu vor den Segelmaster hin. Wie ein braver Junge trank er es, verzog aber dabei das Gesicht derart, dass Mandy beinahe gelacht hätte.

„Guter Gott, wenn das nicht hilft!“, rief er keuchend.

„Vielleicht hilft ja Essen“, meinte Mandy. „Mr. Cleverly ist gerade fort, aber er wollte Sie an die Chorprobe heute Abend erinnern.“

„Mandy, ich glaube, unserem Gast ist nicht nach Singen zumute und sicher nicht danach, dem Chor von St. Luke zu lauschen“, mahnte Tante Sal.

„Ich bin aus härterem Holz geschnitzt“, versicherte Ben ihnen. „Glauben Sie mir, es wird einem ansonsten üblen Tag Glanz verleihen. Setzen Sie sich, Amanda.“

Sie tat es, während Tante Sal ihn mit einer Fleischbrühe und Toast versorgte. Als die Furche zwischen seinen Augen sich langsam glättete, ließ Mandy eine Suppe mit Gemüsen und dem Rest des gestrigen Bratens folgen. Weitere Gerichte lehnte er mit Dank ab und ließ sich gegen die Stuhllehne sinken.

„Amanda, was für ein Tag …“, begann er und erzählte dann von dem verzögerten Beginn und von Thomas Walthans Widerwillen gegen alles, was Mathematik hieß. „Es ist eine hoffnungslose Aufgabe, zum Verzweifeln. Ich werde ihn nichts lehren können, besonders, da er sich gar nicht bemühen will.“

Sie hörte zu, stellte sich vor, er sei ihr Ehemann oder wenigstens ihr Verlobter und brauche ein mitfühlendes Ohr. Verträumt fragte sie sich, was er wohl täte, wenn sie ihm ihrerseits ihre Klagen bezüglich verspätet gelieferten Geflügels oder zusammengefallener Soufflés auftischte. Was ihr natürlich nie einfallen würde. Aber zuhören würde er, das wusste sie. Wieso sie es wusste, hätte sie nicht sachlich erklären können; sie wusste es einfach, und die Vorstellung war tröstlich.

Beschämt aufseufzend erzählte er von der Demütigung, einen Imbiss in der Bibliothek serviert bekommen zu haben, anstatt, wenn schon nicht am Tisch der Familie, dann zumindest im Frühstückszimmer speisen zu dürfen.

„An solch eine respektlose Behandlung sind Sie nicht gewöhnt, nicht wahr?“, fragte sie. „Ich meine, wenn ich die Verantwortung für die Wohlfahrt eines Schiffs trüge, würde ich ein wenig Achtung erwarten.“

Sie sah, dass er verlegen war.

„Bin ich zu stolz?“

„Ein winziges Bisschen vielleicht“, sagte sie offen. Schließlich hatte er gefragt. „Wissen Sie, so wird es noch enden – mein ignoranter Halbbruder wird, wenn er so alt ist wie ich, immer noch Seekadett sein, und die Schuld wird er Ihnen geben.“

„Sie, meine liebe Amanda, haben große Menschenkenntnis“, verkündete er, woraufhin sie errötete. „In Ihrem fortgeschrittenen Alter von …“

„Sechsundzwanzig.“

Er spielte sehr theatralisch den ungeheuer Erstaunten, was vermuten ließ, dass sein Kopfweh vergangen war. „Schon mit einem Fuß im Grabe …“, neckte er sie. Dann wurde er wieder ernst. „Vielleicht könnte es sich jemandem als recht nützlich erweisen, in der Bibliothek eingesperrt gewesen zu sein.“

„Wie das?“

„Ich hatte das Sandwich gegessen und saß dann eine gute halbe Stunde herum, ehe Thomas mir sagte, er werde nun großzügigerweise seinen Lunch abbrechen – der aus mehr als einem Sandwich bestanden haben muss.“

„Armer Mann“, spaßte sie, „gewiss musste er schrecklichen Hunger leiden.“

„Ganz genau! Wie auch immer, während ich auf ihn wartete, dachte ich, ich könnte mich mal in der Bibliothek des alten Lord Kelso – so bezeichnete man sie mir gegenüber, denn Ihr Vater liest offensichtlich kaum – umsehen, und ich suchte mir Euklids ‚Elemente‘ heraus.“

Sie verzog das Gesicht, und Bens Lippen zuckten amüsiert. „Ich habe schon bemerkt, dass Ihre Wissbegier sich in Grenzen hält, wenn ich die Wissenschaften erwähne.“

„Bisher fand ich keinen Beweis dafür, dass Sie sich in dieses abschreckende Buch auf Ihrem Nachtschrank vertieft hätten.“ Röte stieg ihr ins Gesicht. „Ich habe Ihr Zimmer aufgeräumt, daher fiel es mir auf. Die Seiten sind noch nicht aufgeschnitten.“

Er legte sich eine Hand auf die Brust. „Abschreckend? Zufällig mag ich das Fach, wofür alle auf der ‚Albemarle‘ überaus dankbar sind – außer Ihr Einfaltspinsel von Halbbruder.“ Er beuget sich zu ihr. „Meine Kajüte ist immer tadellos aufgeräumt. Eine Folge der Enge an Bord.“

Sie stand auf, um das Geschirr abzuräumen, doch er umfasste sanft ihr Handgelenk. „Das kann warten, Amanda. Ich habe Sie nämlich gern hier bei mir.“

Ablenkend sagte sie: „Euklid … ‚Elemente‘. Und weiter?“

„Der alte Knabe hatte tatsächlich ein Exemplar dieses erhabenen Werks! Ich schlug es auf, und was steckte bei Kapitel acht?“

Er zog ein gefaltetes Papier aus der Tasche, mit einem winzigen Klecks Wachs versiegelt, und streckte es ihr hin. „Schauen Sie!“

„Meine Güte!“ Sie las: „Kodizill. Im Falle meines Todes meinem Anwalt zu übergeben.“ Als hätte sie sich daran verbrannt, gab Mandy das Blatt hastig zurück, musterte es aber misstrauisch. „Sein Anwalt ist Mr. Cooper; Sie werden ihn heute Abend kennenlernen, falls Sie tapfer genug sind, sich zur Chorprobe einzufinden.“

„Meine Liebe, ich habe bei Trafalgar gekämpft, ich kann eine Chorprobe durchstehen, mit oder ohne Kopfweh.“

Und dann sah er sie an, mit einem Blick, den eines schönen Tages von einem Mann zu bekommen sie sich schon immer erhofft hatte.

„Wenn ich Sie begleiten darf?“

Sie nickte, unversehens um eine Antwort verlegen.

„Sollte ich die Zustimmung Ihrer Tante erbitten?“

„Master Muir, Sie wissen doch, dass ich sechsundzwanzig bin. Zustimmung ist nicht vonnöten.“

„Und Sie werden mir Mr. Cooper vorstellen?“

„Gewiss. Sagen Sie, Sir, waren Sie versucht, das Siegel zu öffnen und einen Blick zu riskieren?“

„Versucht, ja, aber ich verkniff es mir. Ich hoffe, es gibt für jemanden gute Nachrichten.“

„Lord Kelso starb ja vor zwei Jahren. Vermutlich wurde das Testament damals bereits verlesen.“

„Vielleicht gibt es nun eine neue Wendung. Wie ich Geheimnisse liebe!“ Der Master rieb sich mit dramatischer Geste die Hände.

Ein Muster an Tüchtigkeit und Flinkheit, so war Mandy zwischen den Dinnergästen umhergeflitzt. Ihre Tante hatte das netterweise nicht kommentiert, obwohl sie wohl insgeheim über die offensichtliche Aufregung ihrer Nichte wegen einer so schlichten Sache wie dem Gang zur Chorprobe geschmunzelt hatte.

Anschließend lief Mandy rasch die Treppe hinauf, um einen Blick in den Spiegel zu werfen, so gut sie auch das Gesicht, das sie darin sah, kannte. Kurz beklagte sie ihre Sommersprossen und ihre Nase, die kein Poet je besingen würde, verwarf den Gedanken aber sofort. Ihre Figur war gut, mit einer leichten Neigung zu Üppigkeit, und Tante Sal hatte stets auf anständige Kleidung aus gutem Material geachtet. „Du wirst ihr nie Schande bereiten“, sprach sie leise vor sich hin.

Ein wenig betrübt setzte sie sich auf die Bettkante. Sie musste an ihre Mutter denken, die sie nie hatte kennenlernen dürfen, dabei war sie sich voll und ganz bewusst, wie schwer ihr Leben ohne die Liebe, die Großherzigkeit und den Mut ihrer ledigen Tante geworden wäre. Den Walthans jedenfalls schuldete sie nichts.

Als es sacht an der Tür klopfte, blickte sie auf, öffnete und sah den Master draußen stehen. Der Duft nach der Zitronenseife, die sie am Morgen gerochen hatte, umgab ihn. Zwar hatte sie weder Mutter noch Vater, die ihr Ratschläge mit auf den Lebensweg gaben, doch Tante Sal hatte sie dazu erzogen, selbstständig zu denken. Niemand brauchte ihr erst zu sagen, dass sie sich zuverlässigen Hände überließ, auch wenn es sich nur um etwas so wenig Aufregendes wie eine Chorprobe in St. Luke handelte.

Eins musste sie diesem Mann wirklich lassen: Wie auch immer er auf See leben mochte, er hatte ein feines Gespür dafür, wie man mit einer Dame umging – sofern sie sich selbst denn so bezeichnen durfte. Er half ihr in den Mantel, wobei sie zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte, das eher praktische Gewand sei etwas modischer. Mit einer gewissen Eleganz warf er sich den Umhang über – wie er es vermutlich seit Jahren machte. Wie sonst sollte man ein solches Kleidungsstück anlegen, ohne es weit zu schwingen? Aber der Hut! Meine Güte, damit wirkte er noch einen Fuß größer, als er sowieso schon war, und doppelt so mannhaft. Ahnten die Männer der Royal Navy eigentlich, welch umwerfende Figur sie machten? Mandy bezweifelte es, besonders da Ben so völlig ungekünstelt wirkte.

Wie stets um diese Jahreszeit war die Luft mit feuchtem Dunst geschwängert. Durch lange Erfahrung war Mandy daran gewöhnt, selbst das rutschigste Pflaster zu meistern. Das jedoch konnte sich der Master eindeutig nicht vorstellen. Wortlos hakte er sie unter und hielt ihren Arm dicht an seinen Körper gepresst, sodass sie gar nicht hätte stürzen können. Natürlich brauchte sie solche Unterstützung nicht, was sie ihm auch beinahe gesagt hätte. Nur fand sie plötzlich, dass ihr diese Nähe gefiel.

„Auf den Blockadeschiffen wird es manchmal ziemlich eisig. Sie sollten sehen, wie die Ungeübten auf Deck ausgleiten.“

„Wir hatten hier mehrere Jahre keinen Schnee“, bemerkte Mandy. Wann war das Wetter für sie je Gesprächsthema gewesen? Vielleicht sollte sie, wenn der Master erst abgereist war, ihren Bekanntenkreis über die Bauern, den Schlachter und den Milchmann hinaus ein wenig erweitern. Zwar wusste sie nicht so recht, wie, doch anderen Frauen gelang es, warum also nicht auch ihr?

„Ist das ‚Mandy’s Rose‘ am Weihnachtstag geöffnet?“, erkundigte er sich, während er langsamer ging, damit sie mit ihm Schritt halten konnte, eine nette Geste, die sie zu würdigen wusste.

„Nein, aber wir werden für Sie ein feines Mahl zubereiten“, antwortete sie, überrascht, wie atemlos sie war. Ehe sie merkte, was sie tat, stützte sie sich schwerer auf seinen Arm. Sie ging sicheren Fußes, es gab also keinen Grund dafür, außer dass ihr danach zumute war und es ihr ein angenehm beruhigendes Gefühl gab. Er erhob keine Einwände, nur glaubte sie, sie habe ihn aufseufzen hören. Sie hoffte nur, dass sie sich nicht auf eine alte Verletzung stützte.

Trotz des Dunstes traten die Umrisse der Kirche viel zu rasch aus der Dunkelheit hervor. Sie verlangsamte ihre Schritte, und der Master tat es ihr gleich.

„Sie schöpfen wohl Mut, ehe Sie eintreten?“, neckte er sie. „So schlimm ist der Chor?“

Sie hätte ihm eine schlagfertige Erwiderung geben können, aber warum? In drei Wochen war er wieder fort. „Der Chor ist schon ganz gut, mir gefällt nur, mit Ihnen spazieren zu gehen.“

Eine ganze Weile blieb er stumm, und sie fragte sich schon, ob sie ihm zu nahe getreten war.

„Amanda, Sie müssen häufiger ausgehen.“

„Da haben Sie zufällig recht“, erwiderte sie, grundehrlich wie sie war.

Die anderen Chormitglieder hatten sich schon in der Kapelle eingefunden. Gleichzeitig drehten sie sich zu Mandy und ihrem Begleiter um. Sie lächelte – alle hier waren Freunde – und war erstaunt über die ernsten Mienen.

„Unsere Mäntel, lassen wir die hier?“, raunte Ben.

„Hier in dem Seitenschiff“, antwortete sie und ging voran. Die Blicke folgten ihnen.

Der Master schien sich nicht darüber zu wundern. Er hing seinen Umhang samt Hut auf und half Mandy aus dem Mantel. Dann beugte er sich zu ihr und flüsterte: „Ich glaube, ich weiß, woher der Wind weht, Amanda.“

„Was meinen Sie?“, flüsterte sie zurück, wobei sie sich schrecklich verschwörerisch vorkam, bedachte man, dass in dieser Kirche nie etwas passierte außer langweiligen Predigten.

„Wenn ich mich nicht irre, sind das genau die Leute, die gestern Abend auch im ‚Mandy’s Rose‘ waren.“

Sie schaute ihn stirnrunzelnd an, merkte, wie ihr ganz warm wurde, nicht so sehr, weil er ihr so nahe war – was in ihrer Magengrube ein seltsames Gefühl erzeugte –, sondern weil sie nun verstand, was da vorging. „Oh je“, hauchte sie, „Sie werden taxiert. Armer, armer Ben.“ Sie schob sich noch näher an ihn heran, bis ihre Lippen beinahe sein Ohr berührten. „Soll ich ihnen sagen, dass Sie nach Weihnachten wieder fort sind?“

Beim lieben Herrgott, sie wollte dieses Ohr küssen. Ein Ohr? Wer küsste ein Ohr? Wahrscheinlich war es schon schlimm genug, dass sie hineinatmete, denn er begann zu erröten. Aber man musste ja atmen, also rückte sie rasch von ihm ab.

Zu ihrer Überraschung sagte er: „Amanda, vielleicht wissen Sie es nicht, aber ein ganzes Dorf achtet darauf, dass Ihnen nichts geschieht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dem Anspruch je gerecht würde. Es ist ganz gut, dass ich nur drei Wochen hier bin.“

„Nur noch neunzehn Tage“, flüsterte sie, und unwillkürlich wurden ihr die Augen feucht. Gott sei Dank war es hier hinten dunkel.

„Ihr Hut?“, fragte er.

Schweigend reichte sie ihn ihm, wobei sie wünschte, sie hätte nie etwas von Chorproben oder Venable oder der Royal Navy gehört. Wäre sie doch nur weit, weit weg!

Das Lächerliche ihrer Lage rettete sie, denn es überwog jäh, und sie konnte wieder normal atmen. Dies alles würde in ein oder zwei Monaten vergessen sein.

„Die Chorprobe wartet“, erklärte sie und deutete zum Kirchenschiff. „Wir singen ‚Adeste fideles‘, nach einer Fassung unseres Chorleiters, und er braucht wirklich noch einen Bariton. Aber nicht unbedingt den übelsten.“

Da. So war es richtig. Der Master schmunzelte, und sie wusste, er hatte keine Ahnung, wonach es sie gerade verlangt hatte.

Mit dem Gefühl, sehr tapfer zu sein, stellte sie Benneit Muir den Leuten vor, von denen die meisten ihn schon gestern im Gastraum gesehen hatten. Sie war unbefangen, sie war freundlich. Blieb nur noch, ihn nach der Probe mit Mr. Cooper bekannt zu machen.

Das war letztendlich nicht nötig. Die beiden Männer hatten schon in einer kurzen Pause miteinander geplaudert, in der der Chorleiter mit den Sopranen an einer kritischen Passage arbeitete. Aus dem Augenwinkel hatte Mandy gesehen, wie Ben dem Anwalt das mysteriöse Schriftstück aushändigte.

Zusammen mit anderen Sängern, die in die gleiche Richtung mussten, gingen sie heimwärts. Wieder beeilte Ben sich, sie fest bei sich einzuhaken: Sie hütete sich dieses Mal, sich an ihn zu drängen. Eine solche Geste sollte sie vielleicht besser für jemanden aufsparen, der länger als nur noch neunzehn Tage blieb.

Neunzehn Tage! Bei dem Gedanken wurde sie ernst, dann missmutig, doch erst, als sie oben in ihrem Zimmer war.

Sie barg das Gesicht in dem Kissen und beschloss, vernünftig und nüchtern zu sein und sich ihrer erlernten Haltung zu erinnern. Wenn er erst fort war, würde der Raum gegenüber wieder einstauben, und es wäre vorbei mit Untermietern. Mandy wusste, dergleichen würde sie ihrer Tante nie wieder vorschlagen.

3. KAPITEL

Herr im Himmel, wenn sie nur nicht direkt im Zimmer gegenüber wäre, dachte Ben.

Der Schlaf wollte einfach nicht kommen. Er hatte während schwerer Orkane und heißer Tropennächte schlafen können. Wenn eine Schlacht erst vorbei war, die all seine Fähigkeiten eingefordert hatte, konnte er jederzeit sofort schlafen, bis er wieder gebraucht wurde. Heute Nacht in diesem hübschen Zimmer jedoch sah es so aus, als würde er noch bis zum frühen Morgen wach liegen.

Er drehte sich auf die Seite, den Blick auf die Tür geheftet, und wünschte sich, Amanda möge sie öffnen. Was natürlich im Leben nicht geschehen würde, doch hoffen durfte man wohl noch. Da lag er und litt Seelenqualen und überlegte, wie schön es wäre, einfach nur sein Kissen mit ihr zu teilen. Ganz ungeachtet dieser Mann-Frau-Geschichten, wie hübsch wäre es, mit ihr in einem dunklen Zimmer einfach nur zu plaudern, über den vergangenen Tag, über die Pläne für den nächsten.

Gott sei Dank ahnte sie nicht, wie sehr es ihn in der Kirche danach gelüstet hatte, sie zu küssen. Aber, nein, er hatte sie daran erinnert, dass er nur drei Wochen hier sein würde. Daraufhin hatte sie etwas gemurmelt, aber so leise und an seinem tauben Ohr, dass er sich nicht sicher war, was.

Du willst einfach eine Frau, irgendeine Frau, sagte er sich, und ja, Amanda ist reizend, aber du weißt Bescheid. Sie ist viel zu klug, um einen Seemann gern zu haben. Wo ist deine Haltung geblieben, Ben Muir?

Vermutlich würde er ein paar Nächte unruhig und sehnsüchtig auf dem mitternächtlichen Deck auf und ab marschieren, dann wäre die Sache ausgestanden. Es wäre nicht das erste Mal.

Beim Frühstück trug er seine gewohnte Heiterkeit zur Schau, dabei konnte er aber doch nicht übersehen, dass Amandas Augen dunkel umschattet waren. Hatte auch sie wenig geschlafen? Ben, deine Fantasie geht mit dir durch, tadelte er sich, während er Eier und Würstchen aß, die genauso gut hätten Sand sein können, so wenig interessierten ihn die Speisen.

Amanda machte es nur noch schlimmer, da sie ihm an der Tür Umhang und Hut reichte und dazu ein in Ölpapier gewickeltes Päckchen. Sandwiches.

„Ich meine, Sie brauchen mehr als nur ein einsames Sandwich. Plätzchen sind auch da drin. Einen schönen Tag, Ben.“

Er nahm die liebevolle Gabe, verbeugte sich und ging. Bis er auf Walthan Manor angekommen war, hatte er sich wieder ganz gefangen und kam sich ein wenig töricht vor.

Zu seiner Verwunderung wartete Thomas auf ihn, mit düsterer Miene, doch zumindest hellwach. Zuerst lag Ben eine boshafte Bemerkung auf der Zunge, doch er unterdrückte sie. Was sollte es, kleinlich und gemein zu einer schwachen Person zu sein, schon gar nicht, da er selbst Dummheit an den Tag gelegt hatte. Er erklärte, wie man einen Kurs berechnete, erklärte es auch noch ein zweites Mal, bis in Thomas Walthans Kopf ein, wenn auch kleines, Licht aufzugehen schien.

Zusammen arbeiteten sie sich durch zwei Berechnungen. Beim zweiten Versuch gelang es Thomas einigermaßen. Da war wohl ein wenig Lob angebracht.

„Thomas, ich glaube, mit genügend Übung könnten Sie das wirklich verstehen.“

Der Kadett sah Ben wachsam an, fragte sich vielleicht, ob das ernst gemeint war. Unmerklich zuckte Ben zusammen. Jäh sah er sich genötigt, zu hinterfragen, aus welchen Gründen er hier unterrichtete. Versuchte er, sich seine Enttäuschungen auszutreiben, wollte er angeben, oder versuchte er wirklich ernsthaft dem Jungen Wissen einzutrichtern? Darüber sollte er nachdenken, und vielleicht sofort.

Wie er da mit Thomas Walthan, dem untalentierten Seekadetten, saß, betrachtete Ben sich selbst einmal ganz gründlich – ausgerechnet in Walthan Manors Bibliothek – und ihm gefiel nicht, was er sah. Er war stolz und wirkte auf einen verwirrten jungen Burschen wahrscheinlich unerträglich.

„Sagen Sie mir, Thomas“, fragte er diesen Jüngling aus adeliger, reicher Familie, „und ich meine das ernst – gefällt es Ihnen in der Royal Navy? Bitte antworten Sie mir aufrichtig.“

Thomas’ Ausdruck – Unglauben, dann Zweifel, dann Nachdenklichkeit – spiegelte, nahm Ben an, wohl seine eigenen Empfindungen.

„Ich … ich bin mir nicht so sicher.“ Der junge Bursche errötete, zögerte und war kühn genug zu fragen: „Gefällt es Ihnen denn, Sir?“

Thomas’ unerwartete Direktheit beeindruckte Ben. Er schwieg eine Weile, dann nicke er. „Ja, Junge. Für mich war die Navy ein Sprungbrett. Mein Vater war Fischer, wir lebten in Kirkcudbright. Da wohnt er immer noch. Ich wollte mehr als ein Fischerboot. Ich entdeckte in mir die Vorliebe für Mathematik, speziell für Geometrie.“

„Geometrie hasse ich“, sagte Thomas hitzig.

„Das merkt man. Mögen Sie das Meer?“

Autor

Christine Merrill

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