Historical Saison Band 42

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DER TEUFEL UND DIE KEUSCHE SCHÖNHEIT von ASHFORD, LUCY
Der Teufel hat einen Namen: Luke Danbury! Seit die elternlose Ellie in Kent lebt, schlägt ihr geheimnisvoller Nachbar sie immer mehr in seinen Bann. Als Luke verlangt, dass sie bei ihrem Vormund nach Unterlagen sucht, würde Ellie gern ablehnen. Aber der heiße Kuss des Teufels raubt der französischen Unschuld alle Sinne …

VORHANG AUF FÜR DIE GROßE LIEBE! von DICKSON, HELEN
Ganz London betet die schöne Schauspielerin Lucy Lane an - doch seit der Trennung von Nathan Rochefort vor vier Jahren ist ihr Herz zu Eis erstarrt. Nun sucht ausgerechnet dieser schneidige Lieutenant sie plötzlich auf - mit einem gefährlichen Anliegen, das Lucy erneut in einen Sog von Sehnsucht und Verlangen reißt …


  • Erscheinungstag 03.01.2017
  • Bandnummer 0042
  • ISBN / Artikelnummer 9783733768553
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lucy Ashford, Helen Dickson

HISTORICAL SAISON BAND 42

LUCY ASHFORD

Der Teufel und die keusche Schönheit

Was ist bloß mit seinem Bruder geschehen? Captain Luke Danbury vermutet, dass der intrigante Lord Franklin etwas darüber weiß. Ein dunkler Plan wird geschmiedet: Die süße Französin Ellie, Mündel des Lords, muss Luke helfen. Er will sie verführen, damit sie für ihn Dokumente entwendet. Doch dann überwältigen ihn seine Gefühle für die keusche Schönheit …

HELEN DICKSON

Vorhang auf für die große Liebe!

Ihre Liebe war ein Feuerwerk, und bis heute ist es Lieutenant Nathan Rochefort ein Rätsel, warum die Schauspielerin Lucy Lane damals ihre Verlobung gelöst hat. Doch nun braucht er ihre Hilfe: Sie soll ihm dabei helfen, die entführte Herzogin zu retten – und diese Gelegenheit wird er nutzen, um die Sterne in Lucys Augen erneut zum Funkeln zu bringen …

1. KAPITEL

Kent, England, 1815

Im grauen Licht eines trüben Nachmittags im Januar standen zwei dunkel gekleidete Männer auf einem einsamen Strand und blickten hinaus auf das Meer. „Bald werden wir dort draußen gar nichts mehr erkennen können, Captain Luke“, brummte der ältere der beiden. „Dieser vermaledeite Nebel ist so dick wie der Porridge, den sie uns in der Army zu essen gegeben haben.“

„Du solltest lieber dankbar für den Nebel sein, Tom.“ Luke Danbury wandte den Blick keinen Moment vom Meer ab. „So können die Zollbeamten Monsieur Jacques’ Schiff dort draußen auch nicht sehen.“

„Ich weiß, Captain. Aber …“

„Und ich möchte“, fuhr Luke fort, „dass du endlich damit aufhörst, mich Captain zu nennen. Es ist schon über ein Jahr her, seit wir die British Army verlassen haben. Schon vergessen?“

Tom Bartlett schaute den jüngeren Mann misstrauisch an. Für eine Weile presste er die Lippen in seinem wettergegerbten Gesicht zusammen. Seine schwarzen Haare standen störrisch vom Kopf ab. Dann platzte er heraus: „Trotzdem. Ich finde immer noch, dass Sie mich mit den Watterson-Brüdern hätten hinausschicken sollen, um Monsieur Jacques abzuholen. Ich traue den beiden zu, dass sie sich dort draußen verirren.“

„So?“ Luke lächelte ein wenig. „Als wir beide auf der Iberischen Halbinsel kämpften, waren Josh und Pete Watterson schon seit Jahren in der Navy, hast du das vergessen? Die Brüder werden sich nie auf dem Meer verirren, egal bei welchem Wetter.“

Tom schien noch etwas sagen zu wollen, aber Luke entfernte sich bereits von ihm und ging auf das Wasser zu. Sein langer geflickter Umhang flatterte im Wind und die schwarzen Haare wehten wild um seinen Kopf.

„Nun“, sagte Tom leise zu sich selbst. „Ihr Wort in Gottes Ohr, Captain. Hoffentlich rudern die Watterson-Brüder den Monsieur ein bisschen schneller an Land, als ihr Verstand arbeitet.“ Er drehte sich zu den Klippen hinter ihnen um, als vermutete er dort Feinde, die bereits auf der Lauer lagen. „Wenn die Zollbeamten aus Folkestone uns erwischen, legen sie uns schneller in Eisen, als wir mit den Augen zwinkern können. Und das ist eine Tatsache.“

Luke Danbury hatte die Hände in die Taschen gesteckt und beobachtete den Nebel, der sich in immer dichteren Schwaden über das Meer wälzte. Als könnte er den Nebel durchdringen und die französische Küste sehen oder den weit entfernten Ort, an dem letztes Jahr sein Bruder spurlos verschwunden war.

Wieder einmal war Lukes Herz voller Bitterkeit. Er krümmte die Finger der behandschuhten rechten Hand und streckte sie wieder. Er brauchte neue Nachrichten, denn er war des Wartens müde und wollte endlich Gewissheit haben … so oder so.

Hinter seinem Rücken hatte Tom Bartlett, der früher in der Army sein getreuer Sergeant gewesen war, leise zu brummeln begonnen, doch er hörte sofort damit auf, als Luke warnend die Hand hob.

Luke hatte etwas vernommen. Und wirklich, einen Augenblick später konnte er es sehen – ein kleines Boot, das allmählich aus dem Nebel auftauchte. Zwei Männer saßen an den Rudern, während ein weiterer Mann im schwarzen Mantel und Hut sich ungeduldig am Bug vorbeugte. Der Bootskiel knirschte auf den Kieselsteinen. Tom watete durch das flache Wasser darauf zu und reichte dem schwarz gekleideten Passagier die Hand, damit er aussteigen und an Land gehen konnte. „Na also, Monsieur!“, rief Tom zur Begrüßung. „Sie sind sicher froh, wieder auf trockenem Boden zu sein, nicht wahr?“

„Auf festem Boden, ja.“ Jacques lachte. „Und bei Freunden.“

Tom schien sich über das Lob zu freuen. Dann wandte er sich an die Wattersons, die gerade die Ruder festmachten. Die Brüder hatten beide einen braunen Lockenkopf und sahen sich so ähnlich, dass sie hätten Zwillinge sein können. „He, ihr Ganoven“, rief Tom. „Ich habe immer schon gesagt, dass die Navy besser dran ist ohne euch. Ihr habt euch so viel Zeit gelassen, dass ich schon fürchtete, ihr hättet euch verirrt und wärt bis nach Frankreich und zurück gerudert.“

Die Brüder grinsten gutmütig. „Und die Army ist sicher besser dran ohne dein miesepetriges Gesicht, Tom Bartlett. Aber du wirst sicher ein bisschen fröhlicher dreinschauen, wenn du siehst, was wir im Boot haben.“

„Ein Geschenk von Monsieur Jacques?“ Tom nickte mit dem Kopf in Richtung ihres Passagiers, der sich in ein paar Schritten Entfernung bereits angeregt mit Luke Danbury unterhielt.

„Ein Geschenk von Monsieur Jacques.“ Die Brüder hievten das Boot ein Stück weiter nach oben auf den Strand, dann zogen sie einige alte Fischernetze zur Seite und brachten eine schwere Holzkiste zum Vorschein. „Brandy“, verkündeten sie unisono. „Monsieur Jacques belohnt seine Freunde. Komm schon, du Landratte, hilf uns beim Tragen.“

„Mein Schiff liegt hier für die Nacht vor Anker“, sagte Monsieur Jacques gerade zu Luke. „Wie gut, dass ihr uns entdeckt habt, bevor der Nebel sich noch weiter herabsenkte, mein Freund. Und wie gut, dass die Zollbeamten es nicht taten. Wie lange bin ich nicht mehr hier gewesen?“

„Seit Ende Oktober.“

„So lange schon …“ Jacques sah hinüber zu den Männern bei dem Boot und warf dann Luke einen Blick zu, der zu sagen schien: Später, mein Freund. Wir reden, wenn wir allein sind. Dann schritt er über den Kies dorthin, wo Lukes Männer die Kiste mit dem Brandy abgestellt hatten. Schwungvoll entnahm er eine Flasche und entkorkte sie mit seinem Taschenmesser.

„Auf das Wohl der braven Fischer, Josh und Peter Watterson!“ Er hob grüßend die Flasche und nahm einen Schluck. „Auf die Gesundheit von Tom Bartlett! Und ganz besonders auf deine Gesundheit, Captain Danbury!“

Jacques hielt die Flasche vor Lukes rechte Hand, aber rasch ergriff Luke die Flasche mit der linken, an der er keinen Handschuh trug. Sein Blick war ausdrucklos.

„Pardon.“ Jacques machte ein beschämtes Gesicht. „Mon ami, ich habe nicht daran gedacht.“

„Keine Ursache.“ Lukes Stimme war ruhig, aber ein Schatten schien kurz über sein Gesicht zu huschen. „Auf die Gesundheit von allen hier. Auf die wahren Freunde der Freiheit … in England und in Frankreich.“

„Auf die wahren Freunde der Freiheit!“, wiederholten die Übrigen.

Luke trank und reichte dann die Flasche zurück zu Jacques. „Möge eines Tages Gerechtigkeit geübt werden“, fügte er hinzu, „an den Regierungsbeamten in London mit ihren hinterhältigen Worten und gebrochenen Versprechungen.“

„Gerechtigkeit.“

„Ja, Gerechtigkeit, Captain.“ Nacheinander wiederholten alle den Trinkspruch und tranken, bevor sie die Flasche weitergaben.

Schließlich wandte sich Luke an Tom. „Selbstverständlich übernachtet Jacques bei mir im Haus. Aber bevor wir aufbrechen, möchte ich, dass du für mich die Straße kontrollierst, Tom.“

„Die nach London?“

„Genau. Bitte vergewissere dich, dass dort keine Spione sind, keine Regierungsleute.“

Sofort eilte Tom zu dem Pfad, der an der steilen Klippe schräg nach oben verlief. Die Wattersons waren dageblieben, aber Luke erteilte auch ihnen einen Auftrag. „Josh, Peter. Ich möchte, dass ihr den Brandy zum Haus bringt und dort Bescheid sagt, dass unser Gast angekommen ist.“

„Jawohl, Captain.“

Das Tageslicht verblasste allmählich, und der Nebel wallte landeinwärts, nur noch die Schreie der Möwen waren zu hören. Luke und der Franzose waren allein. Und ich kann ihm endlich die einzige Frage stellen, auf die es mir ankommt. Diese Frage hatte er in den vergangenen anderthalb Jahren schon so oft und so vielen Menschen gestellt.

„Jacques, mein Freund.“ Er war selbst erstaunt, dass sich seine Stimme so gelassen anhörte. „Gibt es etwas Neues von meinem Bruder?“

Der Franzose sah traurig und missbehaglich aus. Luke wurde es bange ums Herz.

„Hélas, mon ami!“, sagte Jacques nach einer Weile. „Ich bin die gesamte Küste auf und ab gesegelt und habe jeden befragt, dem ich begegnete. Ich habe in jedem Hafen bei meinen Freunden herumgefragt, von Calais im Norden bis nach Royan im Süden. Und … nichts.“ Der Franzose zog bedauernd die Schultern hoch. „Dein Bruder ist mit den anderen Männern im September 1813 bei La Rochelle verschwunden. Leider weiß man inzwischen, dass die meisten umgekommen sind. Bezüglich deines Bruders jedoch … wir können nur hoffen, dass keine Nachricht eine gute Nachricht ist, wie ihr Engländer zu sagen pflegt.“ Sein Gesicht zeigte tiefes Mitgefühl. „Aber ich habe etwas für dich.“

Er griff in die Innentasche seines Mantels und gab Luke ein kleines, in Öltuch gewickeltes Päckchen. Luke hielt es in der behandschuhten rechten Hand und öffnete es vorsichtig mit der linken, bis etwas in seiner Handfläche zum Vorschein kam. Glänzendes Messing, Kriegsorden mit den eingravierten Namen von Schlachten: Badajoz, Salamanca, Talavera. Luke war zutiefst aufgewühlt.

Schließlich blickte er auf. „Woher hast du das?“

„Von einer alten französischen Bäuerin. Sie fand es halb vergraben in einem ihrer Felder nahe der Küste von La Rochelle und erkannte, dass es sich um britische Orden handelte. Sie bat mich, sie nach England zu bringen. Es könnten die deines Bruders sein, nicht wahr?“

Wortlos nickte Luke. Es wäre möglich. Aber selbst wenn, sagte er sich, bedeutet das nicht, dass er tot ist. Er könnte noch irgendwo dort drüben leben. Als Gefangener vielleicht. Und auf Hilfe warten …

Er riss sich zusammen, weil ihm plötzlich die dunklen Ringe unter den Augen des Franzosen auffielen. Sein Freund war müde, trotz seiner zur Schau getragenen Fröhlichkeit.

„Wir haben später noch genug Zeit zu reden“, sagte Luke. „Es wäre mir eine Ehre, Jacques, wenn du wie üblich in meinem Haus essen und übernachten würdest.“

„Sehr gern, obwohl ich mich morgen vor Sonnenaufgang auf den Weg machen muss. Es ist für meine Mannschaft zu gefährlich, bei Tageslicht noch dort vor Anker zu liegen.“ Jacques drückte Lukes Schulter. „Du weißt, dass ich alles tun werde, was in meiner Macht steht, um deinen Bruder zu finden. Es ist das Mindeste, was ich dir schulde, mon ami …“

Er brach ab, weil Tom Bartlett mit knirschenden Schritten auf sie zukam. „Auf der Hauptstraße sind Reisende, Captain.“

„Zollbeamte?“, fragte Luke mit scharfer Stimme.

„Nein, Captain, es ist eine feine Kutsche. Mit zwei Dienern und einem Kutscher. Jede Menge Gepäck.“

Luke bekam plötzlich kaum noch Luft. „Sah es so aus, als käme die Kutsche aus London, Tom?“

„Ja, würde ich vermuten. Konnte das Wappen auf der Tür nicht sehen, aber die Pferde gehören ganz sicher Lord Franklin. Ich habe die vier schönen Braunen erkannt, die er immer im Stall vom George Inn bei Woodchurch unterstellt.“

„Sitzt Lord Franklin selbst im Wagen?“

„Ich sah eine Frau mittleren Alters, daneben saß eine jüngere. Aber ob Seine Lordschaft auch im Wagen war?“ Tom schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht sagen.“

Luke musste genau wissen, wer in dieser Kutsche saß. „Tom, bitte führe Monsieur Jacques zum Haus. Ich komme nach, so schnell ich kann.“ Er war bereits auf dem Weg zu dem steilen Pfad, auf dem Tom soeben zur Klippe gestiegen war.

Tom war entsetzt. „Sie schaffen es niemals, die vier Braunen von Lord Franklin einzuholen!“

Luke blieb kurz stehen und wandte sich zu ihm um. „Sie werden unterwegs anhalten müssen, Tom. Weißt du nicht, dass die Straße kurz hinter Thornton bei dem heftigen Regen vor einer Woche teilweise eingebrochen ist? Auf diesem Straßenabschnitt muss der Kutscher das Tempo verlangsamen, sonst riskiert er einen Achsenbruch. Ich finde Deckung in dem Wald daneben. Von dort kann ich den Wagen und seine Insassen unbemerkt beobachten.“

„Und wenn Lord Franklin nun wirklich im Wagen ist, Captain, was machen Sie dann?“

Luke antwortete nicht sofort. „Keine Sorge, ich bringe ihn nicht um … noch nicht.“

Damit drehte er sich um und eilte wieder zu dem Pfad, über den man auf die Klippe gelangte.

Tom seufzte und lächelte Jacques resigniert an. „Nun denn, Monsieur“, sagte er. „Dann gehen wir mal zum Haus. Dort brennt ein Feuer im Kamin und meine liebe Frau hält gewiss schon einen leckeren Eintopf bereit. Und dank Ihnen haben wir sogar Brandy …“ Er zögerte. „Ich vermute mal, dass es nichts Neues vom jüngeren Bruder des Captains gibt?“

Jacques schüttelte den Kopf. „Nichts Neues.“

„Dann besteht ja noch Hoffnung“, meinte Tom, „dass er wohlbehalten zurückkehrt.“ Er ging weiter, weil ihn die Aussicht auf warmes Essen lockte. Monsieur Jacques folgte ihm, seine Miene war jedoch immer noch traurig.

„Wohlbehalten?“, murmelte er fast unhörbar. „Leider habe ich daran meine Zweifel, lieber Freund. Große Zweifel.“

2. KAPITEL

Ellie Duchamp, neunzehn Jahre alt, betrachtete aus dem Fenster der Kutsche die ihr unbekannte englische Landschaft. Sie hatte eigentlich gehofft, allein nach Bircham Hall reisen zu können, denn sie brauchte Zeit und Ruhe zum Nachdenken über all das, was ihr in den vergangenen Monaten zugestoßen war.

Doch es blieb ihr keine Schonfrist, um über die Veränderungen in ihrem Leben und die Gründe dafür nachzudenken.

Lord Franklin Grayfield, ein reicher englischer Aristokrat und Kunstsammler, hatte sie in ihrer Dachkammer in Brüssel aufgestöbert und versicherte ihr seither ständig, dass sie seine Verwandte sei und daher unter seine Obhut gehöre.

Weder Zeit noch Ruhe waren ihr beschieden, denn neben ihr in der Kutsche saß die Begleiterin, die Lord Franklin für sie engagiert hatte. Es war Miss Pringle, eine besonders englische und altjüngferliche Dame, die vor wenigen Tagen in Lord Franklins Haus in Mayfair angekommen war. Miss Pringle konnte ihre Aufregung darüber nicht verbergen, mit der Aufgabe betraut worden zu sein, Ellie nach Bircham Hall zu begleiten, dem Landsitz Seiner Lordschaft in der Grafschaft Kent.

Gestern hatte Lord Franklin – ein stets höflicher Mann mittleren Alters – persönlich vor seinem prächtigen Londoner Haus in der Clarges Street gestanden und das Aufladen von Ellies Gepäck überwacht. Miss Pringle hatte ihm beim Abschied begeistert versichert, dass sie sich um Ellie kümmern werde, als wäre sie ihre eigene Tochter. Sehr schnell hatte Ellie begriffen, was „sich kümmern“ für ihre neue Begleiterin bedeutete – nämlich ununterbrochen zu schwatzen.

Während der Fahrt durch London hatte Miss Pringle geredet. Auf dem Weg durch die Vororte und die grünen Felder hinter Orpington hatte sie geredet, und sie hatte weitergeredet, als die Pferde gewechselt wurden.

Ellie hatte Miss Pringle schon bei ihrer ersten Begegnung mitgeteilt, dass sie Englisch sehr gut verstand, aber Miss Pringle sprach grundsätzlich langsam und betonte sorgfältig jede Silbe. Es strapazierte Ellies Geduld und stimmte sie zunehmend gereizt.

Obwohl die Fahrt nach Kent durchaus in einem Tag zurückgelegt werden konnte, glaubte Lord Franklin, dass es für Ellie bequemer sei, unterwegs in Aylesford zu übernachten. Sie hatte gehofft, dass ihre Gefährtin wenigstens während des Abendessens still sein würde. Miss Pringle genoss die Mahlzeit sichtlich, aber irgendwie gelang es ihr, eine beachtliche Portion zu essen und dabei ununterbrochen zu plappern.

„Lord Franklin hat meine Familie schon immer mit seiner Wertschätzung bedacht, Elise.“

Elise war Ellies französischer Taufname. Ihr französischer Vater und ihre englische Mutter hatten sie immer Ellie genannt, aber sie machte sich normalerweise nicht die Mühe, diejenigen zu korrigieren, die sie Elise nannten, wenn es Fremde waren, die nichts über ihre Vergangenheit wussten.

„Mein teurer Papa“, fuhr Miss Pringle zwischen zwei Bissen Schinken und Erbsen fort, „war viele Jahre lang Vikar in der Gemeinde Bircham, müssen Sie wissen. Und seit seinem traurigen Dahinscheiden – nun, niemand hätte freundlicher und rücksichtsvoller zu mir sein können als Lord Franklin. Er sagte: ‚Meine liebe Cynthia, wir können nicht zulassen, dass Sie Bircham verlassen, da Sie so viele Jahre ein wertvolles Mitglied der Gemeinde waren.‘ Das waren seine genauen Worte! Am Ende fand er sogar ein hübsches kleines Haus für mich – in einem gehobenen Ortsteil von Bircham Village. Dort lebe ich sehr komfortabel, und natürlich bin ich sehr beschäftigt mit meinen vielen gemeinnützigen Tätigkeiten.“

Miss Pringle beugte sich näher zu ihr. „Aber als ich dann von Lord Franklin erfuhr, dass ich nach London fahren sollte, um Sie nach Bircham Hall zu begleiten – nun, ich fühlte mich so geehrt. Und … Ellie, der Gedanke, dass er Ihr verloren geglaubter Verwandter ist …! Wie Sie bereits wissen, wird er bald wieder auf Reisen gehen. Nach dem Ende dieses scheußlichen Krieges mit Frankreich kann er endlich wieder nach Paris reisen und die Kunstwerke und klassischen Gebäude dort bewundern. Lord Franklin ist ja ständig unterwegs, um seine Kunstsammlung zu erweitern. So ist er natürlich auch Ihnen begegnet. In Brügge, nicht wahr?“

„In Brüssel“, antwortete Ellie fast tonlos und schob ihren Teller zur Seite. „Wenn Sie nichts dagegen haben, Miss Pringle, würde ich mich jetzt gern zurückziehen, denn ich bin sehr müde.“

Doch am nächsten Morgen ging schon beim Frühstück das Gerede weiter.

„Also …“, begann Miss Pringle bei Toast und Marmelade. „Lord Franklin begegnete Ihnen in Brüssel. Und welch ein glücklicher Zufall für Sie, als sich herausstellte, dass er ein Cousin zweiten Grades Ihrer Mutter ist.“ Plötzlich heftete sie ihren Blick auf Ellies schäbigen Reisemantel und die unelegante Haube und meinte noch gedehnter als sonst: „Man hat mir gesagt, Lord Franklin habe Sie in London großzügig mit neuen Kleidern ausgestattet.“

„So ist es“, antwortete Ellie. „Aber ich reise lieber in praktischen Kleidern.“

„Sehr vernünftig.“ Miss Pringle nickte. „Sie werden feststellen, dass praktischer Nutzen in Bircham Hall besonders wichtig ist.“

Ellie hätte gern gewusst, was sie damit meinte. War es kalt und zugig dort? Ungemütlich? Aber bestimmt nicht so kalt oder ungemütlich wie einige der schrecklichen Orte, an denen sie im letzten Jahr hatte Schutz suchen müssen.

Dann war es Zeit, wieder in die Kutsche im Hof des Gasthauses zu steigen. Unter der Aufsicht des Kutschers spannten die Stallknechte gerade vier wunderschöne Braune an, und Miss Pringle sah Ellies bewundernde Blicke. „Lord Franklin nimmt selbstverständlich immer nur die Besten“, verkündete sie. „Dies ist, soviel ich weiß, unser vorletzter Pferdewechsel, und gegen Nachmittag kommen wir in Bircham Hall an. Welch ein erhebender Gedanke! Dort werden Sie Lady Charlotte kennenlernen, die Sie sicher herzlich willkommen heißen wird …“

Bildete Ellie es sich nur ein, oder war Miss Pringle nicht mehr ganz so selbstsicher, als sie von Lord Franklins verwitweter Mutter sprach?

„Meine Mutter“, hatte Lord Franklin ihr erzählt, „reiste früher gelegentlich nach London, aber nun schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Ich habe ihr die Nachricht von Ihrer Ankunft in Bircham Hall gesandt, und sie wird dafür sorgen, dass Sie sich dort wohlfühlen.“

Doch wie wird Lady Charlotte wirklich darüber denken, fragte sich Ellie, als die Kutsche weiter durch die Landschaft von Kent fuhr. Wie wird es ihr gefallen, dass man ihr plötzlich ein neunzehnjähriges französisches Mädchen – eine mittellose Waise – aufdrängt?

Ellie würde es sehr bald erfahren, so viel stand fest.

Sie kamen langsam voran, nicht schneller als am Tag zuvor. Kurz nach dem letzten Pferdewechsel erblickte Ellie endlich das Meer. Allmählich verging das Licht des Nachmittags, und vom fernen Horizont her zog dichter Nebel über die weite graue Wasserfläche. Sie lehnte die Stirn an das Fenster der Kutsche. Draußen sah sie eine kleine alte Kirche, und in deren Nähe auf einer Anhöhe ein einsames altes Haus mit breiten Seitenflügeln und Giebeln inmitten von verkrüppelten Ahornbäumen.

Sie reckte den Hals, um mehr erkennen zu können, aber die Kutsche rollte wieder in ein Waldgebiet, und das Haus geriet außer Sichtweite. Ein Haus der Geheimnisse, dachte sie.

Ellie, hätte ihr Vater liebevoll zu ihr gesagt. Du hast zu viel Fantasie.

Wieder fühlte sie den intensiven Schmerz über seinen Verlust und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, hatten sie bereits die nächste Landzunge durchquert und man konnte wieder das Meer sehen. Dort unten standen mehrere kleine Häuser um einen Hafen herum. Ellie sah auch ein Wirtshaus und einen Landungssteg, wo Fischerboote vertäut waren und Männer ihre Netze flickten.

Miss Pringle redete immer noch über Lord Franklin. „Die Familie der Grayfields geht in ihren Anfängen bis in die Tudor-Zeit zurück …“

Ellie blickte zu ihrem kleinen schwarzen Handkoffer zu ihren Füßen. Was würde Miss Pringle wohl tun, wenn Ellie plötzlich nach ihrem Köfferchen griff, aus dem Wagen sprang und zu dem Hafen lief, um einen dieser Fischer zu bitten, sie von Englands kalter und feindseliger Küste wegzubringen? Ich habe Heimweh, dachte sie kummervoll. Heimweh nach dem Paris meiner Kindheit und den glücklichen Zeiten mit meinen Eltern. Ich vermisse sogar Brüssel, wo ich die letzten trostlosen Monate mit meinem armen sterbenden Papa verbracht habe.

„Oh, sehen Sie sich den Nebel an.“ Miss Pringle schauderte und schaute auch aus dem Fenster. „Und bald wird es dunkel sein. Wie ich den Januar hasse! Bei diesem Wetter kommen die Schmuggler aus ihren Löchern. Lord Franklin versucht alles, um ihnen das Handwerk zu legen, aber es sind gefährliche Verbrecher. Man sagt sogar, dass sie mit den Franzosen im Bunde stehen. Immerhin ist Frankreich von diesem Teil der Küste keine zwanzig Meilen entfernt.“

Das Fischerdorf war nicht mehr zu sehen. Die Straße entfernte sich wieder von der Küste und verlief nun durch ein dichtes Waldgebiet. Immer noch redete Miss Pringle weiter. Doch plötzlich schrie sie auf. „Was ist los? Warum halten wir hier?“

„Bitte, beruhigen Sie sich“, sagte Ellie.

Inzwischen stand einer der Diener am Wagenfenster. „Verzeihen Sie bitte, Ladys, aber es sieht so aus, als wäre ein Teil der Straße vor uns weggebrochen, wahrscheinlich wegen des starken Regens vor Kurzem.“

Miss Pringle schlug die Hand vor den Mund. „Oh mein Gott. Oh mein Gott …“

„Kein Grund zur Aufregung, Madam“, sagte der Diener rasch. „Wir müssen nur ein paar Reparaturen durchführen, damit die Strecke wieder befahrbar ist. Es dauert nur zehn, vielleicht fünfzehn Minuten, nicht länger.“

Sobald er verschwunden war, beugte Ellie sich vor. „Miss Pringle?“

„Ja?“ Miss Pringle hatte ihr Riechsalz hervorgeholt und schnüffelte herzhaft daran.

„Ich denke, ich nutze diesen Aufenthalt zu einem kleinen Spaziergang. Ich brauche frische Luft.“

„Aber Sie sind doch erst vor weniger als einer Stunde spazieren gegangen, beim letzten Pferdewechsel. Und bald sind wir in Bircham Hall. Können Sie nicht noch warten? Außerdem ist es bestimmt nicht sicher hier.“

Aber Ellie hatte bereits die Wagentür geöffnet und sprang auf die Straße, fest in ihren Mantel gewickelt.

Obwohl es noch nicht einmal vier Uhr war, begann es empfindlich kalt zu werden. Und der Nebel! Er waberte jetzt vom Meer her über das Land und umhüllte die Bäume ringsumher wie eine feuchtkalte gespenstische Decke. Die Straße vor Ellie war kaum noch zu erkennen, aber sie konnte sehen, dass ein großer Teil des Straßenbelags weggebrochen war.

Sie hatte wieder die Stimme ihres Vaters in den Ohren. Das liegt an der ungenügenden Entwässerung, Ellie. Sieh dir das schlechte Fundament an. Man kann keine Straße bauen, indem man einfach eine Schicht Steine auf den unbefestigten Untergrund streut. Die Römer wussten schon, dass man auf beiden Seiten einer Straße Gräben ziehen muss, damit das Wasser abfließen kann …

Lord Franklins Diener waren für solche Notfälle gerüstet, das hätte ihrem Vater gefallen. Die beiden Männer konnten sie nicht sehen, da sie im Dunkeln neben der Kutsche stand. Einer von ihnen hackte mit einer Axt dicke Äste von den Bäumen ab, die der andere auf den beschädigten Teil der Straße legte. So wurde die Oberfläche befestigt und würde für kurze Zeit das Gewicht der Pferde und der Kutsche aushalten.

Beim Zuschauen hörte sie, worüber sie sprachen.

„Hübsches kleines Ding, nicht? Das Mädchen? Und spricht richtig gut Englisch für eine Französin.“

„Ihre Mutter soll Engländerin gewesen sein. Eine englische Schlampe, die mit einem Franzosen durchbrannte. Ich hätte nichts dagegen, mit dieser hier abzuhauen …“

Ellies Wangen brannten. Schon wieder. Dieses dumme, giftige Geschwätz hatte sie schon so oft gehört. In aufrechter Haltung schritt sie weg von ihnen, die Straße entlang, auf der sie gekommen waren. Erst als die Dunkelheit Kutsche und Diener hinter ihr verschluckt hatte, spürte sie das Brennen der ungeweinten Tränen in den Augen.

Es ist nur die kalte Luft, dachte sie grimmig und rieb sich die Augen. Und die Kälte.

Sie ging weiter und dachte dabei an das Meer und das Fischerdorf. In welcher Richtung lag wohl die französische Küste? Südlich? Nach Osten? Sie griff tief in die Tasche in ihrem Mantel und zog eine kleine Lederschachtel hervor.

Doch dann schrak sie heftig zusammen, als eine große Gestalt plötzlich zwischen den Bäumen hervortrat. Die Schachtel fiel zu Boden und lag irgendwo im Unterholz neben der Straße.

„Ich an Ihrer Stelle“, sagte der Mann leise, „würde nicht versuchen zu fliehen. Es wäre zwecklos, fürchte ich.“

Ellies Magen krampfte sich angstvoll zusammen. Der Mann war groß und kräftig gebaut. Sie würde es in ihren schweren Reisekleidern niemals zurück zur Kutsche schaffen, bevor er sie einfing. Wer war er? Ein Wegelagerer? Vielleicht einer der Schmuggler, von denen Miss Pringle gesprochen hatte?

Jedenfalls sah er nicht wie ein gesetzestreuer Bürger aus. Sein langer Umhang war vielfach geflickt, die Stiefel voller Schmutz. Er musste weit gelaufen sein. Seine Wangen waren dicht mit Bartstoppeln bedeckt, und die langen Haare hingen zottelig um sein Gesicht. Doch seine Augen strahlten leuchtend blau, und sein Blick wirkte intelligent.

Ein Mann zum Fürchten. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, aber sie zwang sich zur Gelassenheit. „Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass ich nichts Wertvolles bei mir habe. Wenn Sie mich ausrauben wollen, verschwenden Sie nur Ihre Zeit.“

Seine Augen funkelten. „Ich will Sie nicht berauben. Bin nur neugierig. Ich habe gehört, dass Lord Franklin jetzt ein Mündel hat. Das müssen Sie sein.“

Was war mit seiner Stimme – dieser tiefen, rauchig klingenden Stimme? Warum jagte er ihr damit Schauer über den Rücken? Und wie hatte er erfahren, dass sie nach Bircham Hall kommen würde?

„Ich bin nicht Lord Franklins Mündel“, antwortete sie. Ruhig atmen, Ellie. Schau ihn mit der Verachtung an, die er verdient. „Es gibt allerdings eine familiäre Beziehung. Meine Mutter war mit ihm verwandt …“

Er kam näher. Ängstlich trat sie einen Schritt zurück. „Gewiss, Mam’selle“, sagte er sanft. „Plötzlich ist da dieser reiche englische Aristokrat und kümmert sich um Sie. Wie im Märchen. Man sagt, dass Lord Franklin ein großer Sammler ausländischer Kunstwerke ist. Was würde besser dazu passen, als ein hübsches französisches Mädchen vom Kontinent mitzubringen?“

Ihr Atem kam in schnellen Stößen. Sie war eine Närrin gewesen, sich so weit von der Kutsche zu entfernen. „Sie irren sich“, sagte sie mit fester Stimme, „wenn Sie glauben, ich würde mich einfach so … aufsammeln lassen. Lord Franklin hat mich aus Pflichtgefühl unter seinen Schutz genommen, das ist alles. Monsieur, lassen Sie mich bitte sofort gehen.“

Sie trat einen Schritt vor, aber er war schneller und stellte sich ihr in den Weg. Seine Größe und die beeindruckend breiten Schultern schüchterten sie ein.

„War Ihnen eigentlich bekannt“, meinte er, „dass Lord Franklin mit Ihnen verwandt ist, bevor Sie ihn kennenlernten?“

Einen Augenblick lang fühlte sie sich überwältigt von seinem harten und entschlossenen Gesichtsausdruck. Und den intensiv blauen Augen. Nein, nein, nein, so etwas will ich nicht.

Erinnerungen stiegen in ihr auf. Sie dachte an das schlecht möblierte Dachzimmer über der Bäckerei in Brüssel und an ihren sterbenden Vater auf seiner schmalen Matratze. Wie sie versuchte, sein Fieber zu senken, indem sie sein Gesicht mit kaltem Wasser abwusch. Dann die Bäckerin, die Witwe Gavroche, die zu ihr nach oben eilte und einen feinen englischen Gentleman ankündigte.

Ellie war ganz allein auf sich gestellt gewesen, ständiger Gefahr ausgesetzt, ohne Freunde und Geld. Sie hatte gehofft, diese Bedrohung läge nun hinter ihr, aber dieser Mann, der so plötzlich aus dem Nebel auftauchte, erinnerte sie daran, dass es nicht so war.

Sie musste fort. Aber die Schachtel …

Sie schaute auf dem Boden umher, bis sie sie plötzlich entdeckte. Schnell bewegte sie sich darauf zu, aber er war schneller und hatte die kleine Lederschachtel schon in der Hand.

Ellie spürte, dass ihr Gesicht plötzlich blutleer war. „Das gehört mir. Geben Sie es mir zurück!“

Er sah sie mit einem seltsamen Lächeln an, aber er ignorierte sie. Das Herz hämmerte ihr schmerzhaft in der Brust. Ihr fiel auf, dass er die Schachtel mit der linken Hand aufgehoben hatte und sie dort hielt, während er die rechte Hand benutzte, um sie langsam zu drehen.

An der rechten Hand trug er einen Handschuh, aber irgendetwas stimmte nicht damit. Die ersten beiden Finger fehlten. Aber er hatte anscheinend keine Schwierigkeiten, die Schachtel zu öffnen. Ellie fühlte sich fast krank, als sie den glänzenden Messing-Kompass ihres Vaters sah.

„Ein hübsches Ding“, sagte er mit anerkennender Stimme. „Das ist bestimmt etwas wert.“

„Möglicherweise. Oder auch nicht.“ Ellie ließ eine Hand in ihren Mantel gleiten. „Aber, Monsieur, wenn Sie noch ein bisschen Verstand übrig haben, geben Sie es mir zurück, oder ich schwöre Ihnen, dass Sie es bereuen werden.“

„Wie wollen Sie mich denn dazu zwingen?“

Anstelle einer Antwort hob sie die Pistole in ihrer Hand und entsicherte sie. Sie zielte genau auf sein Herz.

Er schien sich leicht anzuspannen, aber immer noch schaute er sie mit einem spöttischen Blick an. „Mam’selle“, sagte er vorwurfsvoll. „Also wirklich. Wollen Sie es auf die Spitze treiben? … Wissen Sie denn überhaupt, wie man mit einer Waffe umgeht?“

Diese Stimme. Dunkel und samtig. Bei jedem seiner Worte lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sie packte die Pistole noch fester. „Wollen Sie es herausfinden?“ Sie ließ ihre Stimme ganz ruhig klingen. „Geben Sie mir den Kompass zurück. Oder ich schieße.“

Er betrachtete sie mit abschätzendem Blick. Dann lachte er und überreichte ihr den Kompass mit einem kurzen Kopfnicken. Ellie griff hastig danach. Ihr Puls raste.

„Ein sehr ungewöhnliches Objekt“, meinte er ungerührt. „Vermutlich von einigem Wert, würde ich meinen.“ Er machte eine knappe Verbeugung. „Unsere Begegnung war sehr interessant, aber jetzt möchte ich Sie nicht länger aufhalten. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Bircham Hall. Zu Ihren Diensten, Mademoiselle.“

Und er war fort. Verschwunden im Nebel unter den Bäumen. So plötzlich und unerwartet, wie er erschienen war.

Immer noch bekam sie kaum Luft. Der Glanz in seinen blauen Augen beim Betrachten des Kompasses fiel ihr ein. Dieu. Hatte er etwa Zeit genug gehabt, ihn sich anzusehen? Wirklich anzusehen?

Mit großer Anstrengung gewann sie die Fassung zurück, sicherte die Pistole und schob sie zusammen mit der Schachtel wieder in ihre Manteltasche.

Sie eilte zurück zur Kutsche und versuchte sich zu beruhigen. Hoffentlich hatte der Kompass seine Aufmerksamkeit nur erregt, weil er ihn für wertvoll hielt. Aber er hatte eigentlich nicht wie ein gewöhnlicher Wegelagerer ausgesehen. Wer war er? Und woher wusste er so viel über sie?

Sie atmete tief durch. Die Antwort war vermutlich ganz einfach. Wie Miss Pringle nur allzu oft betont hatte, war Bircham Hall das größte und bedeutendste Haus in diesem Teil von Kent. Sicherlich war die Dienerschaft über ihre bevorstehende Ankunft informiert worden und hatte die Nachricht in der ganzen Umgebung verbreitet.

So hatte er wahrscheinlich erfahren, dass sie erwartet wurde und in welcher Beziehung sie zu Lord Franklin stand. Und er hatte die Kutsche beobachtet und gewusst, dass sie hier anhalten mussten. Vermutlich hatte er darauf spekuliert, die Insassen auszurauben. Mit ihrem kleinen Spaziergang hatte sie ihm eine perfekte Gelegenheit dazu verschafft.

Ein gewöhnlicher Dieb. Das war die plausibelste Antwort. Und doch konnte sie eine Ahnung nicht unterdrücken, dass seine wahren Absichten sehr viel bedrohlicher waren als ein Raubüberfall.

Sie sah Miss Pringle neben dem Wagen stehen. Offenbar war sie sehr besorgt und stieß einen Schrei aus, als sie Ellie sah. „Da sind Sie ja. Ich habe mir schon die schrecklichsten Dinge ausgemalt …“

„Mir geht es gut, Miss Pringle“, sagte Ellie beschwichtigend. „Wirklich.“

Ein Diener kam und teilte ihnen mit, dass sie weiterfahren konnten. Für den Rest der Reise nach Bircham Hall schloss Ellie die Augen und gab vor zu schlafen.

Doch sie bekam den Mann mit der verstümmelten rechten Hand und den gefährlichen blauen Augen nicht aus dem Kopf. Ein seltsames und ihr fremdes Gefühl hatte sie erfasst. Angst? Nein. Dieses Gefühl kannte sie nur zu gut. Aus Angst würde ihr Puls nicht so rasen, wenn sie an sein männliches Gesicht und sein verwegenes Lächeln dachte. Wenn sie Angst gehabt hätte, wären ihr nicht die langen dichten Wimpern dieses Mannes aufgefallen, und sie würde sich nicht so genau an die magisch geschwungenen Lippen erinnern. Und sie würde sich nicht fragen, wie viele Frauen er wohl schon geküsst hatte …

In Bircham Hall würde sie in Sicherheit sein, obwohl sie dort keine Freunde hatte. Der Mann war bestimmt nur ein gewöhnlicher Rüpel.

Dann schauderte sie. Es war ihr eingefallen, dass der Fremde in dem langen geflickten Umhang durchaus nicht wie ein Rüpel gesprochen hatte, sondern wie ein englischer Gentleman. Seine weiche Stimme hatte sie zutiefst berührt, obwohl jedes seiner Worte entweder eine versteckte Beleidigung oder eine Drohung gewesen war.

Jetzt bekam sie doch Angst. Sie hatte gehofft, außer Gefahr zu sein, wenn sie erst in England war, aber offenbar hatte sie sich getäuscht.

3. KAPITEL

An diesem Abschnitt der Küste senkte sich die Dämmerung immer sehr schnell herab und ließ die einsamen, mit Ginster bewachsenen Klippen und die meilenweiten Kieselstrände vor den Augen des Betrachters verschwimmen. Immer noch erinnerte vieles dort an den kürzlich beendeten Krieg mit Frankreich. In der Ferne sah man die trutzigen Umrisse eines Wehrturms, der für den Fall einer Invasion durch Napoleon erbaut worden war, und von Zeit zu Zeit ritten Soldaten aus Folkestone Patrouille entlang der Küste. Wahrscheinlich waren sie auf der Jagd nach Schmugglern.

Luke konnte in dem verbleibenden Licht gerade noch erkennen, dass die Landzunge und der Strand verlassen dalagen. Er hörte nur die Schreie der Möwen über dem Meer. Zu Fuß ging er durch den Wald und gelangte über die alten Schleichwege der Fischer und Farmer zu einem schmalen Pfad, der zu einem einsam stehenden Haus führte, das hinter dicht stehenden windschiefen Ahornbäumen stand.

Das Haus war an der Stelle erbaut worden, wo sich vor über tausend Jahren angeblich einmal eine Burg befunden hatte, von der aus man das Land gegen germanische Eroberer verteidigt hatte. Nun war es von dichtem Nebel eingehüllt. In der Stille vermeinte man manchmal Stimmen zu hören, die von lang vergangenen Schlachten flüsterten und von Menschen, die schon seit sehr langer Zeit tot waren. Die Einheimischen glaubten, dass es hier spukte. Sie behaupteten, dass die Felder ringsherum verflucht seien, weil sie sehr dürftige Ernten hervorbrachten und nur die robustesten Schafe dort überlebten. Aber Luke liebte dieses Land mit einer Leidenschaft, die ihm im Blut zu liegen schien.

Er liebte den Winter, wenn Eis und Schnee die karge Landschaft bedeckten und der eiskalte Wind heulend vom Meer her wehte. Luke liebte auch den Sommer, wenn die Weiden voller Schafe und Lämmer waren und die Vögel von morgens bis abends ihre Lieder sangen.

Ein Fremder würde das Haus von Weitem für unbewohnt halten, aber die Einheimischen wussten, dass dort Luke Danbury lebte, ein verschwenderischer Tunichtgut, der im Krieg als Captain in Spanien gekämpft hatte. Doch nun war der Familienbesitz bis unters Dach verschuldet, und der Eigentümer war die meiste Zeit irgendwo unterwegs. Was er eigentlich tat, wusste niemand.

Er unternimmt geheimnisvolle Seereisen, hatte er die Leute sagen hören. Führt wahrscheinlich nichts Gutes im Schilde. Ist ständig fort. Bestimmt spielt er und ist hinter Frauen her, flüsterte man hinter vorgehaltener Hand. Früher war er eine Zeitlang mit einer reichen Erbin verlobt gewesen, aber die war gerade noch davongekommen. Sein Land, das vor dem Krieg noch gute Erträge erbrachte, ließ er verkommen. Und der verschollene Bruder war auch eine Schande. Der Name der ganzen Familie war entehrt …

Über den Pfad erreichte man das vordere Tor, das immer offen stand. Es war so von Unkraut überwuchert, dass man es wahrscheinlich gar nicht mehr schließen konnte, wie Luke vermutete. Das Haus selbst sah verwaist aus, aus keinem Fenster schien Licht, und der Nebel kroch zwischen die Erker und Türmchen. Doch Luke bahnte sich den Weg durch den verwilderten Garten, an den verkrümmten Ahornbäumen vorbei, bis zum Hof und den Ställen hinter dem Haus, wo ihn eine brennende Laterne willkommen hieß.

Dort waren die Pflastersteine gefegt, es gab aufgestapeltes Feuerholz und Heuballen für die Pferde, alles sorgfältig unter einem Schutzdach gelagert. Zu dem Anwesen gehörten mehrere kleinere Höfe, für die hier Werkzeug zur Verfügung gestellt wurde. Die Pächter konnten es sich holen, wenn sie beispielsweise Zäune oder Gräben ausbessern wollten.

Darauf musste er sich jetzt konzentrieren – das Anwesen zu retten und den Lebensunterhalt der Männer und ihrer Familien zu garantieren, die davon abhingen. Doch er dachte auch über die Gerüchte nach, dass Lord Franklin Grayfield mit einem französischen Mädchen heimgekehrt sei. Einer entfernten Verwandten, wie man sich erzählte, die Lord Franklin unter seine Obhut genommen hatte.

Luke war sicher, dass Lord Franklin kein Mann war, der plötzlich sentimentale oder großzügige Anwandlungen hatte. Warum hatte er sich wohl die Mühe gemacht, dieses Mädchen – diese Verwandte – nach London mitzunehmen? Und warum hatte er sie von dort sogleich aufs Land nach Kent verbannt?

Es kursierten viele Vermutungen darüber in den Tavernen am Hafen von Bircham Staithe und in den Bierhäusern von Folkestone. Über einen reichen, cleveren und äußerst geheimnisvollen Mann wie Lord Franklin wurde immer gemunkelt. Auch über das Mädchen wurde schon geredet. Luke hatte erfahren, dass sie Elise Duchamp hieß und hübsch war – auf eine spezielle französische Art. Aber niemand hatte ihn darauf vorbereitet, dass sie mit einer Pistole in der Tasche herumlief und ganz offensichtlich genau wusste, wie man damit umging. Das hatte ihm niemand erzählt.

Würde er selbst sie als „hübsch“ bezeichnen? Ihre dichten schwarzen Locken, den üppigen Mund und die schrägen grünen Augen? Woran lag es, dass er plötzliches Verlangen empfand und am liebsten ihren schlanken Körper an sich gezogen hätte, um ihre weiblichen Kurven unter dem alten formlosen Mantel zu spüren?

Sie war aufregend auf mehr als eine Weise. Es gab mehr an ihr zu entdecken, als man auf den ersten Blick annehmen würde. Zum Beispiel ein Kompass.

Luke ging vorbei an den Ställen, wo die Pferde für die Nacht untergebracht waren. Einige von ihnen wieherten, als er im Vorbeigehen ihre Nasen streichelte und ihre Namen murmelte. Einen Moment später war er an der Hintertür und betrat den rückwärtigen Teil des Hauses. Er atmete den vertrauten Geruch nach altem Mauerwerk und Holzrauch ein, als er den Korridor zum Esszimmer im Herzen des alten Gebäudes durchquerte.

Bevor er dort war, hörte er bereits fröhliche Stimmen und wusste, dass Tom, die zwei Watterson-Brüder und Jacques es sich an dem großen Eichentisch bequem gemacht hatten. Sie aßen Mrs. Bartletts heißen Rindfleischtopf und tranken dazu französischen Rotwein.

Erfreut begrüßten sie Luke und holten ihm einen Stuhl, während Mrs. Bartlett, Toms Frau, aus der Küche kam und ihm einen Teller voll Eintopf brachte. Jacques schenkte Luke ein Glas Wein ein.

„Was hat dich aufgehalten, mein Freund?“, erkundigte sich Jacques neugierig. „Wir dachten schon, du wärst in die Stadt gegangen, um dir ein hübsches Mädchen anzulachen.“

Tom fragte geradeheraus: „Haben Sie herausgefunden, ob Lord Franklin in der Kutsche war?“

„War er nicht.“ Luke trank das Glas in einem Zug halb leer, dann stellte er es ab. „Er ist wahrscheinlich noch in London.“

„Wer sind das Mädchen und die ältere Frau?“

„Das Mädchen ist eine Verwandte von Lord Franklin, und die andere ist wahrscheinlich ihre Begleiterin.“

Tom nickte. „Ach ja. Das muss die Waise sein, die er aufgenommen hat. Das hat hier jeden sehr überrascht, wo er doch sonst so ein kalter Fisch ist.“

„Sie soll Französin sein“, warf Josh Watterson eifrig ein, während Tom aufstand, um neues Feuerholz zu holen. „Das finde ich interessant.“

„Möglich.“ Luke goss sich noch mehr Wein ein, die anderen widmeten sich wieder ihrem Essen. Alle außer Jacques, der ihn genau beobachtete.

Monsieur Jacques nannten ihn Lukes Männer. Er war als Soldat von den Engländern gefangen genommen worden und hatte als Kriegsgefangener im Gefängnis gesessen, bis Luke ihn befreite. „Ich helfe meinen Freunden, so wie sie mir helfen“, pflegte er zu sagen.

Um seine Schulden zu bezahlen, segelte Jacques jetzt geschickt und mutig in dunklen und nebligen Nächten mit seinem kleinen Boot hin und her zwischen der Küste Frankreichs und Englands. Doch jetzt schob er stirnrunzelnd seinen leeren Teller zur Seite und meinte nachdenklich: „Warum sollte Lord Franklin ausgerechnet jetzt auf eine junge französische Verwandte stoßen? Warum nicht schon früher? Wusste er nichts von ihrer Existenz? Reiche Leute haben doch gewöhnlich einen gut dokumentierten Stammbaum.“

„Das stimmt.“ Luke hörte kurz auf zu essen. „Der Zeitpunkt ist überaus merkwürdig, um eine entfernte Verwandte bei sich aufzunehmen. Noch dazu eine mittellose, wie ich vermute.“

„Das denke ich auch. Ob er wohl ein Auge auf das Mädchen geworfen hat?“

Darüber musste Luke laut lachen. „Sehr unwahrscheinlich. Man sagt, dass Lord Franklin seit dem Tod seiner Gattin vor zehn Jahren keine Frau mehr angerührt hat. Und die mochte er auch nicht besonders gern.“

Jacques lächelte. „Also ist eine Liaison eher unwahrscheinlich. Aber aus welchem Grund hat er sich dann die Mühe gemacht, sie nach England zu bringen? Und warum ausgerechnet nach Bircham Hall?“

„Wenn ich es weiß, sagte ich es dir gern.“

„Muss ich mir Gedanken machen, dass diese französische Demoiselle reizvoller für dich ist, als du zugibst?“

Luke trank genießerisch einen Schluck Wein. „Nein“, sagte er. „Zu jung und zu stolz. Außerdem habe ich momentan genug um die Ohren.“

„Mit deinem Anwesen und den Höfen? Höre ich da – hoffentlich – einen gewissen Optimismus heraus?“

Luke lehnte sich zurück und nahm sich Zeit für seine Antwort. „Ich weiß nicht, ob es Optimismus ist oder Dummheit. Ich habe ein paar neue Pächter für die Höfe und das Land gefunden – aber ist dir bekannt, wie stark die Preise für Getreide im letzten Jahr gefallen sind? Ich habe genügend Arbeit für die Männer, das ist wahr, aber vielleicht ist alles vergeblich.“

„Wünschst du dir jetzt, du hättest deine Erbin geheiratet?“

„Nein. Das liegt ja nun auch schon drei Jahre zurück. Im kommenden Frühling heiratet sie einen anderen Mann, den ihr Vater für passender hält.“

„Du gibst ihnen etwas, das noch besser ist als Geld, nämlich Hoffnung. Denke daran.“

Luke schaute sich niedergeschlagen um. „Ich schiebe nur den Bankrott vor mir her. Alles Wertvolle, das je meiner Familie gehörte, habe ich schon verkauft.“

„Du kannst immer noch für die Ehre deiner Familie kämpfen. Morgen fahre ich wieder nach Frankreich, und wenn dein Bruder noch lebt, mache ich ihn ausfindig, das schwöre ich dir.“

Tom Bartlett kam mit Holzscheiten für das Feuer herein. „Sprechen Sie über den Bruder des Captains?“, fragte er erwartungsvoll. „Wer weiß, vielleicht taucht er ja eines Tages ganz unerwartet hier auf. Ich sehe es vor mir, Captain Luke. Er wird den Weg hinaufgeritten kommen und alles wird so sein wie früher.“

Jacques nickte zustimmend. „Das ist die richtige Einstellung. Lasst uns das Glas erheben auf den Bruder des Captains.“

„Auf Anthony“, wiederholten sie. „Auf eine sichere Heimkehr.“

Das Feuer brannte herunter, es wurde Mitternacht und irgendwann gingen sie zu Bett, weil sie vor Sonnenaufgang aufstehen mussten.

Alle außer Luke.

In dem großen Haus war es so still, dass er das Flüstern des Windes draußen in den Bäumen und das Rauschen der Wellen unten am Kieselstrand hören konnte. In der Ferne schrie ein Nachtvogel.

Er ging zum Kamin und stocherte in der Glut. Versehentlich hob er das Schüreisen mit der verstümmelten rechten Hand. Die schwere Stange fiel scheppernd zu Boden. Verdammt. Er war für niemanden mehr von Nutzen, am wenigsten für sich selbst. Ungehalten streifte er den schwarzen Lederhandschuh ab und starrte die Stellen an, wo früher seine Finger gewesen waren. Die Wunden waren fast verheilt, und an die Schmerzen in den verstümmelten Fingergliedern hatte er sich gewöhnt.

Doch an einen Gedanken würde er sich nie gewöhnen – dass sein jüngerer Bruder wahrscheinlich für immer verloren war. Tot wie die anderen. In den vergangenen Monaten hatte er immer wieder seine verletzte Hand verflucht, weil sie ihn davon abhielt, mit Jacques nach Frankreich zu segeln und nach Antworten zu suchen.

Vielleicht waren die Antworten ja hier in England zu finden – und nicht in Frankreich. Vielleicht sollte es so sein, dass er hier erfahren würde, was wirklich mit Anthony und seinen tapferen Kameraden geschehen war. Warum sie verraten worden waren – und von wem.

Luke musste an Lord Franklin Grayfield denken. Er war ein reicher Witwer, ein verschlossener, aber kluger Mann, der einen Sohn in Indien hatte, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Lord Franklin Grayfield, dem man nachsagte, dass er sich mehr für seine Kunstsammlung interessiere als für weibliche Gesellschaft.

Warum gab der Mann ein fremdes französisches Mädchen als seine Verwandte aus – das Mädchen, dem Luke heute Nachmittag begegnet war? Er versuchte den schwachen Lavendelduft ihrer cremeweißen Haut zu vergessen und auch den Gedanken an ihre offenkundige Verletzlichkeit und die tiefe Traurigkeit in ihrem Blick. Er dachte daran, wie entschlossen sie die Pistole benutzt hatte.

Caroline hatte immer mädchenhaft bei jeder Erwähnung von Krieg oder Waffen gekreischt. Dieses französische Mädchen jedoch hatte mit seiner zierlichen Waffe so geschickt hantiert, als gebrauchte es sie täglich. Was für ein Leben hatte sie wohl geführt, bevor sie nach England gekommen war? Und was sollte er von dem Kompass halten, den sie fallen gelassen hatte?

Es war eine erstaunliche Gravur darauf. Bei dem bloßen Gedanken daran schlug sein Herz schneller. Und dann der Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie ihm den Kompass entriss … Kein Wunder, dass sie ihn unbedingt hatte zurückhaben wollen.

Wer war sie wirklich? Und was in aller Welt hatte sie hier zu suchen, unter Lord Franklins Fittiche?

4. KAPITEL

Ellie war noch wach und saß allein am Fenster ihres großen kalten Zimmers in Bircham Hall. Mitternacht war schon vorbei, aber sie konnte nicht schlafen, denn sie musste noch nachdenken. Diesen Tag würde sie niemals vergessen.

Nachdem die Straße repariert worden war, waren sie sofort weitergefahren. Sie hatten bald die Hauptstraße verlassen, ein Tor bei einem Pförtnerhäuschen passiert und waren dann einer langen privaten Zufahrt gefolgt. Im Licht der Kutschenscheinwerfer hatte Ellie kahle Bäume in einem weitläufigen Park gesehen.

Schließlich hatte sie zum ersten Mal Bircham Hall erblickt. Es war ein prächtiges viereckiges Gebäude. Zu beiden Seiten des riesigen Säuleneingangs brannten Fackeln so hell, als wollten sie der Januarnacht trotzen.

Lord Franklins Landsitz. Es war ein prachtvolles Haus, aber auf sie wirkte es protzig und abweisend. „Oh, sehen Sie!“, rief Miss Pringle, die auch aus dem Wagenfenster spähte. „Endlich sind wir am Ziel, Elise. Und das ganze Gesinde hat sich draußen aufgestellt, um Sie zu begrüßen.“

Ellie hatte es bereits gesehen. Vor dem Haus standen in der Kälte aufgereiht die schwarz gekleideten Mägde und daneben, stramm wie Soldaten, die Diener in blaugoldener Livree.

Alle warteten auf sie. Ellie wurde es schwer ums Herz.

Miss Pringle dagegen sprudelte geradezu über vor Begeisterung. „Welch eine Ehre für Sie“, sagte sie leise, als die Knechte herbeieilten, um die Pferde festzuhalten und die Trittstufen des Wagens auszuklappen. „Was für eine große Ehre! Und hier ist Mr. Huffley, der Butler Seiner Lordschaft …“

„Miss Pringle. Mademoiselle.“ Der Butler machte eine steife Verbeugung, als sie ausstiegen. „Es ist mir eine Freude, Mademoiselle, Sie hier in Bircham Hall herzlich willkommen zu heißen. Erlauben Sie mir, Ihnen unsere Haushälterin vorzustellen, Mrs. Sheerham.“

Die Frauen knicksten, die Diener verbeugten sich vor Ellie. Alle waren sehr höflich und zeremoniell, obwohl sich vor den Mündern weiße Atemwolken in der eiskalten Luft bildeten. Ellie versuchte alles so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, dann folgte sie Mr. Huffley die Steintreppe hinauf in das Haus hinein.

„Lady Charlotte wird schon auf Sie warten“, flüsterte Miss Pringle ihr zu. „Ich kann es kaum erwarten, Ihre Ladyschaft wiederzusehen.“

Die Eingangshalle hatte enorme Ausmaße. Die Wände waren mit Wappen und Hirschköpfen geschmückt. Etliche Statuen standen an beiden Seiten der Halle. Es waren liegende Figuren aus weißem Marmor, steinerne Büsten auf hohen Sockeln und andere wertvolle Gegenstände, die vermutlich aus dem antiken Griechenland, Rom oder Ägypten stammten.

Diese zahlreichen Objekte aus der fernen Vergangenheit sind hier nur zu dem Zweck angehäuft, den Reichtum und die Bedeutung all derer zu unterstreichen, die hier wohnen, dachte Ellie. Und inmitten all dieser Pracht, als wäre sie selbst ein Teil dieser Erhabenheit, saß eine Frau Anfang siebzig. Sie trug ein schwarzes Kleid und eine spitzenbesetzte Haube auf dem eisgrauen Haar – und sie saß in einem Rollstuhl. Zu ihrer Rechten und Linken standen in stocksteifer Haltung zwei livrierte Diener.

„Eure Ladyschaft …“, hauchte Miss Pringle und machte einen tiefen Knicks.

Plötzlich hatte Ellie einen trockenen Mund. Sie versank ebenfalls in einen tiefen Knicks. Niemand hatte den Rollstuhl erwähnt. Niemand hatte ihr gesagt …

Sie richtete sich auf und stellte fest, dass Lady Charlotte sie mit unfreundlichen Blicken musterte. „Sie müssen Elise Duchamp sein“, sagte sie. Man hörte ihre Abneigung gegen die Ausländerin in jeder Silbe. „Ich bin Lord Franklins Mutter. Er hat sich also entschieden, Sie nach Bircham abzuschieben? Das wär’s dann wohl, denke ich, mit Ihren Hoffnungen, meinen Sohn in die Ehe zu locken.“

Ellie war entsetzt. Nie, niemals hatte sie auf diese Weise an Lord Franklin gedacht. Herr im Himmel! Er war gut doppelt so alt wie sie. „Ich versichere Ihnen, Mylady, dass ich niemals eine solche Absicht gehegt habe!“

Lady Charlotte rollte auf sie zu, sodass Ellie gezwungen war zurückzuweichen. „Sie werden mir doch nicht weismachen, dass Sie nicht hinter ihm her sind? Es mag vielleicht Leute geben, die Ihnen glauben. Ich tue es nicht. Denken Sie immer daran, Elise – ich werde Sie stets im Auge behalten.“

Ihre Ladyschaft schaute zu Miss Pringle. „Es ist fast fünf Uhr. Pringle, ich hoffe, Sie haben ausnahmsweise einmal ein wenig Verstand gezeigt und dem Mädchen mitgeteilt, dass es um sechs Uhr Dinner gibt? Wir sind hier nicht so verwöhnt wie die Leute in der Stadt.“ Sie winkte die beiden Diener herbei, die während der gesamten Szene starr geradeaus geblickt hatten. „Bringt mich in mein Zimmer. Sofort.“ Ellie schaute sprachlos zu, wie die Diener die alte Dame wegschoben.

Wie hatte sie sich darauf einlassen können, dass man sie hierherbrachte? Warum hatte sie diesen Leuten vertraut?

Doch wie hätte sie ihrem sterbenden Vater seine letzte Bitte abschlagen sollen? „Du musst mit ihm gehen, Ellie. Nach England. Du musst.“

„Papa“, hatte Ellie eingewandt. „Wir kennen ihn doch gar nicht.“

Aber ihr Vater hatte darauf bestanden. „Bei Lord Franklin wirst du so sicher sein, wie du es bei mir nie warst“, hatte er gesagt. „Versprich es mir …“

Miss Pringle war immer noch ganz aufgelöst. „Welch eine Ehre für Sie, Elise“, rief sie. „Wie wundervoll, von Lady Charlotte persönlich empfangen zu werden.“

Doch ihre Hände zitterten, und Ellie merkte, dass Miss Pringle Angst vor Lady Charlotte hatte. Todesangst sogar. Dann stand die Haushälterin vor ihnen und sagte zu Ellie: „Darf ich Sie zu Ihrem Zimmer bringen, Madam?“

Ellie folgte ihr. Sie fühlte sich wie betäubt.

Man hatte ihr ein geräumiges Zimmer im ersten Stock zugewiesen. Ihr Schrankkoffer und ihr kleiner Koffer standen bereits in dem Schlafzimmer neben ihrem privaten Salon.

Schnell ging sie zu ihrem Gepäck, weil sie nachprüfen wollte, ob alles noch abgeschlossen war. Sie schaute sich um. Die dichten Vorhänge waren an allen Fenstern zugezogen, in beiden Räumen brannte ein Feuer im Kamin, ein Dutzend brennende Wachskerzen vertrieben die Dunkelheit. Es war so luxuriös, dass es sie beinahe überwältigte.

„Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit, Madam?“ Mrs. Sheerham stand immer noch an der Tür.

„Ja. Danke. Es ist … es ist wunderbar.“

„Sehr wohl, Madam.“ Mrs. Sheerhams Miene wurde bei dem Lob ein wenig freundlicher. „Sicherlich hätten Sie gern Tee und eine Zofe, die Ihnen beim Auspacken hilft? Ich schicke Ihnen gleich ein Mädchen.“ Sie ging, und Ellie zog langsam ihren Mantel aus.

Lady Charlotte hasst mich. Sie will mich hier nicht.

Kaum hatte sie ihren Mantel auf das Bett gelegt, da klopfte es schon an der Tür und zögernd trat ein Mädchen ein, das ein schwarzes Kleid mit weißer Schürze trug.

„Ich heiße Mary, Madam“, sagte sie und machte einen kleinen Knicks. „Mrs. Sheerham hat mir gesagt, ich soll zu Ihnen gehen und Ihnen helfen. Und ich habe Tee mitgebracht.“ Mary eilte wieder nach draußen und kam mit einem Tablett mit Teegeschirr zurück. Sie stellte es auf einen kleinen Tisch im Salon.

„Während Sie Ihren Tee trinken“, fuhr Mary fort, „packe ich schon mal Ihre Koffer aus, wenn es recht ist.“ Eifrig sah sie zu Ellies Schrankkoffer und dem kleineren Handkoffer, aber sie war offenbar etwas enttäuscht. „Ist das alles?“

Ellie hatte schon davon gehört, dass die meisten Damen der Gesellschaft so viel Gepäck hatten, dass dafür ein eigener Wagen benötigt wurde. „Ich habe nur den einen großen Koffer, Mary, tut mir leid“, sagte sie schnell. „Und ja, ich wäre dankbar, wenn du ihn auspacken würdest.“

„Und was ist mit dem kleinen? Ich könnte …“

„Nein“, fiel ihr Ellie ins Wort. Mary starrte sie überrascht an. „Ich meine“, fuhr Ellie fort, „es ist nicht viel in dem Köfferchen. Meine Kleider sind alle in dem großen. Also wenn du die auspackst, wäre ich dir sehr dankbar.“

„Selbstverständlich, Madam!“ Zügig machte Mary sich daran, Ellies Kleider auszupacken und in den Schrank zu hängen. Einiges faltete sie zusammen und verteilte es auf die verschiedenen Kommodenschubladen, die mit getrocknetem Lavendel ausgelegt waren und angenehm dufteten. Das Mädchen war entzückt von den seidenen Roben, den Samtumhängen und der exquisiten Unterwäsche. „Oh, Madam. Ist das alles aus Paris?“

Ellie schüttelte den Kopf. „Aus London. Lord Franklin hat alles von einer Schneiderin für mich anfertigen lassen.“

Mary betrachtete sehnsüchtig ein rosenfarbenes Abendleid. „Ich weiß bloß nicht, wann Sie das anziehen wollen. Es ist sehr kalt hier in Bircham Hall. Und Lady Charlotte hat nicht gerade viele Gäste und feiert keine Partys …“

„Das ist nicht schlimm“, meinte Ellie rasch. „Ich mache mir nicht viel aus Partys und Kleidern.“

„Wirklich nicht, Madam? Trotzdem ist es jammerschade für Sie, dass es hier so ruhig ist. Wenn Sie in London geblieben wären …“ Mary hob bewundernd ein besticktes Unterkleid hoch, bevor sie es sorgfältig in eine Schublade legte. Sie blickte sich immer noch im Zimmer um. „Ihr Mantel“, sagte sie plötzlich und deutete auf das Bett. „Er wird nach der langen Reise voller Staub sein. Soll ich ihn mit nach unten nehmen und ausbürsten?“

„Nein!“ Ellie war einen Schritt vorgetreten, um das Mädchen aufzuhalten. „Nein, das wäre alles, Mary.“ Mühsam bewahrte sie äußerlich ihre Ruhe. „Ich danke dir.“

„Sehr gern geschehen, Madam. Sie haben Ihren Tee noch nicht getrunken. Macht nichts. Ich komme später wieder und hole das Tablett ab.“ Zögernd schaute Mary sich noch einmal um. „Bald wird es Zeit für Sie, zum Dinner nach unten zu gehen. Um zehn vor sechs hören Sie unten die Glocke läuten. Oh, und Ihre Ladyschaft mag es nicht, wenn jemand zu spät kommt.“ Ihre fröhliche Stimme wurde ein wenig leiser. „Sehr speziell, Ihre Ladyschaft. Sehr speziell.“

Mary ging hinaus. Sobald ihre flinken Schritte verhallt waren, lehnte Ellie sich an die Tür. Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass man mich hierherbringt. Sie ging zu ihrem Mantel und zog aus einer der inneren Taschen die Pistole und die Schachtel mit dem Kompass heraus. Sie drückte die Dinge an sich.

Der Mann. Der Mann auf der Straße … Sie wusste noch genau, wie sie sich gefühlt hatte neben ihm. Er hatte so kraftvoll und gefährlich attraktiv ausgesehen. Nie würde sie vergessen, wie schnell ihr Puls geschlagen hatte, als sich ihre Blicke begegnet waren. Sie musste ihn aber vergessen, denn sie würde ihn nie wiedersehen.

Sie legte die Pistole und den Kompass auf das Bett, löste das silberne Kettchen von ihrem Hals und nahm ein Schlüsselchen davon ab, um damit den kleinen Handkoffer aufzuschließen. Darin befanden sich mehrere sorgfältig gefaltete Karten und Tabellen und darunter noch andere Objekte, eingewickelt in schwarzen Samtstoff. Der Reihe nach packte sie alles aus.

Das Prisma eines Landvermessers. Ein winziges Teleskop zum Ausklappen. Eine Lupe mit Ebenholzgriff. Ein kleiner Geologenhammer.

Sie wickelte alles wieder ein und verstaute es auf dem Boden der Tasche. Die Pistole und den Kompass legte sie dazu und oben darauf die Dokumente.

Bevor sie das Köfferchen verschloss, nahm sie noch eines der Dokumente zur Hand und breitete es vorsichtig aus.

Sie las die Überschrift. Eine Karte des Tals der Loire und seiner Geologie. Entworfen und gezeichnet von A. Duchamp, Paris, im Jahre Unseres Herrn 1809 …

Sie betrachtete die Karte mit der Signatur ihres Vaters und strich mit den Fingerspitzen darüber, während die Erinnerungen auf sie einstürmten.

5. KAPITEL

Ellies Vater, André Duchamp, war Geologe, Landvermesser und Kartograph gewesen. Er hatte mit Frau und Tochter in Paris an der Rue Tivoli in der Nähe von St. Denis gelebt. Von dem kleinen Balkon aus hatte Ellie hinunter auf die Hauptstraße sehen können. Als fünfjähriges Kind war sie beeindruckt von den vorbeimarschierenden Soldaten gewesen, die stolz ihre Trikolore hochhielten. Zwei Jahre später hatte sie sogar Napoleon selbst auf einem weißen Pferd an der Spitze seiner Kavallerie gesehen, wie er die Jubelrufe der Menge entgegennahm.

„Er ist ein großer Mann“, hatte ihr Vater oft gesagt. „Er wird Frankreich Frieden und Wohlstand bringen.“

Ihre Wohnung war nur klein, aber ihr Vater hatte ein eigenes Arbeitszimmer. Ellie durfte ihm oft zusehen, wenn er seine Karten zeichnete. Sie war besonders fasziniert von seinen Teleskopen und Sternkarten, denn er war auch ein begeisterter Astronom. „Warum soll ich nur Karten vom Boden unter meinen Füßen zeichnen?“, pflegte er zu sagen. „Wenn es noch den ganzen Himmel zu erforschen gibt?“

Am liebsten sah sie sich die geologischen Proben an, die er in einem Glaskabinett aufbewahrte. Ellie erschienen sie so schön wie Edelsteine, und ihr Vater erzählte ihr begeistert von jedem einzelnen Stein.

„Du weißt so viel, Papa“, meinte sie dann bewundernd.

Er strich ihr über das Haar. „Ach, es gibt immer noch so viel zu lernen, Kleines.“

„Gehst du deshalb so oft auf Reisen?“

„Das ist mein Beruf, Ellie. Ich habe Glück, dass ich meine Tätigkeit liebe.“

Sie war immer traurig, wenn ihr Vater fort war. Er war oft tagelang unterwegs, manchmal sogar wochenlang. Erst viel später begriff sie, warum er so viel zu tun hatte. Seine Sachkenntnis in Geologie und Kartographie machte ihn zu einem wertvollen Fachmann bei der Planung und dem Bau von Straßen, die alle Städte und Häfen in Frankreich verbinden sollten.

Wenn er weg war, schaute Ellie aus dem Fenster auf die Straße und wartete auf ihn. Sie wusste noch nicht, dass Kaiser Napoleon an Frankreichs Grenzen und weit darüber hinaus Krieg führte. Doch als die Jahre vergingen, war ihr Vater immer seltener zu Hause, und wenn er heimkehrte, wirkte er oft bedrückt und in sich gekehrt, obwohl er immer lächelte, wenn er seine Tochter sah.

Als Ellie siebzehn war, starb ihre Mutter nach kurzer Krankheit. Ihrem Vater brach es fast das Herz. Nur wenige Wochen nach dem Begräbnis packte er alle Wertsachen in einen kleinen Lederkoffer. Seine Hände zitterten, als er sagte: „Ellie, mein Liebling, wir müssen aus Paris fliehen. Wir sind in dieser Stadt nicht mehr sicher.“

Von da an waren sie auf der Flucht. Irgendwann gewöhnte sie sich daran, unter falschem Namen zu reisen, und oft waren sie bei Nacht unterwegs. Wenn sie Geld hatten, nahmen sie die Postkutsche, wenn sie keins hatten, fuhren sie auf Bauernkarren mit oder gingen zu Fuß.

Zuerst reisten sie nach Le Havre, wo ihr Vater Verwandte hatte, doch diese waren in den Wirren von Revolution und Krieg nicht mehr auffindbar. Nach mehreren kalten und einsamen Wochen kam eines Tages ihr Vater mit der Nachricht zurück, dass man ihnen immer noch auf den Fersen sei, darum reisten sie wieder ab und wandten sich nach Norden.

Wenn sie einen ganzen Tag lang kein Anzeichen von Verfolgung bemerkten, gönnten sie sich ein Zimmer in einem Gasthof, selbst wenn es verlaust war und nur ein paar klumpige Strohmatratzen bot. Meistens jedoch mussten sie in Scheunen oder verfallenen Häusern übernachten.

Und bald musste Ellie die Stärkere von beiden sein, weil ihr Vater zu kränkeln begann. Sie musste Dinge tun, die sie früher für unmöglich gehalten hätte – lügen, stehlen, sogar kämpfen. Ihr Vater hatte ihr gezeigt, wie man die kleine, aber tödliche Waffe benutzte, obwohl sie glücklicherweise nie gezwungen war, sie abzufeuern.

Sie musste nun die Entscheidungen treffen und Medizin für ihren kranken Vater auftreiben, denn er wurde von Tag zu Tag schwächer.

„Bald sind wir in Sicherheit, Ellie“, murmelte er jeden Abend, wenn er behutsam seinen kleinen Koffer auspackte und die wertvollen Instrumente überprüfte. „Bald müssen wir nicht mehr weglaufen.“

Für ihren Papa war die Flucht tatsächlich bald zu Ende. Als Lord Franklin sie in Brüssel aufsuchte, lag er mit Lungenentzündung darnieder. Lord Franklin Grayfield war ein reicher englischer Aristokrat mittleren Alters, der oft im Ausland gereist war, wie er Ellie in fließendem Französisch mitteilte. Er war fasziniert von der Kunst und Kultur in Europa und ständig auf der Suche nach neuen Stücken für seine Sammlung von Gemälden und Skulpturen. Zu seinem großen Bedauern hatte der Krieg für lange Zeit seine Reisen unmöglich gemacht. „Doch nun“, teilte er ihr mit, „werde ich die verlorene Zeit nachholen.“

Nie in ihrem Leben war Ellie so erstaunt gewesen wie an jenem Tag in der Brüsseler Dachkammer, als er ihr mitteilte, ihre Mutter sei seine entfernte Verwandte von ihm gewesen.

Ellie konnte es kaum glauben. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass ihre englische Familie sie verstoßen habe, weil sie einen französischen Kartenmacher heiraten wollte.

„Ich wünschte, ich hätte früher davon erfahren“, sagte Lord Franklin mit aufrichtiger Miene. „Aber leider habe ich erst vor wenigen Wochen vom Tod Ihrer Mutter erfahren und mir geschworen, Sie zu finden. Dann hat mich meine Suche nach Antiquitäten nach Brüssel geführt, und zufällig hörte ich auf dem Marktplatz jemanden sagen, dass ein Gentleman aus Paris namens Duchamp hier mit seiner Tochter lebt.“

Mit klopfendem Herz hörte Ellie zu. Seit sie in Brüssel waren, lebten Ellie und ihr Vater unter ihrem richtigen Namen, aber sie hatten alles getan, um zu verheimlichen, dass sie aus Paris kamen.

Lord Franklin war freundlich. Er bezahlte für die Visite eines teuren Arztes, obwohl es schon viel zu spät war, um noch etwas gegen die Krankheit zu bewirken. Er bezahlte auch für das Begräbnis, und danach nahm er Ellies Hand und sagte freundlich: „Sie müssen mit mir nach England kommen, Elise. Ich verspreche Ihnen, dass ich mein Möglichstes tun werde, Ihnen in Ihrem schrecklichen Kummer beizustehen.“

Er fragte nie, warum sie und ihr Vater Paris verlassen hatten, war rücksichtsvoll und großzügig, doch sie blieb misstrauisch und wäre lieber in Brüssel in der kleinen Kammer über der Bäckerei geblieben, wo Madame Gavroche und ihr Sohn gut zu ihr waren. Aber es war der Wunsch ihres sterbenden Vaters gewesen, also was hätte sie anderes tun können als einzuwilligen?

So reiste Ellie nach England. Zuerst in einer teuren Mietkutsche bis nach Calais, dann auf Lord Franklins privater Jacht über den Kanal bis nach Tilbury. Von dort aus fuhren sie weiter in Lord Franklins eigener Kutsche zu seinem prachtvollen Londoner Stadthaus. Sie bewunderte die herrlichen Gebäude der Großstadt und war überwältigt von dem luxuriösen Haus auf der Clarges Street in Mayfair, wo Lord Franklin residierte. Dort bot ihr neuer Beschützer ihr jeglichen Komfort.

Ellie war von ungeahntem Luxus umgeben. Sie bekam ihre eigene Zofe, und in rascher Folge wurden ein Friseur, eine Schneiderin und eine Hutmacherin einbestellt. Bald besaß sie viele teure und modische Kleider, aber trotz seiner Freigiebigkeit machte Lord Franklin sie nie mit jemandem bekannt und ließ sie auch nie ausgehen. Einmal fragte sie ihn, ob er noch Kontakt zu den übrigen Verwandten ihrer Mutter habe, aber er meinte nur, die meisten seien tot oder lebten irgendwo im Norden. Mit denen brauche sie sich nicht zu befassen.

Doch obwohl es ihr widerstrebte, in dem großen Haus eingesperrt zu sein, war sie entschlossen, das Versprechen zu halten, das sie ihrem Vater gegeben hatte.

Ihr Vertrauen in Lord Franklin erfuhr jedoch einen ernsthaften Knacks, als sie eines Tages in ihr Zimmer kam und feststellen musste, dass in ihrer Abwesenheit jemand in ihren Habseligkeiten gewühlt hatte.

Ihr wurde ganz elend vor Entsetzen und Angst. Niemandem außer ihr wäre etwas aufgefallen, aber sie bemerkte jede Veränderung sofort. Jemand hatte jeden persönlichen Gegenstand in ihrem Zimmer genauestens untersucht. Sogar ihre Bücher standen nicht mehr an genau derselben Stelle wie vorher.

Mit klopfendem Herzen holte sie den alten kleinen Koffer ihres Vaters unten aus dem Schrank. Er war noch abgeschlossen, aber bei genauem Hinsehen fand sie Kratzer am Schloss. Jemand hatte versucht, ihn zu öffnen.

Sie ging nach unten zu Lord Franklin. Er war häufig außer Haus, aber von der Haushälterin hatte sie erfahren, dass er zufälligerweise in seinem Studierzimmer war und mit einem Mr. Appleby sprach, dem Verwalter von Bircham Hall.

Ellie klopfte und trat ein.

„Elise!“ Lord Franklin drehte sich mit dem gewohnt freundlichen Gesichtsausdruck zu ihr um. „Was kann ich für Sie tun?“

Neben ihm stand Mr. Appleby. Er war etwas älter als Lord Franklin und trug einen schwarzen Rock und Kniehosen. Seine grauen Haare waren kurz geschnitten, und eine Brille saß auf seiner Nasenspitze. Sie schaute ihn an und sagte dann zu Lord Franklin: „Mylord, jemand hat in meiner Abwesenheit meine Sachen und mein ganzes Zimmer durchsucht.“ Gegen ihren Willen zitterte ihre Stimme ein wenig. „Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie das Personal dazu befragen würden. Ich kann so etwas nicht dulden.“

Mr. Appleby sah so erbost aus, als hätte sie Lord Franklin zu einem Duell gefordert. Lord Franklin hingegen runzelte besorgt die Stirn.

„Das ist eine ernste Anschuldigung, meine Teure“, sagte er leise. „Sind Sie sicher?“

„Ganz sicher, Mylord.“

„Zweifeln Sie vielleicht an der Aufrichtigkeit meiner Dienerschaft, Elise? An ihrer Ergebenheit für mich? Fehlt denn etwas?“

„Nein, aber darum geht es nicht …“

Lord Franklin wandte sich an seinen Verwalter. „Würden Sie uns einen Moment allein lassen, Appleby?“

„Nun, Elise“, meinte Lord Franklin, als der Mann gegangen war. „Seit einiger Zeit schon glaube ich, dass London möglicherweise nicht der richtige Ort für Sie ist. Vielleicht möchten Sie ja lieber eine Zeitlang in meinem Landsitz in Kent wohnen? Er befindet sich in einer friedlichen Gegend in Küstennähe. Dort können Sie sich vielleicht nach all den Entbehrungen, die Sie erleiden mussten, besser erholen als in London. Haben Sie Einwände?“

Ellie hatte bereits einen kurzen, wilden Moment lang überlegt, aus dem Mayfair-Haus zu entfliehen und wegzulaufen nach … ja, wohin?

Seine Lordschaft öffnete ihr die Tür. Ihre Unterredung war beendet. „Bircham“, teilte er ihr mit, „ist kaum sechzig Meilen von London entfernt. Es ist eine bequeme Fahrt, wenn man sich zwei Tage dafür Zeit nimmt. Dort werden Sie es sehr komfortabel finden.“ Er stand an der geöffneten Tür und erwartete ihre Zustimmung. Die Stimme ihres Vaters hatte sie immer noch im Ohr. Bei Lord Franklin bist du sicher.

Sie neigte den Kopf. „Wie Sie wünschen, Mylord.“

Und nun war sie hier in Bircham Hall. Es war kurz vor sechs Uhr und gleich würde das Dinner serviert werden. Aufgeregt lief sie im Zimmer auf und ab. Es muss hier sicherer sein als in Frankreich, sagte sie sich immer wieder. Und sicherer als in London, wo man ihr Zimmer durchsucht hatte. Doch hier gab es eine neue Gefahr.

Mit Lord Franklins Furcht einflößender Mutter würde sie sicher fertigwerden. Doch sie begann zu zittern, wenn sie an die Begegnung mit dem Mann auf der Straße dachte. Dem dunkelhaarigen Mann mit dem Handschuh und dem langen Mantel, der den Kompass ihres Vaters so lässig gehalten hatte. Man sagt, dass Lord Franklin ein großer Sammler ausländischer Kunstwerke ist. Was würde besser dazu passen, als ein hübsches französisches Mädchen vom Kontinent mitzubringen?

Ellie starrte ihr Spiegelbild an. Sie sah ihre großen grünen Augen, die dunklen Locken und die noch dunkleren Wimpern. War sie denn hübsch? Bisher hatte sie noch nie darüber nachgedacht. Monatelang hatte sie sich vor möglichen Verfolgern versteckt, ihre weibliche Figur unter tristen Kleidern verborgen und sich im Verborgenen gehalten.

Jetzt kam ihr wieder in den Sinn, mit welchem Blick der Mann auf der Straße sie angeschaut hatte. Plötzlich und wie aus dem Nichts hatte er vor ihr gestanden. Sie hätte aufs Äußerste alarmiert gewesen sein müssen. Doch sie hatte sich töricht verhalten und war nicht auf der Stelle zurück zur Kutsche gelaufen, wohin er sie sicher nicht verfolgt hätte.

Und doch, in demselben Augenblick, als sie ihn gesehen hatte – in seinem alten geflickten Umhang, mit dem wilden schwarzen Haar, den scharfen Wangenknochen und dem schwarzen Handschuh – war ihr fast das Herz stehen geblieben und sie hatte kaum noch Luft bekommen. Und sosehr sie sich auch bemühte, es ging ihr nicht mehr aus dem Sinn, wie er sie mit dem Blick aus diesen unglaublichen blauen Augen durchbohrt hatte. Es war, als hätte er ihr bis ins Herz gesehen. So einem Mann war sie noch nie begegnet. Ein Mann, von dem sie vielleicht schon einmal geträumt hatte …

Du Närrin. Selbst jetzt noch schauderte sie, aber es hatte nichts mit der Kälte dieser Nacht zu tun, sondern vielmehr mit der Erinnerung an seinen schlanken kräftigen Körper und seine rauchige Stimme. Sie atmete tief ein und schaute sich in dem kleinen Salon und dem Schlafzimmer um, aber alles war still. Kein Grund zur Beunruhigung. Aber wem konnte sie hier trauen? Konnte sie sich denn selbst vertrauen?

Die Glocke unten in der Halle ertönte, und Miss Pringle kam, um sie zum Esszimmer zu begleiten. Wohl eher, damit Ellie auch ganz sicher rechtzeitig hinunterging. Die arme Frau sah verängstigt aus. „So eine Ehre“, rief sie jedoch, „zum Essen mit Ihrer Ladyschaft eingeladen zu sein. Aber …“ Sie beäugte Ellies verblichenes Kleid.

„Ja?“, fragte Ellie höflich.

„Ich glaube … ich glaube, Lady Charlotte erwartet, dass Sie sich zum Dinner umziehen …“

„Ich fühle mich sehr wohl in diesem Kleid“, sagte Ellie ruhig, aber bestimmt.

„Ja natürlich.“ Miss Pringle nickte und rang ein wenig die Hände. Dann schritt sie voran, durch den Flur und die Treppe hinab.

Autor

Lucy Ashford
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Helen Dickson
Helen Dickson lebt seit ihrer Geburt in South Yorkshire, England, und ist seit über 30 Jahren glücklich verheiratet. Ihre Krankenschwesterausbildung unterbrach sie, um eine Familie zu gründen.
Nach der Geburt ihres zweiten Sohnes begann Helen Liebesromane zu schreiben und hatte auch sehr schnell ihren ersten Erfolg.
Sie bevorzugt zwar persönlich sehr die...
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