Historical Saison Band 48

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DER LIEBESSCHWUR DES LORDS von BEACON, ELIZABETH
Sir Gideon! Als die zarte Callie den stolzen Reiter erblickt, fällt sie in tiefe Ohnmacht - und kommt in seinen starken Armen wieder zu sich. Leidenschaftlich küsst Gideon sie, genau wie damals, als sie sich stürmisch liebten. Aber warum ist der adlige Verführer nach neun Jahren zurückgekehrt? Gibt er sie noch nicht verloren?

VERFÜHRT VON EINEM ABENTEURER von BEACON, ELIZABETH
Als James Winterley der bezaubernden Rowena begegnet, ist es um ihn geschehen. Alles setzt er daran, die betörende Schönheit mit den kobaltblauen Augen für sich zu gewinnen! Doch als James von seiner gefährlichen Vergangenheit eingeholt wird, gerät ausgerechnet die unschuldige Rowena ins Visier ruchloser Feinde …


  • Erscheinungstag 22.08.2017
  • Bandnummer 0048
  • ISBN / Artikelnummer 9783733768614
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Elizabeth Beacon

HISTORICAL SAISON, BAND 48

ELIZABETH BEACON

Der Liebesschwur des Lords

Ich werde sie zurückerobern, schwört sich Sir Gideon Laughraine. Damals waren er und Callie jung und so verliebt, dass sie heimlich heirateten. Tragischerweise zerbrach ihre süße Liebe jedoch. Aber als Gideon nun seine entfremdete Ehefrau an einem heißen Sommer-tag aufsucht, fährt das Verlangen von Neuem wie ein brennendes Schwert in sein Herz.

ELIZABETH BEACON

Verführt von einem Abenteurer

Was für ein attraktiver Gentleman: Rowena kann den Blick nicht von James Winterleys muskulöser Gestalt und den edlen Gesichtszügen abwenden. Auch wenn die junge Witwe nicht mehr an die große Liebe glaubt – eine Affäre mit dem verwegenen Abenteurer erscheint ihr höchst verlockend! Doch Rowena ahnt nicht, in welch brenzlige Situation James sie bringen wird …

1. KAPITEL

Wo befindet sich also dieses Cataret House, diese Schule, an die Sie sich erinnern würden, wenn die Hitze Sie nicht so verwirrt hätte?“, fragte Sir Gideon Laughraine, sonst auch als Mr. Frederick Peters bekannt.

Der Mann, den er gefragt hatte, kratzte sich am ergrauten Kopf und zuckte mit den Schultern, während Gideon einen Fluch unterdrückte und sich fragte, ob wohl irgendjemand sonst sich an diesem drückend heißen Nachmittag auftreiben lassen würde. Aber er konnte sich wohl keine großen Hoffnungen machen. Bei dieser Hitze hielt sich jeder vernünftige Mensch, der nicht unbedingt im Freien sein musste, in seinem Haus auf. Also suchte Gideon in seiner Westentasche nach einer Münze und hielt sie hoch, um das Gedächtnis des Mannes aufzufrischen.

„Da drüben isses“, gab der Mann schließlich mit einem Nicken zu und wies auf ein Farmhaus auf der anderen Seite des Tals, das aussah, als hätte es eine zu hohe Meinung von sich. „Wahrscheinlich werden Sie das alte Mädchen im Haus finden, aber die junge Miss ist vor einer halben Stunde den Weg nach Manydown hinuntergegangen.“

Gideon verbiss sich eine heftige Antwort und warf dem listigen alten Schelm die Münze zu, bevor er sein müdes Pferd wendete und den Schritten der jungen Miss folgte.

„Ich hätt’s auch nicht so eilig, dem alten Besen zu begegnen, Mister“, meinte der Alte und schlurfte weiter, um seinen unverhofften Geldsegen im hiesigen Wirtshaus auszugeben.

„Not kennt kein Gebot“, sagte Gideon grimmig, der sich wirklich nicht besonders auf diese Begegnung freute, doch dann vergaß er das „alte Mädchen“ und fragte sich, was das junge wohl gerade tun mochte.

Würde sie bei seinem bloßen Anblick erblassen und ein Gesicht machen, als wäre ihr der Teufel auf den Fersen, oder ihm jenes entzückende Lächeln schenken, das ihm selbst nach all diesen Jahren noch den Atem raubte, wenn er sich daran erinnerte? Wer konnte es schon sagen? Lady Virginia Winterley hatte gewiss recht: Er musste herausfinden, ob seine Frau ihn jemals wieder anlächeln würde, und zwar nicht nur, wenn er von ihr träumte.

Lieber Junge, hatte seine alte Gönnerin und Freundin den Brief begonnen, in dem sie die dritte der vier Aufgaben mitteilte, die nach ihrem Tod die jeweils folgende Jahreszeit einläuteten. Er hatte nicht geahnt, dass er zu jenen Unglücklichen gehörte, denen Lady Virginia entschlossen gewesen war, Gutes zu tun. Erst als die neue Lady Farenze ihm den Brief überreicht hatte, war ihm klar geworden, dass er in den folgenden drei Monaten ihren Wunsch erfüllen musste.

Ich bin davon überzeugt, dass Sie sehr überrascht sein werden, von der lieben Chloe zu erfahren, dass Sie der Nächste auf meiner Liste sind.

Nun, da haben Sie verdammt recht, Mylady, dachte er kopfschüttelnd. Sie hatte ihn wieder überlistet.

Sie sind der heimliche Enkel meines geliebten Virgil, und nur aus Rücksicht auf Ihren Cousin, Lord Laughraine, war es uns nicht möglich, Sie öffentlich anzuerkennen. Wenn wir es getan hätten, hätte es ihm den einzigen legalen Erben genommen, dem er Titel und Güter vermachen konnte. Und wir beide lieben und respektieren Charlie Laughraine zu sehr, um ihm oder Ihnen so etwas anzutun. Ich weiß, die wahren Umstände Ihrer Geburt müssen eine Prüfung für Sie gewesen sein, seit Sie alt genug waren, um zu begreifen, was die Klatschmäuler über die wahre Abstammung Ihres Vaters sagten. Aber für mich sind Sie ein großer Trost.

Ich werde immer froh sein, dass ich die Zeit hatte, Sie von einem ruhelosen, unglücklichen Jungen zu dem großartigen Mann aufwachsen zu sehen, der Sie heute sind. Selbst wenn ich es ohne meinen geliebten Virgil an meiner Seite tun musste. Es war ein solches Vergnügen zu sehen, wie Sie allein Ihren Weg im Leben fanden, so wie auch Virgil es getan hätte, das weiß ich, wäre er nicht mit einem Titel und einem riesigen Vermögen geboren worden.

Ich kann nicht ausdrücken, wie sehr ich meinen Mann liebte, und als ich Sie in mein Leben brachte, geschah es aus rein selbstsüchtigen Gründen, denn Sie sind ihm so ähnlich in Dingen, die weit über das rein Äußerliche hinausgehen. Zwar gibt es auch diese Ähnlichkeit zwischen Ihnen, wenn ich auch glaube, dass James ihm im Aussehen näher kommt als Sie, lieber Gideon. Sie besitzen nicht nur einen scharfen Verstand, sondern auch ein treues Herz und ein freundliches Wesen, und es war ein unbeschreibliches Vergnügen für mich, Sie in den letzten Jahren besser kennenzulernen. Virgil war es leider nicht vergönnt, so sehr er Ihren Vater bat, ihn doch seinen Enkel sehen zu lassen.

Ich glaube, Esmond hätte alles getan, um seinem leiblichen Vater wehzutun, und er tat es, indem er dem Mann seinen Enkel vorenthielt, dem er die Schuld am Unglück seines Lebens gab.

Gideon lenkte seine Gedanken schnell in eine andere Richtung. Wegen Virgil oder Esmond konnte er nichts mehr unternehmen, stattdessen wollte er sich lieber Gedanken um seine Frau machen. Callie hatte sich weit vom Haus ihrer Tante entfernt an diesem verteufelt heißen Tag. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, als er daran dachte, was sie wohl zu seinem treuen Herzen und der Freundlichkeit zu sagen hätte, die Lady Virginia so sehr in ihrem Brief lobte. Wohl nichts Schmeichelhaftes, da war er sicher. Wieder fragte er sich, was so wichtig sein konnte, dass Callie an diesem drückend heißen Nachmittag das Haus verließ. Traf sie sich mit einem Liebhaber? Ein schmerzhafter Stich der Eifersucht durchzuckte ihn.

Nach ihrem letzten eisigen Brief, in dem sie ihm befohlen hatte, sich nie wieder mit ihr in Verbindung zu setzen, und nach neun Jahren des Schweigens würde sie ihn gewiss nicht willkommen heißen. Aber Lady Virginia hatte recht, zum Kuckuck mit ihr. Er überprüfte die Tasche seines Mantels, der quer über seinem Sattelknauf lag, und hörte das beruhigende Rascheln des Papiers. Ein ungewöhnlicher Anwalt wie er brauchte oft einen sicheren Ort für wichtige Briefe, aber dieser Brief war ein zweifelhafter Segen, und sein Inhalt ging ihm einfach nicht aus dem Sinn.

Ich weiß, von Ihnen verlange ich mehr als von meinem lieben Luke oder von Tom Banburgh, meinem geliebten Patensohn. Übrigens hoffe ich, Sie haben beide in den vergangenen sechs Monaten als wahre Verwandte und treue Freunde kennengelernt, denn Sie mussten viel zu lange ohne sie leben.

Nun, Ihre Aufgabe ist es, Ihre Frau zu finden, mein lieber Junge, und sie nach ihrem Herzenswunsch zu fragen. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob sie Ihnen zuhören oder großzügig genug sein wird, Ihnen zu antworten, aber Sie müssen herausbekommen, ob es noch eine Hoffnung gibt für Ihre Ehe, oder ob Sie ihr ein würdiges Ende machen müssen. Wenn Sie so weitermachen wie bisher, werden Sie für den Rest Ihres Lebens ein gequälter, einsamer Mann sein, und ich wünsche mir so sehr, Sie mögen glücklich werden.

Ich hatte das unvorstellbare Glück, den Mann zu finden, den ich von ganzem Herzen lieben konnte und mit dem ich sogar so viele Jahre zusammen verbringen durfte. Aber Sie beide lernten sich kennen und verloren einander, noch bevor Sie richtig aus dem Schulzimmer heraus waren.

Suchen Sie das arme Mädchen auf, Gideon, und bringen Sie in Erfahrung, ob Sie zusammen leben können. Wenn nicht, dann willigen Sie in eine Trennung ein. Ich persönlich bin der Meinung, zwei so dickköpfige, eigenwillige Menschen sind wie geschaffen füreinander.

Was Sie mit Raigne und dem großartigen Erbe zu tun gedenken, das Ihnen als letztem Laughraine zusteht, überlasse ich ganz Ihnen. Charles Laughraine war niemals auch nur im Geringsten wie Ihr angeblicher Großvater und auch nicht wie sein Onkel. Ich hielt Sir Wendover Laughraine für einen der gefühllosesten, herzlosesten Männer, denen ich je begegnet bin, aber sein Neffe ist ein ganz anderer Mensch. Da Sie ihn Ihren Onkel Charles nannten, seit Sie sprechen konnten, muss ich davon ausgehen, dass Sie wissen, wie glücklich er darüber ist, Sie zu seiner Familie zählen zu dürfen – wie die wahren Umstände auch sein mögen.

Zweifellos wird Ihre Frau ihren eigenen Weg gehen, aber da wir beide wissen, dass sie Lord Laughraines leibliche Enkelin ist, schuldet sie wenigstens ihm eine Erklärung, auch wenn sie vielleicht nicht bereit sein wird, Sie anzuhören. Die Zukunft eines so großen Anwesens und all jener, die davon abhängig sind, muss entschieden werden, bevor noch sehr viel mehr Jahre ins Land ziehen. Ich wünschte, es könnte anders sein, und glauben Sie mir, Virgil wäre entzückt gewesen, Sie offen als seinen Enkel anzuerkennen, obwohl Ihr Vater jeden Bezug zu seiner eigenen illegitimen Geburt verabscheute und nichts davon hören wollte.

Charlie Laughraine ist nun fast so alt wie ich in diesem Moment, und die Zeit wird Sie drei Dummköpfe noch einholen, wenn Sie nicht aufpassen. Jetzt möchte ich Sie nur noch warnen, niemals unbesehen zu glauben, was jene Tante Ihrer Frau von sich gibt. Überprüfen Sie, warum Ihre junge Liebe so ein tragisches Ende fand.

Schütteln Sie nicht wieder den Kopf über mich, Gideon Laughraine, denn ich weiß, wie sehr Sie sich nach der Liebe Ihres Lebens sehnen, und das seit Sie sie vor zehn Jahren verloren. Gestehen Sie es sich ein, mein Junge. Danach brauchen Sie nur herauszufinden, ob Ihre Frau dieselbe Sehnsucht mit Ihnen teilt, und etwas dagegen zu unternehmen.

Gideon wünschte fast, er könnte den Brief seiner alten Freundin vergessen und nach London zurückreiten, so schnell sein Pferd ihn tragen konnte. Er würde sein recht angenehmes Leben fortführen, das er sich ohne seine Frau und die Familie, die sie hätten haben können, dort geschaffen hatte. Was für ein Narr war er doch gewesen, Lady Virginias Bitte nachzukommen und den anderen drei Opfern während dieses „Jahres des Staunens“, wie sie es genannt hatte, mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

Wie hatte er glauben können, er könnte unberührt bleiben, selbst ohne diesen letzten völlig unerwarteten Paukenschlag? Nein, korrigierte er sich schließlich, es waren keine Opfer. Die ersten beiden Aufgaben hatten Luke Winterley und Tom Banburgh zu den stolzen Gatten ihrer zwei geliebten neuen Frauen verwandelt. Also hatte Lady Virginia bereits zwei Triumphe für sich zu vermerken. So wie er allerdings sich und James Winterley kannte, standen ihr zwei große Enttäuschungen bevor – falls sie von dort oben alles verfolgen konnte. Hätte sie doch nur ihre Energie auf zwei Männer verwandt, die ihrer Aufmerksamkeit würdig gewesen wären, und hätte ihn selbst und Winterley auf ihre Weise zum Teufel gehen lassen.

Als sie an diesem Nachmittag resolut aus dem Haus gegangen war, hatte Callie die Absicht gehabt, so schnell wie möglich nach Manydown zu gehen, um rechtzeitig zurückzukommen, bevor irgendjemand ihre Abwesenheit bemerkte. Aber diese feuchte Hitze überwältigte sie. Sie setzte ihren Weg, wenn auch langsamer, fort, obwohl sie sich insgeheim sagte, dass sie ihren Traum für heute aufgeben und nach Cataret House zurückkehren sollte. Die traurige Wahrheit war jedoch, dass sie keinen weiteren Nachmittag in untätiger Langeweile ertragen konnte, jetzt da ihre Schüler für den Sommer zu ihren Familien oder ihren Freunden gereist waren. Nach einer Woche in dieser Hitze und gezwungen, ständig nach der Pfeife ihrer Tante tanzen zu müssen – schließlich konnte sie sich nicht mit anderen Aufgaben herausreden –, hatte Callie das Gefühl, sie müsse das Haus sofort verlassen, wenn sie sich nicht sehr heftig mit ihrer Tante streiten wollte.

Es war nicht richtig von ihr, sich wie eine Gefangene vorzukommen, sobald die Schule sie nicht von solchen Gedanken ablenkte. Tante Seraphina hatte schon recht gehabt: Sie beide hatten vor neun Jahren ein neues Leben beginnen müssen. Fast gleichzeitig waren sie von zwei sehr unterschiedlichen Ehemännern enttäuscht und im Stich gelassen worden. Warum sollten sie also nicht ihre begrenzten Mittel zusammenlegen und ein Haus mieten, das groß genug war, um auch als Schule zu dienen? Damals war ihr die Idee so wunderbar vorgekommen. Sie konnten von ihren bescheidenen Einnahmen leben, und Callie konnte fünfzehn jungen Mädchen von unterschiedlichen Talenten und guter Herkunft helfen, etwas über die Welt zu lernen – oder zumindest so viel Wissen zu vermitteln, wie jungen Damen erlaubt war. Ihr Leben war damals leer und hoffnungslos gewesen, und Tante Seraphinas Idee ein Geniestreich. Aber jetzt flüsterte ihr eine innere Stimme zu: Ist das alles?

Nein, Callie wollte nicht darauf hören. Sie hatte die Gefühlsturbulenzen einer großen Liebe erlebt, die sich am Ende jedoch lediglich als ein großer Fehler erwiesen hatte, denn sie hatte jedem wehgetan, der ihr etwas bedeutete. Die Schule brachte genügend ein, und ihre Schülerinnen waren glücklich. Wenn zukünftige Ehefrauen und Mütter ein wenig klüger wurden, weil sie von ihr unterrichtet worden waren, dann würde die Welt sich vielleicht irgendwann ändern und in einer Frau mehr sehen als das willenlose Eigentum ihrer Männer, Väter oder Brüder. Hier konnte sie sich nützlich machen und war allgemein als die altjüngferliche Miss Sommers bekannt, und die meiste Zeit reichte es ihr auch. Vor neun Jahren war es ihr unmöglich gewesen, den Misserfolg ihrer Ehe mit sich herumzutragen wie einen Beweis für ihre Dummheit. Also rief sie sich jetzt resolut in Erinnerung, warum sie ihre Jugendnarrheit vergessen wollte, und musste selbst bei dieser Hitze schaudern.

Meistens brachte es ihr ja auch Spaß, den Töchtern anderer Leute etwas beizubringen, und zusätzlich zu dem klassischen Kanon, den Callie unterrichtete, kamen noch ein Tanzlehrer und eine Musiklehrerin in die Schule. Callie selbst hatte den Unterricht des verstorbenen Reverend Sommers mit sehr viel größerer Begeisterung verfolgt als seine eigenen Töchter. Während der Sommermonate fiel es ihr einfach nur schwer, etwas mit sich anzufangen, und so musste sie sehr viel öfter Gedanken an längst vergangene Zeiten voller Leidenschaft und Kummer verdrängen, und das gelang ihr nur, wenn sie sich irgendwie beschäftigte.

Aber auch der Spaziergang in der brütenden Sonne schien sie nicht genügend zu zerstreuen – höchste Zeit also, sich in ihre Tagträume zu flüchten. So schaffte sie es wenigstens, Tante Seraphinas ärgste Standpauken zu ignorieren. Das war schon so gewesen, als sie noch ein kleines Mädchen war. Die Hoffnung, ihr Leben zu verändern, hatte sie zu dem Versuch getrieben, mit ihrem Schreiben mehr zu erreichen, als sie sich vorzustellen gewagt hatte, als sie das erste Mal zur Feder griff.

Nur war es gewiss besser, nicht darüber nachzudenken, welche Antwort am Postamt auf sie wartete – Callies letzte Korrespondenz mit einem möglichen Verleger. Irgendwie musste sie sich aus diesem fürchterlichen Hin und Her zwischen Hoffnung und Furcht befreien.

Seufzend schob sie ihren uralten Strohhut zurecht. Wenigstens konnte Tante Seraphina ihr nicht vorwerfen, sie würde sich ihren Teint in der Sonne zerstören. Doch Callie träumte von exotischen Orten, seidigen Kleidern und herrlichen, kühlen Palästen. Es würde sich so sinnlich und wundervoll sündig anfühlen, barfuß über einen glatten Marmorboden zu gehen. Einen Moment lang spürte sie fast den kühlen Stein unter ihren Füßen, doch gleich danach wurde ihr bewusst, wie heiß und verschwitzt sie sich wirklich fühlte.

Es war fast neun Jahre her, seit Großvater Sommers sich bei Tante Seraphinas ungeliebtem Mann angesteckt hatte und an einem Fieber gestorben war. Als Reverend Sommers seinem wertlosen Schwiegersohn ins Grab gefolgt war, hatte sie nichts mehr in King’s Raigne gehalten. Das Dorf zu verlassen, in dem sie aufgewachsen war, bedeutete damals, dass Callie wieder sie selbst sein konnte. Es war ein recht gewöhnlicher Name, und da niemand nach ihr suchen würde, nannte sie sich einfach wieder Miss Sommers, unvermählt, und Tante Seraphina wurde Mrs. Grisham mit einem erfundenen Ehemann, um den sie trauern konnte, wann immer die Nachbarn zu einem Plausch vorbeikamen. Sie befanden sich weniger als zwanzig Meilen von Raigne entfernt, und doch war es, als wären sie eine ganze Welt von dem berühmten, großartigen Herrenhaus und dessen umliegenden Dörfern entfernt.

Besser, sie dachte nicht an ihr altes Leben, denn selbst nach neun Jahren fürchtete sie den Schmerz und Kummer, die die Erinnerung in ihr wecken würde. Was hatte sie eben noch überlegt? Ach ja, dass sie ohne Strümpfe unterwegs war – teilweise aus Sparsamkeit, teilweise weil es einfach zu heiß war, um welche anzuziehen. Vielleicht gab es hinter der Fassade der Schulmeisterin doch noch immer die alte impulsive Callie, also konzentrierte sie sich aufs Gehen und ihre Suche, aber es war zu heiß und der Weg zu vertraut, als dass sie sich wirklich davon ablenken lassen könnte.

In jedem Fall war es unmöglich, sich kühn und sinnlich zu fühlen oder sich gar nach einem aufregenden Liebhaber zu sehnen, wenn einen das Gewicht von Chemise, Korsett, Unterkleidern und dem strengen, respektablen Leinenkleid belastete. Und trotzdem konnte sie das Bild des ersehnten Liebhabers nicht ganz aus ihren Gedanken vertreiben. Nach neun Jahren war er außerdem gewiss nicht mehr der Mann, in den sie sich damals verliebt hatte. Sollte ihr Mann jetzt plötzlich vor ihr stehen, würde sie ihn wahrscheinlich gar nicht wiedererkennen. Der Gedanke an die schmerzhaften Auseinandersetzungen und das böse Schweigen, bevor sie sich trennten, veranlasste sie dazu, sich in dem Leben einer imaginären Callie zu verlieren, die sich nach einem ganz anderen Geliebten sehnte als ihr wahres Ich. Wo hatte sie da noch aufgehört?

Ah ja, sie verzehrte sich nach ihm, obwohl sie lediglich einige Stunden von ihm getrennt war. Diener fächelten ihnen kühle Luft zu in jenem Marmorpalast unter der erbarmungslosen Sonne. Sie selbst entfernte sich von den Hofdamen, die den brütend heißen Nachmittag mit Klatsch und Tratsch vertrödelten, während sie darauf warteten, dass die Welt sich wieder in Bewegung setzte. Der Duft exotischer Blumen und seltener Gewürze erfüllte die Nachtluft, und der wilde Rhythmus der Musik drängte die Menschen zum Tanzen und versprach ihnen Aufregung und Leidenschaft und Verlangen. Am folgenden Tag würden selbstverständlich alle erschöpft sein und den gesamten Nachmittag durchschlafen, damit sie am Abend wieder tanzen könnten. Doch es würde wunde Füße und das Warten auf die Nacht wert sein, um sich dann wieder wundervoll lebendig zu fühlen in den Armen des Geliebten.

Natürlich wusste Callie, dass sie in Wirklichkeit kein so skandalöses Leben führen konnte, wenn sie nicht von der Gesellschaft ausgeschlossen werden wollte. Ihre Tagträume würden Tagträume bleiben müssen. Sie seufzte und spürte wieder, wie verschwitzt und schmutzig sie war. Was würde die lebhafte siebzehnjährige Callie Sommers jetzt von ihrem älteren, klügeren Ich halten? Wohl nicht sehr viel, sagte sie sich bedrückt und wünschte, sie könnte zurückgehen und den allzu unbedachten Dummkopf von damals warnen, nicht so viel zu träumen, nicht so leidenschaftlich zu sein.

Achselzuckend verdrängte sie ihre Erinnerungen, die sich nicht ändern ließen, so sehr sie es auch wünschte, und sie unterdrückte den Wunsch, ihren Strohhut in das nächste Gebüsch zu werfen und sich weniger von ihrem Dasein als eingefleischte Junggesellin erstickt zu fühlen. Stattdessen löste sie nur die fadenscheinigen Bänder und vernahm ein schwaches Lüftchen auf ihrer feuchten Haut. Sehnsüchtig stellte sie sich vor, sie könnte mit nackten Füßen in einen kühlen, nach Rosen duftenden See schreiten. Ihre imaginäre Callie spürte, wie sie von herrlicher Kühle und eindrucksvollem Luxus umgeben wurde, und wusste, dass sie von dem Herrn dieser Pracht mehr geliebt und geschätzt wurde als alle Reichtümer.

Doch das war die gefährlichste Fantasie, der sie sich hingeben konnte. Callie schüttelte den Kopf, um die Fantasie zu verscheuchen. Sie durfte nicht den Kopf verlieren, wenn sie ihre Post abholen und wieder zu Hause sein wollte, bevor man sie vermisste. Also keine Tagträume mehr, bis sie auf ihrem Zimmer war und in Ruhe an ihrem nächsten Buch arbeiten konnte. Heute war selbst ihre Tante der Hitze erlegen, und Callie hatte dieses eine Mal die Freiheit gehabt, zu tun und zu lassen, was sie wollte. Also hatte sie die Gelegenheit genutzt, um herauszufinden, ob der Roman, an dem sie heimlich so hart gearbeitet hatte, veröffentlicht werden würde. Es lohnte sich somit, sich in der Hitze auf den Weg zu machen, um zu erfahren, ob Mr. Redell bereit sein würde, ihr Buch herauszugeben.

Trotz der Hitze brachte sie es fertig, aufgeregt bei der Vorstellung zu hüpfen, er könnte von ihrem Werk angetan sein. Er hatte ihr selbstverständlich Änderungen und Verbesserungen vorgeschlagen, aber sie immerhin auch nicht glattweg abgelehnt. Vielleicht würde sie genug verdienen können, um sich eines Tages ein kleines Cottage zu mieten, die Gesellschaft einiger Freunde zu genießen, sich die Finger mit Tinte zu beschmutzen, wann immer ihr danach war, und einen kleinen Garten zu haben, der sie mit Gemüse und Obst versorgen würde. Es war eine so verwegene Vorstellung, dass sie nicht das Pferd hörte, das sich ihr von hinten näherte, bis es so dicht gekommen war, dass es vor ihrem bescheidenen Strohhut scheute.

Sein Reiter schalt sein Pferd einen dämlichen Esel und schickte ihn zum Henker, womit er Callie unsanft aus ihrem Tagtraum riss. Zutiefst entsetzt über diese ganz bestimmte Männerstimme, erstarrte sie. Nein, sie würde sich nicht umdrehen, obwohl er sich gerade bei ihr entschuldigte. Sie musste sich irren. Sie musste einfach. Gideon war Meilen von hier entfernt, sehr wahrscheinlich in London, und dieser Mann war ein Fremder. Und so wandte sie sich zögernd um, um sich zu beruhigen, dass sie sich das Schlimmste nur eingebildet hatte. Doch wieder irrte sie sich.

„Zum Teufel“, brachte sie tonlos hervor.

Sie spürte regelrecht, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, der Kopf fühlte sich plötzlich seltsam leicht an, und dann klopfte ihr Herz so laut weiter, dass sie glaubte, Gideon müsste es hören. Ein kalter Schauder überlief sie – ausgerechnet am heißesten Sommertag in diesem Jahr.

„Wie zimperlich von mir“, sagte sie schwach, aber weder Willenskraft noch Stolz konnten verhindern, dass sie zu wanken begann. Gideon. Es war wirklich Gideon.

Nach all den Jahren, in denen sie sich jede Nacht nach ihm gesehnt hatte – so viel unnützes Verlangen –, nur um sich dann zu wünschen, sie wäre ihm nie begegnet, nach all diesen Jahren war er wieder da. Es war mehr, als sie ertragen konnte. Callie fiel in Ohnmacht und ließ sich von einer barmherzigen Dunkelheit umhüllen, in der sie ihn nicht sehen musste.

2. KAPITEL

Gideon bemühte sich, sein erschöpftes Pferd zu beruhigen. Die Frau, die er auf Lady Virginias Befehl hin aufsuchen sollte, um sich mit ihr zu versöhnen, war bei seinem Anblick prompt in Ohnmacht gefallen und hatte sein verflixtes Pferd in noch größere Angst versetzt, als sie zu Boden sank. Während er versuchte, seinen aufgeregten Hengst zu zügeln, klopfte sein Herz vor Angst, so dicht neben ihrem eigenwilligen Kopf schlugen die harten Hufe auf.

„Und ich fürchtete, ich würde dich nicht finden können“, stieß er zwischen leisen Flüchen hervor und brachte endlich das erschrockene Tier zum Stehen.

Niemand konnte der Calliope Sommers, die er gekannt hatte, vorwerfen, dass sie leicht die Fassung verlor. Gideon wurde das Herz schwer. Er musste ein weit größerer Schurke sein, als er geglaubt hatte, wenn seine Frau schon in Ohnmacht fiel, wenn sie ihn nur sah – und das neun Jahre, seit sie sich das letzte Mal begegnet waren. Welche Hoffnung bestand also noch für ihn und seine schwarze Seele?

„Auch Ihnen einen schönen Tag, Lady Laughraine“, meinte er trocken und fragte sich, was seine vornehmen Klienten von der wahren Identität ihres „Mr. Frederick Peters“ halten würden.

Jetzt war es zu spät, wieder fortzureiten und Callie die Begegnung mit ihrem ärgsten Albtraum zu ersparen, also besänftigte er sein Pferd und vermied es, seine Frau anzusehen, bevor sein Atem sich ebenfalls so gut wie möglich beruhigt hatte. Die bittere Gewissheit, dass sie ihm einst geschrieben hatte, er solle sie nie wieder behelligen, so lange er lebte, ließ ihn zusammenzucken, als hätte sie die harten Worte gerade erst zu Papier gebracht. Sie hatte seitdem keinen einzigen seiner Briefe beantwortet, also glaubte sie noch immer, dass er der Grund für all ihr Leid war. Dennoch konnte er nicht einfach weiterreiten und sie hier schutzlos liegen lassen, wo jeder Dummkopf über sie stolpern könnte.

Gideon sprang vom Pferd und hockte sich neben seine Frau. Sein Herz klopfte noch immer wild, tiefe Furcht um ihre Verfassung schnürte ihm die Kehle zu – deutliche Zeichen, dass sie ihm noch immer alles bedeutete. Er bemerkte besorgt die Schatten unter ihren Augen, und dann ruhte sein Blick auf ihren dunklen Wimpern und er erinnerte sich, wie oft er sie an seinen Wangen gespürt hatte, wenn Callie nach einer Liebesnacht ermattet die Lider gesenkt hatte. Nein, daran durfte er nicht denken, wenn er bei Verstand bleiben wollte. Ihr Gesicht war weicher, runder geworden, nicht zu vergleichen mit dem dünnen Mädchengesicht von damals. Seine verspielte Callie war erwachsen geworden, und er war nicht hier gewesen, um es mitzuerleben.

Die alte Callie war lebhaft und entzückend gewesen mit ihrem schimmernden dunklen Haar, das sich aus jeder Frisur befreite, mit der sie es zu zähmen versucht hatte. Ihre dunkelbraunen Augen waren voller Energie und blitzten meist voller Schalk oder Leidenschaft, während sie ihn drängte, mit ihr mitzuhalten. Als hätte er eine Ermunterung nötig gehabt. Er hatte sie wirklich sehr geliebt. Selbst jetzt konnte es keine Frau mit ihr aufnehmen. Gideon hatte wahre Schönheiten kennengelernt, und einige von ihnen waren zu guten Freunden geworden, aber sie konnten der Callie, in die er sich einst verliebt hatte, nicht das Wasser reichen. Seine junge Geliebte war ebenso lebendig und abenteuerlich gewesen wie lieblich, und es versetzte ihm einen schmerzhaften Stich zu sehen, wie wenig davon in dieser allem Anschein nach so respektablen Frau, die vor ihm auf der Erde lag, noch zu sehen war.

Er suchte atemlos nach einem Anzeichen, dass sie wieder zu Bewusstsein kommen würde. Oder redete er sich das nur ein, um sie ausgiebig anstarren zu können? Ihre üppigen Rundungen wurden noch betont von der winzigen Taille, die er umfasst hatte, wann immer er ihr bei ihren heimlichen Begegnungen vom ruhigen Grauen seines Großvaters heruntergeholfen hatte. In seinen Jahren als Büroschreiber hatte er sich sehr abmühen müssen, um ihr eine gewisse Summe Geldes schicken zu können, erst später als eher ungewöhnlicher Anwalt hatte er diese Summe erheblich erhöhen können. Allerdings fragte er sich, was sie damit angefangen hatte, denn für Kleidung hatte sie das Geld ganz offensichtlich nicht ausgegeben.

Ihr Kleid war so oft gewaschen worden, dass das weiße Baumwollunterkleid etwas fadenscheinig war und das schlichte Blumenmuster verblasst. Und er bezweifelte, dass es selbst dann besonders modisch gewesen war, als Callie angefangen hatte, es zu tragen. Das Erschrecken über ihre plötzliche Ohnmacht ließ ihn vielleicht über eher unwichtige Dinge nachgrübeln, aber er war dennoch entschlossen, diesem Rätsel auf den Grund zu gehen, sobald ihr Zustand es zuließ. Allerdings war es auch wirklich sehr heiß, also hatte sie vielleicht auf ihrem Spaziergang in dieser Hitze einfach keines ihrer guten Kleider anziehen wollen.

„Was zum Henker geht hier vor, Callie?“, flüsterte er, band sein Pferd an einen Baum und blickte seiner Frau stirnrunzelnd in das blasse Gesicht.

Sie sah herzzerreißend verletzlich aus, so wie sie im Staub lag. Das Heben und Senken ihrer Brust zeigte ihm, dass sie ruhig atmete, aber sie war schon viel zu lange bewusstlos. Am liebsten hätte er sie hochgehoben und vor jeder Bedrohung beschützt, die das Leben ihr bringen würde – selbst wenn sie sich wahrscheinlich keine üblere als ihn selbst vorstellen konnte. Sie hasste ihn ja sogar so sehr, dass sie ohnmächtig wurde, um ihm nicht begegnen zu müssen.

Er stellte sich so vor sie, dass er sie vor den Sonnenstrahlen schützte, und betrachtete ihr schmerzlich vertrautes, herzförmiges Gesicht, bevor er den Blick abwandte. Er würde es nicht ertragen, wenn sie erwachte und ihn voller Abscheu ansah, sobald ihr klar wurde, dass er nicht nur ein böser Traum war. Seine Frau lag bewusstlos zu seinen Füßen, und selbst jetzt begehrte er sie mit jeder Faser seines Körpers wie ein grüner Junge. Scham erfüllte ihn. Aber er fühlte sich auch zum ersten Mal, seit er sie verlassen hatte, wieder wundervoll lebendig, wenn seine Verzweiflung auch von Moment zu Moment zunahm. Jetzt lächelte sie in ihrem Traum, in einer Welt, in der sie Ruhe vor ihm hatte. Er unterdrückte den Wunsch, gereizt zu knurren, und brütete stattdessen über eine Vergangenheit nach, die sich nun einmal nicht ändern ließ.

Callie schwebte auf einer dicken Wolke aus Federn, während Engel ihr ins Ohr flüsterten. Einen Augenblick lang glaubte sie tatsächlich, Gideon sei ihretwegen zurückgekommen, also war es nur verständlich, dass sie Engel hörte. Aber warum klang der eine von ihnen so verärgert? Und trugen Engel lange Stöcke aus Ebenholz und hatten schneeweißes Haar und durchdringende dunkelbraune Augen? Ihr mürrischer Engel runzelte die Stirn und meinte, dass es nicht verwunderlich sei, dass er verstimmt sei, da er sich um zwei Narren wie sie und Gideon kümmern musste, während er sehr viel wichtigere Dinge zu tun habe.

Sich wie ein zimperlicher Schwachkopf zu benehmen hat noch nie Probleme aus der Welt geschafft, junge Dame. Vierzehn Tage von Gideons drei Monaten hat er bereits mit seinem dummen Zaudern verplempert. Man soll schlafende Hunde nicht wecken – Mumpitz! Was denkt der Junge sich nur dabei? Es hat keinen Sinn, so etwas zu tun, wenn sie dabei sind, ihr Leben zu verschlafen. Wach also sofort auf, mein Kind. Du bist nicht mehr glücklich gewesen, seit du ihn weggeschickt hast, also steh auf und stell dich ihm!

Womit die Erscheinung ihre strenge Standpauke beendete, und Callie sah ein, dass es wirklich besser sei, jetzt aus ihrer Ohnmacht zu erwachen.

Ihre Wolke verpuffte, und fast sofort spürte Callie den viel zu harten Boden unter ihrem Rücken. „Geh weg“, brachte sie krächzend hervor. Sie lag ja vielleicht auf einem staubigen Weg und träumte von unmöglichen Dingen, aber noch wollte sie der Wirklichkeit nicht die Stirn bieten.

„Ich wünschte, ich könnte“, antwortete Gideon, und der vertraute Klang seiner Stimme ließ Callies Herz schneller schlagen.

Schließlich gab sie sich einen Ruck und öffnete die Augen, um nicht zu lange über das Bedauern in seiner Stimme nachdenken zu müssen.

„Was tust du hier?“, fragte sie und schüttelte verständnislos den Kopf. Dunkle Flecken tanzten ihr vor den Augen wie eine Warnung, dass man über gewisse Überraschungen nicht so schnell hinwegkam. Also legte sie sich behutsam wieder hin, bis sie verschwanden.

„Direkt wie immer“, sagte ihr Gatte müde.

Sie sah zu ihm auf und entdeckte Sorge und Enttäuschung in seinen graugrünen Augen, traute sich aber noch immer nicht aufzustehen. Vielleicht würde sie in einem Moment oder zwei den Mut und die Gelassenheit aufbringen können – oder vielleicht auch niemals, fügte eine skeptische innere Stimme hinzu. Callie war nicht sicher, ob es ihre war oder die des strengen Engels, von dem sie gerade geträumt hatte.

„Wenn du es zulässt, von mir getragen zu werden, könntest du im Schatten besser zu dir kommen.“

„Dann mach schnell“, befahl sie ihm und winkte herrisch mit der staubigen Hand wie eine besiegte Königin.

„Euer Wunsch ist mir Befehl, Euer Hoheit“, scherzte er und hob sie hoch, als würde sie nicht mehr wiegen als eine Feder.

Callie wusste, dass sie alles andere als leicht war, und spürte seine Kraft, als er sie von der Erde hob, ohne auch nur zu ächzen vor Anstrengung. Und war es richtig von ihr, seine kühle Gelassenheit beleidigend zu finden? Der Gideon, an den sie sich erinnerte, war wie ein offenes Buch für sie gewesen, dieser Mann war ihr ein Rätsel. Dennoch reagierte ihr Körper auf seinen, als würde er ihn wiedererkennen, aber sie durfte auf keinen Fall zulassen, dass Callie, die Geliebte, die Frau, voller Sehnsucht und Verlangen in ihr erwachte. Entsetzt wand sie sich in seinen Armen, sodass er sie verärgert aufforderte, stillzuhalten, wenn sie nicht wollte, dass er sie fallen ließ.

Früher einmal war er ihre Sonne gewesen, der Grund für sie, morgens aufzustehen und abends ins Bett zu gehen – wobei sie sich nicht immer viel Zeit nahmen, auch zu schlafen. Aber gewiss war sie doch klug genug, sich nicht ein zweites Mal in ihn zu verlieben, oder? Doch, natürlich. Sobald sie wieder auf eigenen Beinen stehen konnte, würde sie ihren Weg fortsetzen und ihm beweisen, dass er ihr nicht mehr das Geringste bedeutete.

„Stell mich wieder hin, Gideon“, verlangte sie mit einer atemlosen Stimme, die sie kaum wiedererkannte.

„Du wirst nur stürzen, wenn ich es tue.“

„Unsinn. Es geht mir sehr gut.“

„Nein.“

„Ich wünschte, du würdest mich allein gehen lassen. Ich bin kein Kind“, beschwerte sie sich, obwohl sie zugeben musste, dass sie in diesem Moment wie ein sogar besonders launisches Kind klang.

„Dann hör auf, dich wie eins zu benehmen“, erwiderte er geistesabwesend, als hätte er wichtigere Dinge zu tun, als dafür zu sorgen, dass seine lästige Frau nicht mehr den Weg für andere Reiter versperrte.

„Mir ist schlecht“, sagte sie plötzlich und fragte sich gleichzeitig, was nur in sie gefahren war. Aber die Antwort kannte sie natürlich. Gideon war gelassen und ruhig, während sie das Gefühl hatte, ihre Welt sei auf den Kopf gestellt worden.

„Dann werde ich dich ganz gewiss nicht herunterlassen.“

„Ich habe gelogen“, gab sie errötend zu. „Ich dachte, ein so tadelloser Gentleman wie du würde nicht wollen, dass ich seine feine Seidenweste ruiniere, und mich absetzen.“

„Du kannst es wirklich nicht erwarten, mich loszuwerden, was, Callie?“, sagte er mit einem Zucken um seine Lippen, das man mit sehr viel Fantasie für ein Lächeln halten könnte.

„Ebenso wie du es kaum erwarten kannst, wieder davonzureiten und mich für weitere neun Jahre zu vergessen“, konterte sie giftig, bevor sie sich zurückhalten konnte.

„Du tust mir unrecht, Calliope. Wie könnte ich dich je vergessen?“

Seine Worte kamen ihr wie Spott vor. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, doch der Gedanke, er könnte ihre Spuren auf ihren schmutzigen Wangen sehen, ließ sie zusammenzucken. Sie blinzelte und starrte in den kleinen Wald, auf den er sie zutrug, bis sie sich wieder fest im Griff hatte. Eigentlich sollte sie ihn ebenso leicht vergessen können wie er sie, nur leider war sie nie einem Mann begegnet, der dieselben Gefühle in ihr geweckt hätte wie er.

„Ich kann gehen, weißt du“, erklärte sie gereizt.

„Natürlich kannst du das“, entgegnete er mit einem Lachen in den grauen Augen, deren grüne Sprenkel nur eine Geliebte kennen konnte.

Bei dem Gedanken, wie eng ihre Beziehung einst gewesen war, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Jetzt da er fast wieder vertraut aussah und klang, musste sie an Zeiten denken, in denen sie zufrieden gewesen waren, einfach nebeneinander zu liegen und sich tief in die Augen zu blicken. Allerdings nur bis die Leidenschaft sie übermannt hatte, und sie gemeinsam einen Gipfel der Lust erreichten, der Callie selbst jetzt nach so langer Zeit erschauern ließ.

„Ich möchte, dass du mich sofort herunterlässt“, sagte sie entschieden.

„Ein guter Ehemann bin ich ja vielleicht nicht, aber ich werde nicht zusehen, wie meine Frau in dieser Hitze halb ohnmächtig durch die Gegend torkelt.“

„Unsinn, ich werde sehr gut mit der Sonne fertig.“

„Ja, gewiss“, meinte er nachsichtig.

Wieder glaubte sie, ihn lächeln zu hören. „Der Schreck, dich wiederzusehen, hat meine Ohnmacht verursacht, aber es ginge mir wunderbar, wenn du mich nicht so überrumpelt hättest“, behauptete sie mit finsterer Miene, die allerdings keinerlei Wirkung auf diesen unzivilisierten Menschen zu haben schien.

„Du warst also so entzückt über meinen Anblick, dass du das Bewusstsein verloren hast?“

„Das war kein Entzücken“, fuhr sie ihn an.

„Ich weiß.“

„Und was zum Teufel tust du hier, Gideon?“

„Das klingt schon eher nach der offenherzigen Callie Sommers, die ich kenne. Einen Moment glaubte ich, ich hätte eine andere mit dir verwechselt.“

„Ich bin auch eine andere“, erwiderte sie rau.

„Du fühlst dich aber genau wie sie an“, neckte er sie und rückte sie leicht zurecht, als sie schließlich den kleinen Wald erreichten.

„Nun, ich bin es aber nicht“, meinte sie böse. Und sie war es auch nicht, seit Gideon ihr seinen Ring auf den Finger gesteckt und der Schmied in Gretna Green sie zu Mann und Frau erklärt hatte.

„Du bist Callie Laughraine“, sagte er tonlos.

„Ich habe lange Zeit damit zugebracht, sie zu vergessen, und bin sehr gut ohne Mann zurechtgekommen, der mir nur sagen würde, was ich tun und was ich lassen soll.“

„Als ob ich dich je dazu habe zwingen können, irgendetwas zu tun. Du warst immer selbstständig, und selbst als junger Grünschnabel wollte ich dich auch nie anders haben, Calliope.“

„Ich verstehe einfach nicht, warum meine Mutter mir diesen lächerlichen Namen geben musste“, brummte sie, um zu vergessen, wie sehr er sie geliebt hatte, als sie nach Gretna Green durchgebrannt waren. Es tat so weh, an die Vergangenheit zu denken und sich zu fragen, ob sie gemeinsam ein glückliches Leben gehabt hätten, wenn das Schicksal nicht so grausam mit ihnen gewesen wäre. „Sie hätte mir lieber einen Mühlstein um den Hals binden sollen als mir den Namen einer der neun Musen zu geben.“

„Was für ein Glück also, dass du eine schöne Stimme und eine Vorliebe für die Dichtung hast, genau wie deine Namensvetterin, nicht wahr? Vielleicht mochte deine Mutter den Namen einfach. Genau wie ich.“

„Wie sehr du mich aber damit aufgezogen hast, als du ein abscheulicher, kleiner Junge warst.“ Sie war auf der Hut. Auf keinen Fall durfte sie sich von seinem Geplauder einlullen lassen. Sie musste daran denken, dass sie nie Freunde sein konnten. Dann würde es nicht so sehr wehtun, wenn er schließlich wieder ging, um sich seinem Anwaltsberuf zu widmen.

„Du kannst mich dort drüben herunterlassen“, meinte sie gebieterisch und wies auf einen Baumstumpf.

„Ich werde Euch in den Bach fallen lassen, Euer Majestät, wenn Ihr nicht vorsichtig seid“, antwortete er grimmig.

Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu, als er sie absetzte, als wäre sie aus Porzellan, sich spöttisch vor ihr verbeugte und einen Schritt zurücktrat. „Und jetzt geh“, sagte sie unfreundlich.

„Ich würde nicht einmal deine Tante mitten im Nirgendwo stehen lassen, krank und jedem Schurken hilflos ausgeliefert, der zufällig vorbeikäme, und die habe ich nie gemocht. Wie kannst du also denken, ich könnte dich allein lassen, Callie?“

„Ich bin nicht meine Tante“, verteidigte sie sich unbewusst.

„Wofür ich meinem Herrgott täglich danke, meine Liebe.“

„Nenn mich nicht deine Liebe und lästere nicht.“

„Aber es wäre unerträglich für mich, wäre ich mit deiner engstirnigen, freudlosen Tante verheiratet, meine Liebe.“

„Sie stand mir bei, als alle anderen mich im Stich ließen, und du sollst mich nicht deine Liebe nennen“, antwortete sie und versuchte, gleichgültig auszusehen. Allerdings ohne besonderen Erfolg, denn ihr fiel auf, dass er ein Lächeln zu unterdrücken versuchte.

Gelassen drehte er sich um und holte eine kleine Feldflasche vom Sattel seines Pferdes.

„Versuche jetzt bitte nicht, mir Branntwein aufzuzwingen, Gideon“, protestierte sie.

„Ich trinke keinen Alkohol mehr“, sagte er und reichte ihr die Wasserflasche.

Er hatte in den letzten Tagen ihrer Ehe zu sehr dem Wein zugesprochen, und der Gedanke an ihn, betrunken und verbittert, jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Zwar hatte er niemals Hand an sie gelegt, doch seine Verzweiflung hatte sie damals bis ins Innerste erschüttert.

„Niemals?“, fragte sie verblüfft.

„Nur wenn ein Koch sie in der Sauce verwendet, aber sonst nicht. Ich trank zu viel und machte alles nur noch schlimmer für uns beide. Du siehst also, einen meiner niederen Charakterzüge habe ich besiegt“, sagte er mit einem Lächeln, das sie erbeben ließ.

„Tu es um deinetwillen und gib nicht vor, es hätte irgendetwas mit mir zu tun. Hättest du dich je dafür interessiert, was ich möchte, wärst du nicht gekommen, um mich aus meiner Ruhe zu reißen“, meinte sie barsch, um ihren inneren Aufruhr zu verbergen.

„Noch kann ich nicht gehen, aber der betrunkene, hemmungslose Junge, der ich damals war, war abstoßend, und ich verspreche dir, ich habe mein Bestes getan, ihn zu töten. Ich bezweifle sehr, dass irgendjemand um ihn getrauert hat.“

Ich trauerte um ihn, flüsterte eine innere Stimme Callie zu, die sich einfach nicht zum Schweigen bringen ließ. Ich habe mich viel zu lange jede Nacht in den Schlaf geweint, weil er nicht neben mir lag. Bis mir klar wurde, dass er niemals wiederkommen würde und ich es gewesen bin, die ihm befohlen hatte fortzugehen.

„Zum Teufel, ich bin ein wahrer Schurke, dass ich dich so quäle, wenn du dich doch nicht gut fühlst“, rief er in diesem Moment, und sie musste lächeln, weil er ihr plötzlich wieder so vertraut war.

Hier war er wieder, ihr Gideon – ein aufbrausender, leidenschaftlicher junger Mann, der nur zu lächeln brauchte, damit ihr die Knie weich wurden, und mit dem das Leben ein wahres Wechselbad der Gefühle gewesen war. „Komm, Frau, bringen wir dich nach Hause, bevor du ein zweites Mal ohnmächtig wirst“, fügte er herrisch hinzu. Callie runzelte die Stirn. Würde sie jemals mit einem Mann leben können, der es gewohnt war, dass alles nach seinem Kopf ging? Erschrocken hielt sie den Atem an, als ihr klar wurde, dass sie es gern versucht hätte, wenn die Dinge anders lägen.

„Wenn du auf ihrer Schwelle auftauchst, wird Tante Seraphina ganz im Gegensatz zu mir nicht so gelassen reagieren“, warnte sie ihn, und tatsächlich erblasste er leicht bei dem Gedanken an ihre Tante, die ihn sogar nicht gemocht hatte, bevor er mit ihrer Nichte nach Gretna durchgebrannt war.

„Darin hat sie auch sehr viel Übung“, meinte er düster und drehte sich zu seinem Pferd um.

„Du könntest einfach wieder wegreiten. Keiner würde es erfahren“, schlug Callie verzweifelt vor. Einsam und ein wenig unglücklich zu sein, war ein Zustand, an den sie sich so sehr gewöhnt hatte, dass der Gedanke, ihn zu verändern, sie verunsicherte.

„Aber wir beide wüssten es, nicht wahr?“, sagte er, als würde es die Frage entscheiden.

„Ja“, gab sie seufzend zu. „Das stimmt.“

3. KAPITEL

Es kam zu einem Streit, bevor er Callie dazu bringen konnte, auf seinem Pferd zu reiten, während er es an den Zügeln führte. Gideon fragte sich, ob sie wohl lange genug aufhören konnten, sich zu bekämpfen, um die Scherben ihrer Ehe wieder zu kitten. Er gab sich jede nur denkbare Mühe, nicht die Geduld zu verlieren, denn schließlich hätte er jene Seite ihrer Ehe nicht vergessen dürfen, die ebenso dazu gehört hatte wie ihre Liebe.

„Bequem?“, fragte er, nachdem das Schweigen zwischen ihnen sich so lange hingezogen hatte, dass er es nicht mehr ertrug.

„Was glaubst du denn?“, erwiderte sie herausfordernd. „Du hättest mich rittlings aufsitzen lassen sollen, wie ich dich gebeten habe, statt mich hier wie eine Puppe auf einen Thron zu setzen.“

„Und zulassen, dass die Hälfte aller Bauerntölpel in Wiltshire deine Beine anstarren?“, sagte er gelassen, obwohl allein der Gedanke heiße Eifersucht in ihm weckte.

„Ich bezweifle sehr, dass sie noch interessiert wären, wenn sie den Rest von mir sehen würden.“ Sie deutete mit einer schwungvollen Bewegung auf ihr staubiges Kleid, sodass Gideons Hengst wieder unruhig wurde, und Gideon packte die Zügel fester, so wie er auch seine eigenen Gefühle zügeln musste.

„Und ob sie interessiert wären. Du siehst hinreißend aus“, sagte er knapp und glaubte, ein kleines Lächeln um ihre Lippen zu entdecken. „Als Mädchen warst du schon sehr reizvoll, jetzt bist du schön, Callie“, fügte er hinzu und hörte sie ungläubig schnauben.

Wenn sie sich für unscheinbar hielt, würde ihm das die Rolle des eifersüchtigen, fürsorglichen Ehemannes erleichtern? Falls es ihm überhaupt gelang, sie zurückzugewinnen, hieß das. Aber wenn sie wirklich nicht wusste, wie anziehend sie war, würde sie die Schürzenjäger anlocken, kaum dass sie einen Ballsaal an seiner Seite betreten hätte. Sein Leben würde eine wahre Hölle sein. Er stöhnte leise auf bei dem Gedanken, ihr niemals von der Seite weichen zu können, um jedem klarzumachen, dass sie zu ihm gehörte und er sie mit niemandem teilen würde. Aber vielleicht sollte er besser nicht den Karren vor das Pferd spannen und seine Hoffnung drosseln, falls doch noch alles um ihn herum zusammenstürzte.

„Hast du Schmerzen, Gideon?“, fragte sie unschuldig.

„Es war ein sehr langer Tag“, sagte er nur mit einem Achselzucken.

„Und wird wahrscheinlich nicht viel besser werden“, warnte sie ihn, als Cataret House in Sicht kam.

„Ja. Deine Tante konnte mich nie besonders gut leiden, nicht wahr?“, meinte er, als wäre es das Einzige, was ihm jetzt Sorge bereitete. In Wirklichkeit konnte er nur daran denken, wie es wäre, Callie wieder zu seiner Frau zu machen.

„Nein, aber sie ist allen Männern gegenüber misstrauisch. Wenn man bedenkt, mit wem sie so lange verheiratet war, überrascht es mich überhaupt nicht.“

„Warum hat sie Bonhomie Bartle nur geheiratet, Callie? Sie hatten niemals Kinder, also waren sie nicht gezwungen, weil ein Kind auf dem Weg war, wie meine Eltern. Es hat mich immer gewundert, was diese beiden aneinander gefunden haben, da sie sich ebenso sehr zu hassen schienen wie meine Mutter und mein Vater.“

„Großvater sagte mir, sie habe darauf bestanden, ihn zu heiraten, obwohl er sie anflehte, es nicht zu tun, also muss sie ihn wohl irgendwann geliebt haben. Keiner zwang sie, den Mann zu nehmen, und ich verstehe auch nicht, was sie je in ihm gesehen hat. Aber warum heiraten die Menschen überhaupt, wenn sie nicht müssen?“

„Weil sie den Rest ihres Lebens miteinander verbringen wollen, nehme ich an“, antwortete er und bereute es sofort, als sie seinem Blick auswich. Inzwischen hatten sie die leicht ansteigende Auffahrt erreicht, und Gideon und sein müdes Pferd verlangsamten das Tempo. Doch die Hitze und Gideons innere Unruhe dämpften wenigstens ein wenig sein Verlangen nach Callie.

„Mr. Bartle war Erbe eines wohlhabenden Titels, immerhin ein Baronet, bevor sein Großonkel sich eine junge Frau nahm und in seinem fortgeschrittenen Alter begann, eigene Erben zu zeugen.“

„Also endete alles in Armut und Enttäuschung für die beiden?“

„Ja, und falls sie sich je geliebt hatten, reichte ihre Liebe nicht aus, um die Enttäuschung abzumildern.“

„Wahrscheinlich nicht“, stimmte er zu und dachte, dass er einmal geschworen hätte, dass seine und Callies Liebe alles besiegen konnte.

„Es wird niemand aufmachen, also kannst du das arme Tier ruhig selbst zum Stall führen.“

„Wo sind eure Stallburschen?“, fragte er verwundert und bemerkte erst jetzt den ungepflegten Garten und generell verwahrlosten Zustand des Hauses und der Ställe.

„Tante Seraphina sagt, wegen des Krieges sei alles so teuer geworden, dass es uns nicht möglich ist, mehr als einen Stallburschen zu beschäftigen. Sonst haben wir nur Dienstmädchen und eine gute Köchin, damit unsere jungen Damen gesund bleiben.“

„Ihre eigene Vorliebe für gutes Essen hat also nichts damit zu tun, was? Was hast du mit dem Geld gemacht, das ich dir schicke, Callie? Für dich gibst du es jedenfalls nicht aus, so viel sieht man auf einen Blick, also kann ich nur hoffen, dass du dir nicht die Knausrigkeit deiner Tante angewöhnt hast.“

„Als ranghöchste Schulmeisterin bekomme ich ein kleines Gehalt von den Schulgeldern, aber das reicht nicht, um mich in dem Stil auszustaffieren, den du zu erwarten scheinst, Gideon“, sagte sie, als wäre er absichtlich begriffsstutzig. Gideon wurde allmählich bewusst, wer am meisten an der Entfremdung zwischen ihm und Callie zu gewinnen hatte. Und wieder musste er an Virginias Warnung denken.

„Am Anfang konnte ich wirklich nur so wenig schicken, dass du dich anständig kleiden und in bescheidenem Komfort leben konntest, aber inzwischen ist die Summe, die ich jeden Monat auf ein Konto mit deinem Namen einzahle, groß genug, um dich problemlos ein Haus führen zu lassen, das doppelt so groß ist wie dies hier, ohne dass du jeden Penny zweimal umdrehen müsstest.“

„Ach? Und warum scheine ich nichts davon zu erhalten?“

„Eine sehr interessante Frage, meinst du nicht?“

Callie war in Gedanken versunken, als sie den bescheidenen Stallhof erreichten. Von einer Koppel blickten ihnen zwei gute Kutschpferde und drei fette Ponys neugierig entgegen.

„Ihr haltet euch ein Paar Kutschpferde, aber ich sehe kein Reitpferd. Wie hältst du es nur aus, Callie?“ Er musste daran denken, was für eine großartige Reiterin sie gewesen war. Wie viele Entbehrungen hatte sie sonst noch erleiden müssen, während er so feige gewesen war, sie beim Wort zu nehmen und all diese Jahre fernzubleiben?

„Ich bin kein ausgelassenes junges Mädchen mehr. Ich bin erwachsen geworden.“

„Ist das so? Hast du dir das Leben genau angesehen, das du einem Leben mit mir vorziehst, Callie? Lieber Himmel, du verstehst es wirklich, mich zu beschämen, denn du hast nur Opfer gebracht, während deine Tante alle Vorteile für sich in Anspruch nahm.“

„Sie stand mir bei. Sie schuf ein Zuhause für uns, sodass wir wenigstens einander hatten. Damals gab es nicht viel sonst, was uns hätte erfreuen können.“

„Ein sehr viel behaglicheres Zuhause, als sie ohne dich hätte haben können.“

„Nein, Gideon, du verstehst nicht. Die Schule bringt uns ein gutes Einkommen ein, aber ich habe nicht den Wunsch, in der hiesigen Gesellschaft eine gute Figur abzugeben. Meine Tante stattet gern Besuche ab und sorgt dafür, dass es unserer Schule nicht an Schülerinnen fehlt. Sie kümmert sich um die geschäftliche Seite, während ich mich um die Mädchen kümmere, die in unserer Obhut sind. Wir kommen sehr gut ohne dich zurecht.“

„Also glaubst du ihr immer noch mehr als mir.“

„Nein, natürlich nicht“, wandte sie halbherzig ein.

Gideon verkniff sich eine Antwort, während er ihr aus dem Sattel half. Sie hatte heute einen großen Schreck erlitten, und wenn er sich nicht irrte, standen ihr noch einige bevor.

„Der ganze Haushalt steht Kopf, seit wir festgestellt haben, dass du fort bist“, schalt Tante Seraphina sie wohlwollend und eilte auf sie zu, sobald Callie und Gideon die sengende Hitze verließen und die kühle, steingepflasterte Halle von Cataret House betraten. „Wie konntest du an einem solchen Tag einfach davonspazieren, Calliope? Du hättest dich ausruhen oder irgendwie im Haus beschäftigen sollen, wenn es so heiß ist, wenn du schon etwas tun musstest.“

„Ich war etwas unruhig, und mir fehlen die Mädchen, Tante, aber du musst doch sehen, dass wir Besuch haben. Gewiss wirst du mich doch nicht vor ihm tadeln wollen“, antwortete Callie.

Gideon stand genau vor ihr, und Tante Seraphina wusste, dass ihre Nichte auf einem Pferd gekommen war, das von einem Fremden in Hemdsärmeln an den Zügeln geführt worden war. Die Hausmädchen mussten es ihr gesagt haben. Ein so gut aussehender Mann wie Gideon wäre ihnen nicht entgangen. Und doch zögerte Tante Seraphina, während sie die Situation abschätzte. Callie kannte ihre Tante sehr gut. Gideons Anblick hatte sie verunsichert. Vor Kurzem hätte Callie wahrscheinlich ihm die Schuld an dem Unbehagen ihrer Tante gegeben, aber jetzt war sie nicht mehr ganz so sicher, dass alles ihm anzulasten war, denn sie spürte die Wut, die ihre Tante nur mit Mühe beherrschte.

„Ich hielt es für das Beste, so zu tun, als wären Sie nicht hier, junger Mann. Sie besitzen eine größere Unverschämtheit, als ich dachte, dass sie einfach hier aufkreuzen und auch noch erwarten, willkommen zu sein, nach allem, was Sie getan haben“, sagte Tante Seraphina schließlich, als wäre er ein unartiger Schuljunge.

„Mein Mann hat ein Recht, hier zu sein, Tante.“ Callie war genauso erstaunt über ihre Worte wie die anderen beiden auch.

Eins der Mädchen, das auf der Treppe lauschte, sog scharf die Luft ein, ein anderes stieß sie in die Seite, damit sie nicht entdeckt wurden. Callie wusste, wie entsetzt sie darüber sein mussten, dass Miss Sommers behauptete, einen Mann zu haben, noch dazu einen Gentleman wie diesen.

„Dieser Mensch ist es nicht wert, dir die Schuhe zu putzen, geschweige denn hier aufzutauchen, als wäre es selbstverständlich.“

„Da ich meine schmutzige Wäsche nicht gern in aller Öffentlichkeit wasche, schlage ich vor, dass wir den Rest unserer Unterhaltung in privaterer Umgebung fortführen, Mrs. Bartle“, sagte Gideon ruhig, und es sagte viel über seine neu erworbene Autorität aus, dass alle drei sich in den Salon begaben und die Tür hinter sich geschlossen hatten, bevor Callies Tante sich darüber beschwerte, dass er sie bei ihrem wahren Namen ansprach, obwohl sie hier als Mrs. Grisham bekannt war.

„Nun, was haben Sie zu Ihrer Entschuldigung vorzubringen, junger Mann? Als könnten Sie das überhaupt“, brachte Tante Seraphina mit einer Stimme hervor, die kleine Schulmädchen erzittern ließ, Gideon jedoch nicht im Geringsten berührte.

„Später. Jetzt braucht Ihre Nichte Ruhe und ein kühles Bad nach den Anstrengungen in der Sonne. Wenn Sie sich auch nur halb so viel um ihr Wohl sorgen würden, wie Sie vor so vielen Jahren vortäuschten, würden Sie aufhören, mit mir zu streiten, und sich um sie kümmern.“

Einen Moment herrschte eine solche Spannung im vornehmen Salon, dass Callie den Atem anhielt. Schließlich senkte ihre Tante den Blick und winkte mit einer eleganten Hand ab, als wollte sie einräumen, eine Schlacht verloren zu haben, allerdings nicht den Krieg.

„Calliope ist sehr blass, aber Sie bestanden ja darauf, dass wir hier im Salon weiterstreiten, statt sie vor ihrem Bad ruhen zu lassen. Klingeln Sie also schon nach den Mädchen und sehen wir, ob wir sie dazu bringen können, etwas Vernünftiges zu tun, nachdem Sie sie in helle Aufregung versetzt haben“, ging sie gleich darauf zum Angriff über.

„Sie geben mir also freie Hand, Ihren Haushalt umzuorganisieren, Madam? Recht unbesonnen von Ihnen, meinen Sie nicht?“

„Was weiß ein Mann schon von Hauswirtschaft“, höhnte Tante Seraphina.

„Das genügt“, sagte Gideon jedoch müde, sodass Callie ihn verblüfft anstarrte.

Früher hätte er nicht im Traum daran gedacht, einen Haushalt zu führen, und jetzt klingelte er, bestellte Tee und ein Bad für sie und gab ein leichtes Dinner in Auftrag, das in einer Stunde aufgetragen werden sollte – und all das bevor Tante Seraphina reagieren und die Zügel des Haushalts wieder an sich reißen konnte.

„Nun, ich gebe zu, dass Sie inzwischen gelernt haben, sich ein wenig nützlich zu machen. Das beweist aber nicht, dass Sie sich auch in anderer Hinsicht gebessert haben“, sagte sie streng.

„Ich brauche Ihnen nichts zu beweisen, Madam“, antwortete er knapp, woraufhin sie in eisigem Schweigen darauf warteten, dass Callies Bad und Tee vorbereitet wurden.

„So, Miss, fertig. Nein, ich meine Madam. Nicht wahr?“ Kitty, das Dienstmädchen für den oberen Stock, blieb abwartend stehen, als könnte Callie den Badezuber und das Teetablett nicht selbst sehen.

„Vielen Dank, Kitty. Jetzt komme ich auch allein zurecht“, sagte Callie leise, ohne auf Kittys Frage zu antworten. „Du kannst jetzt gehen“, fügte sie hinzu, als die junge Frau noch zögerte.

„Soll ich Ihnen denn nicht den Rücken einseifen, Madam? Aber nein, natürlich nicht. Sie haben einen ansehnlichen Mann, der das für Sie tun kann, nicht wahr?“, platzte das Mädchen frech heraus.

„Kitty, stell meine Geduld nicht auf die Probe“, sagte Callie so ruhig sie konnte. „Verschwinde jetzt und hüte in Zukunft deine Zunge.“

Das Mädchen knickste so knapp, dass es schon eine Beleidigung war, um zu beweisen, dass sie sich nicht einschüchtern ließ. Kitty war in trostlosem Zustand hier angekommen und hatte um eine Stellung gebettelt, und dann war es ihr gelungen, sich in nur wenigen Monaten vom einfachen Küchenmädchen zum ersten Hausmädchen hochzuarbeiten. Callie hatte sich schon oft gefragt, ob Kitty irgendetwas gegen ihre Tante in der Hand hatte, dass ihre Position sich so schnell verbessert hatte. Gleichzeitig sagte sie sich, dass sie mehr darauf hätte achten sollen, was um sie herum vor sich ging. In letzter Zeit waren einige der Schülerinnen in Tränen aufgelöst zu ihr gekommen, weil Kitty in ihren Zimmern herumgeschnüffelt hatte und dann mit ihren Geheimnissen zu Mrs. Grisham gegangen war. Tante Seraphina hatte beteuert, dass Kitty nur ihre Pflicht tue, und daraufhin nicht Kitty, sondern die Mädchen bestraft. Callie war zu sehr damit beschäftigt gewesen, nachts an ihrem Buch zu schreiben und tagsüber zu unterrichten – vor allem, um keine Zeit zu haben, Gideon zu vermissen. Aber hatte sie damit ihre Schülerinnen im Stich gelassen?

Damals hatte ihr jeder Atemzug Schmerzen bereitet, weil er nicht bei ihr war und weil sie dennoch versuchen musste, ohne ihn weiterzuleben. Während sie sich auszog und den ungewohnten Luxus eines Bades vor dem Dinner genoss, ließ sie ihre Gedanken schweifen. Wie sollten Gideon und ihre Tante auch nur für einen Abend unter demselben Dach verbringen? Sie hatten sich immer verabscheut, und es störte Callie, dass ihre Tante nicht einmal versuchte, ihre Abneigung zu verbergen. Am besten beeilte sie sich, wieder nach unten zu gehen, bevor sie sich wirklich in die Haare gerieten. Selbstverständlich musste sie dann an Gideon denken und an die Macht, die er noch immer auf sie ausübte.

Sie errötete unwillkürlich bei der Vorstellung, dass er früher gewiss darauf bestanden hätte, mit ihr in den Zuber zu steigen, und die sinnlichsten Dinge getan hätte, um sie davon zu überzeugen, dass es nichts ausmachte, wenn das Wasser überschwappte. Hatte ihn all diese Zeit dasselbe Verlangen gequält wie sie? Callie hatte nicht vergessen, wie heiß und leidenschaftlich ein gemeinsames Bad mit dem Mann, den sie liebte, sein konnte. Gideon allerdings hatte unter den erfahrensten halbseidenen Schönheiten wählen können, wann immer er von Lust gepackt wurde, nicht wahr? Die Vorstellung, ein junger Mann wie er hätte sich ein neun Jahre dauerndes quälendes Zölibat auferlegt, war lachhaft, das wusste Callie. Sie errötete am ganzen Leib, wie ihr schien, sogar an Stellen, die Gideon damals mit faszinierten Blicken betrachtet hätte. Wie sollte sie vergessen, was für ein leidenschaftlicher Liebhaber er gewesen war?

Sie schüttelte den Kopf bei dem bloßen Gedanken, er hätte sich ebenso nach ihr verzehrt in all diesen Jahren, so wie sie sich nach ihrem ersten und einzigen Liebhaber. Nein, es war einfach unmöglich, dass er wegen einer Frau, die ihn fortgeschickt hatte, wie ein Mönch hätte leben sollen. Callie erschauerte und ermahnte sich, kein Dummkopf zu sein. Er hatte sich gewiss eine Geliebte gehalten und ihr verschwenderisch all jene heiße Leidenschaft geschenkt, die einst allein seiner Frau gehört hatte. Unwillkürlich ballte Callie die Hände zu Fäusten, die sie nur allzu gern auf jene Geliebte hätte herabprasseln lassen. Und hatte sie ihn nicht auch sehr viel mehr gebraucht als jene Fremde, die gewiss unter vielen Gentlemen hätte wählen können?

Wenn Gideon die verflixte Frau allerdings auch nur halb so stürmisch liebte wie sie, dann war sie ihm sehr wahrscheinlich verfallen und man konnte ihr eigentlich keinen einen Vorwurf machen. Selbst als er sie damals bereits gehasst haben musste, hatte er sie noch immer voller Wildheit bedrängt, daran erinnerte Callie sich nur allzu gut und erschauerte heftig. War es nicht lächerlich, aber hier lag sie in ihrem Bad und träumte sehnsüchtig von ihrem Liebhaber, statt sich innerlich schon gegen seine Lügen zu wappnen.

Nein, sie konnte nicht vorgeben, dass er sie jemals gezwungen hätte. Gerade ihr heißes Verlangen nach ihm und seinem aufregenden Liebesspiel hatte sie dazu gebracht, ihn wegzuschicken. Es zerstörte ihre Selbstachtung. Callie hatte ihre Abhängigkeit von der Lust, die er in ihr erweckte, gehasst, denn sie verband sie nicht mehr miteinander wie noch am Anfang. Am Ende hatte sie nur noch deutlicher gemacht, wie groß die Kluft zwischen ihnen war, wenn sie sich nicht liebten. Heftig kniff Callie die Augen zusammen und zwang sich, an all jene Gründe zu denken, die nicht zuließen, dass Callie Laughraine ihren Mann begehrte. Sie stieß einen langen Seufzer aus. So, sie war wieder vernünftig.

„Ich bin kein dummes, kleines Mädchen mehr, das dir völlig hörig ist, Gideon Laughraine“, flüsterte sie. „Wage es nicht, auch nur zu versuchen, mich je wieder hinters Licht zu führen und mir weismachen zu wollen, dass du die Antwort auf all meine Gebete bist.“

Dann seufzte sie wieder und fuhr spöttisch fort: „Natürlich nicht, Callie. Warum sollte er dich für eine Idiotin halten, die sich nach ihm verzehrt, wenn du hier liegst, und von ihm träumst, als wäre jeder Moment, den du ohne ihn verbringen musst, verschwendet? Aber ich weigere mich, wieder wie das Mädchen von damals zu werden. Sie hat zu viel Kummer ausstehen müssen, um es ein zweites Mal zu wagen.“

Mit einem Ruck setzte sie sich auf, bevor noch jemand nachsehen kam, warum sie noch immer wie ein liebestrunkenes Mädchen im Bad hockte, ohne sich zu rühren. Sie wusch sich den Staub aus dem Haar und seifte sich heftig ein. Dann erhob sie sich und spülte sich das Haar mit einer Mischung aus Rosmarin und Essig aus, die sie selbst herstellte, um ihr lockiges Haar ein wenig zu zähmen. An einem so warmen Juliabend wie heute würde es bald trocken sein. Callie setzte sich auf das Bett, kämmte sich das Haar, und wartete noch ein wenig, bevor sie Miss Sommers’ praktische Kleider über ihre kühle, saubere Haut zog.

Das Gewicht ihres Haars auf ihrer nackten Haut fühlte sich sinnlich und fast ein wenig sündhaft an, nun, da Gideon im Haus war. Gestern noch wäre es einfach nur feucht und lästig gewesen, doch heute fühlte Callie Laughraine sich so viel lebendiger als sonst, als wäre sie aus einer Art Winterschlaf erwacht. Eine innere Stimme riet ihr beunruhigt, besser nicht aufzuwachen, doch ihr Geliebter war wieder da, und Callie rieb sich unbewusst auf dem schlichten Bett, erfüllt von einer so heißen, erwartungsvollen Spannung, die sie sich seit Jahren nicht mehr erlaubt hatte zu fühlen.

Selbst bevor sie gewusst hatte, was Liebe war, hatte sie diese unruhige Aufregung verspürt, wenn sie Gideon Laughraine nur gesehen hatte. Sie und ihre Freundinnen Bella und Lottie verirrten sich immer wieder absichtlich auf das Raigne-Gut. Sie erinnerte sich mit einem wehmütigen Lächeln, dass die zufällige Begegnung mit Gideon, damals ein spitzbübischer Junge, für sie immer der Höhepunkt des Tages gewesen war. Schon immer hatte sie den lebhaften, wilden Jungen geliebt, und als sie zur Frau wurde, wuchsen ihre Gefühle für ihn mit.

Callie hatte schon immer gedacht, dass sie auf die Welt gekommen war, um Gideon Laughraine zu lieben, und es hatte keinen Zweck gehabt, das zu leugnen. Was aber auch egal war, denn jetzt liebte sie ihn nicht mehr und zwar schon seit einigen Jahren, nicht wahr? Die idealistische, verträumte Callie Sommers hatte einen zornigen Jungen auf ein Podest gestellt. Es war ebenso ihr Fehler wie seiner, dass er nicht der Held gewesen war, für den sie ihn gehalten hatte. Sie hörte auf, ihr Haar zu kämmen, und blickte bedrückt ins Leere, als könnte sie so erkennen, warum sie sich mit ihren siebzehn Jahren so rückhaltlos einem achtzehnjährigen Jungen geschenkt hatte.

Wahrscheinlich war das einsame, unsichere Mädchen von damals nur allzu bereit gewesen, sich die unpassendste Partie auszusuchen. Deswegen hatte ihr Großvater wohl auch die Augen verschlossen vor der Verbindung, die die beiden jungen Menschen so ersehnten, und weswegen Gideons Vater alles getan hatte, um sie zu verhindern. Allerdings hatte die Heirat des angeblichen Erben mit der illegitimen Tochter des letzten wahren Erben gewährleistet, dass die Erbfolge auf Raigne wieder richtiggestellt worden war. Was alle jedoch vergessen hatten, war, dass sie und Gideon Menschen mit Gefühlen waren, die es verdient gehabt hätten, Entscheidungen, die ihr ganzes Leben verändern würden, selbst zu treffen.

Allerdings hatten sie allen den Gefallen getan und sich ineinander verliebt, und wie hätten sie es auch nicht tun sollen? Auch jetzt wieder wurde sie von der Erinnerung an ihre tiefe Liebe und Leidenschaft gepackt und erkannte, wie wenig ihr Leben ohne ihn doch wert war. Die Erkenntnis war so überwältigend, dass es ihr die Kehle zuschnürte. Statt der wilden Leidenschaft von damals, drohte sie jetzt jedoch tiefer Kummer zu erdrücken, also gab Callie sich Mühe, ihre Gefühle beiseitezuschieben und so zu tun, als hätte sie die Vergangenheit längst überwunden.

Daraufhin schlüpfte sie in ihr leichtestes Musselinkleid und steckte das Haar locker hoch, weil es noch immer etwas feucht war und sie sich nicht dazu durchringen konnte, es zu dem festen Knoten zu binden, den ihre Tante heute gewiss für angemessener halten würde. Doch sie war keine jungfräuliche Schulmeisterin, sie war Lady Laughraine, warum sollte sie also allen etwas vorheucheln, nun da Gideon hier war? Sie fühlte sich ein wenig mehr wie die Frau eines Baronets, als sie jetzt die Treppe hinunterging. Gideon war anzusehen, dass er die kleinen Veränderungen in ihrer Erscheinung mehr als billigte. Sein Blick ruhte voller Bewunderung auf ihr, als er sich erhob, um sie zu begrüßen.

4. KAPITEL

Hm, ich weiß nicht, deine Frisur will mir nicht gefallen, meine Liebe, und Weiß stand dir noch nie besonders. Aber ich bin froh, dass du ausgeruhter aussiehst als vorhin“, sagte Tante Seraphina, kaum dass Callie sich an jenem Abend zu ihr und Gideon in den Salon begeben hatte.

„Ich mag mein Haar so lieber“, antwortete Callie ruhig. „Mir ist nicht so warm, und all die Haarnadeln verursachen mir Kopfschmerzen.“

„Ich hätte dich in dem Strohhut und dem streng hochgesteckten Haar kaum wiedererkannt vorhin“, warf Gideon ein, als wären sie nur wenige Wochen getrennt gewesen.

„Bevor er kam, warst du zufrieden damit, dich bescheiden zu kleiden“, gab Tante Seraphina zu bedenken.

„Dann hätte ich den Unterschied zwischen bescheiden und unelegant eben früher finden sollen“, antwortete Callie aufsässig und musste an die vielen langen Nächte denken, in denen sie sich Charaktere ausgedacht hatte, die statt ihrer ein erfülltes Leben führten, und sich einredete, dass ihr das genügte.

„Heute scheinst du dich nach ebendem Leben zu sehnen, vor dem ich dich retten sollte, als er dich damals einsam und allein und zurückließ.“

„Ich bin nicht sicher.“ Einen Moment kam Callie der Blick ihrer Tante hart und unversöhnlich vor, als sie sich jetzt ansahen. Aber natürlich musste sie sich irren. Sie hätten nicht so viele Jahre miteinander leben und arbeiten können, wenn ihre Tante sie insgeheim hassen würde, selbst wenn sie in Callies Kindheit sehr abweisend und streng zu ihr gewesen war. „Ich werde dir immer dankbar dafür sein, dass du zu mir gestanden hast, als ich dich so sehr brauchte, Tante, aber ich bin eine noch recht junge Frau und darf doch gewiss ab und zu ein wenig eitel sein“, meinte sie schmeichelnd, aber Tante Seraphina presste die Lippen zusammen, bevor sie sich zu einem höflichen Kichern durchrang.

„Selbstverständlich, meine Liebe. Du musst einer ängstlichen alten Dame schon vergeben, die sich Sorgen macht, du könntest mit dem Feuer spielen.“

„Ich werde ja wohl kaum gleich zu einem Freudenmädchen, weil ich einige Haarnadeln herausgenommen habe“, protestierte Callie, weil sie sich nicht vorstellen konnte, wie irgendjemand ihr schlichtes Kleid und ihre einfache Frisur für herausfordernd halten könnte.

„Nun, ich bin jedenfalls froh, dass du wieder ein wenig mehr wie du aussiehst, aber Mrs. Bartle nimmt ihre Pflicht als Anstandsdame und Mentorin offensichtlich sehr ernst, meine Liebe“, meinte Gideon leichthin.

Ihre beklagenswerte Garderobe und die Tatsache, dass sie kein Reitpferd hatte, schien ihm den Verdacht einzugeben, ihre Tante habe all diese Jahre nicht in ihrem besten Interesse gehandelt. Callie dachte an seine Behauptung, er habe ihr die ganze Zeit über große Summen Geldes geschickt, und sie bemerkte winzige Schweißtropfen auf der Oberlippe ihrer Tante. Allerdings war es sehr heiß, und bei diesem Wetter konnte wohl selbst sie nicht kühl und beherrscht bleiben.

„Aber natürlich“, sagte sie jetzt entschieden. „Calliope ist schließlich meine Nichte.“ Früher einmal hätte es sie große Überwindung gekostet, Callie als ihre Nichte zu bezeichnen, da Callie der Bastard ihrer jüngeren Schwester war. Die Tatsache, dass sie jetzt zu ihr stand, bewies nur, wie Callie fand, dass alles nur ein Missverständnis war.

„Danke, Tante“, sagte sie aufrichtig.

„Weswegen es Ihr Wunsch sein muss, sie glücklich zu sehen, nicht wahr?“, entgegnete Gideon, und Callie wunderte sich, warum ihre Tante seinem Blick auswich.

„Selbstverständlich. Deswegen habe ich Calliope auch nie ermutigt, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen“, konterte Tante Seraphina giftig.

„Oder auf einen meiner Briefe zu antworten?“

Callie hätte fast laut gekeucht bei der Vorstellung, Gideon könne ihr mehr als einmal geschrieben haben. Schon ein einziger Brief hätte damals ihren Kummer abgemildert, aber es hatte sogar mehr als einen gegeben? Es hätte eine Brücke zwischen der alten Callie und Gideon sein können. Sie musterte beide betroffen und fragte sich, wer von ihnen log.

„Ich weiß nicht, was Sie meinen“, erwiderte Tante Seraphina ruhig, aber Callie entging nicht, dass das unerschütterliche Selbstbewusstsein ihrer Tante ins Wanken geriet.

„Was für ein anpassungsfähiges Gedächtnis Sie doch besitzen, Madam“, sagte Gideon.

„Jedenfalls ein sehr exaktes, wenn es um Sie geht, junger Mann. Die Zeit hat mich nicht Ihre Sünden vergessen lassen, selbst wenn meine Nichte heute offenbar nicht mehr daran denken möchte. Einen oder zwei Briefe habe ich ihr vielleicht vorenthalten, als wir hierherkamen, aber Callie war damals nicht in der Lage, Ihre Rechtfertigungen zu lesen.“

Die Erinnerung an jene schmerzhafte Zeit brachte Callie wieder zu Sinnen, und sie fragte sich, wie sie ausgerechnet an dem einzigen Menschen zweifeln konnte, der sie nicht im Stich gelassen hatte. „Ich danke dir, Tante Seraphina. Ich glaube auch nicht, dass es eine Rechtfertigung dafür geben kann, was du getan hast, du etwa, Gideon?“

Er hielt ihrem Blick stand, als gäbe es nichts, wofür er sich schämen müsste.

„Natürlich nicht“, kam ihre Tante ihm zuvor.

Bevor er etwas sagen konnte, betrat Kitty den Salon und verkündete, dass der Tisch gedeckt sei. Beim Dinner hielten sie sich lediglich an oberflächliche Konversation, da die Diener ein und aus gingen und Kitty für ihre Neugier bekannt war. Gerade heute musste die Dienerschaft darauf brennen, mehr über Miss Sommers’ attraktiven Gatten zu erfahren, zu dem sie sich so gleichmütig bekannt hatte, als hätte sie ihn nie verschwiegen.

Callie wusste nicht, wie sie das Mahl hinter sich bringen sollte, ohne aus reiner Müdigkeit etwas Indiskretes zu verraten. Immer wenn sie Gideon ansah, fragte sie sich verwirrt, ob er recht gehabt hatte, sie aus ihrem ruhigen Leben zu reißen. Vielleicht hatte ihre Tante übertrieben in ihrem Wunsch, sie zu beschützen. Wenn sie selbst die Wahl gehabt hätte, eine enge Verwandte zu beschützen oder ihr die Wahrheit zu sagen, wusste Callie nicht, was sie getan hätte.

Dennoch hätte sie wohl gern die Wahl gehabt. Sie hatte ein Recht zu wissen, dass Gideon versucht hatte, ihr zu schreiben und vielleicht sogar sie zurückzugewinnen. Zunächst hätte sie natürlich nicht auf ihn reagiert. Aber später? Sie war nicht ganz sicher, ob sie sich für schwach halten sollte. Aber vor allem wusste sie nicht, ob sie ihrer Tante zu großes Vertrauen entgegenbrachte.

„Ich glaube, heute Abend wird ein Gewitter aufziehen“, verkündete ihre Tante, nachdem etwas später keiner von ihnen Anstalten machte, einen weiteren Bissen zu essen.

Callie nahm kaum wahr, was sie aß, während sie schweigend mit ihrer Verwirrung kämpfte. Großvater wäre entsetzt gewesen über ihren Mangel an guten Manieren, doch sie glaubte nicht, dass die anderen beiden ihre Einsilbigkeit bemerkten, da sie zu sehr damit beschäftigt waren, einander misstrauisch zu beäugen.

„Ihr Stallbursche versicherte mir, das Wetter würde noch ein oder zwei Tage gut sein. Allerdings stimme ich Ihnen zu, dass es heute sehr frisch ist“, sagte Gideon und warf Callie einen besorgten Blick zu.

„Ich habe keine so große Angst vor Donner und Blitz wie früher, Gideon“, antwortete sie achselzuckend. Nachdem ihr Baby Grace bei der Geburt gestorben war, hatte ein Gewitter ihr keinen Schrecken mehr einjagen können. Und seit damals hatte sie während der schlimmsten Unwetter so viele Schülerinnen getröstet, dass sie inzwischen gefeit war.

„Das freut mich zu hören, aber du siehst müde aus, meine Liebe. Vielleicht sollten wir uns alle früh zurückziehen und versuchen, so gut zu schlafen, wie wir nur können bei dieser Hitze“, schlug er vor.

„Wo wirst du schlafen?“, fragte sie unbedacht und errötete dann, als ihr einfiel, dass ein Ehemann die Vorstellung haben könnte, das Bett seiner Frau zu teilen.

„Wie es aussieht, gibt es viele Räume, die im Sommer unbenutzt sind“, antwortete er nur, als wäre ihm ein solcher Gedanke nie gekommen.

„Ich werde Kitty dann also bitten, ein Zimmer für dich herzurichten“, sagte sie knapp. Sie hätte ihn selbstverständlich nicht willkommen geheißen, wenn er sie gebeten hätte, bei ihr zu schlafen, aber dass er sich nicht einmal die Mühe machte, es zu versuchen, war eigentlich eine Beleidigung.

„Nicht nötig. Das Küchenmädchen hat mir Bettwäsche gebracht und mir das Zimmer einer der Lehrerinnen gegeben, da die Betten der jüngeren Damen nicht groß genug sind für einen ausgewachsenen Mann“, erklärte er.

„Darf ich dann so unhöflich sein und mich etwas früher zurückziehen, Tante? Ich bin sehr müde.“

„Aber natürlich, meine Liebe. Kein Wunder, dass du nach einem solchen Schreck erschöpft bist, wenn ich auch immer noch nicht weiß, warum du ganz allein in der Gegend herumspaziert bist.“

Callie hielt es für klüger, so zu tun, als hätte ihre Tante keine Frage ausgesprochen, sondern nur eine verwunderte Bemerkung. Sie gab ihrer Tante pflichtbewusst einen Kuss auf die Wange und sah Gideon mit zusammengekniffenen Augen an. Gewiss würde er nicht ebenfalls einen Kuss von ihr erwarten, oder?

„Ich kann dir nichts recht machen, stimmt’s?“, flüsterte er, als er die Tür für sie öffnete und eine der Kerzen in der Halle für sie anzündete. Und das trotz der Tatsache, dass es jetzt mitten im Sommer niemals wirklich dunkel zu werden schien.

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