Historical Saison Band 53

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WILD WIE EIN IRISCHER KUSS von SCOTT, BRONWYN
Wie sehr war Lady May Worth damals in Liam, den Freund ihres Bruders, verliebt! Einen sinnlichen Sommer lang war sie die Seine - bis er sie verließ. Jetzt ist Liam zurück in Schottland: Er soll sie vor einem Feind beschützen. Doch die allergrößte Gefahr geht für die schöne Adlige von dem irischen Schwerenöter selbst aus!

WIE ZÄHMT MAN EINE WIDERSPENSTIGE? von SCOTT, BRONWYN
Sie war einem gewissenlosen Verführer zu Willen - jetzt ist Beatrice eine gefallene Frau! Verzweifelt flieht sie nach Schottland, wo unerwartet ihr Jugendfreund Preston Worth auftaucht. Er macht ihr einen gewagten Vorschlag, der zwar ihre verlorene Ehre wieder herstellen, aber ihr Herz für immer brechen könnte …


  • Erscheinungstag 20.03.2018
  • Bandnummer 0053
  • ISBN / Artikelnummer 9783733734206
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Bronwyn Scott

HISTORICAL SAISON BAND 53

1. KAPITEL

Dieses Mal war Preston Worth in Gefahr, wirklich zu sterben. Liam Casek zog hastig das Hemd aus und riss einen breiten Streifen davon mit einer Geschicklichkeit ab, die er seiner allzu großen Erfahrung zu verdanken hatte – Preston war bereits mehr als einmal von ihm zusammengeflickt worden. Doch heute könnte es gut das letzte Mal sein. Liam drückte den Stoff auf die klaffende Schnittwunde in Prestons Brust, erschrocken darüber, wie nah sie sich an der Lunge befand und wie schnell der notdürftige Verband sich mit Blut vollsaugte.

„Case!“, presste Preston heiser hervor und packte ihn eindringlich am Arm, um ihn zum Zuhören zu zwingen. „Lass mich. Sie kommen vielleicht zurück.“ Er meinte die Männer, die ihnen in der Dämmerung auf der Straße aufgelauert hatten. Es waren zu viele gewesen, als dass sie sie hätten zurückschlagen können, und doch hatten sie es am Ende geschafft, wenn auch erst, nachdem Preston verwundet worden war. Allerdings hatte seine Verwundung sie wahrscheinlich gerettet. Ihre Angreifer hatten sich zurückgezogen, weil sie vielleicht geglaubt hatten, ihr Opfer würde schon bald den Folgen der Verletzung erliegen.

„Sei still“, knurrte Liam, während er ein weiteres Stück Stoff um Prestons Brust wickelte. „Wir müssen dich versorgen lassen.“ Doch zunächst musste die Blutung gestillt werden. Angestrengt dachte er nach. Die nächste Stadt lag zwei Meilen hinter ihnen. „Drück fest auf den Verband.“ Liam stützte ihn unter den Achseln. „Du musst runter von der Straße.“ Es widerstrebte ihm, Preston zu bewegen, aber er konnte einen verwundeten Mann nicht in der Dunkelheit mitten auf der Straße liegen lassen. Die Gefahr nahender Kutschen oder gar die Rückkehr ihrer Angreifer war zu groß.

Preston stöhnte auf, als Liam ihn zur Seite zerrte – keine leichte Aufgabe, denn Preston war ebenso groß wie er, über eins achtzig und nicht fähig, sich selbst auf den Beinen zu halten. Ächzend brachte Liam seinen Freund bis zu einem Baumstamm und untersuchte im schwächer werdenden Licht den Verband, so gut es ging. Bald würde es völlig dunkel sein. Verwünschter Winter! Es gab nie genügend Tageslicht, und im Augenblick brauchte Liam es so dringend. Er fühlte mehr, als dass er sah, wie das Blut den Verband durchtränkte.

„Ich habe Schmerzen, Case“, gestand Preston. Einen winzigen Moment lang klang Angst in seiner Stimme mit.

„Das ist ein gutes Zeichen“, ermutigte Liam ihn. „Es geht dir nicht allzu schlecht. Du bist bei Bewusstsein, du sprichst, du hast keine Taubheitsgefühle.“ Das Taubheitsgefühl fürchtete Liam am meisten, da es ein sicheres Zeichen für den nahenden Tod war. Viel zu oft hatte er es während des Krieges erlebt. Er war kein Arzt, aber Kriegsveteran.

„Diese Männer“, stieß Preston hervor. „Cabot Roan hat sie geschickt.“

Liam nickte. Es würde ihn nicht überraschen. Der Angriff heute bestätigte nur, was sie bereits befürchtet hatten. Cabot Roan war ein wohlhabender Geschäftsmann, den sowohl das Innen- als auch das Außenministerium verdächtigten, ein Waffenkartell anzuführen. Das Kartell bestand aus reichen Bürgern, die für die gar nicht so weit zurückliegenden Kriege Waffen für England hergestellt hatten. Doch jetzt, da die Kriege vorüber waren, fehlte ihnen das Einkommen, und so verkauften sie ihre Waffen an verschiedene Aufständische in ganz Europa. Die Ziele der meisten dieser Aufstände ließen sich allerdings nicht unbedingt mit den politischen Interessen des Britischen Königreichs in Einklang bringen, sodass diese Männer im Grunde Verrat an ihrem Land verübten. Allerdings waren Beweise dafür nötig, dass Cabot Roan hinter den Waffengeschäften steckte. Diese zu finden, war Prestons Aufgabe. Sollte Roan tatsächlich der Anführer sein, musste er so diskret wie möglich gestoppt werden. Dies wiederum war Liams Aufgabe.

„Unsere Vermutung stimmte also. Das ist schon mal gut. Roan hätte nicht seine Häscher geschickt, wenn er nichts zu verbergen hätte.“ Liam hörte nicht auf zu lächeln und zu reden. Ihm kam es so vor, als wäre die Blutung endlich schwächer geworden, wenn sie auch immer noch viel zu stark war. Er konnte nicht länger damit warten, Hilfe zu holen. „Glaubst du, du könntest reiten? Nur einige Meilen.“

Preston nickte. „Und selbst wenn nicht, müssen wir es versuchen. Wir können nicht hierbleiben. Die Verletzung ist zu ernst. Du brauchst Licht, um sie versorgen zu können, Case.“ Ganz anders als all die anderen Male, da Preston eine Schuss- oder Schnittwunde erlitten hatte. Liam hätte lachen müssen, wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre. Er fürchtete, dass er sehr viel mehr brauchen würde als etwas mehr Licht, um Preston zu retten.

Als er ihm aufhelfen wollte, hielt Preston ihn auf. „Warte. Vorher muss ich dir noch etwas sagen.“ Liam begriff die unausgesprochene Botschaft. Falls ich das Bewusstsein verliere, weil das Reiten zu große Schmerzen verursacht. Falls ich danach nicht wieder aufwache.

„Das kannst du tun, nachdem der Arzt dich versorgt hat“, warf Liam energisch ein.

Prestons Griff um seinen Arm wurde fester. „Kein Arzt, Case. Kein Gasthaus. Versprich mir das.“ Er atmete flach. „Zu öffentlich. Roan wird zuerst in allen Gasthäusern nach uns suchen und alle Ärzte der Gegend nach uns ausfragen.“

Widerwillig nickte Liam. Er hatte einen Plan. Plötzlich war ihm etwas eingefallen. „Nicht weit von hier gibt es ein Bauernhaus. Aber du musst mir erlauben, einen Arzt zu holen.“

Preston schüttelte entschlossen den Kopf. „Du hast meine Wunden oft genug genäht, um zu wissen, wie es geht.“ Er versuchte zu lachen und verzog vor Schmerzen das Gesicht.

„Lass das jetzt. Wir können später darüber lachen.“ Liam bezweifelte aber sehr, dass er je in der Lage sein würde, über diese Situation zu lachen. Wie ähnlich es Preston jedoch sah, ihm Zuversicht geben zu wollen, wenn er es doch war, der hier am Wegrand verblutete.

Zitternd atmete Preston ein. „Hör mir jetzt zu. Ich habe gestern den Beweis für Cabot Roans Schuld gefunden. Bevor du zu mir gestoßen bist.“

Das waren gute Neuigkeiten. „Wo ist er?“ Wenn irgendjemand geglaubt hätte, Preston könnte den Beweis bei sich tragen, hätten ihre Angreifer ihn niemals am Leben gelassen. Liam konnte nur hoffen, dass er sich nicht in den Satteltaschen des Pferdes befunden hatte, das durchgegangen war.

„Ich habe zwei Kopien des Beweises mit der Post verschickt. Eine direkt nach London und eine andere zu meiner Schwester, falls sie die Londoner Postkutsche abfangen.“ Preston ließ seinen Arm nicht los. „Sie ist zusammen mit einer Freundin in Schottland außerhalb von Edinburgh in einem kleinen Dorf. Du musst zu ihr reisen und sie beschützen, bis wir die Information dazu benutzen können, Cabot festzunehmen.“

Das gefiel Liam ganz und gar nicht. Ihm gefiel nie etwas, das mit May Worth zusammenhing. „Warum sollte Roan auch nur auf den Gedanken kommen, deine Schwester zu verfolgen?“ Selbst nach so vielen Jahren fiel es ihm noch immer schwer, ihren Namen auszusprechen.

„Weil Cabot Roan weiß, dass ich es war, der in sein Haus eingebrochen ist“, antwortete Preston aufgeregt. „Ich war unvorsichtig, und er hat mein Gesicht gesehen. Er wird Jagd auf May machen, Case, und ich kann nicht da sein, um sie zu beschützen.“

Nein, in seinem Zustand konnte Preston niemanden beschützen. Und selbst wenn er unverletzt gewesen wäre, hätte er jeden Verfolger nur direkt zu May geleitet. Roan würde zweifellos jede seiner Bewegungen beobachten lassen – falls Preston die Nacht überlebte. „Gib mir dein Wort, Case. Du wirst May doch beschützen?“

„Mit meinem Leben“, versprach Liam, weil er Preston alles versprochen hätte. Selbst die Fahrt zu der ganz besonderen Art von Hölle, die May Worth für ihn bedeutete. „Jetzt lass mich dich auf das Pferd setzen.“ Er schuldete Preston mehr, als er jemals wiedergutmachen könnte, und wünschte nur, der Einsatz für seinen Freund müsste nicht ausgerechnet etwas mit dessen Schwester zu tun haben.

Was tat May überhaupt in Schottland? fragte Liam sich. Ein ziemlich ungewöhnlicher Aufenthaltsort für die Tochter eines einflussreichen Engländers wie Prestons Vater. Und in welchem Dorf steckte sie? Preston hatte den Namen nicht erwähnt. Doch seine Fragen würden warten müssen. Noch bevor sie eine Viertel Meile hinter sich gebracht hatten, war Preston gegen Liam gesackt, erschöpft von dem Kampf, dem Schmerz und dem Blutverlust. Wahrscheinlich war es sogar besser, dass er das Bewusstsein verloren hatte. Endlich hatten sie den Hof erreicht. Allerdings war es nicht leicht für Liam, abzusteigen und gleichzeitig den bewusstlosen Mann vor einem Sturz zu bewahren.

„Ich brauche Hilfe für einen Verwundeten!“, rief er. Inzwischen war es völlig dunkel geworden, und Fremde um diese Stunde würden jeden Bewohner eines so abgelegenen Hofes misstrauisch machen. „Ich komme in Frieden!“ Doch er legte eine Hand für alle Fälle auf den Griff seiner Pistole. Man konnte nicht vorsichtig genug sein.

Mehrere lange Augenblicke vergingen, bevor die Tür des Hauses geöffnet wurde und ein Mann, eine Lampe in der einen Hand, heraustrat.

„Bitte helfen Sie uns. Er ist schwer verletzt. Ich muss ihn so bald wie möglich behandeln.“ Liam gab sich Mühe, sich die Angst nicht anmerken zu lassen, die ihm die Kehle zuschnürte. Er würde nicht zulassen, dass Preston Worth starb, doch wenn er ihm helfen wollte, musste er ruhig bleiben und die Situation in den Griff bekommen. Die Menschen zweifelten für gewöhnlich an niemandem, der Autorität ausstrahlte, sondern folgten seinen Anweisungen. Der Mann eilte vorwärts und rief gleichzeitig andere zu Hilfe. Zwei große, schlaksige Jungen kamen jetzt aus dem Haus, gefolgt von einer Frau, die sich sofort nützlich machte, indem sie die Lampe übernahm.

Mehrere Hände halfen Preston behutsam vom Pferd herab. „Vorsichtig. Er ist verwundet“, stieß Liam schärfer hervor als nötig, doch die Familie blieb gelassen. Sein bester Freund verblutete vor seinen Augen. Noch nie hatte Liam sich so hilflos gefühlt. Wenn seine Fähigkeiten nun nicht ausreichten? Sollte er doch besser einen richtigen Arzt holen? Liam warf einem der Jungen die Zügel zu. „Kümmere dich um ihn. Ich brauche ihn ausgeruht.“ Jetzt durfte er sich nicht auf das konzentrieren, was er nicht tun konnte, sondern nur auf alles, was er tun konnte. Nur so war es möglich, eine Katastrophe zu überleben. Und Liam hatte so viele überlebt, dass er Bescheid wusste. Denke nur daran, was als Nächstes geschehen muss.

Er wandte sich an die Frau. „Ich brauche Tücher, um ihn zu verbinden, und heißes Wasser.“ Sie nickte knapp und hastete voran zurück ins Haus. Liam folgte ihr mit Preston auf dem Arm. Der Mann und die Jungen begleiteten ihn und hielten ihm die Tür auf.

Drinnen sah Liam sich in dem großen Raum um, der die Küche darstellte. „Machen Sie den Tisch frei, damit wir ihn darauflegen können.“ Es war der beste Ort, dicht am Feuer, wo es warm war, und Liam genug Licht hatte, um arbeiten zu können. Er zog die Jacke aus und krempelte die Ärmel hoch. Gleich darauf stand eine Schüssel heißen Wassers auf dem Tisch.

„Habe ich zufällig schon fertig, weil ich gerade das Abendessen kochen wollte“, erklärte ihm die Frau mit einem freundlichen Lächeln. „Es wird reichen, bis ich neues Wasser gekocht habe. Und die werden Sie auch brauchen.“ Sie hielt ihm Nadel und Faden hin.

„Und eine Kerze und etwas Whisky, wenn Sie welchen haben.“ Liam öffnete Prestons Hemd und konnte dessen Wunde zum ersten Mal richtig untersuchen.

„Sie sind Arzt?“ Die Frau reichte ihm eine braune Flasche.

„So in etwa.“ Verarzten konnte er das nicht nennen, was er tat. Ärzte waren außerdem meist reiche Männer, die zur Universität gegangen waren und eine Praxis mit Spitzenvorhängen an den Fenstern besaßen. Die einzige Ausbildung, die Liam genossen hatte, war ihm durch Preston zuteilgeworden, und alles Übrige hatte er auf einem serbischen Schlachtfeld gelernt. Er betete inständig, dass seine lückenhaften Kenntnisse heute ausreichen würden.

Nachdem er den Korken herausgezogen hatte, schnupperte er an der Flaschenöffnung. Es war ein guter, starker Whisky und würde höllisch brennen. Liam nickte dem älteren Jungen zu. „Packe ihn bei den Schultern und halte ihn gut fest. Er wird sich wehren wollen, wenn ich mit diesem Feuerwasser die Wunde reinige.“ Der Junge wurde blass, tat aber, worum er gebeten worden war.

Liam beugte sich über Preston und schluckte unruhig. „Es tut mir leid, alter Junge, das wird jetzt ein wenig wehtun, aber wir wollen ja schließlich möglichst verhindern, dass die Wunde sich entzündet.“ Er schüttete den Whisky Preston über die Brust und hielt mit seinem Gewicht dagegen, als sein Freund aufschrie und sich aufbäumte. Gut, dachte Liam. Noch hatte er genügend Kraft, um sich wehren zu wollen. „Ruhig, Preston. Wir sind in einem Bauernhaus, und ich flicke dich wieder zusammen, wie du gewollt hast“, redete er ihm gut zu.

„Keine Ärzte“, brachte Preston rau hervor.

„Keine Ärzte.“ Liam lächelte und beugte sich wieder über ihn, damit Preston ihm in die Augen sehen konnte. „Hier sind wir sicher.“ Er hoffte, dass er recht hatte und Roans Männer nicht jeden Moment hereinplatzen würden. Und er hoffte, dass sie nicht morgen kommen und diese freundlichen Menschen bedrängen würden. Zwar hatte er sich trotz der Dunkelheit Mühe gegeben, seine Spuren zu verwischen, doch sehr viel konnte man nicht tun, wenn man einen Verwundeten retten wollte, der Eile nötiger brauchte als Besonnenheit.

„Hier ist, was Sie haben wollten.“ Die Frau hatte den Faden bereits aufgefädelt und lächelte wieder freundlich. „Bei diesen dreien hier muss ich immer vorbereitet sein. Auf einem Hof gibt es immer Schnitte oder blaue Flecken zu verarzten.“ Sie wurde ernst. „Wie übel ist es?“

Liam trat beiseite, damit sie die Wunde sehen konnte, und hielt die Nadel in die Flamme. „Ich glaube nicht, dass etwas Lebenswichtiges verletzt worden ist, aber er hat viel Blut verloren.“ Er wies auf die Whiskyflasche. „Geben Sie ihm jetzt etwas davon zu trinken. Er wird es nötig haben, wenn ich anfange, ihn zu nähen.“ Wenn sie Glück hatten, würde Preston nach den ersten paar Stichen das Bewusstsein verlieren. Doch zunächst musste Liam die Wunde vom Schmutz befreien, um sie besser behandeln zu können. Das frische heiße Wasser war jetzt fertig. Er tauchte ein Tuch hinein. Nachdem er das Blut fortgewischt hatte, sah die Verletzung etwas weniger bedrohlich aus – den Umständen entsprechend. Jetzt konnte Liam erkennen, dass die Blutung aufgehört hatte und zum Glück nicht die Lunge getroffen worden war. Doch es war eine lange, hässliche Wunde. Offenbar war die Klinge schartig gewesen. Preston würde nicht ohne Narbe davonkommen.

Der Bauer stellte sich neben seinen Sohn. „Sie brauchen wahrscheinlich uns beide. Ihr Freund sieht mir nach einem sehr kräftigen Burschen aus.“ Die Frau und der andere Sohn umfassten je ein Bein. Liam holte tief Luft, betete, dass seine Hände ruhig sein würden, bekreuzigte sich und begann zu nähen.

Nach wenigen Minuten war es vorüber, wenn es sich auch angefühlt hatte, als wären Stunden vergangen. Liam war völlig erschöpft. Besorgt betrachtete er sein Werk. Würde es reichen? Hatte er genügend Vorsorge getroffen, um eine Entzündung zu verhindern? Aus bitterer Erfahrung wusste er, dass es nicht die Wunde war, die einen Soldaten tötete. Oft war es die Entzündung, die folgte, oder schlechte ärztliche Behandlung – ob nun mit Spitzenvorhang-Ausbildung oder nicht. Liam brachte es nicht über sich, sich vorzustellen, er könnte verantwortlich für Prestons Ableben sein und nicht sein Retter. Wenn Preston nicht gewesen wäre, würde er noch immer auf der Suche nach Arbeit sein und auf der Straße von der Hand in den Mund leben.

Der Bauer legte ihm einen Arm um die Schultern. „Meine Jungs werden auf ihn achten, während meine Frau sauber macht. Lassen Sie uns etwas trinken. Es war eine höllische Nacht für Sie.“ Sie traten in den Raum neben der Küche, ließen aber die Tür offen.

Und sie war noch nicht vorüber. Der Bauer drückte Liam ein Glas Whisky in die Hand. „Wir stellen Ihnen eine Pritsche vor das Feuer. Dann können Sie in der Nähe Ihres Freundes bleiben.“

„Nein. Ich muss weiter.“ Liam leerte sein Glas und spürte, wie der Whisky ihn bis ins Innerste erwärmte. Das bernsteinfarbene Getränk gab ihm die Kraft, die er aufbringen musste, um das freundliche Angebot auszuschlagen. Nichts wünschte er sich im Moment mehr, als zu schlafen und bei seinem Freund zu bleiben, aber er hatte Preston ein Versprechen gegeben. Er musste noch viele Meilen reiten, bevor er ruhen durfte. Je größer der Abstand zwischen ihm und Cabot Roan wäre, desto besser. „Sie haben bereits so viel getan, und doch muss ich Sie um noch einen Gefallen bitten.“

„Schon erledigt“, unterbrach der Mann ihn. „Wir werden, so gut wir können, auf Ihren Freund achten, und hoffen, dass kein Fieber einsetzt.“

„Ich kann Sie bezahlen. Er wird gut essen müssen, viel Fleisch, damit er das Blut erneuern kann, das er verloren hat.“ Liam griff in seine Tasche und drückte dem Bauern einen Beutel Münzen in die Hand.

„Das ist nicht nötig“, wehrte der ab.

„Doch, das ist es, glauben Sie mir. Sie haben heute Abend mehr getan, als Ihnen bewusst ist.“ Liam runzelte die Stirn. „Und ich weiß nicht einmal Ihren Namen.“

„Taylor. Ich bin Tom Taylor. Und Sie?“

Liam lächelte schief. „Meine Freunde nennen mich Case.“ Der Bauer nickte, da er begriff, dass Liam ihn mit seinem Schweigen nur schützen wollte. Manchmal konnte es gefährlich werden, einen bestimmten Namen zu kennen. Es war besser, wenn die Unschuldigen nicht zu viel wussten. Liam wollte nicht, dass ihnen wegen ihrer Großzügigkeit Schaden zugefügt wurde.

„Glauben Sie, jemand wird nach ihm suchen?“, fragte der Mann. Natürlich wollte er es wissen, um seine Familie beschützen zu können.

„Das ist möglich.“ Liam wollte ihn nicht anlügen. Aber er hoffte sehr, dass es nicht geschehen würde. Preston brauchte mindestens zwei Wochen, um sich zu erholen, und sogar einen ganzen Monat, um wieder völlig zu Kräften zu kommen. Besorgt warf Liam einen Blick in die Küche, wo Preston reglos auf dem Tisch lag. So wenig Liam gehen wollte, musste er sich doch beeilen. Edinburgh war sehr weit entfernt, und er würde einen Vorsprung brauchen, um May rechtzeitig zu erreichen. Wobei er allerdings hoffte, Cabot Roan würde gar nicht erst auf den Gedanken kommen, dort nach ihr zu suchen.

Der Bauer sah zum Himmel hinauf. „Es wird heute Nacht noch regnen. Und nicht wenig. Sind Sie sicher, dass Sie aufbrechen wollen?“

Nein, er war überhaupt nicht sicher, und er wollte nicht in die Nacht hinausreiten, aber er hatte Preston sein Wort gegeben. Er musste schnell zu May gelangen, ob sie nun seines Schutzes bedurfte oder nicht – und obwohl sie ebenso wenig erfreut sein würde, ihn zu sehen, wie umgekehrt.

Der Bauer begleitete Liam nach draußen zu seinem Pferd. Liam schüttelte dem Mann die Hand dankte ihm ein letztes Mal und saß, skeptisch zum Himmel blickend, auf. Vielleicht würde es ja nicht so bald regnen. Ein wenig Glück hätte er wirklich verdient. Schon zwei Meilen später begann ein sintflutartiger Regen.

2. KAPITEL

Ein Dorf am Firth of Forth, einem Meeresarm in Schottland,

November 1821

Einen Penny und nicht mehr“, beharrte May Worth streng. Sie war auf dem Markt und wollte die Karotten von Bauer Sinclair ebenso wenig kaufen, wie er sie an sie verkaufen wollte – jedenfalls nicht zu diesem Preis. „Drei Pennys für ein Bund Karotten ist Wucher.“

„Irgendwie muss ich schließlich meine Familie ernähren.“ Sinclair rieb sich das unrasierte Kinn mit einer schwieligen Hand. „Was macht es Ihnen außerdem aus, ob sie einen oder drei Pennys kosten? Sie können es sich doch leisten.“

„Über gewisse Mittel zu verfügen, so bescheiden sie auch sein mögen“, betonte May, „bedeutet nicht, dass ich sie unnötig verprassen muss.“ In den vier Monaten, die sie und Bea sich hier aufhielten, hatten sie versucht, so sparsam wie möglich zu leben. Doch trotz all der Mühe, die sie sich gegeben hatten, waren einige Leute genau wie Sinclair mit seinen Karotten zu dem Schluss gelangt, sie seien vermögende Damen.

Der Bauer knurrte leise. „Zweieinhalb. Es sind gute Karotten, die besten im ganzen Dorf, und die letzten frischen, die Sie wahrscheinlich bis zum Frühling zu Gesicht bekommen werden.“

Dagegen konnte May nichts sagen. Sinclairs Karotten waren so spät im Herbst tatsächlich zweieinhalb Pennys wert, aber May verlor nicht gerne. Jetzt, da sie den Kampf begonnen hatte, war es ihr unmöglich nachzugeben.

„Zwei.“ Sinclair würde sich als Sieger aufspielen, wenn sie sich zu leicht geschlagen gäbe. Bea würde zwar lachen, wenn sie ihr davon erzählte, aber umso besser. Die letzten Wochen waren sehr schwierig für sie gewesen. Sie befand sich im letzten Monat ihrer Schwangerschaft, war sehr rund geworden und fühlte sich ständig unwohl. Inzwischen war es ihr nicht mehr möglich, zum Markt zu gehen, ohne dass ihr die Füße anschwollen. „Zwei. Für Beatrice und ihr Baby“, fügte May dramatisch hinzu.

Damit erreichte sie, was sie wollte. „Also zwei“, kapitulierte Sinclair. „Richten Sie Mrs. Fields bitte meine Grüße aus.“ Er reichte May die Karotten, und sie legte sie triumphierend in ihren Korb. Aber sie wusste, dass es nur ein halber Sieg war. Bea hätte auch ohne Feilschen einen besseren Preis erzielt. Alle im Dorf hatten Beatrice gern. Was nicht hieß, dass sie May nicht zu schätzen wussten, aber vor ihr waren sie eindeutig auf der Hut.

Jetzt hatte sie alles besorgt, was auf ihrer Liste stand. Höchste Zeit, nach Hause zu gehen. May war nur ungern so lange fort von Bea, jetzt, da das Baby jeden Moment kommen konnte. Und sie musste Briefe lesen – den von ihrem Bruder ganz besonders. Auch Bea würde sich darauf freuen. Neuigkeiten von zu Hause erhielten sie nicht allzu oft. Der andere Brief kam von ihren Eltern und war nicht ganz so willkommen. Sie würde ihn erst auf ihrem Zimmer lesen, wenn sie allein sein würde.

May dachte wieder an die Dorfbewohner. Sie wusste, dass sie wahrscheinlich nur wegen Bea toleriert wurde, und sie konnte auch verstehen, warum. Sie war einfach zu unverblümt für einige der hiesigen Damen und zu hübsch für andere, die sich Sorgen machten, sie könnte ihnen ihre Männer ausspannen. Wenn sie ihnen nur sagen könnte, dass sie an keinem Mann interessiert war. Sie war schließlich hergekommen, um ihnen auszuweichen. Und das hatte auch wunderbar geklappt. Keiner hier wurde schlau aus ihr, keinem gelang es, mit ihrer direkten Art fertigzuwerden. Noch nie war das jemandem gelungen, bis auf Beatrice und Claire und Evie.

Ihre Freundinnen hatten sie einfach akzeptiert, so wie sie war, ohne sie verändern zu wollen. Was man von ihren Eltern leider nicht behaupten konnte. Stattdessen hatten sie ihr gedroht, sie mit einem Geistlichen zu verheiraten, wenn sie bis zum Frühling keinen Ehemann gefunden hatte. Zwar glaubte sie eigentlich nicht, dass sie ihre Drohung wahr machen würden. Sie wollten nur Druck auf sie ausüben. In ihrem Brief versuchten sie gewiss, genau das zu tun. Während der Saison hatten sie unzählige Male versucht, sie auf passende junge Männer aufmerksam zu machen. Doch May hatte jeden von ihnen abgewiesen, und ihre Eltern waren inzwischen offensichtlich verzweifelt. Eine weitere Saison war vorüber, und sie war noch immer nicht zu der pflichtbewussten Tochter geworden, die sie sich wünschten. Mit ihren fast zweiundzwanzig Jahren und drei Saisons hinter sich, hatte sie noch immer keinen vielversprechenden Bewerber um ihre Hand – und alles nur wegen eines gewissen Mannes.

Sie hatte sich einmal Hals über Kopf verliebt, obwohl man sie gewarnt hatte. Er sei zu gefährlich für ein junges Mädchen, das gerade eben das Schulzimmer verlassen hatte und viel zu unerfahren und ruhelos war. Doch sie hatte nicht auf den wohlmeinenden Rat gehört, und jetzt bezahlte sie den Preis dafür. Sie konnte ihn nicht haben, dafür hatte die schroffe Art, wie sie sich getrennt hatten, sicher gesorgt. Die harten Worte, die sie sich gegenseitig an den Kopf geworfen hatten, konnten nicht zurückgenommen werden. Doch das verhinderte nicht, dass May seitdem jeden Mann mit ihm verglich – und keiner konnte ihm das Wasser reichen. Ihr Vater nannte sie ungehorsam, ja sogar regelrecht aufrührerisch. Ihre Mutter nannte es eine Schande.

Vielleicht hatten sie ja auch recht. Vielleicht war sie wirklich aufrührerisch und eine Schande für die Familie. Oberflächlich betrachtet besaß sie alles, was eine erfolgreiche Debütantin sich nur wünschen konnte. Sie war hübsch, ihre Familie respektabel, ihr Vater der zweite Sohn eines Viscounts und angesehenes Mitglied des Parlaments. Und sie würde eine Mitgift bekommen, die ebenfalls nicht zu verachten war. Eigentlich hätte sie schon längst unter der Haube sein müssen, eine so begehrte Ware auf dem Heiratsmarkt wie sie war.

Wahrscheinlich hatten ihre Eltern ihr nur erlaubt, Beatrice ins schottische Exil zu begleiten, da sie dann ihre Tochter nicht sehen mussten. Aus den Augen, aus dem Sinn – und ein wenig Ruhe. Vielleicht hofften sie auch, nach einigen Monaten in Schottland würde May ihre Meinung ändern, weil sie erkannt hätte, wie es war, allein und von der Gesellschaft abgesondert zu leben. Eine alte Jungfer konnte sich nicht mehr als das erhoffen.

May lächelte und ging etwas ausgelassener den Weg nach Hause entlang. Wenn ihre Eltern darauf spekulierten, hätten sie sich nicht mehr in ihr täuschen können. Sie liebte es hier. Es machte ihr nichts aus, dass die Dorfbewohner sich über sie wunderten. Das würde sich mit der Zeit ändern. Und wenn nicht, so war es ihr gleich, denn sie war gern allein, nur sie und Beatrice. Es gefiel ihr, für sich selbst zu sorgen. Sie hatte festgestellt, dass sie ein Talent fürs Kochen besaß, für ihren kleinen Haushalt und dafür, Gemüse anzubauen. Sie und Bea besaßen das großartigste Gewächshaus, in dem sie das ganze Jahr über Gemüse zogen, wenn auch noch nicht genug, um davon leben zu können. Eine Weile würden sie noch von Leuten wie Sinclair abhängig sein. Aber im Frühling … Ihre Schritte wurden wieder etwas zögernder.

Würden sie im Frühling denn noch hier sein? Sie hoffte es zwar, aber Beatrices Eltern würden sie vielleicht nach Hause zurückrufen, sobald das Baby da war. Und auch ihre eigenen Eltern würden gewiss irgendwann erwarten, dass sie zurückkam. Seit einigen Wochen beunruhigte dieser Gedanke Beatrice und sie. Sobald das Baby auf der Welt sein würde, würde alles anders werden. Beatrice befürchtete, jemand könnte ihr das Baby fortnehmen. Schließlich war sie unverheiratet, selbst wenn man sie im Dorf Mrs. Fields nannte und glaubte, Mr. Fields sei ein Forscher und zurzeit beruflich auf See unterwegs. Dieses Märchen hatten sie sich aus einem Liebesroman ausgeliehen, den Beatrice gelesen hatte. Tatsache war, dass Beatrice sich im vergangenen Winter unbesonnen verhalten hatte und jetzt mit den weitreichenden Konsequenzen leben musste. Und sie wollte gewiss ebenso wenig zurück nach Hause wie May.

„Wir gehen einfach nicht“, hatte May ihr am vorherigen Abend gesagt, als Beatrice sich wieder Sorgen gemacht hatte. „Sie können uns nicht zwingen.“ Was nur teilweise stimmte. Ihre Eltern konnten sie sehr wohl zwingen. Sie brauchten dafür einfach nur die Zahlung des Geldbetrages einzustellen, mit dem sie sich das gemütliche Landhäuschen leisten und sich verpflegen konnten. Vielleicht würde Preston sich aber für sie einsetzen. Das tat er immer. Er war der beste Bruder, den man sich denken konnte. Und er war der Einzige, der May fürchterlich fehlte.

Aber sie konnte nicht ständig mit Prestons Hilfe rechnen. Die Entscheidung lag ganz bei ihr und Beatrice. Sie mussten sich auf sich selbst verlassen. Schon vor einer ganzen Weile hatten sie angefangen, ihr Geld zu sparen, falls ihnen ihre Eltern die Unterstützung versagen sollten. Dann hätten sie noch das Gewächshaus und im Frühling den Garten. Sie könnten Obst einmachen und möglicherweise sogar so viel davon, dass sie es auf dem Markt verkaufen konnten. Und sie hatten ihre Kleidung und die Pferde, obwohl die Pferde natürlich Heu brauchten. Wenn sie nur sparsam wären, könnten sie vielleicht wirklich wie Frauen vom Land leben. Der Plan war waghalsig und nicht ohne Risiko. Sie würden das Leben aufgeben, das sie gewohnt waren, aber sie würden frei sein.

Nichts ändert sich, wenn man sich selbst nicht ändert. Das Motto des „Vereins der vergessenen Mädchen“, von dem inzwischen nur noch zwei Mitglieder übrig waren – sie und Bea. Claire und Eve hatten geheiratet. Im Oktober war sie auf Evies Hochzeit gewesen. Wie strahlend, wie stolz Evie ausgesehen hatte an der Seite ihres ausgesprochen attraktiven Mannes, eines königlichen Prinzen aus Kuban, der seinen Titel für sie aufgegeben hatte und ein Landedelmann in Sussex geworden war. Wenn Dimitri Petrovich es fertigbringen konnte, dann Bea und sie vielleicht auch. Nur sie selbst konnten eine Veränderung in ihrem Leben erwirken. Selbst wenn es bedeutete, dafür kämpfen zu müssen.

Das schwere Gewicht in ihrer Rocktasche erinnerte May daran, dass es sogar im wahrsten Sinne des Wortes ein Kampf werden könnte. Versprich mir, dass du niemandem erlauben wirst, das Baby zu nehmen, hatte Beatrice sie mit Tränen in den Augen angefleht. Falls jemand versuchen sollte, das zu tun, würde er sich nicht mit May auf eine Diskussion einlassen. Er würde rohe Gewalt einsetzen. Die traurige Wahrheit lautete nun einmal, dass Männer eine Frau ganz einfach mit ihrer Kraft überwältigen konnten, um zu bekommen, was sie wollten. Doch eine Pistole stellte auf wunderbare Weise wieder eine Art Gleichgewicht her, das hatte Preston ihr beigebracht. Und so trug May auch jetzt eine Pistole bei sich – für alle Fälle. Sie hatte Bea versprochen, dass niemand ihr das Baby wegnehmen würde, solange sie die Chance hatte, einen Schuss abzugeben. Und das Wort einer Worth war heilig.

Ein seltsames Prickeln überlief sie, als sie sich ihrem Landhäuschen näherte. Normalerweise erweckte der Anblick des hübschen Backsteingebäudes mit seinem steilen Schieferdach ein Gefühl der Geborgenheit in ihr. Doch heute empfand sie Unbehagen. Vielleicht hatte das Grübeln über die Möglichkeit, jemand könnte das Baby stehlen wollen, sie unruhig gemacht. Das Baby ist ja noch nicht einmal geboren, redete sie sich gut zu, doch es hatte keinen Zweck. Irgendetwas stimmte nicht. Es lag Schmutz auf den Stufen zur Tür – Schmutz, wie er an Stiefeln haften blieb. Stiefel – also war ein Mann gekommen. Ein Mann verhieß Ärger.

May stellte ihren Korb auf die Erde und sah sich um. Da! Ein Pferd, ein fremdes Pferd, und ein viel zu elegantes Pferd, um einem einfachen Bauern zu gehören. Ein solches Pferd gehörte einem Mann, der viel ritt und der wohlhabend genug sein musste, um sich ein solches Tier leisten zu können. Außerdem kam es ihr irgendwie bekannt vor. Plötzlich wurde ihr Mund ganz trocken. War schon jemand von Beas Familie gekommen? May steckte die Hand in die Tasche und holte langsam die Pistole hervor, während sie sich zwang, Ruhe zu bewahren. Denke nur daran, was du als Nächstes tun musst. Es war ein Trick, den Preston ihr beigebracht und den er bei seiner Arbeit für die Regierung gelernt hatte.

Durch das Fenster konnte sie den Hinterkopf eines Mannes sehen. Jemand saß im Salon. Gut. Wer immer es war, konnte sie seinerseits nicht sehen. Überrasche sie. Gib ihnen nicht die Gelegenheit nachzudenken. Du bist die Einzige, die überlegen sollte. Auch das hatte Preston ihr beigebracht. Sie wusste, wohin sie sich wenden musste, sobald sie durch die Tür kam, und in welche Richtung sie mit der Pistole zielen musste.

May atmete tief ein und drückte die Eingangstür mit der Schulter auf, wobei sie mehr Kraft darauf verwandte, als nötig gewesen wäre. Die Tür krachte lärmend gegen die Wand, sodass sie die beiden Menschen im Raum überrumpelte. Sofort wirbelte May zu dem Sessel am Fenster herum, die Pistole auf den Mann gerichtet. Das Licht kam von hinten und warf somit einen Schatten auf das Gesicht des Mannes, doch May sah ihn deutlich genug, um ihn treffen zu können. „Gehen Sie. Wir wollen Sie nicht hier haben.“ Das unheilvoll klingende Klicken der Pistole erfüllte die Stille, eine Stille, die jedoch nicht lange anhielt.

Die meisten Menschen nahmen eine Pistole sehr ernst. Der Mann im Sessel allerdings nicht. Er lachte! Ein Schauer rann May über den Rücken, als sie die Stimme erkannte und der Mann lässig meinte: „Hallo, May. Ich freue mich auch, dich wiederzusehen.“ Gegen jede Erwartung war es jetzt jedoch May, die völlig überrumpelt worden war.

Sie erstarrte. Liam Casek war hier? Das war so unwahrscheinlich, dass sie blinzelte, als glaubte sie wirklich, ihre Augen würden sie täuschen. Liam Casek, der Partner ihres Bruders, ihre einzige große Dummheit, der Mann, mit dem sie alle anderen Männer verglich und gegen den alle verblassten – Liam saß in ihrem Salon am äußersten Ende Schottlands. Er war wirklich der letzte Mensch, mit dem sie gerechnet hätte. Und wenn sie ehrlich war, war er auch der einzige Mensch, den sie auf keinen Fall hatte wiedersehen wollen. Er würde sie nur in Schwierigkeiten bringen, wie er früher oft genug bewiesen hatte. Wie sollte sie Beatrice gegenüber seine Gegenwart erklären? Langsam ließ sie die Pistole sinken, und sein Blick folgte der Bewegung.

„Wie ähnlich es dir sieht, einen Gentleman mit der Pistole zu begrüßen“, sagte er beleidigend. Fünf Jahre waren vergangen, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Damals war sie gerade siebzehn Jahre alt gewesen, doch jetzt war sie eine erwachsene Frau. Sie sollte ihm irgendetwas Schlagfertiges an den Kopf werfen, eine ihrer berüchtigten Spitzen. Doch sie konnte ihn nur stumm anstarren.

Er sah ungefähr so aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte – irische blaue Augen, die selbst in der Gefahr frech funkelten. May kannte nicht viele Männer, die eine auf sie gerichtete Pistole so gelassen hinnehmen würden. Das unordentliche dunkle Haar trug er wie früher lang, und seine große Gestalt ließ den Raum viel kleiner als sonst erscheinen. Liam war früher hochgewachsen und schlank gewesen, doch nun schüchterte er May fast ein, so groß und kräftig kam er ihr jetzt vor. Und sie entdeckte auch einige ungewohnte Dinge an ihm – eine winzige Narbe auf der Wange, dicht unter dem linken Auge. Die hohen Wangenknochen hatten seinem Gesicht schon immer eine gewisse Scharfsinnigkeit verliehen. Doch jetzt war sein Blick klüger, welterfahrener als früher. Aus dem Jungen, den May einst gekannt hatte, war ein Mann geworden.

Doch sein Mund war noch genau wie früher. Es war der Mund eines Gentlemans mit seiner dünnen Oberlippe, die fälschlicherweise auf Adel schließen ließ, und eine volle, sinnliche Unterlippe. Sein Mund deutete auf eine Weichheit hin, die das markante Kinn Lügen strafte und jede Frau daran erinnerte, dass jene Sanftheit lediglich eine Täuschung war. Er wusste eine Frau zu verführen, zu locken, sodass sie sich wünschte, hinter die raue Fassade blicken zu können. May war einmal so kühn gewesen – und so naiv. Beide waren sie damals unbesonnen gewesen, May mehr noch als er. Doch er war nicht der Richtige für sie. Das wussten sie beide ganz genau, und umso unbegreiflicher war es, dass er jetzt hier vor ihr saß.

Allmählich gelang es May, sich zu fassen. „Was tust du hier?“ Er war nicht ihretwegen gekommen. Sie hatten sich nicht gerade in gutem Einvernehmen getrennt. Aber wenn er nicht ihretwegen hier war, warum dann? Preston! Oh, nein! Die Gedanken begannen ihr durch den Kopf zu rasen. Der Brief, den sie im Dorf abgeholt hatte! Er lag in ihrem Korb.

May lief wieder hinaus, wo sie ihn stehen gelassen hatte, holte den Brief heraus und eilte wieder in den Salon, während sie Liam mit Fragen bombardierte. „Was ist Preston geschehen? Wo ist er? Ist er mit dir gekommen?“ Es war nicht unmöglich. Vielleicht war er nur kurz fortgegangen, um etwas zu erledigen. Hastig riss sie den Briefumschlag auf. Zwei lose Blätter fielen heraus. Doch May war nicht an ihnen interessiert, sondern nur an Prestons kühn gekritzelten Worten. Sie überflog den Inhalt und sah Liam wieder eindringlich an. „Sag mir sofort, was ist mit meinem Bruder?“

„Er ist niedergestochen worden, May“, antwortete Liam ruhig, vielleicht in der Hoffnung, ihr nicht mehr Angst als nötig einzujagen. Doch eine solche Nachricht konnte nicht gelassen aufgenommen werden. May hörte Bea keuchen, machte einige unsichere Schritte und ließ sich neben ihrer Freundin auf das Sofa sinken. Nur undeutlich nahm sie wahr, wie Bea tröstend ihre Hand ergriff. Aber May war entschlossen, nicht vor Liam die Fassung zu verlieren. „Wann ist das geschehen? Sag mir alles.“

„Vor sechs Tagen“, entgegnete er. May spürte, dass er ihr etwas verheimlichte. Unruhig bückte sie sich, hob die zwei Blätter Papier vom Boden auf und betrachtete sie. Sie stammten eindeutig aus einem Kontobuch und wiesen Ausgaben und erhaltene Zahlungen auf. Daneben standen Namen und Summen. Alles sehr verdammende Beweise, und Preston hatte sie ausgerechnet an sie geschickt. Das verriet sehr viel über seinen Zustand. „Wird er durchkommen?“ Es fiel ihr schwer, die Worte auszusprechen. Es musste sich um eine sehr schwere Verletzung handeln, wenn Liam deswegen zu ihr gekommen war. Bea drückte ihr die Hand, und May war noch nie so froh gewesen über die Nähe ihrer Freundin.

Liam zögerte. „Ich habe ihn, so gut ich konnte, zusammengeflickt. Er befindet sich in einem abgelegenen Bauernhaus.“ Und er beantwortete ihre nächste Frage, bevor May sie stellen konnte. „Preston erlaubte mir nicht, einen Arzt zu holen.“ Natürlich nicht, dachte May bedrückt. Ihr Bruder würde sich um die Sicherheit all jener sorgen, die mit ihm zu tun hatten, und wer immer ihnen schaden wollte, würde zuerst jeden Arzt in der Nähe befragen. „Und dann musste ich ihm versprechen, direkt zu dir zu reisen“, fuhr Liam fort.

„Zu mir oder zu dem Brief?“, fragte May bissig.

„Das kannst du nicht ernst meinen“, sagte Liam vorwurfsvoll. „Deine Sicherheit war selbstverständlich Prestons erster Gedanke, während er blutend auf dem Boden lag.“

Seine Worte beschämten sie. Natürlich war es so. Aber es machte ihr auch Angst. Preston musste geglaubt haben, dass er sterben würde, weil er Liam an seiner statt geschickt hatte. „Du kannst mich zu ihm bringen.“ Schließlich wusste er, wo Preston war. Schon wollte sie sich erheben. Am besten würden sie zu Pferd reisen. Das wäre schneller. „Wir können noch heute aufbrechen.“ Innerhalb der nächsten Stunde, wenn es nach ihr ginge.

Zum ersten Mal zeigte Liam eine lebhaftere Reaktion. Allein die Vorstellung, mit May zusammen eine längere Strecke zurücklegen zu müssen, brachte ihn so in Aufruhr, wie es eine Pistolenmündung nicht geschafft hatte. Augenblicklich schoss er aus seinem Sessel hoch. „Ich soll dich in die Höhle des Löwen bringen, noch dazu mit den Beweisen, für die dein Bruder sein Leben riskiert hat?“, rief er fassungslos. „Was für eine schwachköpfige Idee! Dein Bruder hat mich geschickt, damit ich dich beschütze, nicht um die Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen.“

Er wollte sie beschützen? Aber vor wem? May musste unbedingt Einzelheiten erfahren, allerdings nicht, solange Beatrice bei ihnen war. „Ich kann mich gut selbst beschützen. Wer ungebeten diese Schwelle überschreitet, macht Bekanntschaft mit meiner Pistole, wie du vielleicht gemerkt hast.“

„Die wird dir am Ende nicht helfen“, erwiderte Liam fast belustigt. „Wobei ich sogar sicher bin, dass du einen Mann außer Gefecht setzen könntest. Ich erinnere mich, dass du eine gute Schützin bist. Aber es reicht nicht, nur einen Mann zu töten.“ Wieder diese Andeutungen. Sie würde Liam irgendwie allein sprechen müssen, wenn sie weitere Informationen bekommen wollte. „Wenn man den Mann, um den es hier geht, fängt, wird er wegen Landesverrats am Galgen baumeln. Also wird er nicht nur einen seiner Häscher schicken. Auch gegen deinen Bruder und mich schickte er mehrere. Und dabei wird es ihm gleichgültig sein, ob es eine schwangere Frau im Haus gibt oder ein Baby.“ Worin war Preston dieses Mal wieder verstrickt? May wusste, dass seine Arbeit gefährlich war, aber dass er sogar Landesverräter jagte, war schlimmer, als sie befürchtet hatte.

Sosehr sie auch mehr wissen wollte, musste sie doch an Beatrice denken, die bereits genug eigene Sorgen hatte, ohne jetzt auch noch von Liam beunruhigt zu werden. „Wer immer dieser neue Feind ist, er muss mich zuerst einmal finden.“

„Er ist verzweifelt, May. Er wird dich finden. Vergiss nicht, du warst kürzlich auf der Hochzeit einer Freundin in Sussex. Deine Familie weiß es. Ich nehme an, sie haben es jemandem gegenüber erwähnt, vielleicht sogar mehreren Leuten. Irgendjemand irgendwo wird wissen, dass du dich hier aufhältst.“

„Du willst doch sicher nicht vorschlagen, dass wir von hier fortgehen. Das werden wir gewiss nicht tun.“ Plötzlich kam ihr der Gedanke überaus erschreckend vor, obwohl sie vor nur wenigen Momenten genau darüber nachgedacht hatte. Dieses Häuschen, dieses Dorf waren jetzt ihre Welt. Hier fühlte sie sich frei. Von hier fortzugehen würde bedeuten, direkt in den Schoß der Gesellschaft zurückzukehren – zurück in ihr altes Gefängnis. Zwar hätte sie ihre Zuflucht aufgegeben, um Preston in seiner Not beizustehen, aber nicht dann, wenn es sich um eine reine Sicherheitsmaßnahme handelte und es keinen konkreten Hinweis auf eine drohende Gefahr für sie oder Bea gab. Außerdem könnten sie Beatrice in ihrem Zustand nicht mitnehmen, und sie allein zurückzulassen, käme keinesfalls infrage.

Liam lehnte sich in seinem Sessel zurück, die Hände auf seinem flachen Bauch gefaltet, die Augen halb gesenkt. „Ganz und gar nicht, May. Wir bleiben hier und warten, bis alles vorbei ist.“

„Du willst hierbleiben?“ Dieses Mal war sie es, die ihn fassungslos anstarrte. In diesem kleinen Häuschen? Mit ihr? Wie sollten sie es jemals schaffen, auf so engem Raum zusammenzuleben?

Liam lächelte breit und auf entschieden aufreizende Art. Es ärgerte May, dass sie auf ihn hereingefallen war. Selbstverständlich hatte der unmögliche Mann gewusst, wie sehr ihr die Vorstellung missfallen würde. „Genau das war mein Vorschlag. Ich kann im Schuppen schlafen.“

„Nein, wir haben ein Gästezimmer“, meldete Bea sich zu Wort. „Der Schuppen ist im Winter zu kalt.“ May warf ihr einen scharfen Blick zu. Seit wann hatte Bea sich in eine Verräterin verwandelt? Konnte sie nicht sehen, dass er nicht willkommen war? Allerdings kannte Bea Liam Casek nicht. May hatte niemandem von ihm erzählt, nicht einmal ihren engsten Freundinnen. Nichts von jenem Sommer am See, als Jonathon Lashley nicht mitgekommen war und Mays Bruder statt seiner einen neuen Freund mitgebracht hatte.

Liam nickte dankbar. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mrs. Fields.“ Bea errötete sogar. Gereizt verdrehte May die Augen. Also war es ihm doch tatsächlich gelungen, Beatrice mit seiner etwas rauen Ritterlichkeit für sich zu gewinnen. Doch May vergab ihrer Freundin. Schließlich wusste sie selbst nur allzu gut, wie leicht es war, seinem Charme zu verfallen.

„Ich bereite Ihr Zimmer vor, Mr. Casek. Inzwischen könnte May Ihnen unser kleines Häuschen zeigen.“

May unterdrückte ein Stöhnen. Diese höfliche Förmlichkeit war unerträglich, wenn auch nicht so unerträglich wie die Aufgabe, Liam durch das Haus führen zu müssen.

„Was glaubst du, wie lange du bleiben musst?“, fragte sie ihn unverblümt.

Liam sah sie amüsiert an. „Solange du meinen Schutz brauchst. Bis zum neuen Jahr, vermute ich.“ Er lächelte Bea warmherzig an. „Natürlich werde ich mich nützlich machen, wo ich nur kann. Sieht ganz so aus, als könnte das Dach des Schuppens eine Reparatur gebrauchen. Und Sie werden gewiss etwas Hilfe zu schätzen wissen, sobald Ihr Baby erst einmal auf der Welt ist.“ Das bewies eindeutig seine Erziehung oder deren Mangel. Keiner der vornehmeren Freunde ihres Bruders hätte darüber nachgedacht, was es hieß, sich um ein Neugeborenes kümmern zu müssen. Ebenso wenig hätten besagte Gentlemen eine Schwangerschaft erwähnt, wenn ihnen eine Dame im neunten Monat direkt gegenübersaß. Liam Casek mochte ja den Mund eines Adligen haben, aber er war in einem Armenviertel aufgewachsen.

„Es wird schön sein, einen Mann im Haus zu haben“, meinte Beatrice freundlich lächelnd. Aber nicht diesen Mann, dachte May grimmig. Sie wollte auf keinen Fall mit ihm allein sein, und jetzt sah es so aus, als würde sie seine Nähe monatelang ertragen müssen. Nicht, dass sie Angst vor ihm gehabt hätte. Was sie fürchtete, war vielmehr ihre eigene Reaktion, wenn sie mit ihm zusammen war. Es machte ihr Angst – und gleichzeitig erregte es sie.

3. KAPITEL

Liam trat vor das Haus und sah sich um. Die niedrige Steinmauer zu seiner Linken schien ihm ein angemessener Ort für die Unterhaltung mit May, die ihm bevorstand, zu sein. Er hielt darauf zu und war sich bewusst, dass May ihm folgte. Fünf Schritte und May würde die Geduld verlieren und von ihm verlangen, ihr die ganze Wahrheit zu sagen, da war er sicher.

Ein Schritt … May Worth jagte ihm noch immer eine Heidenangst ein. Das hatte sich in den fünf Jahren nicht geändert. Liam hätte eigentlich gedacht, dass ein Mann, der im Krieg gewesen war, Menschen hatte sterben sehen und oft selbst der Grund für ihren Tod gewesen war, meist im Auftrag der Krone – dass ein solcher Mann sich nicht so leicht von einer Frau Angst einjagen lassen würde. Doch wenn es um May Worth ging, spielte Logik keine Rolle. Es gab so viel, wovor man Angst haben konnte: ihre Schönheit, ihre Klugheit, ihre überwältigende Zuversicht, dass sie immer recht hatte. Aber am meisten fürchtete er ihre Dickköpfigkeit, nicht weil sie ihn einschüchterte, sondern weil er ihre Furchtlosigkeit bewunderte.

Zwei Schritte … Früher hatte er ihre Furchtlosigkeit so berauschend gefunden, dass er geglaubt hatte, er könnte die Welt für sie verändern. Er hatte sich davon angezogen gefühlt wie ein Süchtiger von Opium. Er war jetzt ein stärkerer Mann. Die Wirklichkeit hatte seine Erwartungen und Ideale gemäßigt. Doch was war mit May? Er fürchtete sehr, dass ihre Unbesonnenheit eines Tages noch ihren Untergang bedeuten würde.

Drei … Man brauchte ja nur zu sehen, wohin sie sie heute bereits geführt hatte. Sie hatte die Pistole auf einen Gast gerichtet, von ihm verlangt, sie unverzüglich zu ihrem Bruder zu bringen, nur um sich dann zu weigern, das Landhaus zu verlassen. Sehr bald schon würde sie ihn auffordern, ihr alles zu verraten, was mit Preston zu tun hatte. Und was er ihr sagen musste, würde ihr ganz und gar nicht gefallen.

Vier …

„Sag mir alles“, platzte May heraus, die ihn jetzt eingeholt hatte. Fünf Schritte waren offensichtlich eine zu optimistische Einschätzung gewesen. „Wir sind allein, es gibt also keinen Grund, noch länger zu warten.“ Ihr Ton klang vorwurfsvoll. Sie war böse auf ihn, und sie machte sich natürlich große Sorgen um Preston, was ihre Ungeduld entschuldigte. Dennoch ließ Liam sie warten, bis sie die Mauer erreicht hatten. Irgendjemand musste May Geduld beibringen.

Er stützte die Ellbogen auf die raue Steinoberfläche und sah zu den Wiesen hinüber. Viel weniger verwirrend, als May anzusehen – ihre wunderschönen grünen Augen, die einem Mann nicht aus dem Sinn gingen, das schimmernde nussbraune Haar, das vollkommene Gesicht, das aufsässig erhobene Kinn, die schmale, gerade Nase, alles Zeichen dafür, dass May von einer vornehmen, wohlhabenden Familie abstammte. Und dann ihre Haut, fast durchsichtig klar, sodass er unwillkürlich an Seide und Perlen und Alabaster denken musste. Es war wirklich sehr schwierig, sprechen zu müssen, wenn man stattdessen einfach nur May Worth ansehen wollte. Doch Liam hatte die Fähigkeit dazu entwickelt. Sein männlicher Stolz hing davon ab.

„Das Innen- und Außenministerium beauftragten deinen Bruder, einen Mann namens Cabot Roan aufzuspüren.“ Er sprach leise und sah sich gewohnheitsmäßig um. Zwar befanden sie sich hier am Ende der Welt, aber die Wachsamkeit war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Außerdem konnte man niemals zu vorsichtig sein. „Roan wird verdächtigt, ein Waffenkartell anzuführen, das nicht immer im Interesse Englands handelt.“ Er wusste, dass er May nicht mehr zu erklären brauchte. Sie war klug genug, die Auswirkungen zu begreifen.

„Offensichtlich hat mein Bruder ihn gefunden“, sagte sie trocken.

„Ja. Und seine Häscher haben uns gefunden. Auf unserem Weg aus der Stadt hinaus und im Dunkeln.“ Liam hielt inne, um ihr Zeit zu geben, die Information zu verdauen. „Roan wird sich auf die Suche nach dir machen. Wenn er Preston nicht finden kann, wird er dich als Druckmittel gegen ihn benutzen wollen. Du brauchst den Schutz, den ich dir biete.“

May schnaubte verächtlich. „Fast niemand weiß, dass ich in Schottland bin. Ich würde sagen, mein Aufenthaltsort ist mein bester Schutz.“

„Meine Antwort darauf kennst du bereits. Roan ist listenreich. Er wird die Menschen aufsuchen, die von deinem Aufenthaltsort wissen. Jetzt, da sein Leben auf dem Spiel steht, haben wir noch größeren Grund, ihn zu fürchten. Wir müssen uns so verhalten, als wäre es garantiert, dass er dich finden wird.“

Mary betrachtete ihn misstrauisch. „Bedeutet das mehr als deine Anwesenheit in unserem Haus und das Reparieren des Schuppens?“

Insgeheim wappnete Liam sich schon für den Sturm, der jetzt kommen würde. Es würde ihr gewiss nicht gefallen, was er ihr zu sagen hatte. May hasste es, wenn man ihr sagte, was sie zu tun hatte. „Ich soll die ganze Zeit in deiner Nähe sein, und wenn ich es nicht bin, muss ich wissen, wo du bist, wann du dort sein wirst und mit wem.“ Erst jetzt sah er sie an. Die Versuchung war zu groß.

May schüttelte den Kopf, und der Sturm brach wirklich los. „Ich lasse mich nicht wie ein kleines Kind behandeln, das keinen Moment aus den Augen gelassen werden kann, noch dazu nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass Cabot Roan mich vielleicht suchen wird. Wenn du mich jetzt entschuldigen möchtest, ich habe noch viel zu tun.“ Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und wollte zurückgehen.

Doch Liam packte sie am Arm und biss unwillkürlich die Zähne zusammen. Zum ersten Mal seit so langer Zeit hatte er sie wieder berührt, und die Wirkung nahm ihm den Atem. „Jetzt ist nicht der rechte Moment, dickköpfig zu sein, May“, knurrte er, entschlossen, sie zur Vernunft zu bringen.

Sie heftete den Blick kühl auf seine Hand auf ihrem Arm, ihre Stimme klang scharf. „Nimm deine Hand fort. Ich erlaube dir nicht, mein Gefängniswärter zu werden.“

„Nicht dein Wärter, May, dein Leibwächter. Es geht hier nicht darum, was du willst oder was ich will. Es geht um Preston und darum, Mrs. Fields und ihr Baby zu beschützen.“ Dieser Appell an ihr Mitleid war sein bestes Argument. May würde alles tun für die Menschen, die sie liebte und die ihren Schutz brauchten. Auch in dieser Hinsicht war sie ihrem Bruder ähnlich.

Die Wut in ihrem Blick verebbte. „Wie lange wird es dauern, bis wir wissen, ob und wann Roan kommt?“

Liam schüttelte den Kopf. „Wir werden es nicht wissen. Er könnte bereits morgen auftauchen, vielleicht erst in ein, zwei Wochen oder Monaten. Es hängt davon ab, wie lange er brauchen wird, um dich aufzustöbern.“

„Vielleicht wird er niemals kommen.“

„Das können wir nur hoffen.“ Die Chancen dafür standen nicht gut. Liam kannte Roan. Er war sehr hartnäckig.

Schaudernd schlang May die Arme um sich. Es war kühl hier draußen, selbst für einen Novembertag, aber Liam glaubte nicht, dass sie wegen der Kälte erschauderte. „Wir müssen es Beatrice sagen.“ Sie warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. „Du hättest es ihr bereits sagen müssen. Es gibt keinen Grund, es vor ihr geheim zu halten. Du kannst Beatrice vertrauen.“

„Woher sollte ich wissen, ob ich ihr trauen kann oder ob es sie in ihrem Zustand zu sehr aufregen würde?“, verteidigte er sich. Er hatte so seine Zweifel, was Mrs. Fields und ihren seefahrenden Ehemann anging, aber er würde sie nicht äußern, um May nicht zu verstimmen. Heute galt es, wichtigere Schlachten zu gewinnen.

„Immerhin kenne ich sie erst seit wenigen Minuten, also entschied ich mich schon um des Babys willen, diskret zu sein.“ Sollte Beatrice Fields Geheimnisse haben, so ging es ihn gewiss nichts an. In seinem Metier hatte er erfahren, dass Frauen ebenso Geheimnisse haben konnten wie Männer und deswegen ebenso gefährlich sein konnten. Liam hatte nicht vor, jemanden zu unterschätzen, nur weil es sich um eine Frau handelte. Im Augenblick interessierte ihn an Beatrice Fields lediglich, welche Rolle sie bei Mays Entschluss spielte, sich ins gottverlassene Schottland zurückzuziehen.

„Ich habe dir alles gesagt, was ich weiß. Jetzt bist du an der Reihe. Was tust du hier? Warum bist du nach der Hochzeit nicht bei deiner Familie in Sussex geblieben?“

„Das sollte doch offensichtlich sein. Beatrice braucht mich. Sie kann ihr Baby schließlich nicht ganz allein bekommen.“ May wich seinem Blick jedoch aus und schaute über seine Schulter zu den Wiesen hinüber. Hier ging es um mehr als die Ergebenheit einer Freundin.

„Dafür gibt es Ärzte und Hebammen. Oder hast du in den letzten fünf Jahren vielen Babys auf die Welt geholfen? Noch dazu mit einer Pistole in der Hand“, drängte Liam sie. May war keine Lügnerin, aber sie erzählte ihm auch nicht die ganze Wahrheit, das spürte er.

„Hier sind wir in der Wildnis Schottlands. Zwei Frauen ganz allein können nicht vorsichtig genug sein. Ich erwartete nur keinen Besuch, mehr nicht“, antwortete sie schroff. Offenbar dachte sie gar nicht daran, sich dafür zu entschuldigen, dass sie ihn mit einer Pistole begrüßt hatte.

Er hob die dunklen Augenbrauen. „Niemand trägt eine Pistole mit sich herum, wenn er nicht mit jemandes Ankunft rechnet. Ich glaube vielmehr, dass du sehr wohl etwas erwartet hast – Ärger vielleicht?“

„Ich werde schließlich nicht überallhin von Ärger verfolgt“, sagte sie ärgerlich.

„Nein, aber du scheinst ihm zu folgen. Ich erinnere mich noch sehr gut. Da war der Zwischenfall mit der Eiche, mit dem Ruderboot, den Zigarren … Soll ich fortfahren?“

„In meiner Jugend war ich ziemlich frühreif“, gestand sie errötend.

„Ich wette, das bist du immer noch.“ Seine Stimme wurde weicher, und er lächelte. Aber es war riskant, sich auch nur einen Moment der Nostalgie hinzugeben, wenn es um May ging. „Das hat mir immer so an dir gefallen, May. Nie bist du vor einer Herausforderung zurückgeschreckt. Und das lässt mich auch vermuten, dass du genau deswegen hier bist. Du bist deiner Freundin ins Exil gefolgt, um ihr bei der Geburt beizustehen, wie du gesagt hast, vielleicht auch um deinen Eltern und der Gesellschaft einen Streich zu spielen. Vielleicht aus beiden Gründen. Aber es geht um mehr, denn sonst wäre es keine besondere Herausforderung für dich.“ Einen Moment blieb er still und betrachtete sie grübelnd. Noch hatte er den wahren Grund für ihr Hiersein nicht erraten. „Was wird Mrs. Field mit dem Kind tun?“

„Es aufziehen. Das ist es, was man gemeinhin mit Kindern tut“, entgegnete May ein wenig zu hitzig. Also hatte er ins Schwarze getroffen.

„Darum auch die Pistole“, meinte er. „Sie fürchtet, ihre Familie wird ihr das Kind wegnehmen, weil sie eine Frau ist, die nur von einem Ehemann unterstützt wird, der nicht anwesend ist.“ Ohne einen Mann im Haus könnte eine finanziell abgesicherte Familie dafür sorgen wollen, dass das Kind in einem sehr viel stabileren Umfeld aufwuchs. Wenn es diesen Ehemann überhaupt gab. Liam bezweifelte es, aber er hatte natürlich keinen Beweis dafür.

„Niemand wird es wegnehmen“, erklärte May bestimmt. Sie glaubte tatsächlich, sie könnte Beatrices Familie mit einer Pistole abwehren und dann zusammen mit Beatrice das Kind aufziehen. Es war ein bewundernswertes Ziel, wenn auch entschieden treuherzig. May wusste nicht, was wahre Gefahr bedeutete. Und er wollte auch nicht, dass sie es jemals erfuhr.

Der Wunsch, sie zu beschützen, wurde plötzlich übermächtig, wenn Liam sich auch weigerte, es sich einzugestehen. Schon einmal hatte es ihn nur in Schwierigkeiten gebracht. May Worth war nicht für ihn bestimmt. Sie war wunderschön und dickköpfig und in ihrer Naivität felsenfest davon überzeugt, dass sie alles bewältigen konnte. Liam wollte nicht, dass eines Tages die Welt um sie zusammenbrach.

Sie blieben eine Weile stumm stehen, während der Wind zunahm. Dann schirmte May die Augen ab und blickte zu dem leeren Weg, der zu ihrem Haus führte. „Du glaubst also, er wird kommen.“ Sie atmete tief durch.

„Ja. Aber ich werde hier sein, May. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“ In diesem Moment wünschte er, alles wäre anders – dass er nicht als armer irischer Gassenjunge geboren worden wäre, der ungewollte Sohn einer Hure von St. Giles, oder dass er niemals gewagt hätte, seine bescheidene Stellung zu vergessen. Er wünschte, Cabot Roan wäre keine Bedrohung für May. Dann hätte er, Liam, nicht herzukommen brauchen und die süße Qual ihrer Nähe zu ertragen. Doch es war nur ein flüchtiger Augenblick. Liam brauchte sich nur daran zu erinnern, wie sie sich getrennt hatten, und sofort waren die Wut und die Verbitterung wieder da. Am Ende hatten sich gesellschaftliche Stellung, Vermögen und Privilegien als ein zu großes Hindernis erwiesen. Als es darauf ankam, hatte May ihn nicht haben wollen. Und selbst jetzt, fünf Jahre später, sah sie ihn noch immer an, als wäre er der größte Fehler, den sie je begangen hatte.

„Ich wäre nicht gekommen, wenn Preston mich nicht gebeten hätte.“ Vielleicht würde es sie beruhigen, wenn er die Umstände klarstellte. Vielleicht brauchten sie beide diese Klarstellung, damit sie ihren damaligen Fehler nicht wiederholten. Ihre Jugend rechtfertigte ein wenig ihr Verhalten von damals, doch heute? Heute würde es keine Entschuldigung geben. Heute waren sie erfahrener und klüger. „Es geht hier nur um eine Freundespflicht deinem Bruder gegenüber, May.“

Sie funkelte ihn finster an. „Ich weiß. Das hast du deutlich genug gemacht.“ Als sie sich wieder zum Gehen wandte, hielt er sie nicht noch einmal auf. Und redete sich ein, dass er es verhindern konnte, dieselbe Katastrophe zweimal heraufzubeschwören.

Aber wem machte er etwas vor? Wenn es sich um May handelte, hatte er keine Kontrolle über sich. Trotz ihrer feindseligen Art ihm gegenüber hatte er gesehen, wie schnell ihr Puls an ihrem Hals pochte, als er dicht neben ihr stand. Und sofort hatte er an früher denken müssen und daran, ob sie wieder zusammen sein könnten. Aber hier waren sie beide in Gefahr, und diese Tatsache änderten nicht einmal die Gefühle, die sie vielleicht noch füreinander empfanden.

4. KAPITEL

Er hatte sie angesehen, als wäre sie der größte Fehler, den er je begangen hatte! Er wäre gar nicht gekommen, wenn Preston nicht darauf bestanden hätte! Oh ja, Liam hatte keinen Zweifel an seinen Gefühlen gelassen. May hackte das Grünzeug am Ende der Karotten ab und begann sie, eher grimmig als gewandt, kleinzuschneiden. Am Ende warf sie sie in den Kochtopf.

„Wir schleudern die Karotten nicht in den Topf, May.“ Beatrice legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. „Ganz besonders dann nicht, wenn es welche von unserem Lieblingsbauern Sinclair sind“, fügte sie trocken lächelnd hinzu. May erwiderte ihr Lächeln schuldbewusst.

„Schön. Und jetzt, da ich deine Aufmerksamkeit habe, sagst du mir, was nicht stimmt. Bist du so gereizt, weil du dir Sorgen um Preston machst, oder gibt es da noch mehr?“

„Was denn noch mehr?“, brachte May heftig hervor und machte sich daran, noch eine Karotte zu malträtieren. „Reicht es denn nicht, dass mein Bruder schwer verwundet in einem fremden Bauernhaus liegt, auf Gedeih und Verderb einem verräterischen Schurken ausgeliefert, und keiner mich zu ihm bringen will?“

Beatrice lächelte nachsichtig. Mays explosives Temperament war nichts Neues für sie. „Natürlich reicht es. Ich mache mir auch Sorgen um ihn.“ Unwillkürlich legte sie sich die Hand auf den Bauch und rieb ihn beschwichtigend. „Ich glaube, selbst das Baby sorgt sich um ihn.“

Sie lachte ein wenig, doch May runzelte die Stirn. „Geht es dir gut, Bea?“ In den vergangenen zwei Wochen litt Bea unter geschwollenen Füßen und gelegentlichen Krämpfen. Und ihr Bauch war riesig geworden.

Doch die winkte ab. „Wir sprechen jetzt über dich, versuch also nicht, vom Thema abzulenken. Du hast die schlechte Angewohnheit, das zu tun, wenn das Thema zu heiß wird.“ Bea schlug mit dem Klopfer auf das Fleisch ein, das mit in den Eintopf sollte. „Da wir von heiß reden, May. Liam Casek ist alles andere als eine Vogelscheuche. Kennst du ihn? Ich erinnere mich nicht, dass Preston ihn jemals mit zu euch nach Hause gebracht hätte.“

„Bea! Schäm dich, dass dir so was auffällt. Jeden Moment wirst du ein Kind zur Welt bringen“, neckte May sie nur halb im Scherz.

Bea lächelte unbekümmert. „Das heißt nicht, dass ich einen gut aussehenden Mann nicht bemerke.“

Nachdem sie die letzten Zutaten in den Topf getan hatte, hob May ihn an, trug ihn zur großen Kochstelle und hängte ihn über das Feuer. Dann wischte sie sich erst die Hände an der Schürze trocken, bevor sie antwortete. „Er ist nicht jemand, den man mit nach Hause nimmt.“ Wie sollte sie Liam Casek erklären, einen Mann, der sich von einem Taschendieb im Lauf der Jahre zu einem der wertvollsten Agenten des Innenministeriums entwickelt hatte? Sie wusste nicht genau, was er tat, aber er arbeitete mit Preston zusammen, und das bedeutete sehr viel. Preston erfüllte wichtige und offensichtlich sehr gefährliche Aufgaben, die nur den besten Agenten anvertraut wurden.

„Aber wie es aussieht, hat Preston ihn doch mindestens einmal mitgenommen“, beharrte Beatrice und betrachtete May mit einer Eindringlichkeit, die nichts Gutes verhieß. Plötzlich schnippte sie mit den Fingern. „Ich weiß, wann es war! Im Sommer 1816, als ihr im Lake District wart und Jonathon Lashley sich zu Hause von seinen Wunden erholte.“ May unterdrückte einen Seufzer. „Preston hat Jonathon immer zu einem Urlaub mit eurer Familie eingeladen, aber in jenem Jahr war das nicht möglich.“

Es war ein fürchterliches Jahr gewesen. Jonathons Bruder war während des Krieges verschollen, und Jonathon selbst war nach Waterloo halb tot heimgekommen. May erinnerte sich, wie ihnen die Nachricht überbracht worden war. Jonathon war immerhin einer von Prestons besten Freunden. Die Familie hatte sich im Salon versammelt, still und betrübt. Ihre sonst so unerschütterliche Mutter war blass gewesen, und ihr Vater hatte seinen erwachsenen Sohn in die Arme genommen und an sich gedrückt, als müsste er sich davon überzeugen, dass sein Junge noch am Leben und gesund war. In jenem Sommer waren sie aufs Land gereist, und Liam Casek war an Jonathons statt mit ihnen gekommen. Mays Vater hatte Liam am Anfang nicht völlig gebilligt. Und am Ende ihres Urlaubs hatte er ihn sogar noch viel weniger gemocht.

„Es ist seltsam, dass du ihn nie erwähnt hast.“ Nachdenklich legte Bea den Kopf schief. Im nächsten Moment keuchte sie auf, eine Hand auf ihrem Bauch, die andere auf dem Küchentisch, um sich zu stützen.

May war sofort bei ihr. „Was ist, Bea?“ Beatrice war aschfahl geworden.

„Ich weiß nicht. Oh!“ Ein weiterer Schmerz durchzuckte sie, und May schlang hilflos einen Arm um sie.

„Ich bringe dich zu Bett, damit du dich hinlegen kannst.“ Mehr wollte ihr nicht einfallen. Es war nicht leicht, Bea von der Küche zu ihrem Schlafzimmer zu bugsieren, das sich ebenfalls im Erdgeschoss befand. May war nur froh, dass sie nicht die Treppe hinaufgehen mussten. Doch Bea wollte sich nicht hinlegen. Sie klammerte sich an Mays Arm.

„Du musst den Arzt holen, May“, sagte sie leise. „Ich glaube, ich blute.“

„Ich werde gehen.“ Liams Stimme an der Tür ließ May zusammenfahren. Sie musste sich erst daran gewöhnen, ihn wieder um sich zu haben.

„Ich muss gehen, denn du weißt nicht, wo er wohnt“, wandte sie ein. Wenn er unterwegs bei einem Patienten war, würde Liam ihn niemals finden.

„Dann gib mir seine Adresse“, beharrte Liam. „Du kannst unmöglich durch die Gegend reiten, für jeden ein leichtes Ziel, und wir können deine Freundin nicht allein lassen. Wir können nicht beide gehen.“

„Wenn nur endlich wenigstens einer von euch ginge!“, stieß Bea zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, als sie von einem weiteren Krampf geschüttelt wurde.

May gab ihrer Freundin zuliebe nach. „Seine Praxis befindet sich in der High Street, gleich neben dem Rechtsanwalt.“

„Damit ihr ihn verklagen könnt, wenn euch seine Medikamente nicht gefallen, was?“ Liam lachte leise. „Sehr klug eingerichtet.“ Selbst Bea lächelte ein wenig über seinen Scherz.

Liam war schon bald zurück mit Dr. Stimson, einem hochgewachsenen, finsteren Mann, dessen Miene meist ausdruckslos blieb. Er gehörte nicht zu der freundlichen, ermunternden Sorte, aber er war in Edinburgh ausgebildet worden. May mochte ihn selbst unter anderen Umständen nicht besonders. Heute reizte er sie mehr denn je.

Er untersuchte Beatrice, verkündete, dass es völlig normal war, wenn eine Frau vor der Zeit einige kleine Wehen verspürte. Außerdem hatten sie aufgehört, nachdem sie sich hingelegt hatte. Also riet er ihr, im Bett zu bleiben, bis das Baby geboren wurde, und steckte am Ende einige ihrer kostbaren Münzen ein.

„So viel hätte ich auch tun können!“, warf May ihm vor, während sie ihm zu seinem Pferd folgte. „Es muss doch mehr sein als das. Wie erklären Sie sich das Blut?“

Der Mann sah sie nicht einmal an, während er aufsaß. „Jedes Baby kommt auf seine Art auf die Welt.“ Er klang erschöpft. „Erst wenn Sie so viele Kinder auf die Welt gebracht haben wie ich, können Sie mir sagen, wie ich meine Arbeit tun muss, Miss Worth.“

May packte das große Pferd am Zaum. „Sie wird nicht zu den zwanzig Prozent gehören, Sir.“

Das ließ ihn aufhorchen. Er sah sie hochmütig an. „Was soll das heißen?“

„Zwanzig Prozent aller Frauen sterben bei der Geburt. Sie wird nicht zu ihnen gehören.“ In letzter Zeit, seit Beas Bauch so enorm groß geworden war, ließ May diese Furcht nicht ruhen. Wenn nun niemand in der Nähe war, wenn das Baby kam? Wenn es zu Komplikationen bei der Geburt käme und sie nicht wusste, wie sie Bea helfen sollte? May hatte gemerkt, dass auch Bea sich Sorgen machte, und doch konnte sie ihrer Freundin nur leere Versprechungen geben, die sie vielleicht nicht würde halten können.

„May, lass den guten Mann gehen. Ich musste ihn von seinem Abendmahl fortzerren.“ Liam war hinter ihr und löste sanft ihre Hand vom Zaumzeug. Die Berührung, so flüchtig sie war, ließ May doch bis ins Innerste erschauern. Sie standen viel zu nah beieinander.

Der Arzt schien dasselbe zu denken. „Sind Sie ihr Mann?“, fragte Dr. Stimson und kniff nachdenklich die Augen zusammen.

„Nein, Sir, ich bin ein Freund ihres Bruders, der gekommen ist, um nach dem Rechten zu sehen“, erklärte Liam. May presste verärgert die Lippen zusammen. Als wären sie Kinder, die ein Kindermädchen brauchten.

Der Arzt zuckte mit den Schultern, ohne May zu beachten. „Sehr schade. Diese hier hat jemanden nötig, der sie an die Kandare nimmt. Und zwar fest.“

„Ganz Ihrer Meinung, Sir.“ Liam nickte, und May trat ihm hart auf den Fuß. Wie konnte er es wagen, sich über sie zu unterhalten, als wäre sie gar nicht da?

„Au!“, stieß Liam hervor, als der Arzt davongeritten war. „Wofür war das?“

„Warum hast du mich nicht verteidigt?“, schimpfte May. „Ich verabscheue diesen Mann, und du katzbuckelst vor ihm. Ganz Ihrer Meinung, Sir“, äffte sie ihn nach.

Liam lachte. „Du musst nicht verteidigt werden, May. Das schaffst du allein gut genug, wenn du willst. Aber du musst lernen, nicht die gesamte Nachbarschaft gegen dich aufzubringen. Weißt du denn nicht, dass man mit Honig mehr Fliegen fangen kann als mit Essig?“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihn. „Ist es das, was du all diese Jahre getan hast? Fliegen mit Honig gefangen?“ Jedenfalls hatte er eher Essig verteilt, als sie ihn das erste Mal getroffen hatte. Er war ein wundervoller, zorniger junger Mann gewesen, der sich gegen alles auflehnte, und stolz war, auf der Straße zu leben. Liam war auf eine Weise aufrührerisch gewesen, die May sich nicht zugetraut hatte. Sie hatte bewundert, was sie für Mut gehalten hatte.

„Wenn es mir so passt, ja.“ Der Aufrührer in ihm war noch erkennbar an seinem langen, unordentlichen Haar, den markanten Gesichtszügen und den festen Muskeln eines Mannes, der wusste, was harte Arbeit bedeutete. Doch inzwischen hatte sich zu dem Aufrührer ein Mann gesellt, der nicht nur den Zorn seiner Jugend, sondern auch Intelligenz zeigte. Aus Liam war ein Mann geworden, der sich zu beherrschen wusste, der seine Gefühle nicht mehr impulsiv mitteilte. May war nicht sicher, ob sie ihn deswegen hasste oder ihn um seine neu gefundene Souveränität beneidete. „Es ist wichtig, nett zu sein, May, bis es wirklich Zeit ist, weniger nett zu sein.“

„Du klingst wie Preston.“

„Vielleicht habe ich es ja auch von ihm gelernt.“ Sein hinreißender Mund verzog sich zu einem Lächeln.

Erst jetzt wurde May bewusst, dass es dunkel zu werden begann. Sie spürte, wie ihr die Knie weich zu werden drohten. Genau das stellte die wahre Gefahr für sie dar. Nicht der unbekannte Cabot Roan, sondern diese Momente, da sie fast bereit war, die Vergangenheit und die Probleme der Gegenwart zu vergessen und Liams Charme zu erliegen. Doch sie würde niemals so tief sinken. Eine Katastrophe genügte ihr.

Katastrophen schienen heute an der Tagesordnung zu sein. May saß auf dem Bettrand in ihrem Zimmer und starrte den ungeöffneten Brief in ihrer Hand an. Er würde schlechte Neuigkeiten enthalten, das wusste sie. Dennoch hatte es keinen Zweck, es hinauszuzögern. Wenn sie nicht wusste, was in dem Brief stand, würde sie nichts dagegen unternehmen können. Also atmete sie tief durch und brach das Siegel. Die verschnörkelte Schrift ihrer Mutter sah immer so unschuldig aus, allerdings hatte May mit der Zeit erfahren müssen, dass diese eleganten, gepflegten Buchstaben meist das Verderben über sie hereinbrechen ließen. Zunächst überflog May die ersten Absätze mit den üblichen einleitenden Bemerkungen ihrer Mutter – das Neueste aus der Stadt, freundlicher Klatsch, um den Leser einzulullen, sodass er den wirklichen Schlag nicht kommen sah und völlig davon überrumpelt wurde.

Und da war er auch schon, vier Absätze später. May las aufmerksam.

Wir werden über Weihnachten in Edinburgh sein, damit dein Vater sich um einige Geschäfte kümmern kann, die mit Versand und Produktion zu tun haben und die ich gar nicht erst vorgebe zu verstehen. Wir möchten dich freundlich um deine Anwesenheit bitten.

Wir haben uns ein Stadthaus in New Town genommen. Die Adresse findest du am Ende der Seite. Ich werde deine schönen Kleider mitbringen, da du wahrscheinlich nichts Passendes bei dir hast. Wir freuen uns schon darauf, die Festtage zusammen zu verbringen, selbst wenn wir nicht in London sein können.

Wie ich höre, soll Edinburgh sehr schön sein um diese Jahreszeit und seinen Bewohnern viele Möglichkeiten zu Vergnügungen bieten. Wir erwarten dich am ersten Dezember. Mehrere Geschäftspartner deines Vaters werden ebenfalls mit ihren Familien anwesend sein.

Familien. May zerknüllte das Papier. Sie wusste, was das bedeutete – Söhne, die darauf getrimmt worden waren, ein wohlhabendes Geschäft zu führen und ihren Platz als vermögende Männer in der Gesellschaft einzunehmen. Einige von ihnen würden vielleicht sogar über einen Titel verfügen oder zumindest Beziehungen zum Adel haben. Das machte sie zu einer ausreichend guten Partie für die Tochter eines zweiten Sohnes wie May, da sie vornehm genug waren, um den Makel des Handels vergessen zu lassen.

Sie war so sicher gewesen, dass sie weit genug gefahren war, um nicht von ihren Eltern eingeholt zu werden und ihren nicht nachlassenden Versuchen, sie zu verheiraten. Die ganze Zeit hatte sie befürchtet, man würde sie nach Hause zurückrufen. Doch stattdessen kamen sie jetzt einfach zu ihr. Plötzlich erschien ihr Schottland gar nicht mehr so groß. Edinburgh lag nur eine kurze Fahrt mit der Fähre von ihrer kleinen Stadt entfernt. Und May glaubte nicht, dass der Brief ihrer Mutter so harmlos war, wie er klang. Sehr wahrscheinlich hatte sie bereits einen passenden Kandidaten ausgesucht – oder zwei oder drei.

Sie musste in Ruhe nachdenken. Immerhin blieb ihr noch ein wenig Zeit, und Liam Casek hielt sich unter demselben Dach mit ihr auf – der einzige Mann in ganz England, den ihr Vater wirklich verabscheute. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie ihre Eltern reagieren würden, wenn sie mit ihm auf ihrer Türschwelle auftauchen würde. Gerade heute hatte er ihr ja klargemacht, dass er ihr nicht erlauben würde, ohne ihn zu reisen. Natürlich nur, wenn sie überhaupt nach Edinburgh fuhr.

Ihr blieb noch fast ein Monat. Sehr viel konnte bis dahin geschehen. Es könnte ein Unwetter geben, sodass es zu unsicher sein würde, den Forth hinaufzufahren. Die Reise über Land könnte ebenfalls aufgrund des Wetters unmöglich sein. Und vielleicht würde es Cabot Roan wirklich gelingen, sie zu entführen! Ihre Eltern könnten von Prestons Verwundung hören und ihre Reise absagen. Vielleicht hatten sie es bereits getan. Dieser Brief war abgeschickt worden, bevor sie Neuigkeiten von Preston erhalten haben konnten. Wenn er allerdings im Geheimen arbeitete, würden sie sowieso nichts erfahren. Es blieb abzuwarten, ob nicht ein Unglück das andere beeinflussen und May schließlich doch noch retten würde.

Der Inhalt des Briefes würde Bea erschüttern. May beschloss, ihr nichts zu verraten, bevor es gar nicht anders möglich war. Wenn sie wirklich fortging, würde sie sehr wahrscheinlich niemals wiederkommen. Bis zu dem Tag ihrer Abreise würde das Baby geboren sein, und es würde keinen Grund mehr für May geben zu bleiben. Ihre Eltern würden also darauf bestehen, dass sie ihr „wirkliches Leben“ fortsetzte.

Bedrückt faltete May den Brief zusammen. Erst heute Nachmittag hatte sie sich so sehr auf den Frühling gefreut, auf ihre Pläne für das Gewächshaus und auf die Zeit, wenn sie und Bea zusammen das Baby aufziehen würden. Nur wenige Stunden später, und ihr Traum war ausgeträumt. Sie musste gegen die Tränen ankämpfen. Die Vergangenheit kam von allen Seiten drohend auf sie zu. May wusste, sie konnte nicht nach Edinburgh reisen. Es gab nur diese Lösung: Sie würde es einfach nicht tun. Eine Katastrophe genügte ihr.

Cabot Roan war es nicht gewohnt, dass die Dinge nicht so liefen, wie er wollte. Ungeduldig klopfte er mit den Fingern auf die polierte Oberfläche seines Schreibtischs und starrte die zwei Männer, die verunsichert vor ihm standen, kühl an. „Wie ist es möglich, dass ihr Preston Worth nicht auftreiben könnt? Er ist schwer verwundet, hat sehr wahrscheinlich viel Blut verloren und ist nicht in der Lage zu reisen. Er ist wie ein Kaninchen, das sich nur noch verstecken kann, und ihr zwei seid die Jagdhunde, die seine Spur verfolgen. Ihr müsst doch in der Lage sein, einen verwundeten Mann zu finden.“ Keiner, der ihn gut kannte, würde sich von der Ungläubigkeit in seiner Stimme täuschen lassen. Cabot Roan triefte nur so vor Sarkasmus.

Der Größere von den beiden meldete sich zaghaft zu Wort. „Bei allem Respekt, Sir, wir haben die Ärzte in jeder Stadt gefragt, und das im Umkreis von fünf Meilen. Wir haben zur Belohnung Gold angeboten. Und wir haben jeden Gastwirt und die Anwesenden in allen Poststationen danach gefragt, ob sich ein Durchreisender gezeigt hätte.“

Cabot Roan nickte. Preston Worth war gewiss ein gerissener Bursche. Es war ihm gelungen, ihm zu entwischen, und dabei spielte es keine Rolle, ob er es mit oder ohne fremde Hilfe geschafft hatte. Wichtig war nur, dass Preston verschwunden war – doch davor hatte er einige Seiten aus seinem, Roans, Kontobuch gerissen. In den Händen der falschen Leute – und denen würde Worth sie geben – würden die Informationen auf jenen Papieren Roans gesamte Operation ans Tageslicht bringen.

Unter anderen Umständen hätten er und Worth Freunde sein können. Worths Einbruch war einfach, doch kühn gewesen. Der Mann hatte die Information gewollt, also hatte er sie sich genommen. Nur wenige wagten es, in Roans wohlbehütetes Haus einzudringen. Aber Worth hatte dem hohen Zaun, den Hunden und den Wächtern getrotzt. Ein Fenster wies noch immer die Spuren von Worths unerwünschtem Besuch auf. Roan bewunderte sein Geschick und seinen Mut, vergaß allerdings nicht, dass beides ihn an den Galgen bringen könnte, wenn er die gestohlenen Papiere nicht rechtzeitig abfangen konnte.

Grimmig griff er in die Schublade und warf zwei Blätter Papier auf den Schreibtisch. „Seht ihr die? Sie wurden dem Postsack ‚entnommen‘, bevor er mit der Postkutsche weiterfahren konnte.“ Er hatte dem Postmeister eine gehörige Summe Geld zugesteckt, um in den Postsack blicken zu können. Nur ein kühner Mann wie Worth würde so vernichtende Beweise ausgerechnet der Post anvertrauen. Sozusagen genau vor seiner Nase. Das war jetzt drei Tage her.

Autor

Bronwyn Scott
Bronwyn Scott ist der Künstlername von Nikki Poppen. Sie lebt an der Pazifikküste im Nordwesten der USA, wo sie Kommunikationstrainerin an einem kleinen College ist. Sie spielt gern Klavier und verbringt viel Zeit mit ihren drei Kindern. Kochen und waschen gehören absolut nicht zu ihren Leidenschaften, darum überlässt sie den...
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