Julia Best of Band 196

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LEIDENSCHAFT, DIE NIE VERGEHT von LEE, MIRANDA
Heißes Begehren - leidenschaftlicher Hass! Keine Frau hat je solch widersprüchliche Gefühle in Nicolas Dupre ausgelöst wie seine Ex Serina. Zehn Jahre nachdem sie ihre Liebe verriet, will er sie aus Rache zu einer Liebesnacht verführen. Doch was er dann erfährt, stellt seinen Plan auf den Kopf …

WIE ANGELT MAN SICH EINEN MILLIARDÄR von LEE, MIRANDA
Zwölf Monate - länger bleibt Milliardär Warwick Kincaid grundsätzlich nie mit einer Frau zusammen. Das weiß die schöne Amber genau, als sie sich auf eine stürmische Affäre mit ihm einlässt. Aber sie ahnt nicht, welch herzzerreißenden Grund ihr Geliebter dafür hat …

NUR MUT - SAG NICHT NEIN von LEE, MIRANDA
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  • Erscheinungstag 19.01.2018
  • Bandnummer 0196
  • ISBN / Artikelnummer 9783733710637
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Miranda Lee

JULIA BEST OF BAND 196

1. KAPITEL

Das Taxi hielt vor seinem Apartmenthaus, und Nicolas stieg ungewöhnlich langsam aus. Er war hundemüde und fühlte sich seltsam leer. All die Begeisterung, die normalerweise die Entdeckung und Förderung eines aufregenden neuen Talents mit sich brachte, blieb dieses Mal aus.

Natürlich hatte es ihn immer mehr begeistert, selbst auf der Bühne zu stehen, statt hinter den Kulissen mitzuerleben, wie jemand anders den Applaus erntete. Aber unentdeckte Stars aufzuspüren und neue musikalische Trends zu entwickeln war für ihn seit zehn Jahren immerhin das Zweitbeste.

Trotzdem hatte sich sein Pulsschlag heute Abend nicht erhöht, als sein jüngster Schützling das anspruchsvolle New Yorker Konzertpublikum mehr als einmal vor Begeisterung von den Stühlen gerissen hatte. Er freute sich für Junko. Natürlich freute er sich. Sie war ein reizendes Mädchen und eine großartige Geigerin. Dennoch hatte er nicht das gefühlt, was er normalerweise fühlte. Eigentlich war er fast unberührt geblieben.

Vielleicht waren das ja schon die Vorboten einer Midlife-Crisis, immerhin wurde er nächstes Jahr vierzig. Oder die ersten Anzeichen für einen Burn-out? Die Arbeit im Musikgeschäft war extrem aufreibend, zumal man auch noch ständig unterwegs sein musste.

Da Nicolas Hotels nicht mochte, hatte er sich sowohl in New York als auch in London ein Apartment gekauft. Seine Freunde hielten das für ziemlich exzentrisch, aber Nicolas hatte die Entscheidung nie bereut. Der Wert seines New Yorker Apartments hatte sich seit dem Erwerb vor sechs Jahren immerhin bereits verdoppelt. Sein Townhouse in London war als Investition zwar nicht ganz so spektakulär, aber Geld verloren hatte er durch den Kauf auch nicht.

„Hat alles geklappt heute Abend, Mr. Dupre?“, erkundigte sich der Türsteher, als Nicolas eintrat. Dessen Stimme klang besorgt. Offenbar konnte man ihm die Müdigkeit ansehen.

Nicolas bemühte sich um ein Lächeln. „Danke, Mike, alles bestens.“

Der Mann lächelte zurück. „Das ist gut.“

Mike war ein großartiger Mensch, einfühlsam und zuverlässig, und ein Trinkgeld anzunehmen ging gegen seine Ehre. Zum Ausgleich dafür drückte Nicolas ihm jedes Jahr zu Weihnachten einen Scheck in die Hand, mit der Warnung, dass er es als persönliche Beleidigung betrachten würde, wenn Mike sein Weihnachtsgeschenk ablehnte.

Chad, der junge Mann am Empfang, hob den Kopf, als Nicolas die Eingangshalle durchquerte.

„Moment mal, Sir, ich habe hier einen Brief für Sie“, rief Chad ihm zu.

„Einen Brief?“

Nicolas runzelte die Stirn und ging zum Tresen. Er bekam praktisch keine normale Post mehr. Sämtliche Rechnungen und Bankunterlagen gingen direkt an seinen Steuerberater. Und wer ihn persönlich kontaktieren wollte, tat das per Telefon, E-Mail oder SMS.

Der junge Mann lächelte. „Kam erst heute Nachmittag, da waren Sie schon weg. Die Anschrift ist köstlich. Wir haben herzlich gelacht.“ Mit diesen Worten reichte er Nicolas einen leuchtend rosa Umschlag.

Die Adresse lautete:

Mr. Nicolas Dupre

c/o Broadway

New York

America

„In der Tat“, erwiderte Nicolas mit einem trockenen Lächeln.

„Muss großartig sein, berühmt zu sein“, bemerkte Chad lapidar.

„So berühmt bin ich doch gar nicht.“

Nicht mehr. Die Künstler wurden schließlich in die Talkshows eingeladen, nicht die Produzenten. Vor zwei Jahren hatte Nicolas ein einziges Interview gegeben, nachdem ein von ihm produziertes Musical mit Preisen überhäuft worden war, aber das war es dann auch gewesen.

„Kommt aus Australien“, erklärte Chad. Nicolas blieb fast das Herz stehen.

Irgendetwas warnte ihn davor, den Umschlag umzudrehen und einen Blick auf den Absender zu werfen … nicht hier.

„Sieht aus wie von einer Lady.“ Chad brannte sichtlich vor Neugier.

Aber Nicolas hatte nicht vor, den Wissensdurst des jungen Mannes zu stillen.

„Fanpost vermutlich“, sagte er und ließ den Umschlag in seiner Brusttasche verschwinden. „Da hat wohl irgendwer nicht mitbekommen, dass ich seit Jahren nicht mehr auftrete. Danke, Chad. Gute Nacht.“

„Oh … äh … gute Nacht, Sir.“

Erst nachdem er in seinem Apartment im zehnten Stock angelangt war, holte Nicolas den Brief aus seiner Tasche und drehte ihn um.

Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Der Brief war nicht von ihr. Aber hatte er das denn ernsthaft erwartet? Hatte er wider alle Vernunft gehofft, Serina könnte nach so langer Zeit doch noch gemerkt haben, dass sie ohne ihn nicht leben konnte?

Nachdem er seine Enttäuschung hinuntergeschluckt hatte, erwachte jedoch seine Neugier. Der Brief kam zwar nicht von Serina, aber immerhin von ihrer Tochter, die er einen kurzen Moment lang für sein Kind gehalten hatte. Felicity Harmon war zehn Monate nach der Nacht geboren, in der er zum letzten Mal mit Serina geschlafen hatte, und exakt neun Monate nach Serinas Heirat mit Greg Harmon.

Selbst heute fiel es Nicolas noch schwer zu akzeptieren, was Serina in jener Nacht getan hatte. Sie hatte ihm durch ihren überraschenden Besuch wieder unbegründete Hoffnungen gemacht, und das war grausam gewesen.

Er war jahrelang nicht darüber hinweggekommen, dass sie sich geweigert hatte, mit ihm nach England zu gehen. Doch irgendwann war ihm nichts anderes übrig geblieben als zu akzeptieren, dass sie ihre Familie in Rocky Creek mehr liebte als ihn. Seitdem war er nicht mehr nach Hause gefahren, sondern hatte seiner Mutter Geld geschickt, damit sie ihn zweimal im Jahr besuchen konnte, egal, in welchem Teil der Welt er sich gerade aufhielt.

Doch einige Jahre später war Serina von sich aus wieder auf ihn zugekommen.

Damals hatte er geglaubt, die Geschichte längst hinter sich gelassen zu haben. Es hatte andere Frauen in seinem Leben gegeben – eine Menge Frauen, um genau zu sein. Obwohl die Tatsache, dass er nie mit einer dieser Frauen zusammengelebt, geschweige denn eine geheiratet hatte, ihm eigentlich Beweis genug hätte sein müssen, dass sein Herz immer noch Serina gehörte. Dieses Herz hatte einen riesigen Satz gemacht, als er sie in jener schicksalhaften Nacht vor dreizehn Jahren im Opernhaus von Sydney im Publikum entdeckt hatte. Er erinnerte sich noch heute an das genaue Datum.

Als sie nach dem Konzert zu ihm in die Garderobe gekommen war, hatte er geglaubt zu träumen. Ein einziger Blick in ihre wunderschönen Augen hatte ihm den Verstand geraubt. Er hatte sie wortlos an sich gezogen und die Tür abgeschlossen. Alles Weitere war zwangsläufig geschehen, und irgendwann waren sie erschöpft auf der Couch eingeschlafen.

Beim Aufwachen war Serina weg gewesen. Zurückgelassen hatte sie nur einen Brief, in dem sie ihn um Verzeihung bat, weil sie der Versuchung, noch ein letztes Mal mit ihm zusammen zu sein, nicht hatte widerstehen können. Außerdem hatte sie ihn inständig gebeten, nie mehr mit ihr in Kontakt zu treten, weil sie in ein paar Wochen Greg Harmon heiraten wollte, und daran sei nichts mehr zu ändern. Nicolas kannte den Text ihres Briefs heute noch auswendig.

Du bist ein großer Künstler, Nicolas. Deine Bestimmung ist es, in aller Welt Konzerte zu geben. Dafür lebst du, das brauchst du wie die Luft zum Atmen. Das wurde mir heute Abend wieder ganz deutlich bewusst. Was uns verbindet, ist keine Liebe, sondern etwas anderes. Etwas Dunkles, Gefährliches, das mich zerstören würde, wenn ich ihm weiterhin nachgäbe. Du wirst auch ohne mich überleben, das weiß ich.

Nun, er hatte überlebt … wenn auch nur knapp.

Und doch spielte sein Herz jetzt allein beim Anblick eines rosaroten Briefumschlags verrückt. Vor langer Zeit war er sich sicher gewesen, dass sie seine Gefühle erwiderte. Auf jeden Fall war sie ihm körperlich genauso verfallen gewesen wie er ihr. In dieser Hinsicht hatten sie von Anfang an perfekt harmoniert – erstaunlicherweise, weil sie damals beide noch unschuldig gewesen waren.

Nicolas schüttelte den Kopf. Wenn er geahnt hätte, was sich daraus entwickeln würde, wäre er Mrs. Johnsons Vorschlag, mit Serina zum Abschlussball zu gehen, bestimmt nicht gefolgt.

Zu der Zeit hatte Nicolas sich rein gar nicht für Mädchen interessiert. Seine einzige Leidenschaft hatte dem Klavierspiel gegolten.

Dass er auf der Highschool der Schwarm vieler Mädchen gewesen war, hatte ihn kaltgelassen, und über sein gutes Aussehen – er war groß, schlank, blond und blauäugig – hatte er sich nie Gedanken gemacht. Eine Partnerin für den Abschlussball zu finden wäre für ihn mit Sicherheit kein Problem gewesen, aber das war ihm egal, weil er sowieso entschlossen gewesen war, nicht hinzugehen.

Doch seine Mutter hatte das nicht akzeptieren wollen, weshalb er Mrs. Johnson am Ende für ihren Vorschlag sogar dankbar gewesen war. Die schüchterne, unscheinbare Serina stellte in seinen Augen keinerlei Gefahr dar, und der Gesprächsstoff drohte ihnen auch nicht auszugehen, weil sie sich beide für Musik interessierten.

Das war jedoch nur graue Theorie gewesen, die Praxis sah anders aus. Man stelle sich seine Überraschung – und seinen Schock – vor, als er Serina am Abend abholte und sich einem umwerfend schönen Mädchen gegenübersah. Sie trug ein schimmerndes tiefblaues schulterfreies Kleid mit einem weiten Tellerrock und High Heels, die ihre langen atemberaubenden Beine erst richtig zur Geltung brachten.

Bisher kannte Nicolas Serina nur in ihrer Schuluniform, ohne Make-up, mit Zöpfen oder Pferdeschwanz.

Jetzt, mit offenem Haar, dezent geschminkt und ungeheuer weiblich, wirkte sie weit erwachsener und atemberaubend sexy. Beim ersten Blick auf sie verspürte er heißes Begehren in sich aufsteigen. Den ganzen Abend über schaffte er es nicht, seinen Blick von ihr loszureißen. Mit ihr zu tanzen war Lust und Folter zugleich.

Als sie um kurz nach Mitternacht den Ball verließen, war er aufgewühlt wie nie zuvor in seinem Leben. Er hatte Serinas Eltern versprechen müssen, ihre Tochter anschließend sofort zu Hause abzuliefern, was ihm nur recht gewesen war – zu jenem Zeitpunkt jedenfalls.

Plötzlich jedoch war die Sehnsucht nach Serina noch größer als sein Wunsch, die ganze Welt mit seinem Klavierspiel zu verzaubern. Gleichzeitig wusste er jedoch, dass das nicht möglich sein würde. Er hatte nicht einmal eine Idee, wie er es hätte anstellen sollen, sich ihr zu nähern.

Doch während sich der Wagen, in dem sie saßen, unaufhaltsam Rocky Creek näherte, näherte sich Serinas Hand ebenso unaufhaltsam seinem Schenkel. Und als diese Hand schließlich ihr Ziel erreichte, verriet ihm ein verstohlener Blick aus dem Augenwinkel, dass sie dasselbe fühlte wie er.

„Fahr mich noch nicht nach Hause“, flüsterte sie atemlos.

Das brauchte sie ihm nicht zweimal zu sagen. Ohne lange zu überlegen bog Nicolas bei nächster Gelegenheit von der Hauptstraße auf einen schmalen Feldweg ab, der zu einer einsamen Stelle unten am Fluss führte.

Dort nahm alles seinen Anfang. Zuerst waren es nur Küsse, dann Berührungen, die zunehmend intimer wurden. Störende Kleidungsstücke landeten auf dem Rücksitz, und ehe er es sich versah, war er auch schon dabei, in sie einzudringen. Nicht einmal ihr überraschtes Keuchen konnte ihn aufhalten, sein Verstand war lahmgelegt. Die Panik kam erst hinterher – als ihm klar wurde, dass er kein Kondom benutzt hatte.

„Dein Vater bringt mich um, wenn du schwanger bist“, stöhnte er.

„Es kann nichts passiert sein“, beruhigte sie ihn. „Ich hatte eben erst meine Tage.“

Nicolas atmete auf.

„Ich fahre morgen nach Port und besorge Kondome“, versprach er, und sie schaute ihn nur stumm aus ihren großen dunklen Augen an.

„Beim nächsten Mal wird es schöner“, hörte er sich selbst einigermaßen verschämt sagen.

„Aber für mich war es schön … sehr schön sogar“, beteuerte sie überraschenderweise. „Meinst du, wir können es gleich noch mal machen?“

Er ließ sich nicht zweimal bitten. Diesmal kosteten sie es aus, und er beobachtete mit angehaltenem Atem, wie sie den Höhepunkt erreichte. Es war wie ein Wunder. Als er sie gegen zwei Uhr zu Hause ablieferte, war Nicolas bereits süchtig nach ihr.

Irgendwie schafften sie es, ihre Teenageraffäre den ganzen Sommer über geheim zu halten. Nicolas schlich sich jede Nacht heimlich aus dem Haus zum Stelldichein mit Serina. Sie lebte mit ihren Eltern auf einer kleinen Farm, mit Nebengebäuden und Schuppen, in denen sie sich ungestört lieben konnten. Nicolas beschwor sie, keinem Menschen etwas von ihnen zu erzählen, auch nicht ihren Freundinnen. Er wusste, dass Serina ziemlich altmodische Eltern hatte, die nichts unversucht lassen würden, um sie auseinanderzubringen. Deshalb gaukelten sie ihrer Umwelt eine rein platonische Freundschaft zwischen zwei jungen Leuten vor, deren Leidenschaft das Klavierspiel war.

Erst nach einer ganzen Weile begannen sie offen miteinander auszugehen. Damals studierte Nicolas bereits in Sydney, was zur Folge hatte, dass er und Serina sich nicht mehr so oft sehen konnten. Doch immer wenn sein strenger Zeitplan es erlaubte, kam Nicolas nach Rocky Creek, und dann waren sie praktisch unzertrennlich.

Dennoch war in jener Zeit für Nicolas seine musikalische Ausbildung immer vorrangig gewesen.

Gleichwohl hatte er nie auch nur eine einzige Sekunde daran gezweifelt, dass Serina die Frau seines Lebens war, dass er sie eines Tages heiraten und Kinder mit ihr haben würde. Unvorstellbar, dass sie je mit einem anderen Mann zusammen sein oder von diesem gar schwanger werden könnte.

Und doch hatte sie von einem anderen Mann ein Kind bekommen, und dieses Kind hatte ihm heute geschrieben.

Nur warum bloß, um Himmels willen?

Nicolas riss den pinkfarbenen Umschlag auf und zog ein bedrucktes weißes Blatt Papier heraus.

Lieber Mr. Dupre,

hallo. Mein Name ist Felicity Harmon. Ich bin zwölf Jahre alt und lebe in Rocky Creek. Ich bin die Schulsprecherin von unserer Grundschule und helfe unseren Lehrern, zum Jahresende ein Konzert zu organisieren, das am Samstag, dem 20. Dezember stattfinden soll. Den Erlös wollen wir unserer örtlichen Feuerwehr spenden.

Wir wollen kein normales Konzert veranstalten, sondern einen Talentwettbewerb, und dafür brauchen wir einen Preisrichter. Es wäre natürlich sehr schön, jemand Berühmtes zu haben, weil dann einfach viel mehr Leute kommen. Sie sind der berühmteste Mensch, der je in Rocky Creek gelebt hat, deshalb wollte ich Sie fragen, ob Sie nicht vielleicht bereit wären, für uns an diesem Abend als Preisrichter zu fungieren. Meine Klavierlehrerin Mrs. Johnson glaubt eher nicht, dass Sie kommen, weil Sie jetzt in New York leben und hier keine Familie mehr haben. Aber sie hat mir auch erzählt, dass Sie früher mit meiner Mum befreundet waren und dass es deshalb vielleicht sein kann, dass Sie doch kommen, wenn ich Sie ganz freundlich darum bitte. Wahrscheinlich wissen Sie es nicht, aber mein Dad ist vor nicht allzu langer Zeit gestorben. Das war letzten Sommer, da ist er bei einem dieser schrecklichen Waldbrände in Victoria von einem brennenden Baum erschlagen worden. Dabei hat er mir noch am Tag vor seinem Tod erzählt, dass unsere örtliche Feuerwehr dringend eine neue Ausstattung bräuchte, um unsere Stadt besser vor den Buschfeuern schützen zu können. Dafür wäre ein neuer Löschzug richtig gut, aber der kostet natürlich viel Geld.

Ich bin mir ganz sicher, dass wir bei dem Talentwettbewerb viel mehr Zulauf bekommen, wenn wir Sie als Preisrichter ankündigen könnten. Und falls Sie sich tatsächlich entschließen zu kommen, könnten Sie ganz bestimmt auch bei uns im Gästezimmer übernachten.

Unten ist meine E-Mail-Adresse, bitte schreiben Sie mir, wenn Sie sich überlegen, meine Einladung anzunehmen. Ich hoffe so sehr auf eine positive Antwort. Bitte sagen Sie mir sobald wie möglich Bescheid, weil das Konzert schon in drei Wochen stattfindet.

Es grüßt Sie ganz herzlich

Felicity Harmon

PS: Ich habe extra einen rosa Umschlag genommen, damit mein Brief nicht in Ihrem Meer von Fanpost untergeht und ich bessere Chancen bei Ihnen habe.

PPS: Ich hoffe wirklich sehr, dass Sie kommen.

Serinas Tochter bat ihn inständig, nach Rocky Creek zu kommen! Was war das? Ein Wink des Schicksals? Aber ja, natürlich würde er kommen, er wüsste nicht, was er lieber täte!

Wenn Greg Harmon noch gelebt hätte, wäre es Nicolas nicht im Traum eingefallen, jemals nach Rocky Creek zurückzukehren. Dann hätte er Zuflucht zu einer glaubwürdigen Ausrede genommen und Felicity zum Trost einen schönen Scheck geschickt.

Aber jetzt hatte sich eine neue und ungeahnte Situation ergeben. Serinas Mann war tot, Serina war eine Witwe. Warum sollte er sich da noch von ihr fernhalten?

2. KAPITEL

Serina starrte ihre Tochter ungläubig an. Nicolas Dupre als Preisrichter für den Talentwettbewerb? Das durfte nicht wahr sein!

„Aber … aber woher hattest du denn seine Adresse?“, stammelte sie schließlich.

Felicitys übermütiger Gesichtsausdruck erinnerte Serina schmerzlich an den Vater ihrer Tochter – nicht an ihren verstorbenen sozialen Vater, sondern an den leiblichen, der von der Existenz einer Tochter gar nichts wusste.

„Na, ganz einfach! Ich hab ihm einen Brief an den Broadway in New York geschrieben, und er hat ihn bekommen!“

Serina rang um Fassung.

„Und?“

„Und er hat mir gestern Abend geantwortet.“

„Und warum hast du mir das nicht bereits gestern erzählt?“

„Na, weil du schon im Bett warst, als seine E-Mail kam.“

„Felicity! Da hättest du schon längst schlafen sollen!“

„Ja, ich weiß. Tut mir leid.“ Obwohl es ganz und gar nicht so klang.

Finster schaute Serina ihre Tochter an. Felicity konnte manchmal unglaublich dickköpfig sein.

Serina schluckte und schüttelte den Kopf. Sie konnte es immer noch nicht fassen.

„Felicity, ich …“

„Bitte, Mum, reg dich nicht auf“, fiel Felicity ihr ins Wort. „Ich musste einfach irgendwas unternehmen, weil ich Angst hatte, dass außer den Eltern sonst überhaupt niemand kommt. Aber jetzt wird die ganze Sache bestimmt ein Riesenerfolg, und die Feuerwehr kann sich freuen, wenn sie eine richtig saftige Spende bekommt. Dann können sie sich ja vielleicht endlich ein neues Feuerwehrauto leisten, so eins mit Sprinklern auf dem Dach, wie Dad es schon immer haben wollte. Ich mach das doch alles für Dad, Mum! Weil er es selbst nicht mehr kann.“

Was ließ sich dagegen sagen? Gar nichts natürlich. Felicity hatte Greg ebenso vergöttert wie umgekehrt. Bei der Nachricht von seinem Tod war sie völlig am Boden zerstört gewesen. Greg hatte zum Glück nie erfahren, dass Felicity in Wahrheit nicht seine leibliche Tochter war. Serina war es gelungen, diese Tatsache vor allen geheim zu halten, sogar vor Nicolas. Obwohl dieser sie ganz direkt auf seine mögliche Vaterschaft angesprochen hatte, als er vor zehn Jahren zur Beerdigung seiner Mutter nach Rocky Creek gekommen war, aber damals hatte sie seine Vermutung empört von sich gewiesen.

Das Schicksal – und ihre Gene – waren Serina bei ihrem Vertuschungsmanöver behilflich gewesen. Erstens war Felicity weit über Termin geboren worden, was in ihrer Familie mütterlicherseits mehrfach vorgekommen war. Außerdem hatte ihre Tochter dunkle Haare und dunkle Augen wie sie selbst und Greg, während Nicolas blond und blauäugig war. Zum Glück war Felicity damals auch noch sehr klein, weshalb sich ihr ungewöhnliches musikalisches Talent noch nicht gezeigt hatte. Deshalb hatte es keinerlei Ähnlichkeiten mit Nicolas gegeben, rein gar nichts, was ihn hätte stutzig machen können. Und die Einwohner von Rocky Creek gingen bis zum heutigen Tag völlig selbstverständlich davon aus, dass Felicity ihr musikalisches Talent von ihrer Mutter geerbt hatte. Was nur logisch war angesichts der Tatsache, dass Nicolas und Serina bereits Jahre vor der Geburt ihrer Tochter keinen Kontakt mehr gehabt hatten. Wer hätte da je auf die Idee kommen sollen, dass die allseits geachtete Serina Harmon nur einen Monat vor ihrer geplanten Hochzeit nach Sydney fahren könnte, um mit ihrem Ex eine leidenschaftliche Liebesnacht zu verbringen? Das wäre schlicht unvorstellbar gewesen!

Aber Nicolas hatte sie schon immer dazu verführt, das Unvorstellbare zu tun.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte sie alles für ihn getan. Nur ihre Familie hatte sie seinetwegen nicht im Stich lassen können. Vor allem nicht zu einem Zeitpunkt, wo diese sie am meisten gebraucht hatte.

Wie hätte sie nach England gehen können, nachdem ihr Vater gerade erst einen Schlaganfall erlitten hatte? Das hätte sie nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können. Doch Nicolas hatte ihr vorgeworfen, ihn nicht genug zu lieben.

Aber sie hatte ihn geliebt. Viel zu sehr sogar und leider auf eine ziemlich ungesunde Art und Weise, so sehr, dass es ihr Angst gemacht hatte. Wenn sie mit ihm zusammen war, war sie nicht mehr sie selbst, sondern ein willenloses Wesen, das, zitternd vor Begierde, in seinen Armen dahinschmolz.

Und weil sie sich selbst gegenüber misstrauisch gewesen war, hatte sie ihm ihren Entschluss telefonisch mitgeteilt.

Nicolas hatte erst ungläubig geschwiegen, dann war er wütend geworden, und am Ende hatte er versucht sie zu überreden. Doch das hatte sie in ihrer Verzweiflung veranlasst zu behaupten, dass sie von ihrer Fernbeziehung sowieso genug hätte. Was ja irgendwie auch stimmte. Seit er in Sydney studierte, hatte er kaum noch Zeit und war fast unerreichbar geworden.

„Ich will einen normalen Freund“, hatte sie geschluchzt. „Einen, der nicht so ehrgeizig ist wie du. Und der in Rocky Creek lebt. Greg Harmon fragt mich immer wieder, ob ich mit ihm ausgehen will“, hatte sie wahrheitsgemäß hinzugefügt.

„Greg Harmon! Ich bitte dich, der könnte ja dein Vater sein!“

„Das stimmt doch gar nicht.“ Obwohl er älter wirkte, war Greg erst Ende zwanzig. Er stammte auch aus Rocky Creek und arbeitete als Lehrer an der Wauchope Highschool, wo Serina und Nicolas ihren Abschluss gemacht hatten. Obwohl Greg nie ihr Lehrer gewesen war – er unterrichtete Agrarwirtschaft und Werken –, war Serina nicht entgangen, dass er eine Schwäche für sie gehabt hatte.

Und schon bald nach ihrer Abschlussprüfung hatte er versucht, sich mit ihr zu verabreden.

„Er ist einfach total nett, und außerdem sieht er auch noch gut aus“, hatte Serina Greg verteidigt. „Ich mag ihn. Und wenn er mich nächstes Mal wieder fragt, sage ich ja.“

Es war fast eine Erleichterung gewesen, als Nicolas wütend aufgegeben und allein nach England gegangen war. Danach hatte sie nie wieder etwas von ihm gehört. Kein Anruf, kein Brief, nur bitteres Schweigen.

Es hatte lange gedauert, bis Serina über Nicolas wenigstens ein wenig hinweggekommen war, und am Ende hatte sie Gregs Einladung aus reiner Einsamkeit angenommen. Obwohl sie auch dann insgeheim immer noch gehofft hatte, dass Nicolas sich irgendwie melden würde. Deshalb vertröstete sie Greg immer wieder, wenn er mit ihr schlafen wollte.

Aber die Zeit verstrich, ohne dass Nicolas ihr ein Zeichen gab. Irgendwann brachte Greg schließlich den Mut auf, ihr einen Heiratsantrag zu machen, und danach schliefen sie zum ersten Mal miteinander. Hinterher hatte sich Serina fast die Augen aus dem Kopf geweint, wenn auch gewiss nicht, weil es so schrecklich gewesen war. Im Gegenteil, Greg war ein zärtlicher und aufmerksamer Liebhaber. Das einzige Problem bestand darin, dass er nicht Nicolas war.

Trotzdem gelang es ihr mit der Zeit, die Erinnerung an Nicolas in den Hintergrund zu drängen, sodass sie anfangen konnte, konkrete Pläne für ihre Hochzeit mit Greg zu machen. Auch wenn sie nicht himmelhoch jauchzend glücklich war, war Serina doch zufrieden mit ihrem Leben. Sie wurde geliebt und hatte viele gute Freunde. Was wollte sie mehr? Sie mochte ihr Leben, und es machte ihr sogar Spaß, die bescheidene Holzhandlung ihrer Eltern zu einer größeren Firma für Bauzubehör auszubauen. Was sich als eine gute Idee herausstellte, da Rocky Creek schon seit geraumer Zeit Anziehungspunkt für Menschen war, die vom hektischen Großstadtleben genug hatten.

Wenn sie bloß damals nicht nach Sydney gefahren wäre … wenn sie bloß nicht in ihrem Hotelzimmer den Fernseher eingeschaltet hätte. Dann hätte sie diesen Bericht über Nicolas nicht gesehen. Ihr größter Fehler aber war es gewesen, dass sie abends in sein Konzert gegangen war …

Serina schaute auf ihre Tochter, die mit ihr am Frühstückstisch saß, und fragte sich zum hunderttausendsten Mal, ob es damals falsch gewesen war, Felicity als Gregs Tochter auszugeben. Immerhin konnte sie sich damit rausreden, dass sie es nicht aus Berechnung gemacht hatte, sondern um Greg zu schonen. Die Wahrheit so kurz vor der Hochzeit wäre für ihn ein schwerer Schlag gewesen.

Nein, sie hatte das Richtige getan, versicherte sie sich auch jetzt wieder. Greg war ein glücklicher Ehemann und liebender Vater gewesen, und sie hatten ein gutes harmonisches Leben geführt. Serina führte noch immer ein gutes Leben.

Aber jetzt drohte dieses Leben aus den Fugen zu geraten.

Ihr Magen verkrampfte sich vor Angst, Angst davor, was alles passieren könnte, wenn Nicolas wieder auf der Bildfläche erschien. Vor allem, weil es diesmal keinen Ehemann gab, wegen dem sie sich zurückhalten musste. Die Konfrontation mit Nicolas bei der Beerdigung seiner Mutter würde sie nie vergessen.

Er war kalt und gleichgültig gewesen.

Im Gegensatz zu ihr selbst. Sogar als er sie wegen der Vaterschaft einem demütigenden Verhör unterzogen hatte, war sie vor Leidenschaft entflammt gewesen. Auch wenn sie sich noch so sehr dafür verachtet hatte. Ihr wurde heute noch ganz heiß bei dem Gedanken, was hätte passieren können, wenn er ihr nur das kleinste Zeichen gegeben hätte.

Gott sei Dank hatte er Erbarmen gehabt.

Aber was mochte jetzt passieren? Ob Felicity ihm erzählt hatte, dass ihr Vater tot war? Es war anzunehmen.

„Hast du den Brief noch, den du Mr. Dupre geschickt hast?“, wollte sie von ihrer Tochter wissen.

Felicity wirkte genervt. „Oh mein Gott, Mum, das geht dich doch gar nichts an!“

„Ich will ihn lesen, Felicity“, erklärte Serina entschieden. „Und seine E-Mail auch.“

Felicity zog ein Gesicht und blieb stur sitzen.

Aber Serina stand auf. „Los, Fräulein, gehen wir.“

Serina war fast gerührt von Felicitys Brief – bis sie las, dass ihre Tochter Nicolas anbot, er könnte bei ihnen übernachten.

„Na hör mal, das kannst du doch nicht einfach machen!“, protestierte sie empört.

„Warum denn nicht?“, fragte Felicity unschuldig.

„Na, darum!“ Serina versuchte ihre Panik in den Griff zu bekommen. Was fiel diesem Mädchen bloß ein?

„Was soll das heißen?“ Felicity verstand die Aufregung nicht.

Serina raufte sich die Haare. „Ich bitte dich, du kannst doch nicht einen praktisch Fremden einladen, bei uns zu übernachten!“

„Aber wieso ist er denn ein Fremder? Er kommt doch auch aus Rocky Creek, außerdem wart ihr mal Freunde.“

„Du meine Güte, das ist eine Ewigkeit her“, gab Serina ungehalten zurück. „Ich weiß doch überhaupt nicht, was für ein Mensch Nicolas Dupre heute ist. Vielleicht trinkt er ja oder nimmt Drogen.“

Felicity schaute ihre Mutter mitleidig an. „Mum, geht’s noch? Das glaubst du doch selber nicht. Aber du kannst dich wieder abregen, weil Mr. Dupre sowieso nicht bei uns übernachten will. Hier! Am besten liest du selbst, was er schreibt.“

Felicity öffnete die E-Mail von Nicolas, und Serina las.

Liebe Felicity,

danke für Deinen netten Brief. Es macht mich traurig, vom tragischen Tod Deines Vaters erfahren zu müssen. Ich sende Dir und Deiner Mutter mein aufrichtiges Beileid. Ich habe schöne Erinnerungen an Rocky Creek und bin sehr gern bereit, Dir bei Deinem Spendensammelprojekt zu helfen. Du klingst wie eine sehr intelligente, beharrliche junge Dame, auf die ihre Mutter mit Recht stolz sein kann. Deshalb fühle ich mich sehr geehrt, dass Deine Wahl auf mich gefallen ist.

Leider habe ich in den nächsten zwei Wochen wichtige Termine in New York und London, sodass ich erst am Tag vor Deinem Konzert in Sydney sein kann. Was die Übernachtungsgelegenheit betrifft, bedanke ich mich sehr für Dein freundliches Angebot, aber ich kümmere mich lieber selbst in Port Macquarie um ein Dach überm Kopf. Gleich nach meiner Ankunft werde ich mich telefonisch bei Dir melden, dann können wir alles Weitere besprechen. Bitte bestätige mir den Eingang dieser Mail und teile mir auch noch Deine Telefonnummer mit.

Herzliche Grüße auch an Deine Mutter und Mrs. Johnson. Ich freue mich schon auf ein Wiedersehen mit beiden.

Alles Gute, Nicolas Dupre.

Serina war für einen Moment sprachlos. Die E-Mail war in höflichem Ton gehalten. Zu höflich, genau gesagt, und fast ein wenig pathetisch. Sie klang so gar nicht nach Nicolas.

Vielleicht stimmte ja, was sie zu Felicity gesagt hatte. Dass er ein Fremder war. Vielleicht war mit den Jahren aus dem zornigen jungen Wilden ein anderer Mensch geworden. Ein ruhiger und reifer und ja … einfach ein netter Mensch. Vielleicht kam er aus reiner Freundlichkeit, und mit ihr persönlich hatte das gar nichts zu tun. Überhaupt nichts! Vielleicht reagierte Nicolas nur auf die anrührende Bitte eines Mädchens, das vor Kurzem bei einem tragischen Unfall seinen Vater verloren hatte.

Serina wünschte sich, es wäre so, aber ganz tief drin wusste sie, dass seine Rückkehr nach Rocky Creek wenig bis gar nichts mit reiner Freundlichkeit zu tun hatte. Es ging allein um sie.

Nicht dass sie sich einbildete, Nicolas würde sie immer noch lieben. Dafür war damals bei der Beerdigung seine Verachtung zu offensichtlich gewesen. Aber vielleicht hatte er ja das Verlangen in ihren Augen gesehen und wollte sich jetzt für die Liebesnacht rächen, nach der sie einfach verschwunden war. Auge um Auge, Zahn um Zahn …

Serina rieselte ein Schauer über den Rücken, verstörend erregend.

Bitte, lass das nicht zu. Bitte lass nicht zu, dass er mich als Beute betrachtet und sich rächt. Weil ich diesmal nämlich nicht weglaufen kann, und hinter Greg kann ich mich auch nicht mehr verstecken …

3. KAPITEL

Anders als bei seinem letzten Besuch in Rocky Creek hatte Nicolas diesmal beschlossen, nicht mit dem Mietwagen von Sydney nach Rocky Creek zu fahren, sondern einen Anschlussflug nach Port Macquarie zu buchen. Die Flugzeit betrug nur eine dreiviertel Stunde, während man mit dem Wagen fünf bis sechs Stunden unterwegs war. In Port Macquarie wollte er mit dem Taxi zu seiner Unterkunft fahren, wo ein gemieteter Geländewagen auf ihn wartete.

Alles lief nach Plan. Um kurz nach neun stieg Nicolas am Flughafen von Port Macquarie aus der Maschine. Fünfzehn Minuten später näherte sich das Taxi in zügiger Geschwindigkeit der Innenstadt.

„Die Stadt ist mächtig gewachsen, seit ich zum letzten Mal hier war“, bemerkte Nicolas, während er sich umschaute. „Aber das ist auch fast zwanzig Jahre her.“

„Da haben Sie Glück, wenn Sie überhaupt noch irgendwas wiedererkennen“, gab der Taxifahrer zurück.

Was Nicolas allerdings reichlich übertrieben fand. Zumindest die Innenstadt hatte sich nicht groß verändert, wie er sah, als sie die Hauptstraße hinunterfuhren. Das alte Kino war immer noch an der Ecke, ebenso der Pub gegenüber. Trotzdem war die Tourismusindustrie allgegenwärtig, wie man an den zahlreichen Apartmenthochhäusern sowie den vielen neuen Restaurants und Straßencafés sah.

Und die Touristen selbst waren ebenfalls unübersehbar. In Australien hatte der Sommer Einzug gehalten und mit ihm die Hitze, die die Menschen in Scharen in die Hafenstadt am Meer lockte. Nicolas, der für hiesige Verhältnisse viel zu warm angezogen war, schwitzte und konnte es kaum erwarten, endlich aus seinem Anzug und unter die kühle Dusche zu kommen.

Er hatte kein Hotelzimmer, sondern ein Ferienapartment mit Blick auf Town Beach gebucht. Obwohl es noch früh am Tag war, händigte man ihm seinen Schlüssel sofort aus, was ein Hinweis darauf war, dass das Apartment am Vortag leer gestanden hatte – kein Wunder bei dem stolzen Preis.

Das Apartment selbst entpuppte sich als gute Wahl. Nicolas stand in einem großen geschmackvollen Wohnraum mit Sitz- und Essecke, davor ein großer Balkon mit Meeresblick. Dort gab es rustikale Holzmöbel, einen Grill und sogar einen Whirlpool. Das Schlafzimmer war ebenfalls groß, mit einem überdimensionalen Doppelbett und an der gegenüberliegenden Wand einen Flachbildfernseher, der ungefähr die Ausmaße einer mittelgroßen Kinoleinwand hatte. Das Bad war luxuriös, mit goldenen Armaturen und funkelnden Kristallbeschlägen, und auch hier konnte man sich in einem Whirlpool entspannen. Die Küche wirkte edel, mit einem schwarzen Marmortresen und blitzblanken Edelstahlgeräten.

Im Kühlschrank entdeckte Nicolas neben einer Flasche Champagner zwei Flaschen französischen Weißwein, und im Weinregal daneben lagerten zwei gute Rotweine aus dem Hunter Valley. Auf dem Tisch luden eine Schale mit frischem Obst sowie eine Schachtel Pralinen zum Zugreifen ein.

Dabei fiel ihm ein, dass Serina immer eine Schwäche für Schokolade gehabt hatte.

Serina …

Während er den ersten seiner beiden Koffer öffnete und auszupacken begann, versuchte er sich auszumalen, wie sie diesmal auf ihn reagieren würde. Beim letzten Mal war sie sichtlich angespannt gewesen. Wahrscheinlich hatte sie befürchtet, dass er sie vor ihrem Mann bloßstellen könnte, da nicht anzunehmen war, dass sie Greg von diesem Intermezzo in der Oper erzählt hatte.

Seine eigene Stimmung damals war katastrophal gewesen. In die Trauer um seine Mutter hatte sich rasende Eifersucht auf Greg gemischt, was es ihm völlig unmöglich gemacht hatte, Serina freundlich zu begegnen, geschweige denn ihr zu verzeihen. Er war sogar so weit gegangen, sie in Bezug auf die Vaterschaft ihres Kindes einem peinlichen Verhör zu unterziehen, obwohl er sich längst mit eigenen Augen davon überzeugt hatte, dass das hübsche dunkelhaarige Mädchen unmöglich seine Tochter sein konnte.

Die ganze Zeit über hatte er sie genauso leidenschaftlich gehasst wie begehrt.

Sie war damals sogar noch schöner gewesen als in seiner Erinnerung. Schwarz stand ihr gut. Obwohl Serina mit ihren dunklen Augen, dem dunklen Haar und der schönen olivfarbenen Haut eigentlich jede Farbe tragen konnte. Die Mutterschaft hatte sich durchweg positiv auf sie ausgewirkt. Sie wirkte noch weiblicher als früher, eine atemberaubend schöne Frau in der Blüte ihrer Jahre und so sexy wie nie zuvor.

Es hatte ihm das Herz gebrochen, sie mit einem anderen Mann weggehen zu sehen.

In jener Nacht hatte Nicolas kein Auge zugetan. Am nächsten Morgen hatte er seinen Anwalt beauftragt, das Haus seiner Mutter samt allem Hab und Gut zu verkaufen und den Erlös auf seine Londoner Bank zu überweisen. Gegen Mittag hatte er Rocky Creek verlassen und sich geschworen, nie zurückzukehren.

Und doch war er jetzt wieder hier.

Aber wie hätte er damals auch ahnen können, dass Greg Harmon schon so früh sterben würde? Oder dass Serinas Tochter ihn nach Rocky Creek einladen könnte?

Nicolas fragte sich, wie sich Serina bei der Aussicht auf ein Wiedersehen mit ihm wohl jetzt fühlen mochte. Dass sie von Anfang an von Felicitys Plänen gewusst hatte, war kaum anzunehmen. Wie mochte sie reagiert haben, als sie es erfuhr? Mit Verärgerung? Oder Wut?

Die Tatsache, dass sich Serina bis zum heutigen Tag nicht selbst mit ihm in Verbindung gesetzt hatte, sagte eigentlich alles. Immerhin hatte sogar der Rektor von Felicitys Schule per Mail nachgefragt, ob auch wirklich alles seine Richtigkeit hätte. Nur Felicitys Mutter hatte sich in Schweigen gehüllt.

Vielleicht wollte sie damit nur ihre Gleichgültigkeit ihm gegenüber ausdrücken. Was allerdings wenig glaubhaft war.

Serina könnte ihm niemals gleichgültig gegenüberstehen, genauso wenig wie er ihr.

Während Nicolas im Bad sein Waschzeug deponierte, schwor er sich, Australien erst wieder zu verlassen, wenn er sich ganz sicher sein konnte, wie er und Serina zueinanderstanden. Er würde sich in den nächsten Tagen Gewissheit darüber verschaffen, ob es noch irgendetwas Verbindendes zwischen ihnen gab. Zeit genug war vorhanden, immerhin hatte er das Apartment für eine ganze Woche gebucht. Bis dahin würde er die Antworten auf seine Fragen hoffentlich gefunden haben.

An diesem Freitagvormittag war Serina völlig unfähig, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie konnte an nichts anderes denken als an Nicolas, der bereits auf dem Weg nach Rocky Creek war und bald anrufen würde. Und zwar nicht Felicity oder Fred Tarleton, den Rektor von Felicitys Schule, sondern sie selbst.

Erst gestern am späten Abend hatte Felicity ihrer Mutter mitgeteilt, dass sie Nicolas Serinas Handynummer gegeben hatte. Aus Sorge, dass sie selbst womöglich nicht erreichbar sein könnte, weil in der Schule die Vorbereitungen für den Talentwettbewerb auf Hochtouren liefen.

Natürlich hatte Serina sofort gewusst, dass Widerspruch zwecklos war. Wenn es darauf ankam, konnte Felicity stur sein wie ein Maulesel. Außerdem hatte Nicolas um diese Zeit vermutlich ohnehin bereits im Flugzeug gesessen. Erst heute Morgen im Büro war Serina eingefallen, dass er wahrscheinlich eins von diesen supermodernen Handys hatte, mit denen man sogar im Flugzeug E-Mails empfangen konnte. Serina selbst hatte sich für neue Technologien nie sonderlich erwärmen können. Natürlich arbeitete sie im Büro am Computer und konnte gut damit umgehen, aber ihr Handy konnte nur das Nötigste. Und da sie zu Hause keinen eigenen Rechner hatte, surfte sie auch selten im Internet.

Im Gegensatz zu Felicity. Für ihre Tochter war der Computer eine Selbstverständlichkeit, Felicity surfte mit schlafwandlerischer Sicherheit im Netz und gelangte meistens sicher ans Ziel. In den vergangenen zwei Wochen hatte sie Serina mit allen möglichen Informationen über Nicolas bombardiert, angefangen von Konzerten, die er früher gegeben hatte, über seinen Erfolg als Produzent, bis hin zu seiner neuesten Entdeckung, einer jungen japanischen Geigerin namens Junko Hoshino, die nicht nur höchst talentiert, sondern auch noch eine Schönheit war. Die Boulevardpresse sah die beiden bereits als Paar.

Serina wusste in groben Zügen über Nicolas’ Berufsleben in den vergangenen zehn Jahren Bescheid. Irgendwann hatte sie im Fernsehen eine Sendung gesehen, in der es hauptsächlich um den Unfall gegangen war, der seine Laufbahn als Konzertpianist so jäh beendet hatte. Man bewunderte ihn dafür, dass er diese schwere Krise so tapfer gemeistert hatte, statt in Depressionen zu versinken, und es geschafft hatte, sich eine neue Karriere als Produzent aufzubauen.

Es war nicht ganz einfach gewesen, sich die Sendung zusammen mit Greg anzusehen. Serina hätte sie viel lieber aufgenommen – damit sie Nicolas wieder und wieder sehen konnte –, aber das hatte sie nicht gewagt. Natürlich wusste Greg, dass sie mit Nicolas zusammen gewesen war, obwohl sie die Sache immer heruntergespielt und behauptet hatte, eigentlich ganz froh gewesen zu sein, dass er seiner Karriere zuliebe ins Ausland gegangen war. Doch als Greg später an diesem Abend mit ihr schlafen wollte, hatte sie ihn vertrösten müssen, weil es ihr schlicht unmöglich gewesen war, sich ihrem Ehemann hinzugeben, solange die Erinnerung an Nicolas noch so frisch war.

Und heute war die Erinnerung an ihn ebenfalls frisch, weil sie gestern Abend auf Felicitys Computer einen Konzertmitschnitt aus der Royal Albert Hall gesehen hatte, den dieses unverbesserliche Mädchen entdeckt hatte. Er spielte Chopin, und natürlich war es vor seinem Unfall gewesen.

„Echt, Mum, das musst du dir ansehen. Komm schnell!“, hatte Felicity gedrängt.

Serina hatte sich überreden lassen, anfangs widerstrebend, dann jedoch war sie ganz und gar fasziniert gewesen.

Niemand hatte so wunderbar Klavier gespielt wie Nicolas.

Obwohl wahrscheinlich viele Pianisten technisch brillanter waren als er damals. Aber seine Leidenschaft und Hingabe, sein Charisma waren einzigartig.

Besonders die Frauen riss er mit. Das hatte sie an jenem schicksalhaften Abend vor dreizehn Jahren selbst spüren können. Und als sie ihn gestern wieder gehört hatte, hatte sie eine Gänsehaut bekommen.

„Ist das nicht traumhaft, Mum?“ Felicity war völlig aus dem Häuschen gewesen vor Begeisterung.

„Ja“, antwortete Serina ganz heiser.

„Und wenn man bedenkt, dass er jetzt keine Konzerte mehr geben kann! Mir sind fast die Tränen gekommen, als ich das von dem Unfall hörte. Aber was er gemacht hat, war echt mutig.“

„Ja“, pflichtete Serina ihrer Tochter ein weiteres Mal bei, diesmal mit etwas festerer Stimme. „Sehr mutig.“

Was auch stimmte. Irgendwann kurz nach dem Tod seiner Mutter war er spät nachts zu Fuß in der Londoner Innenstadt unterwegs gewesen, als ein vorbeifahrender Wagen aus der Kurve geschleudert wurde. Das Auto war mit hoher Geschwindigkeit gegen eine Mauer geprallt und prompt in Flammen aufgegangen. Nicolas war zur Unfallstelle gerannt und hatte die bewusstlose Fahrerin aus dem Wagen befreit. Die Frau war bereits in Sicherheit gewesen, als er das Baby schreien hörte. Die Rettung des Säuglings, der in seinem Kindersitz festgeschnallt war, hatte einige Zeit in Anspruch genommen. Dabei hatte er sich beide Hände verbrannt, die linke Hand so schlimm, dass der Daumen amputiert werden musste.

Die Sache, von den Medien damals breit ausgeschlachtet, war Serina schrecklich nahegegangen. Greg, der sie schluchzend im Schlafzimmer angetroffen hatte, hatte angenommen, dass sie weinte, weil sie nicht schwanger wurde, und sie hatte ihn in dem Glauben gelassen. Wie hätte sie ihm auch erklären sollen, dass sie in Wirklichkeit um Nicolas weinte?

Wieder einmal hatte sie sich schuldig gefühlt, wie so oft im Lauf ihrer Ehe. Das war – falls man das überhaupt so sagen konnte – das einzig Positive an Gregs Tod: Endlich war sie ihre Schuldgefühle los.

Dafür verspürte sie jetzt eine quälende Anspannung.

Zum hundertsten Mal wanderte ihr Blick zu der Uhr an der Wand. Erst Viertel nach zehn. Wenn er mit dem Auto aus Sydney kam, konnte er auf keinen Fall schon in Port sein. Aber vielleicht hatte er ja das Flugzeug genommen. Obwohl sie die Strecke noch nie geflogen war, wusste sie, dass gegen zehn eine Maschine aus Sydney landete. Wenn sie pünktlich war, würde Nicolas alles in allem etwa eine halbe Stunde brauchen, um sein Gepäck zu holen und zu seinem Hotel zu fahren. Was bedeutete, dass sie jederzeit mit seinem Anruf rechnen konnte.

Genau in diesem Moment klingelte das Telefon. Nicht das Festnetztelefon, sondern ihr Handy.

„Bestimmt ist er das!“, rief Allie vom Empfang aus.

„Dann kann er aber nicht mit dem Auto gekommen sein“, wandte Serina ein.

„Natürlich nicht!“, gab Emma ungeduldig von ihrem Schreibtisch aus zurück. „Ein Mann wie er fährt doch so eine lange Strecke nicht mit dem Auto, wenn er besser fliegen kann.“

Die beiden Mädchen waren bestens im Bilde über Nicolas’ Besuch – und über den Mann selbst natürlich ebenso – dank Felicity, die jeden zweiten Tag vorbeischaute, um sie auf dem Laufenden zu halten. Zum Glück waren Allie und Emma zu jung, um mit Serina oder Nicolas auf der Highschool gewesen zu sein, sodass Serina ihre Beziehung zu Nicolas ganz in ihrem Sinne darstellen konnte.

Aber das hielt Allie und Emma nicht davon ab sich auszumalen, wie sich das, was „bloß eine ganz normale Freundschaft“ zwischen Serina und dem berühmten Nicolas Dupre gewesen war, weiterentwickeln könnte, wenn sie sich jetzt wiedersahen. Die beiden hatten es sich nämlich schon seit einer geraumen Weile zur Herzensangelegenheit gemacht, Serina – zumindest verbal – mit jedem halbwegs passablen Junggesellen in Rocky Creek zu verkuppeln. Zum Glück gab es nicht allzu viele Kandidaten. Die meisten Männer in Serinas Alter waren entweder bereits vergeben oder schlicht zu unattraktiv in jeder Hinsicht.

Aber Serina hatte ohnehin kein Interesse. Sie wollte keinen Mann kennenlernen, und erst recht wollte sie nicht noch einmal heiraten. Das behauptete sie zumindest.

Nur dass Allie und Emma ihr nicht glaubten.

„Um Himmels willen, Serina“, sagte Allie. „Jetzt hören Sie schon auf, dieses blöde Handy anzustarren und gehen Sie endlich ran!“

Serina zuckte zusammen, bevor sie ihr Mobiltelefon aufnahm, das summend auf der Schreibtischplatte tanzte.

„Hallo?“, krächzte sie.

„Serina? Bist du das?“

Es war Nicolas. Seine Stimme war unverkennbar, dunkel und geschmeidig wie heiße Schokolade.

Serina, die einen Kloß im Hals hatte, räusperte sich. „Ja, ja, ich bin’s“, fuhr sie fort, in der Hoffnung, so ruhig und selbstbewusst zu klingen wie sonst auch. „Wo bist du denn?“

„In Port Macquarie.“

„Oh, dann bist du also geflogen. Und wo wohnst du?“

„In den Blue Horizons.“

Aber ja doch, die neuen Luxusapartments. Für Nicolas nur das Beste. Das war ihr schon in diesem Fernsehporträt aufgefallen.

„Schön. Und hattest du einen guten Flug?“, fragte sie, wohl wissend, dass Allie und Emma die Ohren spitzten.

„Ja, danke. Ich habe die ganze Zeit geschlafen.“

Was sie von sich in der letzten Nacht nicht behaupten konnte.

„Auf Langstreckenflügen nehme ich immer eine Schlaftablette“, ergänzte er. „Außerdem fliege ich Erster Klasse, das geht ganz gut.“

„Na prima.“

Serina verzog das Gesicht. Hatte das etwa gereizt geklungen? Hoffentlich nicht. Sie hatte sich nämlich fest vorgenommen, in Nicolas’ Gegenwart völlig ungerührt zu bleiben … zu erscheinen zumindest. Sie würde ihn einfach auflaufen lassen.

Aber das war letzte Nacht gewesen, und jetzt war jetzt. Plötzlich beschlich Serina das dumpfe Gefühl, dass sich im Moment der Begegnung mit Nicolas alle ihre guten Vorsätze in Luft auflösen würden. Es war schon schlimm genug, mit ihm zu telefonieren. Ihr Herz raste, und ihre Handflächen waren feucht.

Natürlich war es heiß heute, und laut Vorhersage sollte es noch heißer werden – bis sechsunddreißig Grad. Aber das Büro hatte eine moderne Klimaanlage. Es gab also nicht den geringsten Grund für feuchte Hände.

„Hast du dir einen Mietwagen genommen?“, wollte sie wissen.

Bitte sag Ja.

Ihn durch die Gegend fahren zu müssen wollte sie nämlich auf keinen Fall.

„Sicher“, gab er trocken zurück. „Diesmal aber einen Geländewagen. Die Lektion vom letzten Mal hat mir gereicht.“

„Lektion? Wieso?“

„Bei meinem letzten Aufenthalt hier hatte ich einen Sportwagen.“

„Ach ja, ich erinnere mich dunkel“, sagte sie. In dem gelben Flitzer, den er vor der Kirche geparkt hatte, war er aufgefallen wie ein bunter Hund. Die Mädchen hatten die Köpfe nach ihm verdreht, und die Jungs waren vor Neid erblasst. Greg hatte eine ironische Bemerkung fallen gelassen, während sie selbst es ignoriert hatte.

„Ich nehme an, die Straße nach Rocky Creek ist nicht besser geworden“, vermutete Nicolas.

„Ich fürchte, da hast du recht“, gab sie zurück.

„Port hat sich ja ganz schön verändert.“

„Nun, es ist lange her, Nicolas. Alles ändert sich.“

„Und manches nicht zu seinem Vorteil“, erwiderte er. „Hör zu, ich dusche nur schnell und zieh mir was Leichteres an, dann komme ich rüber nach Rocky Creek, damit du mir zeigen kannst, wo ich morgen hin muss. Und anschließend könnten wir ja vielleicht essen gehen.“

„Essen?“ Sie kreischte fast, aber sie merkte es zu spät. Als ihr Blick zu Allie und Emma flog, sah sie, dass beide zustimmend nickten. Da wurde ihr klar, dass es ziemlich unklug wäre, seine Einladung auszuschlagen.

„Oder passt es dir nicht?“, fragte er bereits.

Sie wand sich. „Na ja … ich bin im Moment in der Firma.“

„Ah, immer noch die alte Holzhandlung. Aber bestimmt bist du doch inzwischen dein eigener Boss? Oder hat sich dein Vater wieder erholt?“

Serina schluckte. „Nein … Dad … er ist vor zwei Jahren gestorben. Nach einem zweiten Schlaganfall.“

„Das tut mir leid, Serina“, sagte er weich. „Ich weiß, wie sehr du ihn geliebt hast. Wie geht es deiner Mum?“

Serina blinzelte überrascht. So viel Mitgefühl hätte sie ihm gar nicht zugetraut – jedenfalls nicht nach ihrer letzten Begegnung, wo er so voller Zorn und Bitterkeit gewesen war. Damals war er die Unversöhnlichkeit in Person gewesen. Vielleicht irrte sie sich ja, und er war aus einem ganz anderen Grund gekommen. Vielleicht war er duldsamer geworden im Lauf der Zeit. Oder hatte längst vergessen, was sie ihm damals angetan hatte.

Sie hoffte es. Sie hoffte es wirklich.

„Ich glaube, sie war fast erleichtert, dass Dad es hinter sich hatte“, antwortete sie. „Das war einfach kein Leben mehr für ihn. Er war ja am ganzen Körper gelähmt und konnte nicht mal mehr sprechen. Und die Therapien haben nicht angeschlagen, weil das Gehirn schon zu geschädigt war.“

„Das tut mir leid, das wusste ich nicht.“

Nun, woher auch? Er hatte ja nie gefragt. Und sie hatte ihm nie etwas erzählt. Schließlich hatten sie seit jener Nacht, in der Felicity gezeugt worden war, keinen Kontakt mehr gehabt und bei ihrem kurzen Wiedersehen in der Oper nicht eben viel gesprochen.

Oh, warum muss ich jetzt ausgerechnet an diese Nacht denken?

In Serinas Kopf wirbelte alles durcheinander. Was hatte er eben gefragt? Irgendetwas wegen ihrer Mutter. Ach ja …

„Mum geht es gut“, sagte sie eilig. „Sie hat die alte Farm verkauft und ist in ein neues Seniorendorf hier ganz in der Nähe gezogen. Sie arbeitet sogar wieder stundenweise in der Firma mit und blüht richtig auf dabei. Das ist gut, weil ich auf diese Weise mehr Zeit mit Felicity verbringen kann.“ Sie fügte nicht hinzu, dass sich das alles erst nach Gregs Tod entwickelt hatte, als sie selbst vor Kummer eine Weile arbeitsunfähig gewesen war.

Sie hatte ihren Mann geliebt. Vielleicht nicht mit derselben Leidenschaft wie Nicolas, aber es war eine aufrichtige und tiefe Zuneigung gewesen.

Gleichwohl musste Serina zugeben, dass sie eine seltsame Erleichterung verspürt hatte, nachdem der erste Schock überwunden und ihre Trauer etwas abgeklungen war. Eine ähnliche Erleichterung hatte wahrscheinlich ihre Mutter nach dem Tod ihres Mannes empfunden. Ihrer Mutter hatte die hoffnungslose Situation so schwer zu schaffen gemacht, während Serina zerfressen gewesen war von Schuldgefühlen.

Nun, da sie verwitwet war, hatte sie geglaubt, dass dieses große Geheimnis, das sie mit sich herumtrug, sicher war.

Bis jetzt …

Was mochte in Nicolas vorgehen, wenn er Felicity am Klavier sah? Das würde spätestens morgen der Fall sein. Zum Glück hatte ihre Tochter noch immer keinerlei äußerliche Ähnlichkeiten mit ihrem leiblichen Vater. Nur am Klavier hatte sie gewisse Eigenarten entwickelt – Eigenarten, die Serina von anderer Seite schmerzlich vertraut waren. Die temperamentvolle Geste, mit der sie die Tasten anschlug, der Schwung, mit dem sie am Ende eines Stücks die Hände in die Luft warf, die eigenwillige Art, wie sie beim Spielen den Kopf neigte …

Nun gut, das war eine Sorge, aber mehr auch nicht.

Gerade als sie anfing, sich langsam zu entspannen, fuhr Nicolas fort: „Könnte dich deine Mum nicht vielleicht heute für ein paar Stunden vertreten?“

„Oh … äh … nein, das geht nicht. Sie muss Mrs. Johnson nach Newcastle zu einem Herzspezialisten fahren.“

„Geht es Mrs. Johnson nicht gut?“

„Doch, eigentlich sogar erstaunlich gut. Aber sie wird eben nicht jünger. Vor ein paar Wochen wurde ihr plötzlich schwindlig, und da riet Mum ihr, mal ein paar Untersuchungen machen zu lassen. Die beiden werden heute erst spät zurück sein.“

„Ich verstehe. Dann bist du also für den Rest des Tages unabkömmlich?“

„Nein, nein, für ein Weilchen kann ich schon mal verschwinden“, ruderte sie eilig zurück, als sie sah, wie Emma und Allie die Augen verdrehten. „Ich bin ja nicht allein hier im Büro, außerdem ist so kurz vor Weihnachten sowieso nicht viel los.“

„Na prima. Dann schlage ich vor, wir sehen uns in etwa einer Stunde. Ich nehme an, die Holzhandlung ist immer noch am selben Ort, am Ende der Hauptstraße links, hinter der Autowerkstatt.“

„Stimmt.“ Um Serinas Mundwinkel spielte ein Lächeln. Seit Nicolas’ letztem Besuch in Rocky Creek vor zehn Jahren hatte sich der Ort – einschließlich ihrer Firma – mächtig verändert. Sie freute sich schon jetzt auf sein überraschtes Gesicht.

„Aber du hast dich auch verändert“, murmelte sie schon nicht mehr ganz so amüsiert in sich hinein, als sie sich wenig später im Spiegel über dem Waschbecken musterte.

Oberflächlich betrachtet war sie immer noch eine attraktive Frau. Sie hatte kaum zugenommen, und ihr dunkles Haar wies keine Spur von Grau auf. Aber ihre Haut hatte den Glanz der Jugend eingebüßt, in ihren Augenwinkeln nisteten kleine Fältchen. Und jetzt, wo sie ganz genau hinschaute, sah sie, dass die Haut um die Kinnpartie definitiv leicht erschlafft war.

Serina drückte die Handflächen an die Wangen und zog die Haut straff. Die New Yorker Karrierefrauen lösten dieses Problem kurzerhand mit Faceliftings und dem Einsatz von Botox.

Mit einem Seufzer ließ Serina die Hände sinken. Wie albern sie war. Wie eitel. Und das alles nur wegen Nicolas.

Normalerweise trug sie im Büro kaum Make-up, höchstens etwas Wimperntusche und einen Hauch Lippenstift. Heute Morgen aber war sie der Versuchung erlegen und hatte sich sorgfältig geschminkt. Außerdem hatte sie eins von den neuen Kleidern angezogen, die sie sich letztes Wochenende – in Erwartung von Nicolas’ Besuch – in Port Macquarie gekauft hatte.

Einfach nur, weil sie nicht wie ein Landei aussehen wollte, sondern so vorteilhaft wie möglich. Das verlangte ihr weiblicher Stolz.

Mit zitternder Hand zog sie sich die Lippen nach. Und erstarrte, als sie im Spiegel ihre leuchtenden Augen sah.

Oh, Serina, pass bloß auf.

Alles ändert sich, hatte sie eben zu Nicolas gesagt. Nur eins hatte sich nicht geändert und würde sich auch nie ändern: Sie wollte ihn immer noch.

Aber das musste ihr Geheimnis bleiben. Er durfte es auf keinen Fall erfahren. Weil man nicht wissen konnte, was passierte, wenn er es erfuhr.

4. KAPITEL

Nicolas, in Gedanken immer noch bei dem Telefonat mit Serina, achtete nicht sonderlich auf seine Umgebung, als er sich auf den Weg nach Rocky Creek machte. Schließlich kannte er die Strecke noch in- und auswendig.

So wie es schien, hatte sein Besuch Serina keine schlaflosen Nächte bereitet. Es war nur allzu deutlich, dass sie nichts mit ihm zu tun haben wollte und seine Essenseinladung nur der Höflichkeit halber angenommen hatte.

Und ihrer Tochter zuliebe, weil diese wahrscheinlich enttäuscht wäre, wenn Serina ihm die kalte Schulter zeigte.

Nicolas lächelte, als er an Felicitys E-Mails dachte. So ein reizendes, intelligentes Mädchen. Und allem Anschein nach ziemlich eigenwillig. Was für eine alleinerziehende Mutter keine einfache Aufgabe war. Irgendwie glaubte er zu wissen, dass Felicity stets mit aller Macht versuchen würde, ihren Dickkopf durchzusetzen.

Mit eigenwilligen Kindern kannte er sich aus, er war schließlich selbst so ein Kind gewesen.

Seine Mutter hatte es aufgegeben, ihm ihren Willen aufzuzwingen, seit er dreizehn Jahre alt war. Ab diesem Zeitpunkt war er für sich selbst verantwortlich gewesen, und meistens hatte er seine Sache gar nicht so schlecht gemacht.

Nur bei Serina hatte er versagt. Er hatte sie zweimal gehen lassen. Beim ersten Mal war es Schicksal gewesen. Nachdem ihr Vater einen Schlaganfall gehabt hatte, wäre es für sie sehr schwierig geworden wegzugehen. Das konnte er im Nachhinein verstehen und auch, dass sie sich aus Einsamkeit in die Arme eines anderen Mannes geflüchtet hatte. Er hatte schließlich selbst ebenfalls nicht wie ein Mönch gelebt.

Doch beim zweiten Mal hatte er schlicht versagt. Er hätte nicht lockerlassen dürfen, was immer sie ihm in diesem Brief auch geschrieben hatte. Er hätte sofort nach Rocky Creek fahren und verhindern müssen, dass sie Greg heiratete, und zwar indem er ihr selbst einen Heiratsantrag machte. Er hätte Himmel und Hölle in Bewegung setzen müssen, um sie wieder für sich zu gewinnen.

Weil er sie damals natürlich immer noch geliebt hatte.

Selbst heute begehrte er sie noch, obwohl er das kaum glauben konnte.

„Diesmal lässt du sie nicht wieder durch die Maschen schlüpfen, Nick, alter Junge“, brummte er.

Auch wenn kaum zu erwarten war, dass Serina ihm heute wieder so in die Arme fallen würde wie damals in Sydney. Dreizehn Jahre waren seitdem vergangen, dreizehn lange Jahre, und zehn Jahre seit ihrer letzten Begegnung … mit ihrem lauernden Ehemann im Hintergrund.

Aber jetzt gab es keinen Ehemann mehr. Nichts, was sein Gewissen belasten könnte, wenn er versuchte, sich ihr wieder zu nähern.

Die Serina, mit der er eben telefoniert hatte, wirkte weit selbstsicherer als das junge Mädchen, das vor so vielen Jahren bereitwillig in seine Arme gekommen war.

Und doch war sie immer noch Serina. Wahrscheinlich ging sie davon aus, dass es zwischen ihnen längst vorbei war. Aber da irrte sie sich. Er würde das junge Mädchen in ihr wach küssen – das Mädchen, das – zumindest beim Sex – niemals Nein gesagt hatte.

Als er sich daran erinnerte, wie es zwischen ihnen gewesen war, reagierte sein Körper prompt. Anfangs war ihr Liebesspiel noch vorsichtig, tastend gewesen, aber mit der Zeit waren sie wagemutiger geworden, und ab einem bestimmten Zeitpunkt hatten sie manchmal keine Grenzen mehr gekannt. Wenn er übers Wochenende nach Hause gekommen war und Serinas Eltern auf dem Golfplatz waren, hatten sie sich an jedem noch so ungewöhnlichen Platz des alten Farmhauses geliebt – nur das Schlafzimmer von Serinas Eltern war tabu gewesen.

Aber nie hatten sie voneinander lassen können.

Nur deshalb war sie damals, kaum einen Monat vor ihrer Hochzeit, nach diesem Konzert zu ihm in die Garderobe gekommen. Um ihn ein letztes Mal zu spüren. Um sich ein letztes Mal mit ihm zu verlieren.

Irgendwann hatte sie das, was zwischen ihnen war, zerstörerisch genannt.

Und vielleicht stimmte das ja. Weil es ihm in all den Jahren nicht gelungen war, mit einer anderen Frau wirklich glücklich zu werden. So wie auch Serina mit ihrem Mann nicht wirklich glücklich gewesen war, zumindest argwöhnte er das.

Himmel, das war ja nicht auszuhalten. Er musste sofort aufhören, an den Sex mit Serina zu denken.

Das Thermometer zeigte inzwischen fast dreißig Grad. Im ungemütlichen London war Nicolas mit Anzug, Kaschmirmantel und Schal bekleidet ins Flugzeug gestiegen. Als er beim Zwischenstopp in Sydney über das heiße Rollfeld gegangen war, hatte er nur noch seinen Anzug getragen. Und in Port Macquarie war es noch heißer. Deshalb hatte er sich nach dem Duschen eine leichte Hose und ein ebenso leichtes Hemd angezogen.

Beim Einsteigen in seinen Mietwagen hatte er sich erfrischt und relativ entspannt gefühlt.

Doch das war schon wieder vorbei.

Das Gesicht verziehend beugte er sich vor und drehte die Klimaanlage bis zum Anschlag auf. Der kalte Luftstrom bewirkte, dass er zumindest einen klaren Kopf bekam.

Vor ihm ragte Wauchope auf, die Nachbarstadt von Rocky Creek. Er hatte in Wauchope die Highschool besucht, und die meisten Leute aus Rocky Creek fuhren hierher zum Einkaufen. Nachdem er die Innenstadt erreicht hatte, konnte er so große Veränderungen wie in Port Macquarie hier allerdings nirgends entdecken. Der Bahnübergang war immer noch derselbe, und auch an der Hauptstraße hatte sich eigentlich nichts verändert. Erst am Ortsausgang sah er, dass sich mehr Häuser am Highway entlangzogen als zu seiner Zeit. Und auf der anderen Seite von Timber Town, einem Touristenpark, war ein neues Einkaufszentrum entstanden.

Früher hatte Wauchope seinen Wohlstand allein dem Holz aus den umliegenden Wäldern zu verdanken gehabt. Die Bäume waren gefällt worden, bevor man sie auf Ochsenkarren durch die Berge hinunter zum Hastings River transportiert hatte, wo sie auf Frachter verladen und nach Port Macquarie verschifft worden waren. Aber das war lange her. Im Touristenpark von Timber Town konnte man die alten Routen jedoch immer noch besichtigen und alle möglichen Holzprodukte kaufen.

Nicolas dachte gerade an die große hölzerne Salatschüssel, die er seiner Mutter irgendwann zum Geburtstag geschenkt hatte, als er merkte, dass er die Abzweigung nach Rocky Creek verpasst hatte. Fluchend hielt er an, wendete und fuhr ein Stück zurück, bis er wieder an der Kreuzung war, die in Richtung Heimat führte.

Nein, nicht in Richtung Heimat, korrigierte er sich. Rocky Creek war niemals seine Heimat gewesen.

Nicolas war in Sydney geboren und dort bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr aufgewachsen. Seine Existenz verdankte er einer kurzen Affäre, die seine Mutter – damals als Kostümbildnerin an der Oper tätig – mit dem Dirigenten eines schwedischen Sinfonieorchesters gehabt hatte. Dass zu Hause Frau und Kinder auf ihn warteten, war für den Mann kein Hinderungsgrund gewesen, sich auf Konzertreisen nach Lust und Laune auszutoben.

Und so fielen seine Blicke auf Madeline Dupre, die auch mit vierzig noch eine attraktive Frau war. Nur in der Liebe hatte sie kein Glück gehabt, sodass ihr das Interesse des schwedischen Gastdirigenten sehr schmeichelte. Als sie sich einige Wochen später am Flughafen von ihm trennte, war sie schwanger, ohne ihm etwas davon zu sagen. Die Entscheidung für das Kind hatte sie bewusst getroffen, obwohl ihr damals noch nicht klar gewesen war, wie schwer es war, ein Kind allein großzuziehen – besonders ein so eigenwilliges wie Nicolas.

Nach Nicolas’ Geburt kündigte sie ihre Stelle an der Oper und arbeitete freiberuflich als Schneiderin, weil sie auf diese Weise zu Hause arbeiten und sich um ihren Sohn kümmern konnte.

Für eine alleinerziehende Mutter war Sydney jedoch ein hartes Pflaster. Madelines Eltern lebten nicht mehr, und ihr einziger Bruder, der im Westen wohnte, ließ nur selten von sich hören. Freunde hatte sie auch kaum mehr, seit sie ihre Arbeit an der Oper aufgegeben hatte, und so wurde es einsam um sie herum. Sie hatte nur noch ihren Sohn, der von Tag zu Tag selbstständiger und eigenwilliger wurde.

Mit elf drohte Nicolas ihrer Kontrolle gänzlich zu entgleiten, deshalb griff sie ohne zu zögern zu, als sich ihr die Gelegenheit bot, in eine ländliche Gegend zu ziehen. Sie hoffte, ihren Sohn so von den schädlichen Einflüssen der Großstadt fernzuhalten.

Aber Nicolas war unbeschreiblich wütend gewesen. Er war ein echter Großstadtjunge, für den es undenkbar war, irgendwo in der tiefsten Provinz zu leben und auf eine Schule zu gehen, die noch nicht einmal sechzig Schüler hatte. Deshalb lehnte er sich immer wieder auf.

Bis Mrs. Johnson – und ihr Klavier – in sein Leben traten.

Die unverheiratete, kinderlose Mrs. Johnson bewohnte das Haus neben dem kleinen Cottage, das Nicolas’ Mutter in Rocky Creek gekauft hatte. Sie war eine ehemalige Konzertpianistin, die sich mittlerweile ihren Lebensunterhalt mit Klavierstunden verdiente. Da sie diese Klavierstunden in einem Zimmer gab, dessen Fenster nur durch einen Gartenzaun von Nicolas’ Schlafzimmerfenster getrennt war, war Nicolas gezwungen, tagein, tagaus das Klavierspiel mit anzuhören.

Was ihn – der bis dahin ein eingefleischter Rock- und Heavy-Metal-Fan gewesen war – zu seiner größten Überraschung nicht störte, sondern vielmehr faszinierte. Diese Faszination ging schließlich so weit, dass er selbst Klavierstunden nehmen wollte.

Da sich Madeline Dupre aber die Klavierstunden für ihren Sohn nicht leisten konnte, vereinbarte sie mit Mrs. Johnson ein Tauschgeschäft: Sie nähte der Klavierlehrerin kostenlos ihre Kleider, und Nicolas bekam im Gegenzug Klavierunterricht. Außerdem durfte Nicolas auf Mrs. Johnsons Klavier üben, wann immer er wollte, und schon bald wurde Mrs. Johnson klar, dass sie ein Wunderkind unterrichtete.

Bald nutzte Nicolas jede Gelegenheit zum Üben und machte ganz erstaunliche Fortschritte. In seinem letzten Jahr an der Highschool bewarb er sich um ein Stipendium für das Konservatorium in Sydney und wurde angenommen.

Mrs. Johnson war genauso stolz auf ihn wie seine Mutter, ansonsten aber interessierte sich in Rocky Creek kaum jemand für sein Talent. Da er sich weder für Sport noch für Mädchen begeisterte, war er auch in der Schule immer ein Außenseiter geblieben. Für ihn hatte es nur das Klavier gegeben.

Bis Serina gekommen war …

Schon wieder Serina …

Nicolas holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Schwer zu sagen, wer da eigentlich wen verführt hatte in jener ersten Nacht. Serina war nach ihren eigenen Worten schon seit Jahren heimlich in ihn verliebt gewesen. Aus diesem Grund hatte sie ihre Klavierstunde nach seiner gelegt, damit sie ihn noch spielen hören konnte, während sie in Mrs. Johnsons Wohnzimmer wartete.

Auch Serina war ziemlich musikalisch gewesen, von daher war es auch wenig überraschend, dass ihre Tochter ebenfalls ihre Liebe zum Klavier entdeckt hatte. Felicity wurde auch von Mrs. Johnson unterrichtet, doch die alte Dame musste inzwischen ein fast biblisches Alter erreicht haben.

Nun, über achtzig war sie auf jeden Fall. Nicolas hatte sie schon vor zwanzig Jahren auf über sechzig geschätzt. Aber wenn man jung war, hielt man jeden über vierzig für alt.

Und jetzt war er selbst fast vierzig. Die Jahre flogen nur so vorbei … Wie diese holprige Straße.

Ein Schlagloch ermahnte ihn, vom Gas zu gehen und sich aufs Fahren zu konzentrieren. Und wenig später zwangen ihn mehrere Haarnadelkurven, sein Tempo noch weiter zu verlangsamen.

Rocky Creek war immer ein hübsches Städtchen gewesen und darüber hinaus auch verkehrsgünstig gelegen. Trotzdem war und blieb es in seinen Augen ein verschlafenes Provinznest. Hier blühte der Klatsch und jeder wusste alles von jedem – eine Horrorvorstellung für Nicolas, der die Anonymität der Großstadt eindeutig vorzog. Er konnte sich nicht vorstellen, jemals wieder woanders zu leben als in einer Großstadt.

Und was willst du dann hier, Nicolas? provozierte ihn eine leise Stimme in seinem Hinterkopf.

Serina liebt dich nicht mehr, außerdem würde sie sowieso nie mit dir fortgehen, das weißt du genau. Sie lebt schon immer in Rocky Creek und ist hier ebenso fest verwurzelt wie ihre Tochter.

Du verschwendest nur deine Zeit.

Das war die bittere Wahrheit. Aber es gab noch eine weitere Wahrheit, der er sich stellen musste, dem tatsächlichen Grund dafür, warum er dieses luxuriöse Apartment gemietet hatte.

Weil er Serina wenigstens noch ein allerletztes Mal in seinen Armen halten wollte. Er musste es einfach.

Nicolas schaute auf seine praktisch gefühllose, mit Narben bedeckte linke Hand, während er sich in Erinnerung rief, was er gefühlt hatte, als ihm klar geworden war, dass seine Karriere als Pianist unweigerlich beendet war. In diesem Moment hatte ihn eine tiefe Verzweiflung gepackt und lange Zeit nicht mehr losgelassen. Bis ihm nichts anderes übrig geblieben war, als sein Schicksal zu akzeptieren.

Und eine ähnliche Situation war das jetzt auch. Letzten Endes musste er sich damit abfinden, dass Serina für ihn verloren war. Aber er konnte wenigstens versuchen, noch ein letztes Mal mit ihr zusammen zu sein, wenn auch nur für ein paar Stunden.

Die Innenstadt von Rocky Creek entlockte ihm ein Staunen. Hier hatte sich nahezu alles verändert! Unzählige neue Geschäfte hatten aufgemacht, überall gab es Straßencafés mit Tischen und Sonnenschirmen. Sogar der Kolonialwarenladen von 1880 hatte ein modernes Outfit bekommen.

Die Metzgerei hingegen war praktisch noch dieselbe, genauso die Bäckerei.

Alles wirkte heller, freundlicher und lebendiger.

Die alte Autowerkstatt am Ende der Hauptstraße war ebenfalls extrem modernisiert worden. Doch das war noch gar nichts gegen die bahnbrechenden Veränderungen, die „Ted Brown’s Lumber Yard“ erfahren hatte.

Sogar umgetauft hatte man die alte Holzhandlung. Auf dem Schild über dem Eingang prangte in kühnen roten Lettern „Brown’s Landscaping and Building Supplies“. Das früher in einem maroden Schuppen untergebrachte Büro befand sich jetzt in einem eleganten neuen Gebäude. Rechts davon lagerten riesige Kies-, Sand- und Mulchhaufen in allen möglichen Variationen. Linkerhand türmten sich Steine in großer Auswahl, Backsteine, Pflastersteine, Bodenplatten, Kacheln, einfach alles, was man sich vorstellen konnte. Und dort, wo man früher bei Regen knöcheltief durch den Schlamm waten musste, gab es heute einen geteerten Platz mit fein säuberlich markierten Parkbuchten. Hinter dem Gebäude lagerte mindestens zweimal so viel Holz wie früher.

Um Nicolas’ Mundwinkel spielte ein trockenes Lächeln, als er den Geländewagen auf dem Parkplatz abstellte. Serina hätte ihn ruhig vorwarnen können. Aber wahrscheinlich freute sie sich diebisch über seine Überraschung.

Plötzlich schoss ihm ein nicht besonders netter Gedanke durch den Kopf.

Womöglich war Rocky Creek ja nicht das einzige, was sich so stark verändert hatte. Immerhin waren seit seinem letzten Besuch hier zehn Jahre ins Land gegangen. Vielleicht gab es ja auch die Serina, an die er sich erinnerte, gar nicht mehr. Vielleicht war sie mollig geworden und hatte ihr schönes Haar der Schere geopfert. Und trug zu allem Überfluss auch noch Jogginganzüge aus Polyester.

„Niemals“, brummte er in sich hinein, während er den Motor abstellte. Serina war nie eine Frau gewesen, die sich gehen ließ, und daran würde sich auch nichts ändern. Sie war eine Perfektionistin, genau wie er selbst. Man brauchte sich nur anzuschauen, was sie aus der alten Holzhandlung gemacht hatte. Eine Frau mit einem so ausgeprägten Geschmackssinn würde immer auf ihre Erscheinung achten.

Erleichtert über diese logische Schlussfolgerung öffnete Nicolas die Fahrertür und prallte fast zurück, als ein Hitzeschwall ins Wageninnere schwappte.

Himmel, was für Temperaturen! Wie hatte er solche Sommer bloß je ertragen können?

Als er die angenehm kühle Eingangshalle betrat, verzog die junge Frau am Empfangstresen das runde Gesicht zu einem freundlichen Lächeln.

„Oh, Sie müssen Mr. Dupre sein!“

„Das stimmt, hallo.“

„Hallo! Ich bin Allie. Er ist da, Serina“, rief sie über die Schulter in das offene Büro.

Nicolas trat an den Tresen und schaute in die Richtung, in die Allies Blick wies.

Und da war sie.

Seine Serina. Sie saß an einem großen sonnenüberfluteten Schreibtisch aus Holz.

Ihm blieb fast das Herz stehen, als sie aufstand und quer durch den Raum auf ihn zukam. Ihre Figur hatte sich um keinen Deut verändert. Sie sah noch genauso aus wie bei der Beerdigung seiner Mutter vor zehn Jahren: atemberaubend weiblich und wunderschön.

Heute trug sie kein Schwarz, sondern leuchtende Farben. Ein smaragdgrünes, ärmelloses Kleid mit eckigem Ausschnitt, das am Saum mit großen bunten Blüten bedruckt war. Der breite weiße Gürtel betonte ihre schlanke Taille. Ihr fast schulterlanges Haar schwang bei jeder Bewegung wie ein dunkler glänzender Vorhang über ihren Schultern.

Das einzige, was sich verändert hatte, war ihr Gesicht. Es war das Gesicht einer reifen selbstbewussten Frau, die entschlossen war, sich vom Schicksal nicht unterkriegen zu lassen. Und erst recht, sich von einem Verflossenen nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Ihre Augen blickten kühl, während sie auf ihn zukam. Um den Mund herum glaubte Nicolas einen Anflug von Gereiztheit zu entdecken.

„Du bist schneller als ich dachte“, sagte sie.

„Ich konnte es kaum erwarten. Rocky Creek hat sich ja mächtig gemacht. Es ist wirklich wunderschön geworden. Und du bist auch wunderschön“, fügte er mit Blick auf ihren Mund hinzu – denselben Mund, der schon jeden Quadratzentimeter seines Körpers liebkost hatte.

Sie presste die Lippen noch entschlossener aufeinander. „Du siehst auch gut aus“, erwiderte sie steif. „Hör zu, ich hole nur rasch meine Handtasche, dann gehen wir rüber zur Schule, damit ich dich dort allen vorstellen kann.“

„Ja gern.“ Er war sich nicht sicher, wie er ihre abwehrende Haltung interpretieren sollte. „Und was hältst du davon, wenn wir anschließend zum Essen nach Port fahren und ein bisschen an alte Zeiten anknüpfen?“, fühlte er vor, bevor er sich lächelnd an Allie und eine zweite junge Frau wandte, die er soeben erst entdeckt hatte, und hinzufügte: „Wenn ich Sie mir so ansehe, bin ich sicher, dass Sie für den Rest des Tages auch ohne Ihre Chefin zurechtkommen, stimmt’s?“

„Aber klar doch“, schallte es ihm unisono entgegen.

„Wunderbar“, erwiderte er, ohne sich um Serinas finstere Miene zu scheren.

„Also, wo ist deine Handtasche?“, fragte er immer noch lächelnd, weil sie wie angewurzelt dastand. Sie atmete tief durch, bevor sie auf dem Absatz kehrtmachte und zurückging an ihren Schreibtisch.

„Ich bin übrigens Emma“, erklärte die hinzugekommene junge Frau mit der hellblonden Stachelfrisur ein wenig zu herzlich.

Sie war die attraktivere von beiden, auch wenn der dunkle Haaransatz verriet, dass sie keine echte Blondine war.

„Nett, Sie kennenzulernen, Emma“, erwiderte er und fuhr an beide gewandt fort: „Und ich heiße Nicolas. Sind Sie morgen auch mit von der Partie?“

„Na, was denken Sie denn? Das ist doch ein echtes gesellschaftliches Ereignis. Ganz Rocky Creek kommt und dazu noch viele Leute von außerhalb. Felicity macht schließlich nicht umsonst schon seit Wochen mit Unmengen von Handzetteln Werbung.“

„Und alles auf meine Kosten“, brummte Serina, die sich wieder zu Nicolas gesellt hatte.

„Also los, gehen wir.“

„Viel Spaß! Bis morgen dann, Nicolas“, flötete Emma.

„Ja, ich freue mich, bis morgen“, gab er zurück.

Mit zusammengebissenen Zähnen verließ Serina mit Nicolas das Büro. Ein Sonntagsspaziergang würde der heutige Tag nicht werden, das war ihr nur allzu deutlich bewusst.

„Ich hatte ganz vergessen, wie heiß es hier im Sommer werden kann“, bemerkte Nicolas. „Ich hätte mir kurze Hosen anziehen sollen.“

Mit seiner Bemerkung lenkte er ihren Blick nicht nur auf seine elegante beigefarbene Beinkleidung, sondern auf seine gesamte Erscheinung. Gut gehalten hatte er sich ja, das musste sie zugeben. Er war hochgewachsen und immer noch genauso schlank wie früher, und auch seinem Gesicht hatten die vergangenen Jahre nichts anhaben können. Allein um Augen und Mund zogen sich ein paar Falten, aber die machten ihn nur noch attraktiver. Das leicht gewellte blonde Haar reichte ihm wie früher über den Hemdkragen. Serina hatte fast vergessen, wie unverschämt lang und dicht seine Wimpern und wie sagenhaft blau seine Augen waren. Diese Augen, die vor so vielen Jahren ihr Mädchenherz hatten höher schlagen lassen.

Jetzt hatte sie Herzrasen. Und zwar seit dem Moment, in dem er das Büro betreten hatte.

Ihre unerwünschte Reaktion auf ihn ärgerte sie beträchtlich. Eigentlich müsste sie es doch im Lauf der Jahre gelernt haben, sich zu kontrollieren. Und vernünftiger geworden sein sollte sie auch. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass sich ihre Gefühle nicht allzu offen auf ihrem Gesicht zeigten.

„Es gibt Schlimmeres als die Hitze“, gab sie hölzern zurück. „Aber der hat doch bestimmt eine Klimaanlage, oder?“ Sie deutete mit dem Kopf auf den Geländewagen.

Autor

Miranda Lee
Miranda Lee und ihre drei älteren Geschwister wuchsen in Port Macquarie auf, einem beliebten Badeort in New South Wales, Australien. Ihr Vater war Dorfschullehrer und ihre Mutter eine sehr talentierte Schneiderin. Als Miranda zehn war, zog die Familie nach Gosford, in die Nähe von Sydney.

Miranda ging auf eine Klosterschule. Später...
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