Julia Bestseller Band 173

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IM BANN DER GEFÜHLE von WEST, ANNIE
Ihre süßen Küsse, ihr duftendes Haar … Als Alessandro die schöne Brünette auf dem Maskenball sieht, spürt er: Er kennt sie aus der Zeit vor seinem Unfall, der ihm jede Erinnerung nahm. Doch ihr Blick ist nicht voller Sehnsucht wie seiner, sondern voller Wut und Angst. Warum?

WIE EIN TRAUM AUS 1001 NACHT von WEST, ANNIE
Ein Prachtgestüt im wildromantischen Arabien und ein Scheich, der sie heiraten möchte! Für Pferdetrainerin Maggie könnte ein Traum wahr werden, wenn sie Khalid Bin Shareef ihr Jawort gibt. Aber Khalid plant nur eine Zweckehe, weil sie seinen Erben unter dem Herzen trägt!

HEIß WIE DIE SONNE GRIECHENLANDS von WEST, ANNIE
Mehr als eine heiße Affäre unter griechischer Sonne will der Reeder Damon Savakis nicht von Angelina. In seinen Augen ist sie ein sexy Partygirl - keine Frau für immer. Bis er sie zu einem Traumurlaub ans Meer entführt und sie von einer ganz anderen Seite kennenlernt …


  • Erscheinungstag 15.04.2016
  • Bandnummer 0173
  • ISBN / Artikelnummer 9783733707309
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Annie West

JULIA BESTSELLER BAND 173

1. KAPITEL

Alessandro verschwendete kaum einen Blick an das Werbematerial, das er in den Papierkorb warf. Seine neueste Assistentin hatte noch immer nicht begriffen, was genau ihm vorgelegt werden sollte und wofür er keine Zeit hatte.

Die Textilmanufaktur seiner Unternehmensgruppe belegte einen großen Stand auf der nächsten Handelsmesse, aber darum konnte sich einer seiner Manager kümmern. Es brauchte wohl kaum den Geschäftsführer, um …

Oddio mio!

Das Konterfei einer lächelnden jungen Frau erregte plötzlich doch seine Aufmerksamkeit. Ein kleines Muttermal, dunkel wie ein Schönheitsfleck, lenkte den Blick auf einen weichen, einladenden Mund, dessen Lippen jeder Mann spontan anziehend finden musste.

Das Blut strömte schneller durch Alessandros Adern. Dieses Lächeln, diese Lippen. Es war nicht nur sexuelles Interesse, das seinen Puls in die Höhe trieb, sondern eine Beinahe-Erinnerung, die sich in seinem Unterbewusstsein regte. Und ein süßer Geschmack nach Sommerkirschen, vollmundig und absolut süchtig machend.

Ihm wurde heiß, trotz der sorgfältig eingestellten Klimaanlage in seinem geräumigen Büro. Die Spur einer Emotion hielt den Atem fest in seiner Lunge verschlossen. Mühsam zwang Alessandro sich, dieses Gefühl einfach kommen und wieder gehen zu lassen und es nicht hartnäckig zu analysieren.

Ganz sachte wurde der dichte Schleier, der über diesen fehlenden Monaten von vor zwei Jahren lag, gelüftet. Er teilte sich, erlaubte einen verschwommenen Blick, ein diffuses Gefühl, und fiel wieder zusammen.

Frustriert ballte Alessandro seine Hände zu Fäusten und stützte sich mit den Fingerknöcheln an seinem schweren Glastisch ab. Er spürte keinen Schmerz, nur diese ärgerliche, vertraute Leere in seinem Verstand.

Ausschließlich vor sich selbst gestand er sich seine Hilflosigkeit und Verletzbarkeit ein. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass man ihm versichert hatte, in jenen verlorenen Monaten hätten sich keine außergewöhnlichen Vorkommnisse ereignet. Andere Menschen erinnerten sich an diese Zeit: was sie getan oder gesagt hatten. Nur ihm, Alessandro Mattani, fiel nicht das Geringste mehr ein.

Mit bebendem Atem nahm er die Broschüre genauer in Augenschein. Es war die Werbeanzeige eines Luxushotels in Melbourne. Alessandro wartete ab, doch es wollte sich keine weitere Erkenntnis einstellen. Er war nie in dieser Stadt gewesen.

Jedenfalls nicht, dass er wüsste.

Widerwillen stieg in ihm auf, aber eine emotionale Reaktion würde ihm in diesem Moment nicht weiterhelfen. Auch wenn ihn das Gefühl, etwas Wesentliches versäumt zu haben, manchmal in den Wahnsinn zu treiben drohte.

Wieder betrachtete er den Flyer. Eine Frau, die Empfangsdame des Hotels, begrüßte strahlend ein gut aussehendes Paar, das zum Einchecken an die Rezeption kam. Die Umgebung wirkte opulent bis ins Detail, aber dem schenkte Alessandro keinerlei Aufmerksamkeit. Schließlich war er buchstäblich im Luxus aufgewachsen. Doch die abgebildete Frau … sie erregte definitiv sein Interesse.

Je länger er sie betrachtete, desto stärker bildete sich in seinem Verstand eine diffuse Vorahnung heraus. Sein Blut floss schneller durch die Adern, und die Haut an seinem Nacken kribbelte. Das Gesicht kam ihm unheimlich bekannt vor.

Hatte sie ihn jemals auf diese Weise angelächelt?

Seine Ahnung wurde noch etwas klarer, während er die Gesichtszüge der Fremden musterte. Die dunklen Haare waren zu einem Zopf gebunden und betonten so ein hübsches, aber nicht gerade auffälliges Gesicht. Stupsnase, großzügiger, sinnlicher Mund und, für eine Brünette, überraschend helle Augen.

Sie war nicht übermäßig atemberaubend oder gar exotisch genug, als dass man sich überrascht nach ihr umdrehen würde. Und dennoch hatte sie etwas – das gewisse Etwas! Ein Charisma, das der Fotograf erkannt und für sein Bild geschickt eingefangen hatte.

Mit dem Zeigefinger fuhr er die Linie ihres Kinns entlang, dann über ihre Wange, und schließlich ließ er die Spitze seines Fingers auf ihren vollen Lippen ruhen. Da war es wieder. Ein ungutes Gefühl, das an der nicht vorhandenen Erinnerung zerren wollte. Die Erkenntnis, dass es sich hier gar nicht um eine Fremde handelte.

Alessandros Muskeln spannten sich an, als ihn plötzlich verschiedene Empfindungen überfielen. Die weiche Berührung ihrer Lippen auf seinem Mund. Und der Geschmack nach vollreifen Kirschen – ein unwiderstehlicher Genuss! Wie von einem Phantom spürte Alessandro den Druck unsichtbarer Finger auf seiner Haut, und er hörte im Geiste das unterdrückte Seufzen einer weiblichen Stimme. Pure Ekstase.

Seine Brust hob und senkte sich schwer, während er gegen seine Erregung ankämpfte. Das war doch wohl nicht möglich! Dennoch konfrontierte sein Instinkt ihn mit einer Wahrheit, die sich nicht ignorieren ließ.

Er kannte diese Frau. Er war ihr begegnet, hatte sie in seinen Armen gehalten – und hatte sie geliebt.

Ein besitzergreifendes Gefühl meldete sich in einer entlegenen Ecke seines Verstandes. Stumm und gedankenverloren betrachtete Alessandro diese Frau vom anderen Ende der Erde. Wenn er nicht in Melbourne gewesen war, hatte sie dann vielleicht ihrerseits eine Reise in die Lombardei unternommen?

Der Frust über die verlorenen Monate seines Lebens gewann in Alessandros Herz wieder die Oberhand. Vielleicht hielt diese geheimnisvolle Person den Schlüssel zu seiner Erinnerung in den Händen. Konnte sie dabei helfen, das Loch in seiner Seele wieder zu schließen? Seine frühere Zufriedenheit herstellen und den Terror beenden, den er empfand, weil ihm ein Teil von sich selbst fehlte?

Alessandro griff zum Telefon. Er würde sich Antworten beschaffen. Koste es, was es wolle.

„Danke, Sarah, du bist echt eine Lebensretterin!“ Carys war erleichtert. Heute ging wirklich alles schief, was nur schiefgehen konnte. Wenigstens war nun eine Sache, die wichtigste, geregelt.

„Keine Sorge“, beruhigte ihre Nachbarin und Babysitterin sie. „Leo wird es hier an nichts fehlen.“

Carys wusste, dass Sarah recht behalten würde, trotzdem hatte sie ein furchtbar schlechtes Gewissen. Als sie den Job im Landford Hotel annahm, war dies mit der Erwartung verbunden gewesen, grundsätzlich zu einer zivilen Zeit nach Hause kommen zu können. Früh genug, damit sie sich um ihren Sohn kümmern konnte.

Vor allen Dingen, weil Leo außer ihr doch niemanden hatte.

Diese Tatsache versetzte ihr wie immer einen schmerzhaften Stich. Selbst nach all dieser Zeit schaffte Carys es nicht, das erdrückende Bedauern abzuschütteln. Andererseits durfte sie nicht in Selbstmitleid versinken. Früher einmal war sie einem Traum hinterhergejagt, aber das war lange vorbei. Inzwischen hatte sie begriffen, wie grausam und zerbrechlich dieser Traum gewesen war.

„Carys? Was ist denn eigentlich los?“

„Nichts.“ Hastig zwang sie sich zu einem Lächeln, da sie wusste, wie genau Sarah die Stimmung ihrer Freundin auch durch die Telefonleitung heraushören konnte. „Ich schulde dir etwas.“

„Ganz sicher sogar. Du kannst nächste Woche für uns als Kindermädchen einspringen. Wir würden gern einen Abend in der Stadt feiern gehen, falls du dich um Ashleigh kümmerst.“

„Abgemacht.“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Die Zeit drängte, bevor die nächste Krise ausbrach. „Vergiss nicht, Leo einen Gute-Nacht-Kuss von mir zu geben!“

Es bedrückte Carys, heute nicht mit ihrem Sohn Abendbrot zu essen und ihn nicht selbst ins Bett bringen zu können. Immerhin war er in guten Händen, und sie selbst sollte sich glücklich schätzen, einen Job zu haben, der ihr normalerweise viel Zeit mit ihrem Kind ermöglichte. Das Management des Hotels erlaubte ihr aus Überzeugung, familienfreundliche Arbeitszeiten einzuhalten.

Der heutige Tag war eine Ausnahme. Die Grippe, die im Personalstamm des Hotels grassierte, hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt zuschlagen können. Mehr als ein Drittel der Angestellten hatten sich inzwischen krankgemeldet, und ausgerechnet jetzt waren diverse Großveranstaltungen geplant.

Daher musste Carys einspringen, obwohl sie bereits einen vollen Arbeitstag mit Zusatzschicht hinter sich hatte. Vor einer Stunde war David, der stellvertretende Veranstaltungsmanager, mit Fieber zusammengebrochen, und so musste Carys auch noch ihn vertreten.

In ihrem Magen rumorte es. Dies war eine einmalige Gelegenheit, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und David zu beweisen, dass sein Vertrauen in sie gerechtfertigt war. Immerhin hatte er sie trotz fehlender Referenzen und unvollständiger Qualifikation eingestellt und war ihr stets ein guter Freund sowie ein hervorragender Mentor gewesen. Carys verdankte ihm nicht nur ihre berufliche Position, sondern auch ihr neu gewonnenes Selbstvertrauen. An dieser Eigenschaft arbeitete sie mühsam und unentwegt, seit sie nach Melbourne gekommen war.

„Ich weiß noch nicht, wann ich wieder zurück bin, Sarah. Wahrscheinlich erst in den frühen Morgenstunden.“ Wie sie nach Hause kommen sollte, darüber wollte Carys sich im Augenblick lieber keine Gedanken machen. Öffentliche Verkehrsmittel fuhren zu dieser Zeit nicht mehr, und ein Taxi war viel zu teuer. „Ich komme dann so zur Frühstückszeit zu euch rüber, wenn das in Ordnung ist?“

„Völlig, Carys, mach dir keine Sorgen! Komm einfach irgendwann vorbei!“

Nachdem Carys aufgelegt hatte, massierte sie sich mit beiden Händen die Schultern und dehnte ihren Nacken. Sie hatte heute schon etliche Stunden am Computer und am Telefon gesessen, die Anstrengung machte sich nun bemerkbar. Ihr ganzer Körper schmerzte, und die Buchstaben und Zahlen auf dem Bildschirm tanzten wie kleine Insekten vor ihren Augen hin und her.

Energisch kniff Carys sich in den Nasenrücken und schloss die Augen. Ihre Arbeit zu erledigen, würde an diesem Tag das Ergebnis außergewöhnlicher Disziplin und Entschlossenheit werden, soviel war sicher!

Seufzend griff sie nach ihrer Lesebrille und wandte sich dann wieder ihrer Aufgabe zu. Erst danach konnte sie sich endlich den letzten Vorbereitungen für den heute geplanten Maskenball widmen.

Carys stand in einer Ecke des Ballsaals nahe der Tür zum Küchenbereich und lauschte dem Oberkellner, der sie im Flüsterton organisatorisch auf den neuesten Stand brachte. In der Küche herrschte wegen der grippebedingten Unterbesetzung das reinste Chaos. Für die ausgefallenen Servicekräfte konnten auf die Schnelle nur zwei Ersatzkellner engagiert werden, und auch die Köche befanden sich ohne Zuarbeiter in Bedrängnis.

Zum Glück war den Gästen bisher nicht aufgefallen, dass etwas nicht stimmte. Das Landford rühmte sich selbst für einen außergewöhnlich guten Service, und alle Angestellten übertrafen sich selbst, um diesem exzellenten Ruf gerecht zu werden.

Der elegante Saal war ganz in Schwarz und Gold dekoriert. Antike Kronleuchter warfen ein warmes Licht auf die höchst exklusive Festgesellschaft. Überall teures Parfum, Gewächshausblumen und jede Menge Geld. Stars, Schauspieler, Designer, Großunternehmer … alles, was die australische High Society zu bieten hatte, war hier versammelt, zusammen mit vielen internationalen Prominenten.

Und sie alle obliegen meiner Verantwortung, dachte Carys mit klopfendem Herzen. Mühsam konzentrierte sie sich auf die Worte des Oberkellners. Dieser Abend musste um jeden Preis ein Erfolg werden. Es stand so viel auf dem Spiel!

„Gut. Ich werde sehen, ob uns noch jemand aus dem Restaurantbereich unterstützen kann.“ Mit einem freundlichen Kopfnicken entließ sie den Mann und drehte sich zu dem Haustelefon um, das hinter ihr an der Wand befestigt war. Gerade als sie die Kurzwahl des Restaurants eingab, erstarrte Carys plötzlich.

Ein Prickeln jagte ihre Wirbelsäule entlang und legte sich wie ein eiserner Ring um ihren Nacken. Mit einem Mal fühlte sie sich splitternackt, obwohl ihr blaues, konservativ geschnittenes Kostüm einen verhältnismäßig langen Rock aufwies und ihre Strumpfhose beinahe blickdicht war.

Mit steifen, zitternden Fingern hängte sie den Hörer zurück auf die Gabel und wandte sich dann auf dem Absatz um. Ganz langsam ließ sie ihren Blick suchend über die bunte, unübersichtliche Menge gleiten. Hotelmitarbeiter flanierten geschickt durch die kleinen Grüppchen, die sich teilweise auftaten und wieder zusammenflossen, und boten Kanapees und Getränke an.

Die meisten Gäste trugen teure, handgearbeitete Masken und waren damit beschäftigt, Kontakte zu knüpfen oder sich und ihr Kostüm einfach stolz zu präsentieren. Ihnen würde niemand auffallen, der nicht in ihre ausgesuchten Kreise gehörte.

Das passte Carys gut, denn sie hatte es nicht gerade auf eine eigene Rolle in diesem märchenhaften Spektakel abgesehen. Nicht, seit sie ihre Fantasien vom ritterlichen Prinzen begraben musste!

Mit brennend roten Wangen sah sie sich um und hatte das Gefühl, etwas Vertrautes und Aufregendes würde irgendwo in der Nähe auf sie lauern.

Carys schloss die Augen und versuchte, ihre Atmung zu beruhigen. Das alles lag in der Vergangenheit, und so sollte es auch bleiben. Sie würde nicht zulassen, dass ihre Erschöpfung ihr jetzt einen Streich spielte. Immerhin hatte sie hier einen wichtigen Job zu erledigen, zahlreiche Menschen verließen sich allein auf sie.

Quer durch den riesigen Raum beobachtete er sie.

Mit den Händen hielt er die Lehne eines Stuhls fest umklammert, und das Blut rauschte in seinen Ohren. Der Schock des Wiedersehens war so groß, dass Alessandro für einen Moment die Lider schließen musste, um die Kontrolle über sich zu behalten. Sonst wäre er womöglich ohnmächtig zu Boden gegangen.

Sie war es. Nicht nur die Frau aus der Broschüre, sondern auch die, an die er sich mit jeder Faser seines Körpers erinnerte. Ein Bild tauchte vor seinem inneren Auge auf: wie sie sich mit durchgedrücktem Rücken und unregelmäßigen Schritten von ihm entfernte. Mit einem Koffer in der Hand, ein Taxi wartete auf sie, und im nächsten Augenblick verstaute der Fahrer ihr Gepäck im Wagen.

Ein letzter visueller Eindruck: Kies spritzte auf, als das Taxi die Einfahrt seines Anwesens am Comer See hinunterbrauste. Und die Erinnerung an sein inneres emotionales Chaos – Wut, Erleichterung, Enttäuschung, Fassungslosigkeit.

Und Schmerz. Unerträglicher Trennungsschmerz.

Nur einmal in seinem Leben hatte Alessandro derart starke Empfindungen verspürt. Als Fünfjähriger, nachdem seine Mutter ihn für immer verließ, um mit ihrem Liebhaber ein Leben in Saus und Braus zu führen.

Energisch schüttelte Alessandro den Kopf und vertrieb gleichzeitig seine trüben Gedanken, doch die verbitterte Stimmung klang in seiner Brust nach. Madonna mia! Er fühlte sich verletzt und tief getroffen. Wer war diese Frau, dass sie solche Gefühle in ihm wachrufen konnte?

Ärger und Ungeduld trieben Alessandro schließlich voran. Das Warten war vorbei, heute Abend würde er seine lang ersehnten Antworten erhalten.

Heimlich schlüpfte Carys aus einem ihrer Schuhe und bewegte ihre Zehen. Bald würde dieser Ball vorüber sein, aber dann musste sie die Aufräumarbeiten überwachen und die Modenschau für den nächsten Tag vorbereiten.

Sie unterdrückte ein Gähnen und zuckte zusammen, als sich plötzlich eine warme, große Männerhand um ihre Hand legte. Sofort setzte Carys ein professionelles Lächeln auf und wollte sich zu dem Gast umdrehen, der die Grenzen überschritten hatte, indem er sie berührte. Inständig hoffte sie, dass er nicht betrunken war und ihren Worten bedingungslos Folge leisten würde.

Doch das Lächeln starb auf ihren Lippen. Er trug noch seine Maske, und das Haar war sehr kurz geschnitten. Aber seine blitzenden Augen schienen direkt in ihre Seele zu blicken. Außerdem streifte Carys der Duft seines Rasierwassers, den sie nie mehr vergessen hatte.

Aber er konnte es doch unmöglich sein.

Ihr fiel eine Narbe über seiner Augenbraue auf. Der Mann von damals war so bildschön wie ein junger römischer Gott gewesen. Keine Narben, und auch kein so blasser Teint …

Und dennoch …

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie und richtete sich auf. Ihre Stimme klang heiser, und daher konnte man den Satz fast als sinnliche Einladung auffassen. Hastig räusperte Carys sich. „Ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemandem.“

Sie wollte dem Mann ihre Hand entziehen, doch sein Griff wurde nur fester, und mit einer leichten Bewegung zog er Carys ein Stück nach vorn. Beinahe wäre sie gestolpert. Erwartungsvoll hob sie ihr Kinn, sah ihrem Gegenüber fest in die Augen und wartete darauf, dass dieser sein Schweigen brach.

Doch er starrte sie nur stumm an und hielt ihre Hand umklammert.

Allmählich meldeten sich bei Carys die Alarmglocken, und ihr Instinkt diktierte ihr, sich so schnell wie möglich aus dieser Gefahrenzone zu befreien. „Sie müssen mich loslassen!“, verlangte sie und wurde dieses Mal etwas lauter.

Er legte den Kopf schief, und im nächsten Augenblick wurde Carys von hinten angerempelt. Sie prallte gegen seine breite Männerbrust und achtete nicht mehr auf die gemurmelte Entschuldigung, die ein Gast links von ihr über die Schulter warf. Stattdessen fühlte sie sich plötzlich wie im Rausch. Alles an diesem Mann war so vertraut, und mehr noch: Er war wie die Antwort auf ihre geheimsten Sehnsüchte. Seine Größe, seine Stärke, sein Duft, die Arme, die Hände, das Haar und die Lippen … all das hatte ihr so sehr gefehlt, und nun schien es zum Greifen nah. Er war zum Greifen nah! Aber war das die Wirklichkeit?

Seine Hand spreizte sich besitzergreifend über ihren Po, und Carys durchfuhr ein heißes Zucken. Unbewusst drängte sie sich an den Mann heran, während gleichzeitig alles in ihrem Kopf danach schrie, sofort zu fliehen.

Verzweifelt mobilisierte sie ihre letzten Kräfte und befreite sich aus der Umarmung. Mit zitternden Knien machte sie zuerst einen, dann zwei Schritte rückwärts, aber der Mann mit der Maske betrachtete sie nur mit einem rätselhaften Blick.

Carys’ Hals zog sich vor Panik zusammen, und obwohl sie etwas sagen wollte, brachte sie keinen Ton heraus. Dann wirbelte sie auf dem Absatz herum und drängte sich zwischen den Gästen hindurch bis zum Ausgang.

Müde steckte Carys sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. Der letzte Gast war endlich gegangen, das Hotelpersonal rückte im Saal die Möbel wieder an ihren richtigen Platz und reinigte den Parkettboden.

Das ratternde Geräusch des Haustelefons schreckte Carys aus ihren Gedanken auf. Ständig spukte ihr dieser geheimnisvolle Fremde im Kopf herum, der ihr gleichzeitig so unfassbar bekannt vorkam.

„Hallo?“

„Carys? Gut, dass ich Sie noch erwische.“ Sie erkannte die Stimme des neuen Portiers, der für die Nachtschichten eingeteilt worden war. „Da ist ein dringender Anruf für Sie. Ich stelle mal durch.“

Dringender Anruf. Diese Worte genügten, um ihr einen Schock zu versetzen und alles andere zu relativieren. Ging es etwa um Leo? War ihm etwas passiert? War er krank, oder hatte er vielleicht sogar einen Unfall?

Atemlos wartete sie auf das Klicken, das ihr die Verbindung zum Anrufer signalisierte. Doch dann hörte sie nichts, außer einer abwartenden Stille.

„Sarah? Was ist los? Was ist passiert?“

Es kam keine Antwort, nur das Echo ihres eigenen angestrengten Atems.

Dann vernahm sie eine Stimme, die sich für ihre Sinne wie dunkler Samt anfühlte.

„Carys.“

Nur ein einziges Wort, und jedes Härchen an ihrem Körper richtete sich auf. Dieser Bariton hatte sie in ihren Träumen verfolgt. Er besaß die Macht, ihre Stimmung zu lenken, sie innerlich zu erhitzen und ihren Verstand zu benebeln.

Carys’ Beine gaben nach, und sie stützte sich gegen einen der Tische, die man an die Wand geschoben hatte. Mit einer Hand griff sie sich schützend an den Hals. Das konnte doch nicht sein! Trocken und schwer klebte ihre Zunge im Mund und machte das Sprechen unmöglich.

„Wir müssen reden“, sagte die tiefe Stimme aus ihrer Vergangenheit. „Jetzt gleich.“

2. KAPITEL

„Wer ist da?“, krächzte Carys und konnte noch immer nicht fassen, wie grausam das Schicksal mit ihr umsprang. Dabei hatte sie doch endlich den Entschluss gefasst, diesem Mann niemals wieder gegenübertreten zu wollen.

Irgendein destruktiver Teil ihres Verstands sendete aufregende und erwartungsvolle Impulse an ihr Gehirn, die Carys allerdings tunlichst zu ignorieren versuchte. Früher hatte sie sich gewünscht, er würde noch einmal Kontakt zu ihr aufnehmen, ihr nachreisen und sich bei ihr entschuldigen. Ihr sagen, dass er sich geirrt hatte, dass er sie … Nein, inzwischen glaubte sie nicht mehr an solche Träumereien.

Was will er jetzt bloß von mir? überlegte sie fieberhaft, und ihre Hand legte sich wie eine Klaue fester um ihren eigenen Hals.

„Du weißt, wer ich bin, Carys.“ Allein wie er mit diesem sexy italienischen Akzent ihren Namen betonte, machte sie schwach. Eine gesprochene Liebkosung, die bedeutungsvolle Erinnerungen wachrief.

Es war ihm schon immer gelungen, ihre Selbstkontrolle mühelos auszuschalten. Er hatte sie sogar so weit gebracht, alles aufzugeben, worauf sie in ihrem Leben hingearbeitet hatte, nur, um mit ihm zusammen zu sein. Idiotin!

Aber war das wirklich er am Telefon? Er wäre ihr nie nach Australien gefolgt. Das hatte er deutlich klargestellt, als sie ihn mit eingezogenem Schwanz verließ.

Werde ich allmählich verrückt? fragte Carys sich im Stillen. Habe ich mir die Begegnung mit dem maskierten Fremden nur eingebildet?

„Gib nicht vor, mich nicht zu kennen, Carys“, brummte die Stimme. „Uns bleibt keine Zeit für kindische Spielchen. Ich bin Alessandro Mattani.“

Das Schweigen zog sich in die Länge, und Carys umklammerte den Hörer. Sie war heilfroh, dass sie bereits eine Stütze gefunden hatte, sonst wäre sie vermutlich zu Boden geglitten.

„Alessandro.“

„Mattani. Du wirst dich sicherlich an meinen Namen erinnern.“

Es gab eine Zeit, da habe ich gedacht, ich würde ihn selbst einmal annehmen, antwortete sie im Stillen.

Unbewusst presste sie sich eine Hand auf den Mund, um zu verhindern, dass sie in hysterisches Gelächter ausbrach. Der Raum um sie herum fing an, sich zu drehen, und vor ihren Augen tanzten schwarze Punkte hin und her.

Ein Klappern brachte Carys wieder zur Besinnung, und ihr verwirrter Blick fiel nach unten. Der Hörer war ihr aus der schweißnassen Hand gerutscht.

Alessandro Mattani. Der Mann, den sie geliebt und der ihr brutal das Herz gebrochen hatte.

Carys zuckte heftig zusammen, als sich die letzten beiden Aufräumkräfte fröhlich von ihr verabschiedeten. Zaghaft winkte sie zurück und brachte dann mit zitternden Fingern den Telefonhörer zurück an ihr Ohr.

„Carys?“, brüllte eine viel zu laute Stimme.

„Ich bin dran.“

Ein ungeduldiges Schnaufen. „Keine Spielchen mehr! Ich will mich mit dir treffen.“

Pech für ihn, denn Carys war über den Punkt hinaus, an dem sie sich dafür interessierte, was Alessandro Mattani wollte! „Das ist leider unmöglich.“

„Natürlich ist es möglich“, widersprach er barsch. „Schließlich bin ich nur zwölf Stockwerke von dir entfernt.“

Ihr Herz verfiel in einen unruhigen Galopp. Alessandro war hier in Melbourne? Im Landford? Instinktiv sah Carys sich auf der Tanzfläche um.

„Das warst du vorhin? Auf dem Ball?“ In diesem schockierenden Augenblick war ihr Stolz vollkommen vergessen. Sie wollte sich nur Gewissheit verschaffen, doch Alessandro antwortete ihr nicht.

Erneut flammte Hitze in ihr auf bei dem Gedanken daran, wie intim er sie nur wenige Stunden zuvor im Arm gehalten hatte. Wie lange schon sehnte sie sich nach seinen Berührungen, ganz gleich, was in der Vergangenheit zwischen ihnen beiden geschehen war.

Woher hatte er die kleine Narbe über seinem Auge? War ihm etwas zugestoßen? Hundert Fragen überschlugen sich in ihrem Verstand, doch Carys fühlte sich lediglich imstande, ihm die wichtigste davon zu stellen.

„Was willst du?“, brachte sie gepresst hervor.

„Das habe ich doch schon gesagt. Ich will mich mit dir treffen.“

Endlich meldete sich ihr Stolz zurück. „Das geht nicht. Es ist spät, und ich muss nach Hause. Außerdem gibt es zwischen uns nichts mehr zu besprechen.“ Behutsam testete sie, ob ihre Beine inzwischen wieder ihr Körpergewicht tragen konnten.

„Bist du sicher?“, fragte er mit einem seidigen Lächeln in der Stimme. Offenbar nahm er ihren Einwand nicht allzu ernst. „Ich wohne in der Präsidentensuite und erwarte dich in zehn Minuten.“

Sie schnappte nach Luft. „Du bist nicht in der Position, mir Befehle zu erteilen“, widersprach sie kühl.

„Auch wenn du mich nicht sehen willst“, entgegnete er ruhig, „habe ich mit dir zu reden. Also, in zehn Minuten!“

„Und wenn ich nicht komme?“

Es dauerte eine Weile, bis er antwortete. „Das ist allein deine Wahl, Signorina Wells.“ Sein Ton verhieß nichts Gutes. „Ich möchte ein paar persönliche Dinge klären und würde dies gern in der privaten Abgeschiedenheit meiner Suite tun. Wenn es dir allerdings lieber ist, einen Termin während deiner Arbeitszeit zu vereinbaren, soll mir das auch recht sein. Ich gehe davon aus, du teilst dir ein Büro mit deinen Kollegen?“

Die versteckte Drohung in seinen Worten verunsicherte Carys ziemlich. Es schien, als würde sie ihm ohnehin nicht ausweichen können.

„Dein Vorgesetzter gibt dir bestimmt frei, um eine Privatangelegenheit zu besprechen. Obwohl, soweit ich informiert bin, befindest du dich ja noch in der Probezeit?“

Ein bitterer Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus. Woher hatte er Einblick in diese personalinternen Details bekommen? Alessandro würde doch wohl kaum ihren Karriereweg verfolgt haben? Wusste er etwa auch schon über Leo Bescheid?

Erst jetzt wurde Carys klar, dass nackte Angst ihr die Luft abschnürte.

„Dann also in zehn Minuten“, sagte sie heiser und legte auf.

Mit einem Zug leerte Alessandro den heißen Espresso, den sein Butler ihm zubereitet hatte. Mit jeder Faser seines Körpers fühlte er noch, wie Carys sich gegen ihn presste. Er hatte es schon gewusst, als er sie quer durch den Raum erblickte: Diese Frau gehörte ihm.

Obwohl sein früherer Flashback ihm doch die Gewissheit verschafft hatte, dass sie sich nicht im Guten getrennt haben konnten. Als erste Frau in seinem Leben war Carys einfach fortgegangen, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen.

Trotzdem fühlte Alessandro, dass zwischen ihnen noch nicht alles vorbei war. Das erklärte auch seine ständige Unruhe seit dem Unfall, so als gäbe es da etwas Unerledigtes in seinem Leben. Warum hatten sie sich überhaupt voneinander getrennt? Was genau war geschehen?

All das würde er herausfinden, und vorher gab es für Carys kein Entkommen. Alessandro musste die Stimmen in seinem Innern zum Schweigen bringen und sich darüber klar werden, was er für diese Frau empfand. Seine Emotionen befanden sich in hellem Aufruhr, als sie dicht aneinandergedrängt im Ballsaal standen, und die Intensität seiner zum Teil widersprüchlichen Gefühle hatte Alessandro überrascht und gleichzeitig erschreckt. Neugier, Zusammengehörigkeit, eine Art Beschützerinstinkt und sogar Eifersucht.

Für seine Rekonvaleszenz hatte Alessandro all seine Willenskraft aufbringen müssen. Da war kein Platz mehr für persönliche Gefühle gewesen, nur der dringende Wunsch, das Familienunternehmen vor dem Untergang zu bewahren. Alles andere war ausgeblendet worden.

Bis jetzt war es niemandem gelungen, diesen Selbstschutz auch nur ansatzweise anzukratzen. Weder seiner Stiefmutter noch all den Frauen, die sich verzweifelt um seine Aufmerksamkeit bemühten. Auch nicht seinen engeren Freunden.

Trotz seiner vielen, weltweiten Kontakte war Alessandro ein Einzelgänger, genau wie sein Vater. Der alte Mann hatte sehr zurückgezogen gelebt und sich nach dem Betrug und der Trennung von seiner ersten Frau voll und ganz auf seine Firma konzentriert.

Aus diesem Grund hatte Alessandro von klein auf gelernt, dass man in seiner Familie Trauer, Verwirrung und Angst hinter einer steinernen Fassade verbarg. Und im Laufe der Jahre war aus dieser etwas mühsam aufgebauten Fassade eine selbstverständliche Realität geworden. Alessandro konnte seine Gefühle perfekt verdrängen und sich von seiner eigenen Verletzbarkeit distanzieren.

Jedenfalls bis zum heutigen Abend, bevor er Carys Wells von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Er fühlte Dinge, die ihm unbekannt waren: Sehnsucht, Verlangen, Verlust.

Und Begehren! Dieses körperliche Gefühl war ihm allerdings ziemlich vertraut. Nur jetzt überfiel es ihn in Verbindung mit einem heftigen Ziehen in der Magengegend, und das war neu. Intensiver und viel komplexer als alles, woran er sich erinnern konnte …

Endlich klopfte es an seine Tür. Dankbar für diese Ablenkung stellte er seine Tasse ab und wandte sich um, während sein Butler das Foyer der Suite durchquerte.

Plötzlich stellte Alessandro fest, wie heftig sich seine Schultern verkrampften. Seit wann regte er sich so schnell auf und fühlte sich unsicher? Selbst als die Ärzte sich kopfschüttelnd seine Krankenakte vorgenommen hatten, war er nicht nervös geworden oder hatte sich gar seine Furcht anmerken lassen. Das Einzige, was ihn damals interessierte, war die baldige Entlassung aus dem Krankenhaus und eine möglichst kurze Rehabilitationsphase.

Die Geier kreisten schon über dem Familienunternehmen und warteten nur darauf, einen Vorteil aus den Fehlern zu schlagen, die Alessandros Vater vor seinem Ableben gemacht hatte.

„Miss Wells, Sir“, kündigte der Butler an und verließ lautlos den Raum.

Carys blieb in der Tür stehen, und wieder überfielen Alessandro unterschiedlichste Gefühle, die ihn mehr als verwunderten. Unruhig wippte er auf den Fersen, während sie sich schweigend in die Augen sahen.

Die junge Frau wirkte in einem von Melbournes exklusivsten Hotelzimmern völlig fehl am Platze. Weder ihre Kleider noch ihre Haltung oder ihr Stil passten zu dem opulenten Luxus um sie herum. Carys wirkte zu einhundert Prozent wie die Angestellte, die sie war.

Ironisch dachte Alessandro daran, was für Dienste er gern von ihr in Anspruch nehmen würde, verwarf diesen unangemessenen Gedanken jedoch sogleich wieder. Was war nur los mit ihm? Er war doch sonst nicht so leicht aus der Fassung zu bringen.

Außerdem waren ihm jede Menge anderer Frauen bekannt, die wesentlich aufsehenerregender waren. Kluge Schönheiten, die wirtschaftliche Leistungen mit einem eleganten Stil und der Entschlossenheit verbanden, sich einen Weg in Alessandros Bett zu bahnen. Die perfekte Mischung also, und dennoch machte irgendetwas an Carys sie zu einem ganz besonderen Menschen.

Sie hatte eine attraktive kurvenreiche Figur, die eine diätfreudige Mailänderin wohl in einen zweiwöchigen Hungerstreik getrieben hätte. Die dunklen Haare trug sie zu einem schlichten Zopf gebunden – ohne jegliche Finesse. Ihr Make-up war unauffällig und das marineblaue Kostüm fast erdrückend konservativ.

Aber ihr Gesicht verfügte über eine ungemein anziehende Ausstrahlung, und diese Beine … Sie waren perfekt geformt, und Alessandros Hände zuckten, als er sich vorstellte, wie er die seidige Strumpfhose über die schlanken Schenkel und Fesseln hinabrollte.

Instinkt oder Erinnerung? Zu spät riss er seinen Blick von der Frau los, die ihn um die halbe Welt gelockt hatte. So oder so musste er für Klarheit zwischen ihnen sorgen.

„Danke, Robson“, rief er, als er den Butler im Foyer hörte. „Das wäre alles für heute.“

Der ältere Mann verbeugte sich höflich. „Auf der Anrichte stehen ein paar Erfrischungen für Sie, Sir, Madam.“ Dann begab er sich unauffällig zum Personalausgang und verschwand.

„Bitte.“ Mit einer Hand wies Alessandro zur Lounge. „Nimm Platz!“

Zuerst sah es so aus, als würde Carys ablehnen. Schließlich ging sie doch mit zaghaften Schritten über den antiken Teppich und setzte sich in einen bequemen Sessel. Das weiche Licht einer Stehlampe verlieh ihrer Haut einen schmeichelnden Schimmer, brachte allerdings auch die Anspannung um ihren Mund herum deutlich zum Vorschein. Sie sah furchtbar müde aus.

Er warf einen kurzen Blick auf seine Uhr. Zugegeben, es war ziemlich spät, und er selbst hatte sich längst daran gewöhnt, mit Hilfe von starkem Kaffee und Entschlossenheit unzählige Überstunden zu machen.

Sein Schuldbewusstsein meldete sich. Eigentlich hätte Alessandro mit seinem Anliegen auch bis zum nächsten Tag warten können, aber es war ihm einfach nicht gelungen, seinen Frust länger zu ignorieren. Jetzt war er der Wahrheit so nahe und wollte nicht länger auf Antworten warten.

Vor wenigen Stunden war Alessandros Geduld schon einmal auf die Probe gestellt worden, als er Carys im Ballsaal plötzlich ganz nahe gewesen war. Allerdings hatte er erschreckenderweise die Kontrolle über sich verloren und sich nur wie hypnotisiert an ihr festgeklammert. So etwas durfte keinesfalls noch einmal passieren. Noch nie im Leben hatte Alessandro sich so verloren und hilflos gefühlt. Eine Empfindung, an die er sich nicht gewöhnen wollte.

Inzwischen war er wieder ganz er selbst, und so sollte es auch gefälligst bleiben!

„Tee? Kaffee?“, bot er an. „Oder lieber ein Glas Wein?“

„Danke, ich möchte nichts.“ Kerzengerade aufgerichtet saß Carys da und wartete ab. Stumme Rebellion färbte ihre Wangen rosa und brachte ihre Augen zum Leuchten.

Fasziniert betrachtete Alessandro, wie sich ihr innerer Aufruhr auf dem hübschen Gesicht widerspiegelte. In aller Ruhe schenkte er sich selbst einen Cognac ein und setzte sich Carys gegenüber in einen Sessel. Die ganze Zeit über verfolgte sie ihn mit ihrem erwartungsvollen Blick.

Zu gern hätte er gewusst, was in ihrem Kopf vor sich ging – was sie in ihrem Herzen fühlte. Ging es ihr ähnlich wie ihm? Verspürte sie auch dieses atemlose Ziehen zwischen ihren Rippen, die unerträgliche Anspannung und das Herzklopfen?

„Ich sehe, du hast meine Narbe bemerkt“, sagte er. Angriff war noch immer die beste Verteidigung.

Die Farbe auf ihren Wangen verdunkelte sich, trotzdem wandte sie ihren Blick nicht ab. Auch eine Antwort blieb aus.

Alessandro war nicht so eitel, dass ihn der Makel in seinem Gesicht wirklich gestört hätte. Sein Aussehen in Verbindung mit seinem Geld und seinem Einfluss hatte Frauen seit jeher schwachgemacht, Narbe hin oder her. Allerdings wusste er, wie wankelmütig diese Damen in der Regel waren. Kümmerte man sich nicht genug um sie und ihre Belange, wandten sie sich dem nächsten vielversprechenden Junggesellen zu. Weder ein Eheschwur noch die Blutsverwandtschaft zwischen Mutter und Kind konnten eine Frau halten, sobald sie jemanden mit mehr Macht und Reichtum für sich gewinnen konnte.

Doch all das kümmerte ihn nicht mehr. Wenn er sich einmal ernsthaft nach Gesellschaft sehnen sollte, hatte er die Wahl zwischen zahlreichen Bewerberinnen. Aber das war Zukunftsmusik und hatte keinerlei Bedeutung für die Gegenwart.

Ganz langsam schwenkte er den Alkohol in seinem Glas und atmete den würzigen Duft ein. „Bin ich denn so abstoßend?“, fragte er provozierend.

Ich wünschte, er wäre es, dachte Carys.

Vielleicht hätte sie dann endlich ihren Blick von ihm abwenden können. Stattdessen war sie gefesselt von seiner maskulinen Aura und fühlte sich hilflos ihren femininen Reaktionen auf seine Präsenz ausgeliefert.

So war es auch schon damals mit Alessandro gewesen. Dabei hatte sie gehofft, Zeit und gesunder Menschenverstand würden sie allmählich von dieser Obsession heilen.

Seine Lider sanken halb über die moosgrünen Augen, so als wollte er seine Gedanken vor Carys verbergen. Dieser eigensinnige, mimische Ausdruck war ihr noch gut im Gedächtnis, und wieder rührte sich das vertraute Gefühl der Sehnsucht in ihrem Herzen.

„Hast du mich hierherbestellt, um über dein Aussehen zu sprechen?“, konterte sie und ließ sich durch seine Frage nicht aus der Reserve locken.

Zu ihrem Ärger fand sie Alessandro heute noch viel attraktiver als früher. Sein Gesicht hatte eine erfahrene, souveräne Ausstrahlung, und auch die Narbe tat seiner männlichen Schönheit keinen Abbruch – ganz im Gegenteil. Sie verlieh Alessandro etwas Raues, Piratenhaftes, was Carys ungemein sexy fand.

Sie faltete ihre klammen Hände fest im Schoß und konnte kaum fassen, dass Alessandro sie noch immer so leicht in seinen Bann zu ziehen vermochte. Nur war sie inzwischen reif genug, sich gegen diesen ungesunden Einfluss zur Wehr zu setzen. Ganz bestimmt!

„Du starrst sie die ganze Zeit an.“ Er nahm einen wärmenden Schluck aus seinem Glas.

Carys beobachtete, wie sich sein Adamsapfel beim Schlucken bewegte, und dachte dabei an früher zurück. Alessandro schien ihr auch in weniger formellen Kleidern seit jeher ein unbeschreiblich kultivierter, rätselhafter Mann zu sein, dessen Absichten meistens schwer einzuschätzen waren. Gleichzeitig hatte er etwas Bodenständiges, Vertrauenserweckendes an sich.

„Woran denkst du gerade?“, wollte Alessandro wissen.

Genau in dieser Sekunde tauchte vor ihrem inneren Auge seine Erscheinung auf – vollkommen nackt. Hastig sah Carys zur Seite. Sie mochte ihn mittlerweile verabscheuen, aber sie war noch immer Frau genug, sexuell auf seine Ausstrahlung zu reagieren.

„Ach, nichts. Mir fiel nur gerade auf, wie sehr du dich verändert hast.“ Das war wenigstens nur zur Hälfte gelogen.

„So schlimm?“ Er beugte sich vor und stützte seine Ellenbogen auf die Knie.

Carys hob die Schultern. „Nun ja, es ist immerhin eine ganze Weile her. Menschen verändern sich eben.“

„Und inwiefern ist das bei mir der Fall?“

Sein Blick war ungeheuer intensiv. Sie spürte ihn regelrecht auf ihrer Haut, vorerst ganz sanft, aber in absehbarer Zeit vielleicht brutal und zerstörerisch.

„Da ist zum Beispiel diese Narbe.“

Schnell schloss sie die Lippen, bevor sie sich noch besorgt nach Alessandros gesundheitlicher Verfassung erkundigte. Hatte er einen Unfall gehabt? War er operiert worden? Kümmerte es sie überhaupt?

„Mir geht es inzwischen wieder ausgezeichnet“, entgegnete er ausweichend, und Carys hatte für einen Moment das Gefühl, er könne Gedanken lesen.

„Natürlich“, antwortete sie viel zu hastig. „Sonst wärst du wohl kaum hier.“ Es konnte nur einen Grund für seine unerwartete Anwesenheit in Australien geben. Er wollte ihren Sohn.

Alessandro machte keine halben Sachen. Wenn er etwas haben wollte, nahm er es sich einfach. Und welcher heißblütige Italiener würde auf seinen leiblichen Sohn verzichten?

Angst legte sich wie eine eiskalte Faust um Carys’ Herz. Wenn sie recht behielt, wie sollte sie ihn davon abhalten?

„Und was hat sich noch an mir verändert?“

Ein paar Sekunden dachte sie nach, bevor sie sagte: „Du bist blasser als früher. Und dünner.“

Als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, kam Alessandro gerade aus einem Skiurlaub, tief gebräunt von der alpinen Sonne. Sein Körper war muskulös und durchtrainiert gewesen, nicht so auffallend schmal wie heute.

Nur ein Blick in seine blitzenden grünen Augen hatte genügt, um Carys das Gefühl zu geben, die einzig interessante und begehrenswerte Frau auf dieser Welt zu sein. Ohne Vorbehalte hatte sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt – rettungslos.

Wenn sie Alessandro jetzt ansah, konnte sie ihre Gefühle nicht richtig einordnen, aber unerträglich stark waren sie in jedem Fall.

Er wirkte zwar ausgezehrt, aber sobald er sich bewegte, wurde deutlich, dass er weder seine Grazie noch seine frühere Energie eingebüßt hatte. Mit einem Seufzer schnitt er eine Grimasse und trank einen weiteren Schluck Cognac.

„Ich mache viele Überstunden.“

Carys sah zur Seite und verdrängte hastig ihr Mitgefühl. „Und manche Dinge ändern sich nie.“

Während ihrer letzten gemeinsamen Wochen hatte Alessandro die Arbeit ständig vorgeschoben, um keine Zeit mit Carys verbringen zu müssen. Zuerst wollte sie noch an Probleme in der Firma glauben, immerhin war sein Vater erst kurz zuvor gestorben. Nur wurden ihre zaghaften Nachfragen und Unterstützungsangebote schroff zurückgewiesen.

Dem Unternehmen ging es gut. Alessandro ging es gut. Sie mache sich einfach zu viele unnötige Sorgen. Er müsse lediglich seiner neuen Verantwortung nachkommen. Carys erinnerte sich noch gut an diese ewige Litanei.

Ganz systematisch schloss Alessandro sie aus seinem Leben aus, Tag für Tag und Stunde für Stunde. Schließlich bestand ihre einzige Kommunikation aus den heißen Begegnungen in den frühen Morgenstunden, wenn sie im Bett ihre Leidenschaft füreinander auslebten.

Dann fand Carys heraus, dass nicht ausschließlich berufliche Verpflichtungen für Alessandros Abwesenheit verantwortlich waren, denn er hatte durchaus Zeit für andere Dinge – andere Menschen. Wie einfältig von ihr, anzunehmen, ihm würde das naive, schlichte Mädchen reichen, das sein Bett mit ihm teilte.

„Als Geschäftsführer eines internationalen Konzerns hat man jede Menge zu tun.“

„Das ist mir klar.“ Sie hatte es aufgegeben, sich über die lächerlich hohe Anzahl von Überstunden aufzuregen, die er angeblich leisten musste. Oder sich zu fragen, was aus dem charmanten, aufmerksamen Mann geworden war, in den sie sich verliebt hatte. Dieser Mann hatte ebenfalls hart gearbeitet, aber er wusste auch, wie man abschaltete und gemeinsame Freizeit genoss.

Ihr Magen zog sich zusammen. Was immer sie einmal miteinander geteilt hatten, war endgültig vorbei. Carys’ Hals wurde trocken, und sie bereute inzwischen, kein Getränk angenommen zu haben. Dieses ganze Treffen bewirkte ausschließlich, dass alte Wunden aufgerissen wurden. Das hatte doch alles überhaupt keinen Zweck.

Entschlossen stand Carys auf. „Es war nett, dich wiederzusehen, aber ich muss jetzt gehen. Es ist schon spät.“

Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, war Alessandro schon aufgesprungen und stellte sich so dicht vor sie, dass Carys seine Körperwärme auf der Haut spürte. Instinktiv wollte sie zurückweichen, stieß jedoch sofort gegen den Sessel. Überrascht, ärgerlich und ein wenig aufgeregt starrte sie ihm in die Augen.

„Du kannst jetzt noch nicht gehen.“

„Ich kann und ich werde.“ Nie wieder würde sie sich von ihm zur Närrin machen lassen. „Wir sind fertig miteinander.“

„Fertig?“ Er zog eine Augenbraue hoch und lächelte leicht. „Und was ist hiermit?“

Mit einem Arm zog er Carys an sich und neigte den Kopf.

3. KAPITEL

„Alessandro!“

Carys’ kratzige Stimme und der überraschte Tonfall ließen ihn erstarren. Tief in seinem Inneren erkannte er diesen Ton und liebte dessen Klang. Alles an Carys war ihm vertraut: die Art, wie sich ihr Körper an seinen schmiegte und ihre feminine Erregung, wenn er sich ihr näherte.

Eigentlich hatte Alessandro sich vorgenommen, die Dinge langsam angehen zu lassen, zurückhaltend und vernünftig zu sein.

Aber seit Carys den Raum betreten hatte, war nichts mehr wie vorher. Sein Sinn für gute Manieren löste sich in Luft auf und machte Platz für archaische, animalische Instinkte – die ultimativen Sieger über Logik und Konventionen.

Er hielt Carys so eng an sich gedrückt, dass er ihre Brüste und ihre Hüfte an seinem Körper spüren konnte. Sein Verlangen wuchs von Sekunde zu Sekunde, und auch Carys schien allmählich etwas anschmiegsamer zu werden. Auf jeden Fall war ihr abweisender Gesichtsausdruck verschwunden.

Auch wenn Alessandro sich nicht bewusst an sie erinnern konnte, sein Körper konnte es umso besser. Er sah ihr tief in die graublauen stürmischen Augen und erkannte dort dieselben Gefühle, die in ihm tobten. Gierig inhalierte er ihren frischen zimtartigen Duft, und sein Verstand signalisierte ihm: Ja, sie ist die richtige Frau!

„Alessandro!“ Dieses Mal klang ihre Stimme entschlossener, und sie drückte eine geballte Faust gegen seine Brust. Doch ihre Bewegung war recht zögerlich.

Beruhigend legte Alessandro eine Hand gegen Carys’ Wange. Ihre Haut fühlte sich unter seinen Fingerspitzen seidenweich an.

„Du hast kein Recht, mir nahe zu kommen. Lass mich jetzt sofort los!“, verlangte sie und richtete sich kerzengerade auf.

„Kein Recht?“ Mit dem Daumen strich er über ihre Unterlippe. Ihr heißer Atem fuhr spürbar über seine Haut, und die feuchte rosafarbene Zungenspitze war nur wenige Millimeter von seinem Finger entfernt. „Du gibst mir das Recht dazu, wenn du so wie jetzt auf meine Berührungen reagierst.“ Der Druck seines Daumens wurde etwas fester, und ihre Zunge berührte kurz seine Haut. Wie ein Blitz durchfuhr Alessandro pure Lust.

Madonna mia! Wie viel Macht besaß diese Frau, wenn sie mit einer so kurzen Berührung Alessandros Kontrolle in tausend Splitter zerschlagen konnte?

Überraschung spiegelte sich in ihrem Blick wider. „Ich mache doch überhaupt nichts“, protestierte sie leise, klang dabei jedoch wenig überzeugend. Jetzt stieß sie sich etwas fester von seiner Brust ab.

„Carys.“ Er liebte den Klang ihres Namens auf seinen Lippen, kurz bevor diese auf ihren Mund trafen. Und wie Alessandro erwartet hatte, war er süchtig nach Carys’ Küssen.

Sie versuchte, sich zur Seite zu drehen, doch er schob seine Hand in ihr seidiges Haar und hielt ihren Kopf in der richtigen Position. Dann glitten seine Lippen über ihr Gesicht, und er küsste ihren Hals und ihren Nacken.

Carys’ Widerstand ebbte ab. Empfand sie endlich dasselbe wie er? Verlangen und Lust? Lust auf mehr?

Sie zuckte heftig zusammen, als er zärtlich in ihr Ohr biss, und auf ihren Armen sah Alessandro eine leichte Gänsehaut. „Das kannst du mir doch nicht abschlagen“, raunte er.

Ihre weiche Haut duftete nach Frühlingsblumen und schmeckte einfach himmlisch sauber und anregend. Er musste sich regelrecht zwingen, zu ihren Lippen zurückzukehren und lachte stumm und zufrieden in sich hinein, als er ihre geschlossenen Lider und den einladend geöffneten Mund bemerkte, der von einem winzigen Schönheitsfleck verziert wurde.

Ihr Zopf hatte sich gelöst, und die glänzenden Strähnen hingen ihr wild ins Gesicht. Blitzartig hatte Alessandro das Bild vor Augen: diese dunkelbraune Mähne ausgebreitet auf einem weißen Kissen. Er sah seine eigenen Hände, wie sie sich darin verloren … Das war keine Einbildung, sondern eine echte Erinnerung.

Carys hatte mit ihm zusammen im Bett gelegen. Ein verschlafenes Lächeln, eine schneebedeckte Szenerie draußen vor dem Fenster.

Diese unerwartete Erkenntnis brachte Alessandro völlig aus dem Konzept, und er klammerte sich nur noch fester an Carys. Zum zweiten Mal in dieser Nacht hatte sein Gedächtnis auf sie reagiert. Es war also doch die richtige Entscheidung gewesen, sie hier aufzusuchen.

Mit dieser Frau konnte Alessandro endlich die Türen zu seiner nebelhaften Vergangenheit aufstoßen. Natürlich würde er nicht alles wieder rekonstruieren können, aber es war immerhin möglich, die wichtigsten losen Fäden miteinander zu verknüpfen. Und dann konnte er endlich unbeschwert in die Zukunft blicken.

„Alessandro.“ Carys sah ihn ernst an. Sie wirkte sogar etwas verängstigt und nagte nervös an ihrer Unterlippe. „Lass mich jetzt bitte gehen!“

Selbstverständlich war er dazu erzogen worden, die Wünsche einer Frau zu respektieren. Der Ehrenkodex seiner Familie war tief in Alessandros Charakter verwurzelt, und er würde sich niemals einer Frau gegen ihren Willen aufzwingen. Andererseits zweifelte er nicht daran, dass Carys ihn ebenfalls begehrte, ganz gleich, ob sie es sich eingestand.

Und ein Kuss konnte doch bestimmt nicht schaden?

„Einen Augenblick noch“, murmelte er, und seine Hand an ihrem Hinterkopf bewegte sich leicht. „Es wird dir gefallen, das verspreche ich.“

Sein Mund berührte ihren, und Carys bemühte sich erfolglos, sich aus seiner Umarmung zu befreien.

Es hätte sie vielleicht ängstigen sollen, dass sie ihm so offensichtlich körperlich unterlegen war. Aber ein Teil von ihr machte bereits Anstalten, sich zu ergeben. Die unbelehrbare Hedonistin in ihr, die Alessandro selbst vor langer Zeit in ihr wachgerufen hatte. Die Liebhaberin, erweckt durch seine Männlichkeit und seine athletische Kraft. Eine Frau mit gebrochenem Herzen, die geliebt und verloren hatte und nun im Stillen auf eine zweite Schicksalschance hoffte.

Carys kämpfte weitaus mehr gegen sich selbst als gegen ihn. Die warmen Lippen an ihrer empfindlichen Haut zogen sie erbarmungslos in ihren Bann, aber noch konnte Carys den Fluchtgedanken nicht ausschalten. Auch wenn dieser ganze Augenblick reine Illusion war.

Mit letzter Kraft wehrte sie sich. „Nein. Ich will nicht …“ Es war zu spät.

Alessandro besaß den untrüglichen Instinkt eines erfolgreichen Jägers, der genau spürte, wann er die Oberhand gewonnen hatte. Er nutzte ihren schwachen Moment aus und stieß leicht mit der Zunge vor.

Hinter Carys’ dunklen Lidern explodierten Blitze, und sie klammerte sich Hilfe suchend an seine Schultern, während er den Kuss weiter intensivierte. Ganz allmählich folgte ihr Mund seinen stummen Befehlen, und ihr kam es vor, als würde Alessandro ihr neues Leben einhauchen.

Alles fühlte sich richtig an, und Carys’ Panik verschwand. Erst jetzt gab sie sich hin und nutzte die intime Situation, um sich ihrerseits erneut mit seinem Körper vertraut zu machen. Obwohl Alessandros Gestalt schmaler als früher war, konnte sie die kräftigen Muskeln spüren, selbst durch die Kleider hindurch. Wohlige Erinnerungen prasselten auf sie ein: Wie er ihr Befriedigung verschaffte, sie fest in seinen Armen hielt und ihr tief in die Augen sah, sobald sie sich vereinigten. Sein Geschmack, sein Geruch.

Unbewusst stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um ihm noch näher sein zu können. Sie wollte mehr von diesem aufregenden Kuss, der die Gegenwart verdrängte.

Mit einem unterdrückten Stöhnen umfasste Alessandro ihren Po und hob Carys leicht gegen seinen Körper, worauf sie seine Erregung deutlich spüren konnte. Ja, an diese erotisierende Stärke erinnerte sie sich noch gut, und sie hatte ihr unendlich gefehlt.

Irgendwie schaffte er es, sich mit ihr zu einer Wand zu bewegen und Carys dagegen zu pressen. „Du Verführerin!“, schimpfte er heiser.

Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass sie lebensnotwendigen Sauerstoff bekommen hatte. Die heißen Küsse raubten ihr den Atem und allmählich auch den letzten Rest ihres Verstandes.

Alessandro hob sie noch etwas höher, und Carys schlang automatisch ihre Beine um seine Hüften. Ihre Lust und ihr Verlangen wurden stärker und stärker, während sie sich unablässig berührten, liebkosten.

Mit zitternden Fingern löste sie seine Krawatte und öffnete die oberen Knöpfe seines Hemds. Sie konnte es kaum abwarten, seine warme Haut unter ihren Fingerspitzen zu fühlen. Nur unbewusst bekam sie mit, wie er ihr unter dem Rock Strumpfhose und Slip abstreifte, denn im gleichen Augenblick riss sie ungeduldig sein Hemd auf und küsste seine nackte Schulter.

„Ich wusste doch, du willst es genauso sehr wie ich, cara.“ Dann sprach er leise auf Italienisch weiter.

Er will nicht mich, meldete sich eine Stimme in ihrem Kopf. Er will nur Sex! Körperliche Befriedigung.

Vermutlich würde ihm beinahe jede Frau in diesem Moment genügen, Carys war schlicht und einfach gerade verfügbar. Mehr als das: Sie war willens, sich ihm hinzugeben. Sie verzehrte sich nach ihm.

Entsetzt versteifte sie sich. Was tat sie hier überhaupt? Sie überließ ihrer Einsamkeit und ihrer Sehnsucht die Führung, was sie direkt in die absolute Selbstzerstörung stürzen würde.

„Nein! Halt!“ Carys bewegte sich so abrupt, dass Alessandro ein paar Millimeter zurückwich. Ihre nackten Füße berührten den Boden, und erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Strumpfhose und ihr Slip längst ein ganzes Stück neben ihr lagen.

Beinahe hätte er sie für sich gehabt – hier, an der Wand seiner unbezahlbar teuren Suite. Nicht einmal den Rock hatte sie ausgezogen! Nach allem, was geschehen war, wie konnte sie nur so viel Schwäche zeigen?

„Carys?“

Wortlos stieß sie seine Hand zur Seite, entschlossen zur Flucht, und stolperte dabei über einen ihrer Schuhe. Ihre Selbstachtung war zu Staub zerfallen. Hastig und mit Tränen in den Augen zerrte sie den Saum ihres Rocks hinunter.

„Ich helfe dir“, bot er an, doch Carys streckte beide Arme aus, um Alessandro auf Abstand zu halten.

„Nein!“ Selbst mit Lippenstift am Kinn und völlig zerzausten Haaren sah er so sexy aus, dass sie gleich wieder hätte schwachwerden können. Es war schlicht und ergreifend unfair!

Er atmete mindestens so schwer wie sie, und seine Wangen waren gerötet. Anzeichen animalischer Lust. Das war alles, was Alessandro jemals für sie empfunden hatte.

Wann lerne ich denn endlich mal dazu? fragte Carys sich wütend. Verlegen biss sie sich auf die Unterlippe und hasste sich für das, was sie beinahe getan hätte. Nur ein Kuss – und die Dinge waren außer Kontrolle geraten. Carys war bereit gewesen, sich zur Hauptdarstellerin ihrer eigenen Demütigung zu machen.

Wieder einmal hatte Alessandro sich als übermächtiger Verführer bewiesen, aber das war bei Weitem keine Entschuldigung. Sie hätte ihm widerstehen müssen, allein schon aus Respekt vor sich selbst.

„Fass mich nicht an!“, zischte sie und richtete ihr Kostüm, so gut es eben ging. Dabei hielt sie ihren Blick fest auf seinen Oberkörper gerichtet, um dem Triumph in seinen Augen nicht begegnen zu müssen. So viel war ihr Stolz doch noch wert.

Va bene. Wie du willst.“ Seine Haltung war starr und unerbittlich. „Dann unterhalten wir uns eben. Fürs Erste.“

Rückwärts stolperte Carys über den dicken Teppich. Alessandro folgte ihr nicht, sondern sah sie nur aufmerksam an, so als würde er erwarten, dass sie in Kürze wieder zur Besinnung kam.

„Wir müssen miteinander reden, Carys.“

Von wegen, dachte sie. Ihr reichte, was heute Abend geschehen war. Carys’ Blick senkte sich nach unten. Wie hatte das alles nur passieren können? Und würde sie sich beim nächsten Mal standhafter wehren können?

„Ich werde nicht hierbleiben, nur um gleich wieder angefallen zu werden“, stieß sie hervor.

„Angefallen?“ Jetzt richtete er sich zu seiner vollen Größe auf, und seine Miene wurde ernst. „So kann man das wohl kaum nennen. Du hast jede meiner Berührungen dankbar empfangen.“

Diese arrogante Feststellung brachte das Fass zum Überlaufen, weil sie stimmte. Carys war schwach und nicht in der Lage, sich vor Alessandro und seiner Anziehungskraft zu schützen.

Unschlüssig zuckte sie die Schultern. „Ich war neugierig, das ist schon alles. Außerdem ist es eine ganze Weile her, dass ich …“

„Du hast dich aufgespart, cara? Ist es das?“

Seine Stimmlage verriet ihr, wie gern er daran glauben würde, dass es außer ihm keinen anderen Mann mehr gegeben hatte. Diese Erkenntnis machte Carys wütend. Wütend genug, um zu widersprechen. Immerhin hatte dieser Mann ihre Unschuld geraubt, zusammen mit ihrer Liebe und ihrem Vertrauen, und jetzt glaubte er auch noch, sie würde nur aufgrund eines Fingerschnippens zu ihm zurückkehren.

„Nein“, log sie dreist. Aber sie hatte ernsthaft kein Interesse daran, sein Ego zu füttern. „Mein Freund und ich hatten lediglich eine kleine Meinungsverschiedenheit und …“

„Freund?“ Sein Tonfall klang in den edlen Wänden der Suite wie ein Donnerhall. „Du vermisst deinen Freund? Erzähl mir nicht, du hast gerade wirklich an ihn gedacht?“

„Wieso nicht?“ Mutig hielt sie seinem giftigen Blick stand.

„Ich glaube dir kein einziges Wort.“ Doch sie sah den Zweifel in seinen Augen, und endlich meldete sich der Triumph auf ihrer Seite zurück. Vielleicht konnte sie sich doch noch nachhaltig vor Alessandro schützen.

„Glaub, was du willst, Conte Mattani!“

„Bezeichne mich nicht so“, erwiderte Alessandro erbost. „Ich bin kein Fremder für dich.“

Carys sparte sich eine Antwort und wandte sich dem Foyer zu.

„So willst du doch jetzt nicht etwa gehen?“, rief er ihr hinterher.

Natürlich war sie sich ihres derangierten Äußeren bewusst: die Haare lose, das Kostüm verrutscht und barfuß. Aber es gab Schlimmeres.

„Du wirst es sehen.“

Alessandro stand auf der Privatterrasse seiner Suite und beobachtete die dunkel gekleideten Arbeiter, die sich auf dem Weg zur Brückenbaustelle befanden. Es war früh am Morgen, aber er hatte schon ein paar Arbeitsstunden hinter sich.

Allein aus Gewohnheit stand er früh auf und arbeitete bis spät in den Abend. Aber an diesem Morgen schaffte er es einfach nicht, seinen Frust abzubauen.

Dabei hatte er noch weniger geschlafen als gewöhnlich. Träume von schlanken Schenkeln, die seinen Körper umschlangen, hatten seine Ruhe gestört. Sturmgraue Augen und weibliche Kurven, die einen Mann in den Wahnsinn treiben konnten. Mehrmals war er schweißgebadet wach geworden, hatte nach Atem gerungen und gegen seine Erregung gekämpft. Aber nichts änderte die Tatsache, dass Carys Wells geflohen war, bevor sie ihnen beiden gestattete, wonach sie verlangten.

Ratlos rieb er sich über sein unrasiertes Kinn. Selbst im Traum hatte sie ihn abgelehnt. Alessandro konnte kaum glauben, wie feige sie war. Vor allem, nachdem er die Lust in ihren Augen gesehen hatte. Das Verlangen war so greifbar gewesen!

Wutentbrannt klammerte er sich an der Balustrade fest. War es vielleicht eine Taktik von ihr, ihn so unerfüllt zurückzulassen? Was erhoffte sie sich davon?

Alessandro schüttelte den Kopf. Keine Frau war zur Schauspielerin geboren. Zudem kannte er jeden erdenklichen Trick, wenn es darum ging, eine Dame in sein Bett zu locken. Aber das war in diesem Fall gar nicht nötig. Carys Wells wollte ihn, hatte ihnen beiden das Vergnügen der Zusammenfindung jedoch versagt. Warum?

Vom Fluss her strömte eine angenehm kalte Brise herüber. Er hätte nicht so hastig vorpreschen und zusehen dürfen, wie ihm die Zügel aus der Hand geglitten waren.

Eines der ersten Dinge, die er in der Firma seines Vaters gelernt hatte, war Geduld. In der Finanzwelt plante man die Dinge – ohne jegliche Emotionen – und schlug dann im entscheidenden Moment zu.

In der vergangenen Nacht hatte er nicht gerade seinem Verstand das Denken überlassen. Und damit war Carys fürs Erste verschreckt. Ihm war immer noch bewusst, wie erschrocken ihre Augen gewirkt hatten, als sie sich rückwärts dem Ausgang seiner Suite näherte.

Das tat Alessandro aufrichtig leid, am meisten natürlich für sich selbst. Er hatte Carys in die Flucht geschlagen und keine Ahnung, ob sie sich ihm jemals wieder freiwillig nähern würde.

Er hätte sich zurückhalten und seine animalischen Instinkte im Zaum halten sollen. Stattdessen hatte er sich dem Verlangen hingegeben, an die Vergangenheit anzuknüpfen. Und damit hatte er Carys buchstäblich verjagt. Ihre weit aufgerissenen Augen hatten Bände gesprochen. Und dieser Fehler tat ihm fast körperlich weh.

Ungeduldig fuhr er sich mit einer Hand über das Gesicht und schnitt eine Grimasse. Sein Sicherheitsteam hatte ihm berichtet, sie wäre heil nach Hause gekommen, ohne die Observation zu bemerken. Trotzdem fühlte er sich schuldig. Immerhin hatte er sie mit seinem Verhalten völlig aus der Bahn geworfen.

Wann hatte er sich jemals so unkontrolliert und rücksichtslos verhalten? Würde es mit ihr immer so sein? Diese Frage zermürbte ihn. Er war so dicht an der Wahrheit, und trotzdem waren alle Antworten verborgen.

Das Klingeln seines Mobiltelefons erlöste ihn aus diesen trüben Gedanken. Es war Bruno, Chef seines Sicherheitsteams, der ihm mitteilen wollte, wohin Carys sich an diesem Morgen begab.

Alessandro erstarrte und gab ein paar knappe Befehle. Dann ließ er das Telefon sinken und wartete auf die Bilder, die Bruno ihm auf sein Handy schicken wollte.

Da waren sie. Durch die Bewegung leicht verschwommen, aber dennoch unverkennbar. Carys Wells in einem makellosen Outfit und mit perfekter Frisur. Und in ihrem Arm … Alessandro beugte sich tiefer über sein Handy. Ein Baby.

Carys hatte ein Kind.

Ungläubigkeit presste ihm die Luft aus der Lunge. Sein Kiefer verkrampfte sich. Wessen Kind war das? War dieser Kerl der Vater, dieser Exfreund, von dem sie gesprochen hatte? Ein Langzeitgeliebter oder vielleicht irgendein anderer Mann?

Ein stechender Schmerz bahnte sich seinen Weg durch Alessandros Magengrube. Fassungslos betrachtete er das Bild von Carys und ihrem Kind.

Erst jetzt erkannte er die Gefühle, die sein Nervensystem durchdrangen. Maßlose Wut. Eifersucht, weil sie sich auf einen anderen Mann eingelassen hatte. Carys gehörte ihm, ganz gleich, wie oder warum sie auseinandergegangen waren. Diese magische Leidenschaft zwischen ihnen war doch wohl Beweis genug. Dagegen verblasste jede andere Affäre, die sie vielleicht einmal gehabt hatte.

Alessandro war nach Australien gekommen, um sich Klarheit zu verschaffen. Doch letzte Nacht musste er feststellen, dass ihm Antworten allein nicht reichten. Er begehrte Carys und hatte keine Ahnung, wie lange dieses Begehren anhalten würde.

Sie jetzt mit dem Kind eines anderen Mannes in ihren Armen zu sehen, zerrte an seinen Nerven. Allein der Anblick hätte ihn schon von seinem Verlangen kurieren sollen. Stattdessen lechzte er danach, die Identität des Vaters festzustellen, um diesem mit bloßen Händen den Hals umzudrehen!

4. KAPITEL

Carys schlug ihren bodenlangen Mantel eng um sich, als sie das Hotel durch den Personaleingang verließ. Sie hatte ihn günstig in einem Secondhandladen erstanden, allerdings war er eine Nummer zu groß und blähte sich im kalten Wind von Melbourne weit auf. Sie fröstelte.

Es regnete Bindfäden, aber mit etwas Glück kam ihr Zug pünktlich, und Carys war zu einer einigermaßen zivilen Zeit zu Hause. Heute waren zwei ihrer Kolleginnen wieder bei der Arbeit erschienen, daher musste Carys endlich keine Überstunden mehr machen. Sie freute sich schon auf ein paar ruhige Stunden mit Leo, gefolgt von einer heißen Badewanne und einer langen Nacht in ihrem bequemen Bett.

Entschlossen ignorierte sie die Vorahnung, dass sie sich vermutlich nur eine weitere schlaflose Nacht unruhig zwischen ihren Kissen hin- und herwälzen würde. Tagsüber arbeitete sie wie ein Roboter, gefangen in einer Art Schockzustand. Carys hatte erwartet, dass Alessandro erneut auf sie zukommen würde. Immerhin wusste er doch genau, wo sie arbeitete, also warum ließ er sie in Ruhe?

Eine dunkle Ahnung trübte ihre Gedanken. Alessandro wartete auf den geeigneten Augenblick. Er war hinter Leo her – hinter ihrem geliebten Jungen. Warum sonst sollte er den ganzen Weg aus Italien nach Melbourne kommen?

Und ein Mann mit seinem Einfluss und seinen Möglichkeiten bekam grundsätzlich, was er wollte. Und wenn es sich um seinen leiblichen Sohn handelte …

Carys machte sich nichts vor. Sie selbst stand sicher nicht im Fokus seines Interesses, und gestern Abend hatte er lediglich die Gelegenheit gewittert, unkomplizierten Sex haben zu können. Wahrscheinlich fehlte ihm seine Ehefrau …

Zu ihrer Schande verspürte Carys bei diesem Gedanken einen unangenehmen Stich in der Magengegend. Sie hatte nicht einmal daran gedacht, dass Alessandro mit einer anderen Frau zusammen war. Sein unerwartetes Auftauchen hatte Carys in eine Zeit zurückkatapultiert, in der sie nur ihm gehörte – mit Leib und Seele. Und sie war davon ausgegangen, Alessandro würde allein ihr gehören, doch dann heiratete er seine blaublütige Erbin.

Als Carys sich auf die Unterlippe biss, schmeckte sie das Salz ihrer eigenen Tränen. Wie kurz war sie davor gewesen, etwas zu tun, das all ihre Prinzipien zunichte gemacht hätte? Heute Morgen hatte sie sich kaum im Spiegel ansehen können. Aber von Alessandro war sie mindestens ebenso enttäuscht wie von sich selbst. Hatte er sie doch als Gelegenheitsaffäre ausnutzen wollen, und das passte überhaupt nicht zu dem Ehrenmann, der er für Carys einmal gewesen war.

Sie straffte die Schultern und nahm sich vor, aus ihren eigenen Fehlern zu lernen.

Vor ihren Augen tauchten plötzlich perfekt polierte schwarze Herrenschuhe auf, und sie machte einen schnellen Schritt zur Seite, um dem Mann auszuweichen. Doch auch er bewegte sich nach rechts und zwang sie so, abrupt stehen zu bleiben.

Er war stattlich gebaut, trug dunkle Nadelstreifenhosen, ein schneeweißes Hemd mit schwarzer Krawatte und ein maßgeschneidertes Jackett. Dunkelhäutiges Gesicht, grau melierte Haare und ein goldener Ohrring – Carys war sicher, ihm schon einmal begegnet zu sein.

Scusi, signorina. Hier entlang, bitte!“

Er streckte einen muskulösen Arm aus und wies auf den Straßenrand. Dort stand eine schwarze Limousine mit getönten Scheiben, die Hintertür war geöffnet. Carys erkannte die langen, schlanken Männerbeine sofort.

Ihr Puls klopfte laut in ihren Ohren. Das Letzte, was sie wollte, war, mit Alessandro Mattani auf engstem Raum eingepfercht zu werden.

„Warum steigst du nicht ein, bevor ihr beide bis auf die Haut durchnässt seid?“, ertönte eine tiefe Stimme aus dem Wagen.

„Und wenn mir das lieber ist, als dir gegenüberzusitzen?“, konterte sie scharf.

„Dann würde ich das ziemlich selbstsüchtig finden, da du Bruno dazu zwingst, für deinen Stolz im kalten Regen stehen zu bleiben.“

Alessandro glaubte tatsächlich, es ging ihr lediglich um Stolz? Der Mann neben ihr hatte die Statur eines Rugbyspielers und drängte Carys nun sanft, aber bestimmt in Richtung des Autos. Sein Gesicht wirkte ausdruckslos bis finster.

„Per favore, signorina!“

Der Regen wurde allmählich stärker, trotzdem zuckte Bruno nicht einmal mit der Wimper, während ihm Rinnsale kalten Wassers in den Kragen liefen.

„Lass dich von seinem Äußeren nicht in die Irre führen, Carys“, gab Alessandro mit lakonischer Stimme Entwarnung. „Er ist ziemlich vorbelastet, was seine Atemwege angeht. Hat gerade erst eine hartnäckige Bronchitis überwunden, und ich möchte nicht, dass er einen Rückfall erleidet. Aber das möchtest du doch bestimmt nicht auf dem Gewissen haben?“

Sie blinzelte und schielte zu dem Chauffeur hoch. Lächelte er etwa? Nein, sie hatte sich getäuscht.

Alessandro streckte den Kopf halb aus dem Wagen heraus. „Seine Frau wird mich bei lebendigem Leibe in Stücke zerlegen, wenn ich ihn mit einer Lungenentzündung nach Hause bringe.“

Trotz ihrer Wut spürte Carys, wie ihre Mundwinkel zuckten. Vor langer Zeit war Alessandros trockener Humor eine der Eigenschaften gewesen, die sie an ihm so anziehend gefunden hatte. Nachdem ihre letzten Erinnerungen nur die traurigen, wortkargen Tage vor ihrer Trennung umfassten, hätte sie das beinahe vergessen.

„Ich hätte gedacht, Erpressung wäre eher dein Stil“, kommentierte sie ruhig. „Oder Drohungen. Stattdessen appellierst du an mein Gewissen?“

Regen tröpfelte ihr langsam in den Kragen, doch Carys blieb eisern neben der Limousine stehen. Dieser Mann war einfach zu gefährlich.

Alessandro zuckte ungerührt die Achseln und sagte etwas auf Italienisch, woraufhin Bruno ihr den Weg freigab. Gerade wollte Carys ihre Chance zur Flucht nutzen, als Alessandros seidenweiche Stimme sie buchstäblich lähmte.

„Ich bereue die letzte Nacht, Carys. Das war so nicht von mir geplant.“

Auf eine Antwort wartete er vergeblich, und nach einer Weile wurden Alessandros Augen schmal. Es war nicht zu übersehen, wie sehr ihn ihre Haltung ärgerte, doch er verlor kein einziges Wort darüber.

Wenn das eben eine Entschuldigung sein sollte, hat er noch eine Menge dazuzulernen, dachte Carys und hob stolz das Kinn.

„Wenn du es unbedingt darauf ankommen lassen möchtest“, bemerkte er plötzlich, und in seinen Augen blitzte es bedrohlich auf. „Das Hotelmanagement würde sich bestimmt brennend für die Aufzeichnungen der Sicherheitskameras aus der Lobby interessieren. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es ihnen recht ist, wenn sich eine Mitarbeiterin des Nachts höchstpersönlich um das leibliche Wohl der Gäste kümmert.“

„Das wagst du nicht!“, keuchte sie. Das Bild, wie sie in derangiertem Zustand die Präsidentensuite verließ, würde auf jeden Fall einen völlig falschen Eindruck vermitteln.

„Ach nein?“ Sein Blick blieb nervtötend gelassen. „Carys, es ist ganz egal, was du gemacht hast – die Beweise sprechen für sich.“ Zufrieden lehnte er sich zurück.

Beweise. Das klang so kühl und sachlich. Worauf hatte Alessandro es eigentlich abgesehen? Was bezweckte er mit seinem Schachzug?

Ich brauche diesen Job dringend, dachte sie mit klopfendem Herzen. Wie soll ich sonst für mein Kind aufkommen? Für eine unqualifizierte Kraft war es heutzutage nicht leicht, einen guten Arbeitsplatz zu finden.

Würde Alessandro seine Drohung tatsächlich wahr machen? Früher einmal hatte Carys geglaubt, diesen Mann gut zu kennen – hatte ihm vertraut und sogar gedacht, er hätte sich ernsthaft in sie verliebt. Wie naiv sie doch gewesen war!

Auf brutale Art und Weise hatte sie erfahren müssen, dass es mit ihrer Menschenkenntnis offenbar nicht weit her war. Ihm konnte man wirklich alles zutrauen, das durfte sie nicht vergessen. Alessandro war ihr erklärter Feind. Er bedrohte nicht nur sie, sondern das ganze Leben, das sie sich aufgebaut hatte, ihre Unabhängigkeit und – was am schlimmsten war – ihren Sohn.

„Was willst du von mir?“ In diesem Augenblick machte es ihr herzlich wenig aus, dass ihre Stimme gebrochen, unsicher und heiser klang.

„Einfach nur reden. Zwischen uns ist noch lange nicht alles ausgesprochen.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, rückte er auf seinem Sitz zur Seite, um den Platz für Carys freizumachen.

Autor

Annie West
Annie verbrachte ihre prägenden Jahre an der Küste von Australien und wuchs in einer nach Büchern verrückten Familie auf. Eine ihrer frühesten Kindheitserinnerungen besteht darin, nach einem Mittagsabenteuer im bewaldeten Hinterhof schläfrig ins Bett gekuschelt ihrem Vater zu lauschen, wie er The Wind in the Willows vorlas. So bald sie...
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