Julia Collection Band 99

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Sie werden die heimlichen Könige von Amerika genannt: Keine Familie ist mächtiger als die Marshalls. Ob als Unternehmer, in der Politik oder in Hollywood, die drei Senatorensöhne wissen genau, was sie wollen. Und wen …

MINISERIE von Kimberly Lang

NIE MEHR OHNE DEINE KÜSSE von LANG, KIMBERLY
Ein muskulöser, gebräunter Oberkörper, auf dem unzählige Wassertröpfchen in der Sonne funkeln und hinab zur Taille rinnen … Lily stockt der Atem, als Ethan Marshall splitterfasernackt im Fluss vor ihr steht. Versucht der gut aussehende Unternehmer sie etwa gerade zu verführen?

VORSICHT, SUPERMANN! von LANG, KIMBERLY
Plötzlich angekettet an einen der mächtigsten Männer Washingtons: Umweltaktivistin Aspyn wird heiß vor Schock, als das Blitzlichtgewitter einsetzt. Aber noch schlimmer ist: Ein Teil von ihr brennt unvernünftig darauf, auf ewig an diesen Supermann im Maßanzug gefesselt zu sein ...

FILM AB FÜR UNSERE LIEBE von LANG, KIMBERLY
"Die Hauptrolle in einem Hollywoodfilm!" Begeistert nimmt Caitlyn das unerwartete Rollenangebot an. Auch wenn der Produzent Finn Marshall heißt und ihr Ex ist. Doch mittlerweile kann Caitlyn die Vergangenheit auf sich beruhen lassen, glaubt sie. Bis Finn vor ihr steht …


  • Erscheinungstag 14.10.2016
  • Bandnummer 99
  • ISBN / Artikelnummer 9783733707798
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kimberly Lang

JULIA COLLECTION BAND 99

1. KAPITEL

Goose schlug mit dem Kopf, tänzelte zur Seite und riss Lily mit einem Ruck aus ihren Tagträumen. In letzter Sekunde konnte sie das Pferd davon abhalten, unter einem gefährlich niedrig hängenden Ast hindurchzulaufen, und lenkte es zurück auf den Weg.

„Benimm dich gefälligst, du verwöhntes Pferd!“

Goose schnaubte empört.

Würde er sie jetzt abwerfen, wäre das ihre eigene Schuld. Schließlich wusste sie genau, wie gern Goose seine Reiter herausforderte. Doch die stille Idylle des Marshall-Anwesens zog Lily immer wieder in ihren Bann. Und der gleichmäßige Rhythmus von Gooses Schritten versetzte sie in einen fast tranceartigen Zustand. Kein Wunder, dass ihre Konzentration nachließ.

All die Leute, die viel Geld für exklusive Yogastunden und Gesprächstherapeuten ausgaben, sollten sich einmal eine halbe Stunde auf ein Pferd setzen und durch die Natur reiten. Dann bräuchten sie keine komischen Verrenkungen oder endlose Sitzungen über ihren Vaterkomplex mehr, um endlich Frieden zu finden. Das hier war besser als jede Therapie – und dazu noch umsonst.

Nein, es war mehr als umsonst. Die Marshalls zahlten ihr sogar etwas dafür, dass sie ausritt. Manchmal konnte Lily ihr Glück nicht fassen. Es war zu perfekt.

Goose fiel in einen leichten Trab, als der Wald sich lichtete und das Glitzern der Sonnenstrahlen auf der Wasseroberfläche des Flusses durch das Blattwerk schimmerte. Während sie auf das Ufer zuritten, hob Lily ihr Gesicht der Sonne entgegen, um sich zu wärmen. Ohne zu zögern, watete Goose ein paar Schritte ins Wasser hinein. Nur ein scharfer Zug am Zügel hielt ihn davon ab, weiter ins Tiefe zu gehen.

„Nicht mit mir, Goose. Ich kenne deine Tricks. Diesmal werde ich nicht wieder den ganzen Tag mit nassen Stiefeln herumlaufen.“

Als hätte es sie verstanden, schnaubte das Tier widerwillig, um dann den Kopf zu senken und einige Schlucke zu trinken. Lily zog ihre Wasserflasche aus der Satteltasche und blieb einige Minuten still auf dem Pferderücken sitzen, um den Ausblick auf den Fluss und die dahinterliegenden Berge zu genießen, die von der Sonne angestrahlt wurden.

Das Marshall-Anwesen – Hill Chase – glich einem Stück Himmel auf Erden. Es lag nah genug an Washington, um den Familienmitgliedern mit ihren wichtigen Positionen in Politik und Regierung einen Zufluchtsort zu bieten. Gleichzeitig fühlte man sich meilenweit von der Stadt entfernt. Das Anwesen war Familiensitz und Unternehmen zugleich. Und Lily tat ihr Bestes, um sich in die Schar der unzähligen Angestellten zu integrieren. Tief sog sie die frische, saubere Luft ein und dachte daran, wie misstrauisch sie am Anfang gewesen war.

Ihre Sozialarbeiterin hatte ihr prophezeit, dass der Tag kommen würde, an dem sie ein neues Leben beginnen würde. Damals hatte Lily Jerry nicht geglaubt, doch nun …

Es war tatsächlich ein ganz neues Leben, das sie jetzt führte. Die Lily von früher schien immer mehr zu verblassen. Es fühlte sich an, als wäre sie jahrelang in einem Käfig gefangen gewesen und könnte sich erst jetzt wieder frei bewegen.

Sie schüttelte den Kopf, um sich von den Gedanken zu befreien. Am liebsten würde sie den ganzen Tag hier verbringen, doch es warteten noch zwei weitere Pferde darauf, bewegt zu werden – und eine ganze Liste zusätzlicher Aufgaben im Stall.

„Na los, Goose. Lass uns gehen“, forderte sie das Pferd auf.

„Jetzt schon? Du bist doch gerade erst gekommen.“

Beim Klang der Stimme, die wie aus dem Nichts zu kommen schien, verlor Lily vor Schreck fast das Gleichgewicht. Die Wasserflasche entglitt ihren Fingern und landete mit einem lauten Platschen im flachen Wasser neben den Hufen des Pferds. Verwirrt drehte sie sich im Sattel um. Nur wenige Meter vor ihnen schwamm ein Mann im Fluss. Lediglich sein Kopf und seine Schultern ragten aus dem Wasser.

„Entschuldigung. Ich wollte dir keine Angst einjagen.“ Das freche Lächeln strafte seine Worte Lügen.

„Ich habe mich bloß erschrocken.“

Das war auch berechtigt, denn die Reitwege waren Privatbesitz und niemand wusste, dass sie hier war. Als Goose die Stimme des Mannes hörte, wieherte er leise, als wollte er ihn begrüßen.

Ehe Lily sich versah, begann das Pferd auch schon, tiefer ins Wasser zu waten. Sosehr sie auch an den Zügeln zog, um es zu stoppen, es half nichts.

Glücklicherweise kam der Mann ihnen auf halbem Wege entgegen, sodass sie lediglich ihre Beine anziehen musste, um nicht nass zu werden. Vertrauensvoll rieb Goose seinen Kopf an der Brust des Fremden, und für einen Moment war der Mann abgelenkt.

Plötzlich wusste Lily, wen sie vor sich hatte: Ethan Marshall, einen der Großenkel von Senator Marshall. Sie hatte gehört, dass er gerade von einem langen Londonaufenthalt zurückgekehrt war. Die ganze Familie war seinetwegen während der letzten Tage in Aufruhr gewesen. Sie kannte zwar bereits einige Bilder von ihm, stellte nun aber fest, dass sie kein Vergleich zur Realität waren.

Die Marshalls waren ohnehin von Natur aus mit guten Genen gesegnet: honigblondes Haar, tiefgrüne Augen, markantes Kinn und hohe Wangenknochen. Ethan jedoch stahl ihnen allen die Show. Kräftiges Haar, das sich um die Ohren herum ein wenig lockte, ein muskulöser gebräunter Oberkörper mit breiten Schultern, auf dem unzählige Wassertröpfchen in der Sonne funkelten und hinab zu seiner Taille rannen.

Verdammt. Sie schaffte es kaum, den Blick von ihm abzuwenden. Der Mann war so attraktiv, dass es wohl kaum eine Frau gab, die in seiner Nähe nicht nervös werden würde. Und als er aufsah und sie anlächelte, musste sie sich fast am Sattel festklammern, um nicht erneut aus dem Gleichgewicht zu geraten.

„Ich bin Ethan Marshall.“

„Ich weiß.“ Jetzt sieh ihm schon in die Augen und reiß dich zusammen! „Schön, Sie endlich einmal zu treffen.“

Lily ließ Goose ein paar Schritte zurückgehen, um die Beine, die sie immer noch angezogen hatte, wieder nach unten strecken zu können. Ethan sah sie erwartungsvoll an, doch ihr fiel nichts mehr ein, was sie noch sagen könnte.

„Willkommen zurück“, setzte sie dann noch hinzu.

„Danke. Und du bist …“

Sofort stieg ihr das Blut in die Wangen. Wie dumm von ihr.

„Lily. Lily Black.“

„Nett, dich kennenzulernen, Lily. Und wie oft hat Goose dir schon nasse Stiefel beschert, bis du ihn durchschaut hast?“, erkundigte er sich lächelnd.

„Ganze drei Mal.“

Er lachte, und sie hob die Schultern.

„Offensichtlich lerne ich nicht besonders schnell.“

„Tinker macht übrigens das Gleiche, falls du das bisher noch nicht mitbekommen haben solltest.“

Tinker war Ethans Pferd. Ein großer, weißer Hengst, der nur Flausen im Kopf hatte.

„Oh, Tinker hat mich bereits an meinem zweiten Arbeitstag kopfüber in den Fluss befördert.“

Als sie Ethan schmunzeln sah, fühlte sie sich ermutigt, auch noch den Rest der Geschichte zu offenbaren. „Anschließend ist er abgehauen und hat mich den ganzen Weg klatschnass zum Stall zurücklaufen lassen.“

Ethans Lachen klang so herzlich und gleichzeitig maskulin, dass sie innerlich dahinschmolz.

„Von der Geschichte hab ich schon gehört. Ich wusste aber nicht, dass er das mit dir gemacht hat. Es tut mir leid.“

„Warum? Haben Sie ihm das etwa beigebracht?“

„Immerhin konnte ich so meine Brüder und Cousins von meinem Pferd fernhalten, wenn ich nicht da war.“

Seine gute Laune war ansteckend. Lily bemerkte, dass es ihr richtig Spaß machte, sich mit ihm zu unterhalten. Wie lange war es her, dass sie auf so nette Art Belanglosigkeiten mit jemandem ausgetauscht hatte? Was für ein schönes, wenn auch ungewohntes und fast vergessenes Gefühl.

„Dein Pferd ist ein Schlawiner. Ein hübscher Schlawiner, muss man dazusagen.“

Belustigt zwinkerte Ethan ihr zu. „Angeblich sagt man das Gleiche über mich.“

Ohne den ironischen Tonfall hätte der Kommentar furchtbar selbstgefällig gewirkt. Lily konnte gar nicht anders, als ihren Blick erneut über den nackten Oberkörper schweifen zu lassen. ‚Hübsch‘ fand sie bei Weitem untertrieben. Der Mann war ein Prachtexemplar.

Ungeduldig zog Goose an den Zügeln und schnaubte. Fast erleichtert über die Ablenkung brachte sie das Pferd wieder unter Kontrolle. Ethan Marshall sollte nicht glauben, dass sie dem Pferd nicht gewachsen war.

„Er freut sich offensichtlich, Sie zu sehen, Mr. Marshall. Normalerweise ist er lammfromm.“

„Ethan“, korrigierte er. „Einfach nur Ethan. Schließlich gibt’s hier so viele Mr. Marshalls, dass man völlig den Überblick verliert.“

Wieder spürte Lily, wie ihr vor Verlegenheit die Röte ins Gesicht stieg. „Also gut, Ethan“, wiederholte sie.

Sein warmes Lächeln ließ ihr Herz schneller schlagen. Glücklicherweise lenkte Goose in diesem Moment ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich.

„Ähm, also ich sollte wahrscheinlich besser zurück zum Stall reiten. Es war schön, dich zu treffen.“

„Danke gleichfalls, Lily.“

Während sie Goose zurück zum Ufer trotten ließ, sah sie ihre Wasserflasche im flachen Wasser treiben.

„Mr. Marsh – ich meine, Ethan – wärst du so nett, mir die Flasche zu reichen?“, bat sie.

„Nein, tut mir leid.“

Erstaunt wandte sie sich im Sattel um. Hatte sie sich in ihm getäuscht? Es war doch wirklich nicht zu viel verlangt, die Flasche für sie aus dem Wasser zu fischen. War ein Marshall sich zu gut, um für seine Angestellten etwas aufzuheben?

„Ich würde ja absteigen, aber dann bekomme ich nasse Füße“, erklärte sie.

Doch Ethan zuckte bloß die Schultern. „Tut mir leid. Da kann ich dir nicht helfen.“

Verdammt, wie konnte man nur so eingebildet sein?

Sein Lächeln wurde sogar noch breiter, als er die Arme über der Brust kreuzte, sie herausfordernd ansah und sagte: „Du hast es vielleicht nicht bemerkt, aber ich trage nichts als Wasser auf meiner Haut.“

Als ihr die volle Bedeutung seiner Worte bewusst wurde, spürte Lily, wie ihre Wangen anfingen zu glühen. Er stand gerade mal zwei Meter von ihr entfernt und hatte nichts an? Sie konnte sich nicht helfen, ihr Blick glitt automatisch zurück zu seinem Oberkörper und hinab zu der Wasserlinie, die direkt unterhalb seines Bauchs begann …

Ethans Lachen veranlasste sie, sich schnell wieder umzudrehen.

„Wenn ich sie hole, könnte das etwas unangenehm für einen von uns beiden werden …“

Sein Tonfall verriet ganz deutlich, wen er damit meinte.

Wie peinlich! Während sie die Brust- und Bauchmuskeln des Mannes bewundert hatte, war nur wenige Zentimeter darunter … Lilys Wangen brannten mittlerweile wie Feuer.

„Möchtest du trotzdem, dass ich sie hole?“

Und ehe sie sich versah, hörte sie auch schon Wasser spritzen, als würde er Anstalten machen, ans Ufer zu kommen.

„Nein!“, protestierte sie heftig und räusperte sich dann verlegen. „Ich meine, ist schon gut. Ich hole sie.“

Ohne ihn anzusehen, sprang sie blitzschnell vom Pferd, schnappte sich die Flasche und schwang sich wieder in den Sattel. Das Wasser spritzte um Gooses Hufe, als sie ihm die Sporen gab. Es war ihr egal, ob ihr plötzlicher Rückzug in seinen Augen feige und verklemmt wirkte. Sie musste hier weg, sonst würde sie vor lauter Scham noch im Boden versinken.

Ethans Gelächter hallte in ihren Ohren, als sie hocherhobenen Hauptes davontrabte.

Er war die ganze Zeit splitternackt gewesen.

Je weiter Lily sich vom Fluss entfernte, desto ruhiger wurde ihr Puls. Dafür fühlte sie sich nun unbehaglich. Zweifellos hatte Ethan die Situation lustig gefunden, vielleicht sogar so lustig, dass er den anderen davon erzählte. Seiner Großmutter zum Beispiel? Mrs. Marshall würde sicher nicht darüber lachen können.

War das ein Kündigungsgrund? Bei dem Gedanken lief es ihr eiskalt den Rücken herunter. Es war nicht nur der Job, den sie dringend brauchte – sie brauchte auch die Sicherheit, die Hill Chase ihr bot. Dieses friedliche Zuhause, wo sie endlich zur Ruhe kommen konnte.

Er hat die ganze Zeit nackt vor mir gestanden. Wie soll ich ihm jemals wieder in die Augen schauen können?

Entschlossen hob Lily ihr Kinn. Es war purer Zufall, dass sie in diese Situation geraten war. Niemand war zu Schaden gekommen. Die Chancen, dass sie ihren Job verlor, waren also äußerst gering. Sie musste aufhören, sich immer gleich die schlimmsten Dinge auszumalen. Und bei der nächsten Begegnung mit Ethan würde sie einfach so tun, als wäre nie etwas passiert. Das fand sie am vernünftigsten. Sicher würde er die Sache auch schnell vergessen wollen.

Konnte sie es denn vergessen? Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie, wie …

Nein. Ethan Marshall splitterfasernackt im Fluss war definitiv ein Bild in ihrem Kopf, das sie mit ins Grab nehmen würde. Und sie musste sich eingestehen, dass ihr dieses Bild sogar ziemlich gut gefiel.

„Kannst du mir vielleicht einmal verraten, was das zu bedeuten hat?“, erkundigte sich Brady, als er sich ein paar Stunden später auf Spiders Rücken schwang.

Ethan musste sich das Lachen verkneifen, während er die Steigbügel prüfte und dann ebenfalls aufsaß.

„Was meinst du?“, fragte er unschuldig.

„Warum ist Lily fast über ihre eigenen Füße gefallen und knallrot geworden, als sie uns vorhin im Stall gesehen hat? Was hast du mit ihr gemacht?“

„Ich bin noch nicht einmal zwölf Stunden hier. Wie kommst du darauf, dass ich etwas mit ihr gemacht haben könnte?“, entgegnete Ethan.

Brady schnaubte empört.

„Weil du es immer irgendwie schaffst, die Frauen zu verwirren.“

Lilys Reaktion auf den Anblick der beiden Brüder war ziemlich amüsant gewesen. Sie hatte Ethan nur einen Blick zugeworfen, war rot angelaufen und hätte fast den Sattel in ihren Händen fallen gelassen.

„Vielleicht ist sie immer so nervös“, sagte Ethan.

„Das kann ich mir kaum vorstellen. Dann würde sie die Pferde ganz verrückt machen.“

„Du kannst es dir nicht vorstellen? Ich dachte, du weißt immer alles.“

„Ich habe kaum drei Worte mit ihr gewechselt, seit sie hier arbeitet.“

Tinker und Spider trotteten langsam durch die breiten Stalltüren in die Sonne, und Ethan schob sich seine Sonnenbrille auf die Nase.

„Bist du dir mittlerweile schon zu gut, um mit dem Stallpersonal zu reden?“

„Jetzt hör aber auf. Ich bin schließlich nicht ständig hier. Ich hab auch noch einen Job, falls du dich erinnerst.“

Brady klang ein wenig müde. Er steckte bis zum Hals in der Politikmaschine, für die seine Familie seit mehr als vierzig Jahren lebte. Und es war offensichtlich, dass die Arbeit und die Verantwortung, die er trug, bereits jetzt an ihm zehrten.

„Außerdem war sie auch nicht gerade gesprächig. Ich glaube, sie ist etwas schüchtern.“

Vormittags am Wasser hatte Ethan eigentlich nicht das Gefühl gehabt, dass sie übermäßig schüchtern war. Ruhig würde es eher treffen.

Spider und Tinker drängten ungeduldig vorwärts. Sie konnten es nicht erwarten, sich richtig auszutoben. Doch Ethan zügelte Tinker vorerst und erzählte Brady von ihrer Begegnung am Fluss.

„Und sie hat es nicht gemerkt?“, fragte sein großer Bruder ungläubig.

„Nein, erst als ich es ihr gesagt habe.“

„Das war nicht fair von dir. Du hättest es ihr gleich sagen sollen. Kein Wunder, dass sie jetzt durcheinander ist.“

„Mein Gott, sie wird schon drüber hinwegkommen.“

Brady antwortete nicht.

„Was ist denn?“

„Vielleicht solltest du dich entschuldigen.“

„Wofür? Was hab ich denn getan?“

„Abgesehen davon, dass du ihr nicht gleich offenbart hast, dass du nackt badest?“

„Mein Gott, wir sind doch erwachsen …“

„Trotzdem. Du wirst schließlich die nächsten Wochen hier verbringen. Und das …“, Brady nickte mit dem Kopf in Richtung Stall, „kann nicht so weitergehen. Lass das Mädchen in Ruhe und quäl sie nicht jedes Mal, wenn du in den Stall kommst.“

Brady hatte recht. Die Renovierungen in Ethans Wohnung in Washington waren immer noch in vollem Gange. Er würde so lange auf Hill Chase wohnen müssen, bis die Arbeiten abgeschlossen waren. Und egal, wie viel Arbeit sich auf seinem Schreibtisch türmte, er würde versuchen, so viel Zeit wie möglich auf dem Pferderücken zu verbringen. Was hieß, dass er ständig Lily über den Weg laufen würde.

Bradys Handy klingelte. Beim Blick auf das Display verdrehte er die Augen und stöhnte. „Da muss ich rangehen.“

Ethan nickte. Die Wahlkampagne lief auf Hochtouren, und ihr Vater musste sich verdammt anstrengen, um seinen Sitz im Senat zu behalten. Ethan kümmerte es nicht im Geringsten, ob er den Sitz behielt oder nicht. Doch sein Großvater, dessen politische Vergangenheit wahrscheinlich der einzige Grund war, warum Douglas Marshall überhaupt einen Sitz bekommen hatte, legte großen Wert darauf.

Während bei Brady das Verantwortungsgefühl überwog, schaffte Ethan es einfach nicht, seine negativen Gefühle ihrem Vater gegenüber zu ignorieren. Er brachte es nicht über sich, ihn zu unterstützen. Doch aus Respekt vor seinem Großvater behinderte er ihn auch nicht bei seiner Kampagne.

Für Brady hingegen als einem der wichtigsten Mitarbeiter ihres Vaters war es eine sehr anstrengende Zeit. Die Wahl stand kurz bevor. Eigentlich wunderte es Ethan, dass sein Bruder überhaupt Zeit gefunden hatte, raus aufs Land zu fahren.

Im Paddock vor ihnen sah er, wie Lily Biscuit am Halfter führte. Der weiße Verband am Bein der Stute und Lilys langsame Schritte wiesen darauf hin, dass das Tier verletzt sein musste.

Neben Biscuit wirkte Lily klein. Als sie heute Morgen auf Goose gesessen hatte, hatte er ihre Größe nicht abschätzen können. Das dunkelgrüne T-Shirt mit dem Logo vom Marshall-Stall umspielte locker ihre Hüften. Die kurzen Ärmel ließen den Blick auf ihre von der Stallarbeit leicht muskulösen Oberarme frei. Das T-Shirt steckte in einer eng sitzenden Jeans, die ihre schlanken Beine betonte. An den Füßen trug sie wie immer ihre Lederstiefel.

Leise und ruhig sprach sie mit Biscuit. Wenn sie den Kopf bewegte, wippte der lange dunkle Pferdeschwanz, während Biscuit gelegentlich mit dem Kopf schlug, als würde sie Lily zustimmen.

Lily schien Ethans Blick in ihrem Rücken zu spüren, denn plötzlich drehte sie sich um und sah ihn über die Schulter hinweg an.

Brady telefonierte noch immer. Es klang, als würde er noch eine Weile beschäftigt sein. Also lenkte Ethan Tinker in Lilys Richtung. Als er den Zaun erreichte, stieg er ab. Dies war die perfekte Gelegenheit, um sich zu entschuldigen.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte Lily und kam an das Gatter, während sie besorgt hinüber zu Brady schaute.

„Alles in Ordnung. Brady musste nur gerade einen Geschäftsanruf annehmen, also dachte ich mir, ich komme kurz zu dir rüber, um mich zu entschuldigen.“

„Entschuldigen? Wofür denn?“

Sie wirkte ernsthaft verwirrt.

„Für heute Morgen …“

Irritiert schüttelte sie den Kopf. „Ich bin diejenige, die sich entschuldigen muss. Es war mir furchtbar unangenehm …“

„Das habe ich gemerkt.“

„Ich hatte gerade überlegt, wie ich mich bei dir entschuldigen könnte, und da kamst du auch schon in den Stall. Daher war ich nicht ganz vorbereitet.“ Verlegen sah sie zu Boden.

„Na ja …“ Tinker unterbrach ihn, indem er Ethan zuerst mit dem Kopf anstieß und sich dann an Lilys Schulter rieb. Im nächsten Moment schnappte er nach ihrem Zopf und zerrte daran.

„Hey!“, schimpfte sie und musste im nächsten Moment lachen, als Tinker sie unschuldig ansah. Sie kraulte ihn ein wenig zwischen den Augen, seiner Lieblingsstelle.

Ethan beobachtete sie erstaunt. Offensichtlich kannte sie sein Pferd bereits sehr gut.

„Ist schon gut, du kleiner Schlingel“, murmelte sie zärtlich und schwang ihren Zopf über die Schulter, damit Tinker nicht wieder nach ihm schnappen konnte.

Brady hatte Lily ganz falsch eingeschätzt. Sie war kein bisschen schüchtern, sondern nur ein wenig introvertiert. Aber das hatte er sich ja bereits heute Morgen gedacht. Ethan konnte es kaum erwarten, Brady aufzuklären. Der hasste es nämlich, im Unrecht zu sein.

„Er scheint dich zu mögen. Und Tinker mag definitiv nicht jeden.“

„Er weiß genau, dass ich seinem Charme nicht widerstehen kann. Zwar hat es mit uns am Fluss nicht besonders gut angefangen, aber irgendwie hat er es geschafft, meine Sympathie zu wecken. Und jetzt verstehen wir uns blendend. Nicht wahr, mein Junge?“, flüsterte sie ihm ins Ohr.

„Na dann besteht für mich ja auch noch Hoffnung“, scherzte Ethan.

Lily erstarrte. Dann sah sie ihm zum ersten Mal seit ihrer Begegnung am Fluss wieder in die Augen. Ihre Mundwinkel zuckten amüsiert. „Vergleichst du dich etwa mit deinem Pferd?“

Nein, Lily war ganz und gar nicht schüchtern. Diese Erkenntnis löste etwas in Ethan aus.

„Oh, ja, wir haben viel gemeinsam“, erklärte er, bemüht, ernst zu bleiben.

Für einen Moment blieb Lily der Mund offen stehen, doch sie hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. „Also stimmen die Gerüchte tatsächlich …“, murmelte sie.

„Welche Gerüchte meinst du?“

„Dass du ein kleiner Charmeur bist, der es faustdick hinter den Ohren hat.“

Er grinste.

„Jetzt hast du mich enttarnt.“

„Wenigstens gibst du es zu.“

„Ehrlichkeit währt am längsten, findest du nicht?“

Sie überlegte einen Moment. „Meistens.“

„Meistens? Nicht immer?“, fragte Ethan überrascht.

Ein leichter Schatten glitt über ihr Gesicht. Er wäre ihm mit Sicherheit entgangen, wenn er sich nicht so auf sie konzentriert hätte.

„Das Leben ist zu kompliziert, um alle Dinge in Schwarz oder Weiß einzuteilen. Manchmal ist eine kleine Lüge besser als die Wahrheit.“

„Da muss ich dir widersprechen, Lily.“

„Ach ja?“ Stirnrunzelnd legte sie den Kopf auf die Seite. „Du glaubst also, man sollte immer die Wahrheit sagen?“

„Ja.“

„Das hätte ich gar nicht von dir gedacht“, spottete sie lächelnd.

Ohne es zu wollen, versteifte Ethan sich.

„Und warum nicht?“

„Ganz einfach: Deine Familie besteht ausschließlich aus Politikern.“

Sein plötzlicher Lachanfall ließ die Köpfe der beiden Pferde hochzucken. „Dann weißt du ja, woher meine Sehnsucht nach Ehrlichkeit kommt.“

Lily musste ebenfalls lachen.

In diesem Moment kam Brady mit Spider auf sie zu. „Na, das sieht ja schon viel besser aus als vorhin“, bemerkte er.

Prompt errötete Lily bei seinen Worten.

„Entschuldigen Sie, Mr. Marshall.“

Verdammt, sie muss sich doch nicht entschuldigen. Kein Wunder, dass Brady sie für schüchtern hält, dachte Ethan.

„Das macht doch nichts, Lily.“ Brady zwinkerte ihr zu, und Ethan bemerkte überrascht einen leichten Anflug von Eifersucht. „Ich bin sicher, dass alles Ethans Schuld war.“

„Na vielen Dank“, erwiderte sein Bruder.

„Ich weiß, die Wahrheit tut manchmal weh“, spottete Brady und bemerkte irritiert, wie Ethan und Lily sich daraufhin verschwörerisch anlächelten. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Bist du so weit, Eth?“

„Jep.“ Er schwang sich auf Tinkers Rücken und passte die Steigbügel an. „Bis später, Lily!“

„Viel Spaß!“, rief Lily ihnen hinterher und winkte.

Als er Spider antraben ließ, schien Brady in Gedanken noch bei dem Telefongespräch zu sein.

„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sich Ethan.

Brady seufzte. „Bloß der übliche Mist. Ich werd’ heut’ Abend wieder zurückfahren müssen.“

„Großmutter wird enttäuscht sein.“

„Sie wäre noch viel enttäuschter, wenn ich die Sache nicht in Ordnung bringe und wir dadurch die Wahl verlieren.“

„Vielleicht muss er auch einfach mal verlieren.“

„Er ist ein mieser Vater, aber ein verdammt guter Politiker. Das hat er immerhin von unserem Großvater gelernt.“ Brady stieß resigniert die Luft aus.

„Ich verstehe trotzdem nicht, wie du dich so engagieren kannst.“

„Ich sehe das Ganze mit etwas Abstand, Ethan. Unser Vater setzt sich für die Bürger ein, und ich möchte das unterstützen.“

„Ich nehme dich beim Wort.“

„Heißt das, wir können auf deine Stimme zählen?“, fragte Brady.

„Willst du die Wahrheit hören?“

Sein Bruder wich seinem Blick aus, bevor er antwortete. „Nicht wirklich.“

„Dann sage ich auch nichts.“

„Was war mit Lily?“

„Du wolltest, dass ich mich entschuldige, und ich hab’s getan. Weiter nichts.“

„Weiter nichts?“

Bradys Lippen verzogen sich zu einem anzüglichen Grinsen.

„Eigentlich ist sie mir vorher nie so richtig aufgefallen. Aber sie ist ganz süß. Hübsche Beine. Schade, dass ich heute Abend zurück in die Stadt muss …“

Natürlich wusste Ethan, dass Brady ihn nur ärgern wollte. Dennoch überraschte ihn der plötzliche Drang, seinen Bruder vom Pferd zu stoßen.

Als hätte Brady seine Gedanken gelesen, gab er Spider die Sporen, beugte sich über seinen Hals und ließ ihn in einem wilden Jagdgalopp davonpreschen. Tinker setzte ihm ohne zu zögern hinterher. Und Ethan ließ ihn laufen.

Es war gut, wieder zu Hause zu sein.

Lily sah den beiden Männern hinterher, wie sie in brüderlicher Vertrautheit davonritten. Als Tinker angaloppierte, hielt sie die Luft an. Das Pferd allein war schon beeindruckend und wunderschön, sein Reiter jedoch übertraf es fast noch. Ethan wirkte auf dem Pferderücken so lässig, als wäre er bereits mit einem Sattel unter dem Hintern geboren worden. Mit Leichtigkeit schloss er zu seinem Bruder auf. Sie hörte ihr Rufen und das Stampfen der Hufe, bis sie im Wald verschwunden waren.

Während der letzten drei Monate hatte sie viel über die Marshalls gelernt. Es war eine große Familie. Und es gab jede Menge kleine private Dramen und Konflikte. Irgendetwas war immer los bei ihnen, das den Klatschmagazinen neue Schlagzeilen bescherte. Doch wenn sie von außen attackiert wurden, hielten sie zusammen.

Und gerade jetzt, wo sie geglaubt hatte, die Familie so langsam zu kennen, trat Ethan ins Bild und wirkte nach all den Gerüchten, die sie über ihn gehört hatte, so ganz anders als erwartet. Die gesamte Atmosphäre auf dem Anwesen schien sich mit einem Mal geändert zu haben.

Ethan strahlte eine Kraft und Energie aus, die ein eigenartiges Kribbeln in ihr auslöste. Seine grünen Augen brachten sie vollkommen durcheinander, wenn er sie ansah. Doch gleichzeitig fühlte sich das gut an. ‚Lebendig‘ war vielleicht nicht das richtige Wort, aber es kam der Sache schon sehr nahe.

Den Gerüchten zufolge würde er eine Weile auf Hill Chase bleiben, da seine Wohnung renoviert wurde. Also würde sie noch mehr von ihm zu sehen bekommen. Heute Morgen hatte sie ja bereits eine ganze Menge gesehen. Schnell versuchte sie, das Bild vor ihren Augen wieder zu verdrängen.

Und sie freute sich darauf, ihn wiederzusehen. Schade nur, dass er es mit der Wahrheit so genau nahm.

2. KAPITEL

Das Knurren seines Magens ließ Ethan von den Berichten, die seine Assistentin Joyce ihm auf den Schreibtisch gelegt hatte, aufsehen. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihm, dass draußen bereits alle auf den Beinen waren, von den Gärtnern in Großmutters Rosen unter seinem Fenster bis zu den Stallburschen, die die Pferde hinausführten. Gerade fuhr der Lieferwagen des Schmieds vor.

Da geschäftlich alles wie am Schnürchen lief, gab es zurzeit nichts, was seine unmittelbare Aufmerksamkeit erforderte. Mit einem lauten Gähnen streckte er sich und schloss den Laptop. Draußen schien die Sonne – eine nette Abwechslung zu dem ständig bedeckten Himmel in London. Er würde den Tag sicher nicht in seinem Büro verschwenden.

Die große Empfangshalle des Familienflügels war ruhig. Doch das konnte sich jeden Moment ändern. Hill Chase war der Dreh- und Angelpunkt der Familie. Früher oder später tauchten sie alle hier auf. Heute Morgen hatte er sogar eine E-Mail von Finn bekommen, in der sein jüngerer Bruder ankündigte, nächste Woche zu seinem Geburtstag nach Hause zu fliegen, jetzt, wo Ethan hier war. Ethan würde es seinen Großeltern allerdings erst sagen, wenn Finn tatsächlich im Flieger saß, da er seine Meinung oft im letzten Moment noch änderte.

Als er die Stufen herunterkam, roch er Kaffee und frisch gebratenen Schinkenspeck. Unten im Foyer bemerkte er den Lichtschein, der aus dem Büro seines Großvaters drang, und beschloss, ihm zuerst einen guten Morgen zu wünschen. Die Mahagonitüren standen weit offen, und das leise Klappern der Tastatur schallte durch das Foyer. Das war merkwürdig. Denn mit seiner Arthritis konnte sein Großvater eigentlich nicht tippen, jedenfalls nicht in einem solchen Tempo.

Ethan war überrascht, als er Lily hinter dem Schreibtisch sitzen sah. Sie hatte sich einen Bleistift zwischen die Lippen geklemmt und sah konzentriert auf den Bildschirm. Heute trug sie ihr Haar zu zwei langen Zöpfen geflochten. Das ließ sie so jung und unschuldig aussehen, dass er peinlich berührt an seinen Traum von letzter Nacht denken musste, in dem sie die Hauptrolle gespielt hatte.

„Guten Morgen“, murmelte sie etwas undeutlich. „Ich bin fast fertig.“

Nach ein paar letzten, schnell getippten Worten und einem Klick mit der Maus erwachte der Drucker surrend zum Leben.

„Guten Morgen“, antwortete er, und Lily schrak zusammen. Sie drehte sich mit einem Ruck um und fing gerade so den Bleistift auf, der ihr aus dem Mund fiel.

„Ethan! Ich dachte, du wärst der Senator … Ich meine, ähm, dein Großvater, der Senator, nicht dein Vater …“

„Tut mir leid, ich bin es aber nicht.“ Er trat ein und blieb vor dem Schreibtisch stehen. „Was machst du hier?“

„Berichte schreiben.“

„Habt ihr etwa keinen Computer im Stallbüro?“

Instinktiv wollte Lily die Augen verdrehen, fing sich jedoch im letzten Augenblick. Ethan war ihre Reaktion jedoch nicht entgangen. Unwillkürlich musste er ein Lachen unterdrücken.

„Natürlich haben wir einen. Es ist nur so, dass der Senator …“, sie brach ab und schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Na ja, er ist sehr anspruchsvoll, was gewisse Arbeiten angeht und wie sie zu erledigen sind.“

„Das ist eine nette Art, ihn zu beschreiben.“

„Es ist schließlich sein Stall. Also füge ich mich seinen Anweisungen.“ Sie nahm die Papiere aus dem Drucker, tackerte sie zusammen und schob ihren Stuhl zurück. „Ich bin jetzt fertig, falls du an den Computer musst …“

„Nein, nein, ich wollte nur nachsehen, wer im Büro sitzt.“

„Möchtest du Tinker heute reiten? Er bekommt neue Eisen, aber ich kann dafür sorgen, dass er fertig ist, wenn du so weit bist.“

„Vielleicht später. Mach dir keinen Stress deswegen.“

„Ok. Aber ruf kurz im Stall an, falls du es dir überlegst, ja?“

Mit ihren Aktenordnern unter dem Arm und den Zöpfen wirkte sie wie eine junge Schülerin auf dem Weg zum Unterricht.

„Wie alt bist du eigentlich?“, platzte Ethan heraus.

Überrascht hob Lily die Augenbrauen.

„Wie bitte?“

„Schon gut.“ Offensichtlich wollte sie die Frage nicht beantworten. Er deutete auf ihre Kaffeetasse. „Möchtest du noch etwas Kaffee? Ich wollte gerade in die Küche.“

„Ähm, ja, danke, das ist nett.“ Wie angewachsen blieb sie hinter dem Schreibtisch stehen, während Ethan sie fragend anblickte.

„Du müsstest schon vorgehen. Ich weiß nicht, wie ich von hier in die Küche komme“, erklärte sie ihm.

„Du kennst dich also immer noch nicht im Haus aus?“, fragte er, als sie ihm ins Foyer folgte.

„Nicht so ganz. Ich bin bisher immer durch den Seiteneingang reingekommen und war noch nie in …“ Völlig überwältigt blieb Lily hinter ihm stehen.

Irritiert sah Ethan sich nach ihr um. „Lily?“

„Entschuldige. Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas so Beeindruckendes gesehen“, erklärte sie voller Bewunderung.

„Was meinst du?“

„Die Treppe.“

Als er ihrem Blick folgte, war alles, was er sah, die mächtige Marmortreppe, die sich bis hinauf ins oberste Stockwerk wand.

„Sie führt in den zweiten Stock.“

„Sie ist wunderschön und könnte aus einem Märchen stammen.“

„Findest du?“

„Ja, es wirkt so, als könnte Cinderella jeden Moment erscheinen und die Treppe hinabschreiten“, wisperte sie voller Ehrfurcht.

Verschwörerisch beugte er sich zu ihr und sog ihren frischen, leicht zitronigen Duft ein, der ihn ganz benommen machte.

„Meine Großmutter darf das jetzt nicht hören, aber wenn das Geländer frisch gewachst ist, erreicht man beim Runterrutschen in der letzten Windung eine Wahnsinnsgeschwindigkeit“, flüsterte er ihr zu.

„Darauf möchte ich wetten“, gab sie so leichtfertig wie möglich zurück, während ihr Kopf rauschte und ihr Herz mit einem Mal sehr schnell schlug. Seine unerwartete Nähe löste ein leichtes Schwindelgefühl in ihr aus. Schnell wandte sie den Blick ab, doch das Leuchten in ihren Augen war ihm nicht entgangen. Es verursachte einen kleinen Stromstoß in Ethan, der durch seinen ganzen Körper bis in die Zehenspitzen zu spüren war.

Lily trat einen kleinen Schritt zurück und lächelte schwach. „Na los, gehen wir weiter“, forderte sie ihn auf.

Ethan gab sich einen Ruck, um aus seinem tranceartigen Zustand zu erwachen. Den Rest des Weges legten sie in einem unangenehmen Schweigen zurück.

An der Küchentür setzte Lily ein betont fröhliches Gesicht auf und rief: „Guten Morgen, Gloria. Hier ist jemand, der noch verpflegt werden muss.“

„Ethan! Wie schön, dass du uns mal wieder einen Besuch abstattest.“

Voller Herzlichkeit nahm die Köchin ihn in die Arme und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Seit Ethan denken konnte, arbeitete Gloria auf Hill Chase. Jetzt warf sie ihm einen ihrer kritischen Blicke zu. „Du hast abgenommen. Gibt es in London etwa nicht genug zu essen?“

„Ach, du weißt doch, Gloria, an dein Essen kommt einfach nichts heran.“

„Wo du recht hast, hast du recht“, stimmte sie ihm zu. „Komm, setz dich, ich füll dir etwas auf. Du auch, Lily.“

„Danke, aber ich habe bereits gegessen. Ich wollte mir nur einen Kaffee holen.“ Demonstrativ hielt sie ihre Tasse hoch und bewegte sich in Richtung Tür. „Ich werd mich jetzt mal wieder auf den Weg zum Stall machen, bis später!“

Seufzend servierte Gloria Ethan einen Riesenteller Rührei mit Würstchen.

„Das Kind besteht auch nur aus Haut und Knochen“, seufzte sie dabei.

Ethan, der Lilys leichte Kurven und ihren schlanken Körper durchaus zu schätzen wusste, wollte schon protestieren, fing sich jedoch im letzten Moment. Stattdessen nutzte er ihre Bemerkung, um sie ein wenig auszufragen.

„Lily ist doch kein Kind mehr. Wie alt ist sie eigentlich? Fünfundzwanzig?“

Gloria schluckte seinen Köder. „Ich glaube, sie ist erst zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig. Sie wirkt aber so süß und unschuldig, dass man denken könnte, sie wäre jünger. Und glaube ja nicht, dass es mir entgangen ist, was in deinem Kopf vorgeht.“

Daraufhin verschluckte Ethan sich fast an seinem Rührei.

„Was denn?“, erkundigte er sich unschuldig.

„Du wirst schön die Finger von Lily lassen.“

„Na hör mal, das klingt, als hättest du Angst, dass ich ihr ein Haar krümmen könnte.“

„Auch wenn das vielleicht nicht deine Absicht ist, aber Lily ist ein gutes Mädchen, und das Letzte, was sie braucht, ist jemand, der ihr das Herz bricht.“

„Ich wollte doch nur wissen, wie alt sie ist“, warf er ein. Es erstaunte ihn ein wenig, dass sie Lily derart in Schutz nahm. „Könnte ich bitte noch ein Würstchen haben?“, fragte er dann, um das Thema zu wechseln.

Die Atmosphäre im Stall veränderte sich mit einem Schlag, als Ethan zur Tür hereinkam. Lily wusste es bereits, bevor sie ihn überhaupt sah – so verrückt das auch klingen mochte.

Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie gerade die Box direkt neben Tinker ausmistete. Tinkers Kopf schoss bei Ethans Eintreten ruckartig nach oben, und er gab ein dunkles Wiehern von sich.

Irgendwie hatte sie es geschafft, sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden dermaßen in Ethan Marshall zu vergucken, dass es fast schon lächerlich war. Aber er war auch einfach zu süß. Und solange sie bloß für ihn schwärmte und sich keinerlei Hoffnungen machte, war alles in Ordnung. Sie war schließlich kein dummes kleines Mädchen mehr und wusste genau, wo ihr Platz in seiner Welt war. Genauso gut könnte sie für einen Filmstar schwärmen.

Trotzdem fühlte es sich gut an. Außerdem war es eines jener Gefühle, die sie sich lange Zeit nicht erlaubt hatte.

Sie hörte, wie Ethan sein Pferd begrüßte. Die Art, wie er mit ihm sprach, zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Die Pferde hier waren mehr als bloße Turnier- und Zuchtpferde. Sie gehörten zur Familie. Soweit Lily wusste, gab es nicht einen Marshall in der Familie, der nicht absolut pferdeverrückt war.

Nachdem sie den Verschluss der Flasche in ihrer Hand zugeschraubt hatte, trat sie aus Dukes Box. Ethan wandte sich überrascht um und warf ihr ein leichtes Lächeln zu, das Lily unwillkürlich erröten ließ. Er sah auf die Flasche.

„Ist Duke schon wieder am Koppen?“

„Ja“, seufzte sie. „Das Pferd braucht ’ne Therapie. Oder Antidepressiva. Ich versuche zumindest dafür zu sorgen, dass seine Box nach diesem bitteren Zeug schmeckt, damit er nicht alles in Stücke beißt.“

„Finn kommt wahrscheinlich nächstes Wochenende rüber. Vielleicht beruhigt sich Duke dann ein bisschen.“

Lily wusste, dass Finn Ethans jüngerer Bruder war. Das schwarze Schaf aus Los Angeles. Angeblich war er Filmproduzent.

„Mag sein. Vielleicht vermisst Duke ihn nur. Tinker ist übrigens als Nächster beim Schmied dran. Tut mir leid, dass er noch nicht fertig ist. Irgendwie geht heute mal wieder alles drunter und drüber.“

Sie stellte die Flasche auf den Boden und griff nach der Forke. Die Einstreuarbeit würde sie von Ethan ablenken und die Schmetterlinge in ihrem Bauch etwas zur Ruhe kommen lassen. Entschlossen verteilte sie das frische Stroh auf dem Boden von Tinkers Box.

„Wenn du möchtest, rufe ich dich im Haus an, wenn Tinker so weit ist“, rief sie ihm zu.

„Ist schon in Ordnung, ich kann auch hier warten.“

Als Lily bemerkte, dass Ethan mit einem Mal direkt hinter ihr stand, erschrak sie. Überrascht beobachtete sie, wie er mit einer zweiten Forke den Rest des Strohs fachmännisch verteilte.

„Ähm … Was machst du da?“

„Du sagtest doch, dass ihr heute viel zu tun habt. Da dachte ich mir, ich helf dir ein bisschen.“

Ethan Marshall. Der ihr beim Stallausmisten half. Die Leute würden ihr einen Vogel zeigen, wenn sie das jemandem erzählte. Es war völlig absurd.

„Und wenn dich jemand dabei erwischt, wie du meinen Job machst?“

„Ich habe diese Boxen bereits tausend Mal ausgemistet.“

„Wirklich?“

Der Anblick dieses Mannes bei der Stallarbeit nahm sie so gefangen, dass sie nicht weitersprechen konnte.

„Ja, wirklich.“ Er lachte. „Wahrscheinlich kann ich das sogar viel besser als du. Außerdem tut es mir ganz gut. Ich habe in letzter Zeit zu viel am Schreibtisch gesessen und werde noch zum Weichei.“

Er wirkt ganz und gar nicht wie ein Weichei, dachte Lily. Sein kräftiger Bizeps schien sein T-Shirt fast zu sprengen, während er arbeitete. Unter dem hellen Stoff seiner Jeans sah sie das Spiel seiner Oberschenkelmuskeln und seinen schön geformten, knackigen Po. Ein leichter Schweißfilm bildete sich auf Lilys Haut. Für einen kurzen Moment stellte sie sich vor den Ventilator, um ihr erhitztes Gesicht ein wenig zu kühlen.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Ethan, lehnte sich auf seine Forke und sah besorgt zu ihr herüber.

„Ja, alles gut“, erwiderte sie etwas verlegen und stocherte mit der Forke im Stroh herum, um ihn nicht ansehen zu müssen.

Riskierte sie ihren Job, wenn sie Ethan ihre Arbeit machen ließ?

„Pass auf, ich finde es toll, dass du mir helfen möchtest, aber ich arbeite wirklich lieber allein.“

Stirnrunzelnd lehnte Ethan die Forke an die Wand. „Gut, wie du möchtest.“

„Danke.“

Doch anstatt zu gehen, lehnte er sich an die Wand, als hätte er alle Zeit der Welt. Irritiert fuhr Lily mit ihrer Arbeit fort. Während Tinker den Kopf zwischen den Gitterstäben hindurchstreckte und an Ethans Schulter knabberte, versuchte sein Besitzer, Lily ein wenig auszufragen.

„Wo kommst du noch mal her?“

Verdammt. Das war eine völlig unschuldige Frage, doch Lily hasste es, wenn jemand sie nach ihrer Vergangenheit fragte. Es würde nur weitere Fragen aufwerfen.

„Mississippi.“

„Ah, daher dein Akzent. Und woher genau?“

Sie versuchte, gleichgültig zu klingen, und gab ihm eine ihrer Standardantworten. „Ach, wir sind viel umgezogen. Ich kann gar nicht sagen, wo ich die meiste Zeit gelebt habe.“

„Und was bringt dich jetzt nach Virginia?“

Weiter bin ich nicht gekommen. Mir ist unterwegs das Geld ausgegangen. Lily wurde übel und sie musste schlucken, um ihrer Stimme einen leichtfertigen Klang zu verleihen.

„Ich wollte einfach mal was Neues sehen.“

„Das muss ganz schön hart sein, so weit weg von deiner Familie zu leben.“

Sie unterdrückte ein verächtliches Schnauben. So würde er es vielleicht empfinden. „Da kann man eben nichts machen. Ich komm’ schon klar.“

„Gloria meinte, du wohnst in dem Apartment gegenüber vom Stall?“

Konzentrier dich einfach weiter auf deine Arbeit. Vielleicht versteht er den Wink mit dem Zaunpfahl.

„Mhm.“

„Und gefällt es dir hier auf Hill Chase?“

Ethans wachsende Ungeduld angesichts ihrer einsilbigen Antworten war nicht zu überhören. Doch sie konnte nicht mehr. Diese Fragerei musste sofort aufhören.

„Ich möchte ja nicht unhöflich sein, aber warum stellst du mir all diese Fragen?“

Überrascht sah er sie an. Sofort bereute sie ihren scharfen Ton.

„Vielleicht will ich einfach nur nett sein?“

Dann geh mir bitte nicht auf die Nerven.

„Warum?“

„Weil ich ein netter Typ bin. Ist das ein Problem für dich?“

Ja, ein großes Problem sogar.

„Mir ist klar, dass unser Kennenlernen etwas unangenehm war. Aber deshalb musst du dich jetzt nicht verpflichtet fühlen, besonders nett zu mir zu sein. Ich bin nur eine eurer Pferdepflegerinnen, ok?“

Für einen Moment schwieg Ethan. War sie zu weit gegangen? Schließlich nickte er.

„Gut, dann lasse ich dich jetzt in Ruhe.“

„Danke.“

Ohne ein weiteres Wort griff Lily sich die leere Schubkarre und schob sie nach draußen. Während sie durch die Stallgasse ging, spürte sie Ethans Blick in ihrem Nacken. Als sie vor dem Stallgebäude angelangt war, ließ sie die Schubkarre fallen und lehnte sich erschöpft gegen die Wand.

Sie war furchtbar unfreundlich zum Enkel ihres Chefs gewesen, doch sie hatte nicht anders gekonnt. Sie wusste selbst nicht, warum sie so sensibel reagiert hatte. Schließlich wurden ihr diese Fragen ständig gestellt. Bis jetzt hatte sie es immer geschafft, sich ein paar Antworten auszudenken. Nur war es diesmal nicht irgendwer, der sie ausgefragt hatte, sondern Ethan Marshall. Und das machte das Ganze um einiges schwieriger.

Resigniert lehnte sie den Kopf gegen die Wand. Ihre kleine Schwärmerei war alles andere als harmlos.

Zum Glück würde Ethan nicht mehr lange auf Hill Chase sein. Und die nächsten Tage würde sie schon irgendwie überstehen. Und wenn sie ihm das nächste Mal über den Weg lief, würde sie sich und die Situation besser unter Kontrolle haben. Ganz sicher.

Ethan sah Lily nach, bis sie um die Ecke gebogen war. Ihre Schultern wirkten so angespannt, dass sie schmerzen mussten. Sie hatte sich aufgeführt, als hätte er sie über ihre intimsten Geheimnisse ausgefragt. Seufzend sah er Tinker an.

„Weißt du, was mit Lily los ist?“

Das Pferd rollte mit den Augen.

Offensichtlich wollte sie nicht reden. Er kannte das Gefühl, wenn jemand versuchte, einen auszuhorchen. Nur dass bisher immer er derjenige gewesen war, von dem die Leute alles wissen wollten.

Wahrscheinlich sollte er sie einfach in Ruhe lassen, ihre Privatsphäre respektieren und die Erinnerung an diese großen braunen Augen verdrängen.

Ziemlich unwahrscheinlich, dass er das hinbekommen würde, da der bloße Gedanke an sie ihn schon ganz kribbelig machte. Außerdem dachte er gern an sie. Etwas an Lilys erfrischender Leichtigkeit faszinierte ihn. Im Gegensatz zu den aufgestylten Frauen des Country Clubs, die seine Großmutter ihm ständig vorstellte, wirkte Lily authentisch. Und was sein Geld und seinen Status anging, so schien Lily davon vollkommen unbeeindruckt – im Gegensatz zu seinen Bewunderinnen. Sie war anders und eine Herausforderung. Das waren gleich zwei Dinge, denen er kaum widerstehen konnte.

Das Telefon in seiner Hosentasche vibrierte und riss ihn aus seinen Gedanken.

Dein Auftritt bei der Benefizveranstaltung am Samstag ist gefragt. Schwarze Krawatte bitte.

Ihr könnt mich mal, dachte er und löschte die Nachricht sofort.

Als hätte Brady seine Reaktion geahnt, schickt er gleich darauf noch eine zweite Nachricht.

Unsere Großeltern bringen dich um, wenn du nicht auftauchst.

Herrje, Brady schaffte es immer wieder, ihn unter Druck zu setzen. Mit einem Mal verspürte Ethan das Bedürfnis, Finn in Kalifornien zu besuchen. An Finn wurden keine Erwartungen gestellt. Er musste sich nicht vor potenziellen Spendern und Wählern verstellen und glückliche Familie spielen. Ethan beneidete ihn darum. Andererseits war er auch zu jung, um zu verstehen, was innerhalb der Familie vorging.

Ohne weiter nachzudenken, löschte er auch die zweite Nachricht und steckte das Handy zurück in die Tasche. Das Unangenehme ignorieren und so tun, als würde es nicht existieren, und gleichzeitig ein fröhliches Gesicht machen, das waren die Marshalls.

Und er war nun einmal ein Marshall. Jedenfalls versuchten seine Leute, ihn immer wieder daran zu erinnern.

Andererseits …

Er zog das Handy wieder aus der Tasche und schickte Brady eine kurze Nachricht mit nur einem einzigen Wort: Nein.

Zwei Stunden später fühlte sich Lily wie der größte Idiot. Nicht wegen ihrer kleinen Schwärmerei. Damit kam sie zurecht. Es war etwas peinlich, aber nicht übermäßig beschämend.

Beschämend hingegen war ihre Überreaktion gewesen. Sie hatte Ethans unschuldiges Verhalten komplett auf sich bezogen, ihre ganzen Ängste auf ihn projiziert. Dabei war Ethan nichts weiter als ein netter Typ, der ihr ein paar ganz normale Fragen gestellt hatte.

Während Tinker vom Schmied neue Eisen bekam, hatte sie beobachtet, wie er durch den Stall gewandert war und mit jedem, der ihm über den Weg lief, einen kleinen Plausch gehalten hatte. Vom Stallmeister Ray bis zum Futterlieferanten, der ihnen regelmäßig frisches Heu und Kraftfutter brachte. Wenig später sah sie, wie Ethan mit einem ausgefransten Stück Seil liebevoll mit den Stallkatzen spielte.

Sie hatte sich wirklich wie ein kleines Scheusal aufgeführt. Der Gedanke verursachte ihr leichte Kopfschmerzen. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es erst zwei Uhr nachmittags war. Dieser furchtbare Tag wollte einfach kein Ende nehmen. Sie brauchte dringend Aspirin.

Heute war Lily besonders dankbar dafür, dass sie direkt auf dem Anwesen wohnte. Ein paar Minuten allein in ihrem Zimmer würden ihr helfen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

Als ob es an diesem Tag nicht bereits genug Aufregung gegeben hätte, lief sie Ethan vor ihrer Wohnung schon wieder über den Weg. Verdammt, das Marshall-Anwesen hatte fast die Größe ihrer kleinen Heimatstadt, warum musste er immer vor ihr stehen, wenn sie sich einmal umdrehte?

Bemüht, nicht allzu verkrampft zu wirken, nickte Lily ihm lässig im Vorbeigehen zu. Zwei Stufen auf einmal nehmend sprang sie die Treppe hoch und blieb am letzten Absatz mit dem Fuß an einer Stufe hängen. Instinktiv griff sie nach dem Geländer, schaffte es jedoch nicht, den Sturz noch abzufangen. Der Schmerz, der durch ihr Knie fuhr, ließ sie Sterne sehen. Als ob das nicht reichte, stieß sie sich zu guter Letzt auch noch den Kopf am Geländer, was dazu führte, dass ihr obendrein noch schwarz vor Augen wurde.

Wie aus dem Nichts wurde sie von zwei kräftigen Armen gepackt und hochgehoben. Schlimmer konnte dieser Tag nun wirklich nicht enden.

Ethan musterte sie besorgt.

„Bist du ok?“

„Ja … ich war nur etwas tollpatschig.“

Seine plötzliche Nähe machte sie noch benommener, als sie es ohnehin schon war.

„Komm, gib mir den Schlüssel, wir sehen uns deine Verletzungen drinnen an.“

„Ist schon in Ordnung“, protestierte sie schwach. Doch er presste sie fest an seinen Oberkörper, diesen muskulösen Oberkörper, der sich sogar noch besser anfühlte als er aussah. Tief inhalierte sie seinen Duft. Er roch nach Sonne, Mann und Seife, eine perfekte Mischung. Ihre Wangen brannten, und sie war nicht sicher, ob es an der Wärme seiner Haut oder ihrem plötzlich beschleunigten Puls lag.

Leichtfüßig, als würde sie nichts wiegen, erklomm er die restlichen Stufen zu ihrem Apartment, schloss die Tür mit dem Schlüssel auf, den sie umständlich aus ihrer Tasche gezogen hatte, und ließ sie auf ihr Bett sinken. Fürsorglich legte er ihr ein paar Kissen in den Nacken, sodass sie sich bequem anlehnen konnte. Lilys Herz klopfte ihr bis zum Hals.

„Es ist wirklich nur eine kleine Beule an der Stirn. Sonst geht’s mir gut.“

Tatsächlich fühlte sie sich schon ein wenig mitgenommen, doch das hatte nur wenig mit ihrer Beule zu tun. Fast hatte sie sich schon an dieses merkwürdige Gefühl gewöhnt, das sie jedes Mal verspürte, wenn er in der Nähe war.

Mit zwei Schritten war Ethan in ihrer kleinen Küchenecke, und Lily wurde bewusst, wie klein ihr Apartment tatsächlich war. Er schien den gesamten Raum einzunehmen. Eine Sekunde später stand er mit einem angefeuchteten Papiertuch wieder vor ihr und tupfte ihr vorsichtig das Blut von der Stirn. Der unerwartete, brennende Schmerz überraschte sie.

Als Lily leicht aufstöhnte, runzelte Ethan die Stirn.

„Ich hole doch besser einen Arzt.“

„Nein, wirklich nicht. Ich hab’ mich doch bloß gestoßen. Das wird schon wieder.“

Er sah nicht gerade überzeugt aus, steckte sein Handy aber wieder ein.

„Hast du Eis?“

„Leider nicht.“

„Gut, dann gehe ich schnell ins Haus und hole etwas. Und Verbandszeug bringe ich auch mit.“

Die Leichtigkeit, mit der er die Situation unter Kontrolle zu haben schien, fand Lily unglaublich beruhigend.

„Soll ich dir helfen, die Jeans auszuziehen?“

„Wie bitte?“

„Na wir müssen uns doch auch dein Bein ansehen.“

Verwirrt schaute Lily an sich herunter und sah das Blut, das durch den Stoff über ihrem Schienbein sickerte. Plötzlich spürte sie auch wieder den pochenden Schmerz in ihrem Bein.

„Ich komme schon klar.“

„Dann lass mich dir wenigstens die Stiefel ausziehen.“

Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte Ethan ihr schon geschickt die Stiefel von den Füßen gezogen und war fast aus der Tür.

„Ich bin sofort wieder da.“

Während er fort war, musste Lily sich erst einmal sammeln und den Schock über ihren Sturz verdauen. Sie musste zugeben, dass sie es fast ein wenig genoss, so umsorgt zu werden. Vor allem von jemandem wie Ethan.

Das hieß allerdings nicht, dass er ihr auch noch die Hose ausziehen sollte. So hilflos war sie dann doch nicht. Schnell wand sie sich aus der engen Jeans und schrie fast auf, als der Stoff über ihre Wunde rieb. Im nächsten Moment hörte sie auch schon Ethans Schritte auf der Treppe und schaffte es gerade so, in ihre Pyjamahose zu schlüpfen, bevor die Tür aufging.

In der Hand hielt er einige Eisbeutel und den roten Erste-Hilfe-Koffer aus dem Stall. Ihr Puls schnellte sofort wieder in die Höhe, als sie ihn sah.

„Handtücher?“

Sie deutete auf den Schrank in der Ecke des Zimmers.

Sehr professionell, als würde er den ganzen Tag nichts anderes machen, wickelte er einen der Eisbeutel in ein kleines Handtuch und reichte ihr das Paket, damit sie es gegen die Stirn pressen konnte. Ein weiteres Handtuch legte er unter ihr Bein, dann holte er eine Tube Jod aus dem Koffer.

„Das wird jetzt ein wenig brennen“, warnte er sie.

„Das brauchst du nicht … Aua!

„Weichei“, spottete er und lachte, als er ihren beleidigten Blick auffing.

„Was macht der Kopf? Siehst du verschwommen oder doppelt?“

„Nein, scheint ok zu sein.“

Vorsichtig nahm sie das Eis von der Stirn und erschrak, als sie das frische Blut auf dem Handtuch sah.

„Meine Güte, mich hat’s ja ganz schön erwischt. Das muss doch nicht genäht werden, oder?“

„Es ist nur eine größere Schramme. Lass das Eis ruhig noch eine Weile drauf. Hast du dir sonst noch irgendwo wehgetan?“, erkundigte er sich, während er ihr Bein mit einem Verband umwickelte.

„Ich denke nicht. Danke für deine Hilfe, ich glaube, um alles Weitere kann ich mich selbst kümmern.“

„Wie schade, es hat solchen Spaß gemacht, an dir herumzufummeln“, erwiderte er.

Sein Kommentar kam so unerwartet, dass Lily gar nicht anders konnte, als herzhaft über seine Frechheit zu lachen. Er flirtete tatsächlich mit ihr. In ihrem Zimmer. Während sie fast nichts anhatte.

Vielleicht war er auch einfach der Typ Mann, der mit jeder Frau flirtete, die ihm über den Weg lief. Vielleicht gehörte das zu seiner Art als ‚netter Typ‘. Sie sollte sich besser nichts darauf einbilden.

„Das klingt fast so, als würdest du andauernd an den Stallmädchen herumfummeln“, gab sie herausfordernd zurück.

„Nur wenn sie bluten“, scherzte er. „Ich will mir schließlich keine Ohrfeigen einfangen.“

Lily überprüfte den Sitz des Verbands an ihrem Bein, während er das Endstück an der Seite befestigte.

„Gute Arbeit“, lobte sie. „Ich bin beeindruckt.“

„Ich ebenso“, konterte er und warf ihr ein spitzbübisches Lächeln zu. „Du hast sehr schöne Beine.“

Wenn ihr Herz noch schneller schlagen würde, würde sie wahrscheinlich in Ohnmacht fallen.

„Ich meinte eigentlich die Bandage. Sieht sehr professionell aus.“

„Tja, ich hab halt viele Talente.“

Darauf möchte ich wetten, dachte sie im Stillen.

„Ich danke dir, Ethan. Normalerweise bin ich nicht so tollpatschig. Ich weiß auch nicht, was vorhin mit mir los war. Danke jedenfalls, dass du mir geholfen hast.“

„Heißt das, du vergibst mir? Was immer ich heute Morgen auch falsch gemacht habe?“

Er schaffte es tatsächlich immer wieder, sie mit seiner direkten Art in Verlegenheit zu bringen.

„Eigentlich bin ich diejenige, die sich entschuldigen müsste. Wieder einmal.“ Sie versuchte zu lachen, doch Ethans Blick verunsicherte sie. „Ich schätze, ich bin nicht gerade der umgänglichste Typ. Wahrscheinlich sollte ich mich einfach an meine Tiere halten. Wobei mir einfällt, dass ich mich schleunigst wieder an die Arbeit machen sollte.“

„Ich finde, du solltest dich lieber für den Rest des Tages ausruhen.“

„Ach was, das geht schon.“

Sie ließ die Hand mit dem Eispack sinken und befühlte mit der anderen die wunde Stelle an der Stirn.

„Sieht so aus, als hätte es aufgehört zu bluten.“

„Fass es besser nicht an. Warte mal …“ Er wühlte in dem Erste-Hilfe-Koffer herum und reichte ihr ein Pflaster. „Hier.“

Dann ließ er sich wieder neben sie auf das Bett sinken, um die Wunde zu begutachten.

„Morgen hast du sicher einen dicken blauen Fleck. Aber eine Narbe wirst du nicht zurückbehalten.“

Lily hörte zwar seine Worte, doch sie ergaben keinen Sinn. Ethan saß so dicht vor ihr, dass er sie fast berührte. Unauffällig rang sie nach Luft, was lediglich dazu führte, dass ihr sein Duft in die Nase stieg und ihr vollends den Verstand raubte.

Verzweifelt schloss sie die Augen, um ihren heftigen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bringen. Doch mit geschlossenen Augen spürte sie seine zarte Berührung noch viel intensiver. Seine Finger glitten ganz sanft über ihre Stirn, während er das Pflaster glatt strich.

„Tut es noch sehr weh?“

Sie öffnete die Augen und sah ihn an. Wieder ein Fehler. Denn jetzt wandte er den Blick von ihrer Stirn ab und schaute ihr direkt in die Augen.

Sein Gesicht war ihrem so nah, dass sie die winzigen goldenen Pünktchen im Grün seiner Iris erkennen konnte.

Seine Augen verdunkelten sich. Die Zeit schien stillzustehen, als sein Blick langsam über ihr Gesicht glitt. Ein warmes Gefühl breitete sich in Lily aus. Ethans Mund war nur noch wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Schon spürte sie seinen Atem an ihren Lippen. Seine Finger strichen zärtlich und leicht wie eine Feder über ihr Gesicht.

Und dann küsste er sie. Die Berührung war so weich und sanft, dass alles Blut in ihre Lippen zu strömen schien. Es löste ein kribbeliges Gefühl in ihr aus. Mit seinem Daumen fuhr er ihren Hals entlang bis hinunter zu ihrem Nacken. Das kribbelnde Gefühl in ihrer Brust verwandelte sich mehr und mehr in ein leidenschaftliches Verlangen.

Mit fast schmerzlicher Begierde rang sie nach Luft. „Was … was machst du da?“

Sein raues, leises Lachen klang in ihren Ohren so erotisch, dass ihr ein leichter Schauder über den Rücken lief.

„Ich küsse dich.“ Als wollte er seine Aussage unterstreichen, liebkoste Ethan vorsichtig ihre Unterlippe mit der Zunge. „Möchtest du, dass ich aufhöre?“

Nein! Schließlich lechzte ihr Körper nur so nach seinen Berührungen und schaltete die Alarmglocken, die schon seit einer Weile in ihren Ohren läuteten, weitgehend aus.

Mit den Fingerspitzen fuhr Ethan sanft über Lilys pulsierende Halsschlagader.

Sie schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. „Nein“, flüsterte sie. „Aber … aber warum küsst du mich?“

3. KAPITEL

Das war eine gute Frage. Und Ethan, der sonst nie um eine Antwort verlegen war, fiel diesmal nichts Vernünftiges ein.

„Weil ich es will“, brachte er schließlich hervor.

Unter seinen Fingern spürte er, wie Lilys Puls noch schneller wurde. Sie schnappte nach Luft. Offensichtlich gefiel ihr seine Antwort.

„Meinst du, dass das richtig ist?“ Wieder flüsterte sie.

„Ich glaube, das war die beste Idee, die ich seit Langem hatte“, entgegnete er fröhlich, drückte ihr einen weiteren Kuss auf den Mundwinkel und spürte, wie sie unter seiner Berührung schauderte. „Du schmeckst ganz köstlich, Lily.“

„Oh, tatsächlich?“

Langsam entspannte sie sich und neigte ihren Kopf ein wenig, sodass er die zarte Haut an ihrem Hals berühren konnte. Vorsichtig wandte sie ihm ihr Gesicht zu und reckte ihr Kinn, bis ihre Lippen sich erneut berührten. Erst zögernd, dann immer fordernder liebkoste sie ihn.

Lily presste sich an ihn, während er sich zu ihr ins Bett legte. Ihr Kuss wurde immer heißer, immer lustvoller. Mit einer Hand umklammerte sie sein Handgelenk, während er über die zarte Wölbung ihrer Brust strich und über ihrem wild klopfenden Herz innehielt. Mit der anderen Hand fuhr sie über seinen Oberkörper. Ethan war überrascht, wie kalt ihre Hand sich durch den Stoff auf seiner erhitzten Haut anfühlte.

Kalt? Der innige Kuss hatte ihn alles um sich herum vergessen lassen. Doch mit einem Schlag wurde er sich wieder bewusst, wo er war und was er gerade tat.

Verdammt, das Mädchen war verletzt, und er hatte die hilflose Situation, in der sie sich befand, gnadenlos ausgenutzt. Fluchend richtete er sich auf. Lily öffnete die Augen und sah ihn irritiert an. Sie war unglaublich attraktiv, wie sie dort vor ihm lag und ihn aus großen Augen anschaute. Und es schien ihr nichts auszumachen, dass er so über sie hergefallen war, aber trotzdem … Es war nicht gerade die feine Art.

„Ethan?“ Verstört biss Lily sich auf die von ihren leidenschaftlichen Küssen immer noch feuchte, geschwollene Unterlippe. Sie runzelte die Stirn und rieb sich leicht über die Verletzung an ihrer Stirn. „Stimmt etwas nicht?“

Einer ihrer Zöpfe hatte sich gelöst, ihr Atem ging immer noch stoßweise. Ihre Wangen waren gerötet, und als sie sich mit zitternder Hand das Haar aus dem Gesicht strich, musste er sich zwingen, sie nicht gleich wieder in seine Arme zu ziehen. Mit einer Hand rieb er über sein Gesicht und räusperte sich. Auch er musste erst einmal wieder zu sich kommen.

„Es ist alles in Ordnung. Aber du solltest dich jetzt besser eine Weile ausruhen. Ich werde Ray sagen, dass du einen Unfall hattest und ihn bitten, später nach dir zu sehen.“

Lilys Reaktion war schwer zu deuten. Sie ließ den Kopf sinken, sodass die Haare ihr Gesicht verdeckten. War sie enttäuscht? Verärgert? Erschrocken?

„Ruh dich einfach aus, okay? Und leg das Eis noch einmal auf die Stirn.“ Damit trat Ethan aus der Tür. Kaum hatte er sie hinter sich geschlossen, schüttelte er den Kopf über seine Dreistigkeit.

Nicht dass er es bereute, sie geküsst zu haben. Aber die Tatsache, dass sie für seine Großeltern arbeitete, stellte ein großes Problem dar. Beziehungen zu Angestellten, die über das berufliche Verhältnis hinausgingen, waren streng untersagt. Sollte ein Journalist ihn mit Lily erwischen, würden die Bilder sofort auf den Titelseiten der Magazine erscheinen.

Vermutlich war Lily nicht einmal bewusst, dass sie gegen die Regeln verstoßen hatten.

Sosehr Ethan sich jedoch bemühte, die Unmöglichkeit der Situation rational zu begründen, das Verlangen, sofort wieder zurück zu Lily zu gehen, war größer. Sie war die pure Verführung, und jetzt, wo er auch noch wusste, dass sie genauso süß schmeckte, wie sie aussah …

Mittlerweile hatte Tinker sicher seine neuen Eisen bekommen. Doch jetzt hatte Ethan gerade nicht die Nerven für einen Ausritt. Vielleicht sollte er einfach zurück ins Haus gehen und versuchen zu arbeiten, bis das Abendessen fertig war.

Zuerst würde er jedoch duschen. Kalt duschen.

Die Essen im Haus seiner Großeltern wären so manches Mal sehr unangenehm verlaufen, wenn seine Großmutter nicht eine wichtige Regel bezüglich anstrengender Themen an ihrem Tisch aufgestellt hätte.

Und Douglas Marshall war ein anstrengendes Thema – zumindest für Ethan. Also sprachen sie beim Essen über Pferde, Politik im Allgemeinen, Ethans Reise nach London und die letzte Wohltätigkeitsveranstaltung seiner Großmutter.

Nach dem Abendessen bat sein Großvater ihn zu sich ins Büro, genau wie Brady es vorausgesagt hatte.

Es war nicht das erste Mal, dass sein Großvater ein ernstes Wörtchen mit ihm zu reden hatte. Und es würde sicher nicht das letzte Mal sein.

Im Büro seines Großvaters schien die Zeit stillgestanden zu haben – die gesamte Einrichtung bestand aus dunklen Hölzern und strahlte einen nostalgischen Charme aus.

Sein Großvater ging direkt zur Bar, schenkte zwei Scotch ein und reichte seinem Enkel eines der Gläser.

„Du weißt doch, dass du nichts trinken darfst, Großvater“, mahnte Ethan, als er sein Glas entgegennahm und sich gegen den Kamin lehnte.

„Hast du etwa nebenbei noch ein Medizinstudium in London abgeschlossen, oder wie kommst du darauf? Ich hätte nicht gedacht, dass du vor lauter Feierei und Schlagzeilenexzessen auch noch dafür Zeit gehabt hast.“ Seufzend sank er in den Sessel gegenüber dem Kamin, streckte die Beine aus und nippte an seinem Scotch. „Für ärztlichen Rat habe ich bereits genug Doktoren in der Familie.“

„Offensichtlich hörst du nicht auf sie“, entgegnete Ethan.

„Was deine Großmutter nicht weiß, macht sie auch nicht heiß.“ Herausfordernd zog der alte Mann seine buschigen, weißen Augenbrauen hoch. „Du wirst mich doch nicht verraten?“

„Das überlege ich mir noch.“

„Junge, ich bin alt, und ich habe mir diesen Drink verdient. Ohne ein paar kleine Vergnügungen ist das Leben nicht lebenswert.“

Er nahm einen weiteren Schluck Scotch und schloss genießerisch die Augen. Nur um Ethan im nächsten Moment mit seinem scharfen Blick fast zu durchbohren.

„Also, bist du bereit für die Kampagne?“

„Natürlich.“

„Es wird ein besonders harter Wahlkampf. Mack Taylor ist unser größter Konkurrent.“

Unser. Als würde die ganze Familie um den Sitz im Senat kämpfen und nicht nur sein Vater.

„Ja, ich weiß. Die Umfragewerte sehen doch sehr gut aus …“

„Aber nicht so gut, wie sie sein könnten. Ehe wir uns versehen, könnte die Wahl für uns auch schon gelaufen sein. Wir müssen jetzt sehr aufpassen.“

„Mein Gott, Vater baut schließlich voll und ganz auf dich und deine Erfolge auf. Der Großteil der Wähler denkt ohnehin, sie wählen dich.“

„Trotzdem brauchen wir jetzt jede freie Hand, auch deine. Bei der Benefizveranstaltung muss die Familie geschlossen auftreten.“

„Ich habe an dem Abend schon was vor.“

„Dann sag es ab. Ich erwarte nicht, dass du aktiv am Wahlkampf teilnimmst, aber ich will, dass du zumindest bei den Veranstaltungen auftauchst und lächelst.“

„Tut mir leid, Großvater, aber ein Heuchler bin ich nicht.“

„Aber du gehörst zur Familie und solltest zumindest Interesse daran haben, dass dein Vater seinen Senatssitz behält. Und du trägst nicht nur der Familie gegenüber eine Verantwortung, sondern auch gegenüber den Menschen in Virginia und im ganzen Land. Du kannst dich nicht einfach aus der Affäre ziehen.“

Seufzend setzte Ethan zu einem neuen Erklärungsversuch an. „Du weißt doch genau, warum …“

„Das ist mir schon klar, Ethan. Und darum erwarte ich auch gar nicht viel von dir.“ Die Stimme seines Großvaters wurde plötzlich leise und sehr ernst. „Ich bin auch nicht immer stolz auf Douglas. Ich bin sein Vater, und nicht selten habe ich das Gefühl, versagt zu haben. Die Art, wie er deine Mutter behandelt hat, ist unverzeihlich. Ihr Jungs habt viel mehr verdient als das, was er euch gegeben hat. Ich frage mich heute noch, was ich bei ihm falsch gemacht habe.“

Ethans Großvater war Politiker mit Leib und Seele. Doch in diesem Moment zeigte er sich so ehrlich und verletzlich wie noch nie. Zum ersten Mal seit Ethan denken konnte, sah sein Großvater alt aus. Und müde.

„Aber ich bin sehr stolz auf dich. Und auf Finn und Brady auch. Und sieh es doch einmal so: Danach werde ich dich zumindest für die nächsten sechs Jahre in Ruhe lassen.“

„Also gut“, gab Ethan sich geschlagen. „Wohltätigkeitsveranstaltungen und Partys. Aber mehr auch nicht.“

Darauf nickte sein Großvater dankbar, und die Falten in seinem müden Gesicht schienen sich wieder zu glätten.

„Ich nehme noch ein Gläschen. Du auch?“, fragte sein Großvater unschuldig und erhob sich aus seinem Sessel.

Er ließ sich aber auch von niemandem etwas sagen. Resigniert und gleichzeitig dankbar reichte Ethan ihm sein Schnapsglas.

Der Tag hatte sich wie ein Traum voller verwirrender Bilder in ihrem Kopf angefühlt. Lily wusste jedoch, dass der Stoß gegen ihren Kopf nichts mit ihren Konzentrationsschwierigkeiten zu tun hatte. Ihre konfusen Gedankengänge waren ausschließlich einem gewissen Ethan Marshall zuzuschreiben.

Beziehungsweise Ethan Marshalls Kuss.

Selbst jetzt, Stunden später, war sie immer noch aufgeregt wie ein vierzehnjähriges Mädchen, das sich zum ersten Mal verliebt hatte. Ethan küsste unglaublich gut. Verdammt, sie bekam immer noch eine Gänsehaut nur beim Gedanken daran. Und als er die sensible Stelle an ihrem Hals gefunden hatte, von deren Existenz sie bisher nicht einmal gewusst hatte … Die Erinnerung jagte ihr einen heißen Schauer durch den Leib.

Gleichzeitig konnte Lily kaum glauben, dass das alles wirklich passiert war und nicht nur einer ihrer fantastischen Tagträume gewesen war.

So oder so, es war ein schöner und sehr realistisch anmutender Tagtraum. Noch immer spürte sie den Druck von Ethans Lippen und das Gewicht seines Körpers auf ihrem. Noch nie hatte sie einen Tagtraum gehabt, bei dem sie jedes Detail so klar vor Augen hatte.

Ethan Marshall hatte sie geküsst. Allein der Gedanke war absurd. So etwas passierte jemandem wie ihr nicht. Leute wie die Marshalls küssten nur Menschen, die reich, wohlerzogen und einflussreich waren.

Sie konnte nichts von alledem vorweisen. Und das wusste Ethan ganz genau. Verdammt, sie arbeitete als Stallhelferin für seine Eltern. Im Film mochte die Verwandlung eines armen Mädchens in eine Prinzessin eine romantische Geschichte abgeben. Aber das hier war das wahre Leben.

Sie war ein einfaches Mädchen aus Mississippi, das von der Hand in den Mund lebte. Die Menschen, mit denen sie aufgewachsen war, waren fast ausnahmslos in irgendwelche schmutzigen Geschäfte verwickelt. Ethans Vater war Senator. Ihr Vater war ein Schwerverbrecher. In Ethans Familie wimmelte es nur so vor Gouverneuren und Vorstandsvorsitzenden. Ihre Familie hingegen bestand aus Pferdedieben und gescheiterten Existenzen.

Auch sie selbst war kein unbeschriebenes Blatt …

Nein, die Ethan Marshalls dieser Welt küssten keine Frauen wie Lily Black. Jedenfalls nicht bewusst. Und sicher nicht mehr als einmal.

Was wiederum erklärte, warum Ethan es vorhin so eilig gehabt hatte, ihr Apartment zu verlassen. Offensichtlich war ihm klar geworden, was er da eigentlich tat. Sie würde den Kuss nie vergessen. Doch sie machte sich auch keine Illusionen, dass ihre kleine Geschichte eine Fortsetzung haben würde.

Die letzten Tage waren furchtbar aufregend gewesen.

Vielleicht konnte sie deshalb nicht still sitzen und schlenderte jetzt spät am Abend noch einmal durch den Stall, anstatt in ihrem Bett zu liegen und fernzusehen.

Im Stall herrschte um diese Zeit eine sehr friedliche Atmosphäre. Alle Pferde waren versorgt, und es gab eigentlich nichts zu tun. Doch zumindest konnte sie hier ein wenig abschalten und auf andere Gedanken kommen.

Tinkers Boxentür stand offen, seine Box war leer. Fast erwartete Lily, das Pferd auf der Suche nach etwas zu fressen durch den Stall trotten zu sehen. Doch der Hengst war nirgendwo zu sehen. So ein Mist!

Er war doch nicht gestohlen worden? Lily gab sich alle Mühe, Ruhe zu bewahren, und sah draußen auf der Koppel nach. Kaum hatte sie den Stall verlassen, hörte sie auch schon Hufgetrappel. Als sie dann das Pferd und seinen Reiter sah, blieb ihr vor Überraschung fast das Herz stehen.

Ethan ritt Tinker ohne Sattel. Im Mondschein, der aus der Entfernung nur ihre Silhouetten erkennen ließ, wirkte die Szene wie aus einem Film. Es gäbe wohl kaum ein Mädchen, das bei dem Anblick nicht dahinschmelzen würde. Erst recht, wenn es immer noch die Lippen dieses Mannes auf ihrem Mund spürte. Am liebsten hätte Lily die ganze Nacht hier am Zaun gelehnt und ihn beobachtet.

Doch Ethan schien sie bemerkt zu haben und lenkte Tinker in ihre Richtung.

„Wie kommt es, dass du dich zu so später Stunde noch hier draußen herumtreibst?“, fragte er.

Bleib ganz cool. Lily war froh, dass er in der Dunkelheit nicht sehen konnte, wie rot sie geworden war.

„Lass dich nicht stören. Ich habe nur gerade nach Tinker gesucht, weil er nicht in seiner Box stand.“

Ethan beugte sich vor, um den Hals des Pferdes zu klopfen.

„Ich bin tagsüber gar nicht zum Reiten gekommen, deswegen dachte ich …“

„Na dann will ich euch auch lieber nicht stören.“ Sie stieß sich vom Zaun ab. „Gute Nacht, Ethan.“

„Lily …“

„Ja?“ Entschuldige dich jetzt um Gottes willen nicht für heute Morgen. Sag mir nicht, dass du einen Fehler gemacht hast!

„Möchtest du mitkommen?“

Ethan reichte ihr die Hand. Offensichtlich wollte er sie zu sich hochziehen. So wie es die Helden im Film immer machten.

Wäre es wirklich so schlimm, wenn sie jetzt Ja sagte? Auch wenn ihr Verstand sie drängte, auf dem Absatz umzudrehen und zurück in ihr Apartment zu gehen?

Hatte sie nicht die ganze Zeit darauf gehofft? Gut, vielleicht nicht gerade auf genau diese Situation – auf so etwas wäre sie nicht einmal in ihren Tagträumen gekommen. Aber auf einen Neuanfang an einem fremden Ort, wo niemand ihre Vergangenheit kannte. Wo sie einfach als die Person akzeptiert wurde, die sie wirklich war.

Hatte sie sich das hier nicht verdient? Als Wiedergutmachung?

Ethan erschien ihr in diesem Moment wie der Traumprinz aus einer Mädchenfantasie – verwuscheltes Haar, ein leichter Dreitagebart, der sein markantes Kinn betonte, die muskulösen Oberschenkel unter der engen Jeans, mit denen er den Hengst unter Kontrolle hielt.

Und als er sie plötzlich anlächelte, war es ihr egal, dass sie sich wie ein alberner Teenager fühlte, überwältigt von den Schmetterlingen in ihrem Bauch. Schnell schlüpfte sie zwischen den Zaunlatten hindurch und ließ sich von ihm auf den Pferderücken ziehen.

Ohne Sattel zu reiten, war ein ganz neues Erlebnis für Lily. Sie spürte die Wärme des Pferds durch ihre Jeans und rutschte bei Tinkers ersten Schritten gegen Ethans Rücken. Ihr blieb gar nichts anderes übrig, als ihre Arme um seine Taille zu schlingen – nicht dass sie etwas dagegen gehabt hätte. Seine harten Bauchmuskeln ließen sie wieder an ihre erste Begegnung denken, als er lediglich von ein paar Tropfen Wasser benetzt vor ihr im Fluss gestanden hatte.

Seine breiten Schultern versperrten ihr die Sicht, sodass sie nur erahnen konnte, wohin Ethan sie führte. Tief atmete sie den bereits vertrauten, männlichen Duft ein. Das Zusammenspiel all dieser Sinneseindrücke machte sie ganz benommen.

Im nächsten Moment beugte Ethan sich auch schon vor, um das Koppelgatter zu öffnen. Lily schaffte es nach seiner Warnung gerade noch, ihre Arme noch fester um seinen Körper zu schlingen, bevor der Hengst in gestrecktem Galopp auf den Wald zustob.

Es war ein atemberaubender Ritt, ein Erlebnis, das sie nicht so schnell vergessen würde. Die Schatten um sie herum schienen nur so an ihnen vorbeizurasen, während sie sich dem Fluss näherten. Nachdem Ethan Tinker wieder in einen langsamen Schritt hatte fallen lassen, gaben die Dunkelheit und Stille um sie herum Lily das Gefühl, sie wären meilenweit die einzigen Menschen.

Der Wind kühlte ihre nach dem scharfen Ritt noch glühenden Wangen. Am liebsten wäre sie ewig so dahingeritten.

Doch irgendwann ließ Ethan Tinker anhalten, und Lily hörte das Rauschen des Flusses vor ihnen.

„Wow, das war toll! So etwas Aufregendes hab ich noch nie erlebt“, rief sie.

Das stimmt nicht ganz, wenn sie an Ethans Küsse dachte.

Ethan lachte. „Bist du denn noch nie ohne Sattel geritten?“

Er drehte sich zu ihr um, und sein Mund war mit einem Mal nur noch wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt.

„Nein, ich reite nie bloß zum Spaß, das weißt du doch.“

„Dafür hast du dich aber gut gehalten. Bist ein Naturtalent.“

Am Flussufer half Ethan zuerst ihr beim Absteigen, um dann selbst vom Pferd zu gleiten und einen Knoten in die Zügel zu schlingen, sodass Tinker frei herumlaufen und trinken konnte. Lily sah ihn überrascht an.

„Keine Sorge, er läuft nicht weg.“

„Kaum zu glauben. Wäre ich jetzt mit ihm allein hier, wäre er schon längst über alle Berge.“

„Tinker weiß eben, wer der Boss ist. Und das bist nicht du.“ Aufmunternd zwinkerte er ihr zu. „Mach dir nichts draus.“

„Er sollte besser mal daran denken, wer ihn tagtäglich füttert“, grummelte Lily.

Neben ihnen lag ein umgestürzter Baumstamm, auf den Lily sich setzte. Nach dem schnellen Ritt war sie noch etwas wacklig auf den Beinen.

Es war eine ruhige, sternenklare Nacht. Lily bemerkte die plötzliche Spannung zwischen ihnen. Der Stall lag in weiter Entfernung, und sie saß hier mitten in dieser romantischen Szene, allein mit einem Mann, der ihr Herz zum Schmelzen brachte und sie heute schon einmal geküsst hatte.

Sie wusste nicht, was größer war: ihre Hoffnung oder ihre Angst, dass er sie wieder küssen könnte. Als Ethan sich neben sie auf den Baumstamm setzte, verkrampfte sie sich.

„Keine Sorge, Lily. Ich werde nicht über dich herfallen. Eigentlich wollte ich mich auch noch für heute Morgen entschuldigen.“

„Oh“, antwortete sie nur und verkrampfte noch mehr.

Er schien einen Moment zu überlegen.

„Oder vielleicht sollte ich mich besser schon einmal im Voraus entschuldigen.“

„Warum das denn?“

Ethan sah sie nicht an. Stattdessen lehnte er sich ein wenig zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

„Weil ich eigentlich vorhabe, es noch einmal zu tun, bevor wir zurückreiten.“

Lilly wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Ihr Herz klopfte wie wild. „Ist das ein Verspr…?“ Sie schaffte es gerade noch, sich zu bremsen. „Eine Warnung?“

Autor

Kimberly Lang
Schon in der Highschool versteckte Kimberly Lang Liebesromane hinter ihren Schulbüchern. Statt sich mit Theorien und Zahlen herumzuschlagen, schmökerte sie lieber in den neuesten Romances. Auch das Studium ernster englischer Literatur konnte ihre Leidenschaft für aufregende Helden und Happy Ends nicht ändern. Kimberly war nach der Ausbildung zunächst Balletttänzerin und...
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