PROLOG
„Noch einmal, Miss Mason: Haben Sie die Anklage gegen Sie verstanden?“
Es dauerte eine Weile, bevor Jane mit vor Angst brüchiger Stimme antworten konnte. „Ja.“
Ihr war noch immer unbegreiflich, wie sie auf die Anklagebank geraten war. Man warf ihr Drogenbesitz vor, außerdem Handel mit Drogen. Dabei studierte sie seit zwei Jahren Betriebswirtschaft und arbeitete an fünf Abenden in der Woche in einem Imbiss, um ihr Studium zu finanzieren. Diese ganze Geschichte kam ihr wie ein Albtraum vor. Hoffentlich war der bald überstanden!
Leider holte die Realität sie schnell wieder ein, als der Richter ungeduldig fragte: „Plädieren Sie auf schuldig oder nicht schuldig, Miss Mason?“
Am ganzen Körper bebend, hob sie den Kopf und stieß verzweifelt hervor: „Nicht schuldig!“
Warum glaubt mir denn keiner? Völlig aufgelöst warf sie einen hilfesuchenden Blick auf Miss Sims, ihre Pflichtverteidigerin. Doch die war in die Akte in ihrer Hand vertieft und beachtete ihre Mandantin nicht weiter.
Dante Cannavaro lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, während die Vorbesprechung im Gericht weiter andauerte. Wenn Henry Bewick, der Chef der Kanzlei, in der Dante am Anfang seiner Karriere als Praktikant gearbeitet hatte, ihn nicht inständig gebeten hätte, den Fall zu übernehmen, säße er jetzt nicht hier.
Inzwischen war Dante neunundzwanzig Jahre alt und hatte sich einen Namen als international agierender Wirtschaftsanwalt gemacht. Als Strafverteidiger war er schon lange nicht mehr tätig gewesen. Doch seinem alten Boss zuliebe hatte er sich mit der Anklageschrift vertraut gemacht. Für ihn war der Fall ziemlich eindeutig: Ein Auto hatte Miss Masons Wagen seitlich abgedrängt. Als die Polizei bei der Unfallaufnahme nach ihrem Führerschein fragte, hatte die junge Frau nervös in ihrer Handtasche gekramt. Dabei fiel ein verdächtig wirkendes Päckchen heraus. Wie sich später herausstellte, handelte es sich um Drogen. Die einzige andere Person im Fahrzeug entpuppte sich als der ziemlich betrunkene Timothy Bewick – Henrys Sohn. Das Mädchen hatte behauptet, nichts von den Drogen zu wissen und angedeutet, dass jemand anders, möglicherweise Henry Bewicks Sohn, ihr das Zeug untergeschoben haben musste.
Dante hatte Timothy Bewick kennengelernt, der ganz offensichtlich bis über beide Ohren in das Mädchen verliebt war und zögerte, gegen sie auszusagen. Dante, der bis zu diesem Zeitpunkt nur ein Foto von Miss Mason gesehen hatte, konnte ihn gut verstehen. Das Bild zeigte eine hochgewachsene schwarzhaarige Schönheit in knappem Top und winzigen Shorts, die ihre beachtlichen Kurven und langen Beine perfekt zur Geltung brachten. Miss Mason hätte jeden Mann in Versuchung geführt, und ein hormongesteuerter Teenager hatte nicht den Hauch einer Chance. Also hatte Dante die Verteidigung des jungen Bewick übernommen.
Jetzt sah er auf, als die Angeklagte im Gerichtssaal hartnäckig ihre Unschuld beteuerte. Lügnerin, dachte Dante und musterte sie eingehend. Heute war Miss Mason wesentlich unauffälliger gekleidet als auf dem Foto. Das lange Haar war hochgesteckt, sie war ungeschminkt und trug einen schlichten schwarzen Hosenanzug – vermutlich auf Anraten ihrer Verteidigerin.
Doch damit hatte Miss Sims ihrer Mandantin keinen Gefallen erwiesen. Denn der perfekt geschnittene Anzug schmeichelte den festen Brüsten, der schmalen Taille und den wohlgerundeten Hüften und ließ Miss Mason älter wirken als ihre neunzehn Jahre. Ein Umstand, der ihm in die Hand spielen würde, wenn er Timothy Bewick in den Zeugenstand rief. Die Geschworenen würden natürlich dem verliebten Jungen glauben, nicht der viel erfahrener wirkenden jungen Frau.
Dante erhob sich und blickte der Angeklagten zynisch lächelnd in die Augen. Sie schien ihn anzuflehen, ihr zu glauben. Gleichzeitig meinte er festzustellen, dass ihre Augen sich verdunkelt hatten – ein Zeichen sexuellen Interesses. Dafür sprach auch, dass sie sich die sinnlichen Lippen befeuchtete. Selbst Dante blieb dafür nicht unempfänglich und musste ihr ein gewisses Talent als Verführerin zugestehen. Kein Wunder, dass der junge Bewick verrückt war nach ihr! Nur zu gut erinnerte Dante sich, wie sich das anfühlte und nahm sich vor, die Aussage der aufreizenden Jane Mason nach allen Regeln der Kunst zu zerpflücken.
Janes Blick ruhte auf dem großen schwarzhaarigen Mann, der aufgestanden war und sich ihr zuwandte. Sein Lächeln nahm ihr den Atem, sie schöpfte neue Hoffnung. Endlich ein freundliches Gesicht. Der attraktive Anwalt strahlte Selbstbewusstsein, Anteilnahme und pure Männlichkeit aus. Er musste doch merken, dass sie die Wahrheit sagte! Das spürte sie instinktiv …
Als das Gefängnistor hinter Jane Mason zufiel, konnte sie es noch immer nicht fassen, wie sehr sie sich in diesem Mann getäuscht hatte. Ängstlich betrachtete sie das furchteinflößende Gebäude, in dem sie die kommenden drei Jahre eingesperrt sein würde. Bei guter Führung vielleicht auch nur halb so lange. Jedenfalls hatte Miss Sims, ihre absolut unfähige Strafverteidigerin, ihr das in Aussicht gestellt.
Achtzehn Monate später …
„Es fällt mir so schwer, dich hier zurückzulassen, Helen“, schluchzte Jane und schaute die ältere Frau verzweifelt an. „Ohne dich hätte ich die Zeit hier im Gefängnis sicher nicht überlebt.“ Schweren Herzens umarmte sie die Freundin, die ihr buchstäblich das Leben gerettet hatte.
„Schon gut, Kleines.“ Helen gab ihr einen Kuss auf die Wange und löste sich lächelnd von Jane. Dann wurde sie ernst. „Keine Tränen, Jane! Ab heute bist du wieder ein freier Mensch. Wenn du dich an unsere Absprachen hältst, wird alles gut.“
„Darf ich dich wirklich nicht besuchen, Helen? Ich werde dich schrecklich vermissen.“
„Nein, Jane. Meine Tochter musste mit achtzehn Jahren sterben, und dein Leben wurde beinahe zerstört durch falsche Freunde und eine völlig unfähige Anwältin. Denk immer daran, was ich dir gesagt habe: Auf der Welt geht es nicht gerecht zu. Aber du musst das Unrecht vergessen, das dir zugefügt wurde, sonst wirst du eine verbitterte, zynische Frau. Denk nur an deine Zukunft. So, und nun ab mit dir! Mein Anwalt Clive Hampton erwartet dich draußen. Du kannst ihm vertrauen. Hör auf seinen Rat. Geh selbstbewusst, stolz und mit offenen Augen durchs Leben, wie die erfolgreiche Frau, die du zweifellos werden wirst.“ Helen drückte sie ein letztes Mal an sich. „Viel Glück!“
1. KAPITEL
„Schönen Feierabend, Mary“, rief Beth
Lazenby der Empfangsdame zu, als sie die Steuerberaterkanzlei Steel
and White im Londoner Stadtzentrum verließ, bei der sie als
Juniorpartnerin arbeitete. Draußen atmete sie tief durch. Endlich
wieder an der frischen Luft. Obwohl frisch – na ja. Die Arbeit
machte Beth Freude, aber in letzter Zeit, besonders wenn sie im
Cottage gewesen war, fragte sie sich immer häufiger, ob sie
wirklich den Rest ihres Lebens in der Großstadt verbringen
wollte.
Beth beobachtete, wie die Menschen nach getaner
Arbeit an ihr vorbeihasteten. Die Schlange an der Bushaltestelle
wurde lang und länger, daher beschloss Beth, zu Fuß zur nächsten zu
gehen. Bewegung würde ihr guttun. Außer Binkie wartete zu Hause ja
niemand auf sie. Wozu sollte sie sich also beeilen? Ihre Freundin
Helen war vor drei Jahren an Krebs gestorben – vier Monate
nachdem sie auf Bewährung vorzeitig aus der Haft entlassen worden
war.
Traurig schob Beth den rutschenden Träger ihrer
Handtasche wieder über die Schulter und ging weiter. Eine große,
bildhübsche Frau, deren rotes Haar in der Abendsonne wie Feuer
loderte. Sinnlich zeichnete sich der kurvige Körper unter dem
grauen Leinenkleid ab. Die bewundernden Blicke der vorbeieilenden
Männer fielen ihr nicht auf. Männer spielten in ihrem Leben eine
eher untergeordnete Rolle. Sie hatte Erfolg im Beruf, war stolz
darauf, was sie bisher erreicht hatte und ganz zufrieden mit ihrem
Leben.
Plötzlich sah sie einen Mann entgegenkommen,
der die meisten anderen Passanten um einen guten Kopf überragte,
und geriet ins Stolpern. Ihr Herz begann zu rasen. Hastig wandte
sie den Blick von dem schwarzhaarigen Mann ab, den sie abgrundtief
hasste. Der Teufel in Gestalt des Strafverteidigers Cannavaro war
nur noch wenige Schritte entfernt.
Helens mütterlicher Rat schoss ihr durch den
Kopf: Geh
selbstbewusst, stolz und mit offenen Augen durchs Leben, wie die
erfolgreiche Frau, die du zweifellos werden wirst.
Entschlossen hob Beth das Kinn und setzte ihren
Weg fort. Helen war es noch vergönnt gewesen, die Anfänge von Beths
erfolgreicher Karriere mitzuerleben. Ich werde sie auch jetzt nicht
enttäuschen, schwor Beth sich. Cannavaro würde sie niemals
wiedererkennen. Die naive Jane Mason hatte der selbstbewussten Beth
Lazenby Platz gemacht.
Trotzdem stellten sich ihre Nackenhärchen auf,
als sie an ihm vorbeiging. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie den
Blick, den er ihr zuwarf. Kam sie ihm bekannt vor? Und wenn schon. Sie ging
weiter, doch ihre gute Laune war verflogen, denn von einer Sekunde
auf die nächste wurde Beth wieder an die Vergangenheit erinnert.
Verbittert presste sie die Lippen zusammen und fragte sich, wie
viele Unschuldige Cannavaro in den vergangenen acht Jahren noch
hinter Gitter gebracht hatte.
Wie naiv sie damals gewesen war. Verängstigt
hatte sie auf der Anklagebank gesessen und neue Hoffnung geschöpft,
als Cannavaro ihr zugelächelt und sie mit seiner sympathischen
sonoren Stimme mit den Worten beruhigt hatte, sie bräuchte keine
Angst zu haben. Dass alle im Gerichtssaal Anwesenden nur die
Wahrheit herausfinden wollten. Naiv, wie sie gewesen war, hatte sie
ihm vertraut. Er war ihr Held gewesen, ihr Ritter. Doch Timothy
Bewick und sein Freund James Hudson hatten vor Gericht beide dreist
gelogen. Als ihr bewusst wurde, einen großen Fehler gemacht zu
haben, war es zu spät gewesen. Das Gericht hatte sie für schuldig
befunden und verurteilt. Als sie aus dem Gerichtssaal geführt
wurde, hatten Cannavaro und ihre Pflichtverteidigerin die Köpfe
zusammengesteckt und gelacht, ohne auch nur einen Blick an sie zu
verschwenden.
Dante Cannavaro war sehr zufrieden
mit sich und der Welt. Gerade hatte er für seinen Klienten, einen
multinationalen Konzern, einen weit besseren Deal ausgehandelt, als
alle erwartet hatten. Er schickte die wartende Limousine fort und
machte sich zu Fuß auf den Weg zu seiner Wohnung. In einer Stunde
sollte der speziell nach seinen Wünschen gebaute Ferrari geliefert
werden. Voller Vorfreude ging Dante beschwingt weiter.
Plötzlich blieb sein Blick auf dem flammend
roten Haar einer bildhübschen jungen Frau hängen, die ihm
entgegenkam. Der Sportwagen war vergessen. Sie war groß,
schätzungsweise einen Meter fünfundsiebzig und trug ein schlichtes
graues Leinenkleid, das vielleicht eine halbe Handbreit über den
Knien endete, und ihre verführerischen Kurven und die makellosen
langen Beine bestens zur Geltung brachte.
Automatisch drehte Dante sich nach dieser
Augenweide um, als sie an ihm vorbeiging. Beim Anblick der sich
sanft wiegenden Hüften wurde er ohne jede Vorwarnung von heftiger
Erregung gepackt. Doch dafür hatte er sofort eine Erklärung parat:
Diese Frau war umwerfend schön und es war viel zu lange her, seit
er das letzte Mal Sex gehabt hatte. Er durfte bloß nicht vergessen,
dass er inzwischen mit Ellen verlobt war …
Als international agierender Anwalt unterhielt
Dante Kanzleien in London, New York und Rom, wo er auch jeweils
Eigentümer einer Wohnung war. Sein eigentliches Zuhause befand sich
allerdings in der Toskana. Auf dem dortigen Anwesen, das sich seit
Generationen im Besitz seiner Familie befand, war er zur Welt
gekommen.
Onkel Aldo, der jüngere Bruder von Dantes Vater
und Chef von Cannavaro Associates in Rom, war im vergangenen März
verstorben. Somit war Dante der letzte überlebende männliche
Cannavaro. Daher wurde es Zeit, seine Karriere als international
tätiger Anwalt zu beenden, sich den Geschicken des
Familienunternehmens zu widmen und einen Erben zu zeugen, damit der
Familienname erhalten bliebe.
Dante hatte schon immer geplant, eines Tages zu
heiraten und Kinder zu haben. Und nun, mit siebenunddreißig Jahren,
wurde er plötzlich massiv an seine Familienpflichten erinnert. Er
wollte Kinder, solange er noch fit genug war, um seine Rolle als
aktiver Vater wahrnehmen zu können. Seine Wahl war auf Ellen
gefallen, weil er sie seit zwei Jahren kannte, ihre Arbeit schätzte
und sie alle notwendigen Voraussetzungen mitbrachte: Sie war
intelligent, attraktiv und kinderlieb. Zudem war sie selbst
Anwältin und wusste, wie anstrengend der Beruf sein konnte. Der Sex
mit ihr war auch okay. Es war eine perfekte Partnerschaft, und wenn
Dante eine Entscheidung traf, dann war sie endgültig. Andere Frauen
waren kein Thema mehr.
Aber der Rotschopf war nun mal wirklich
ein echter Hingucker gewesen …
Eine Stunde später freute Beth sich
auf ihr Zuhause, als sie die Straße mit den Reihenhäusern aus den
zwanziger Jahren hochging und schließlich die Haustür aufschloss.
In der Diele tauschte sie die Pumps gegen Hausschuhe aus und
lächelte vergnügt, als das einzige männliche Wesen in ihrem Leben
ihr um die Beine strich.
„Hallo Binkie.“ Sie nahm den verschmusten Kater
mit dem roten Fell auf den Arm und kraulte das schnurrende Tier,
während sie an Schlafzimmer, Wohnzimmer und Badezimmer vorbei in
den rückwärtigen Teil des Hauses schlenderte, wo sich der größte
Raum befand: die Wohnküche.
Dort setzte sie Binkie ab, betätigte den
Wasserkocher und öffnete eine Dose Katzenfutter.
„Du bist bestimmt schon halb verhungert“, sagte
sie zu dem miauenden Kater und stellte den mit Binkies
Lieblingsfutter Thunfisch gefüllten Napf auf den Boden. Dann machte
sie sich einen Becher Kaffee, den sie auf der direkt hinter der
Küche gelegenen Terrasse trank.
Der Garten war Beths ganzer Stolz. Die
Kübelpflanzen auf der Terrasse standen in voller Blüte. Ein
Anblick, der sie sehr erfreute. Zufrieden schlenderte sie über den
Rasen, der von einer halbhohen Mauer eingefriedet war, durch die
eine Pforte zum Garten der über ihr gelegenen Wohnung führte.
Am anderen Ende des Gartens rankten sich
Clematis und duftender Jasmin an der Hauswand empor. Langsam
entspannte Beth sich, trank noch einen Schluck Kaffee und
verdrängte die unerwartete Begegnung mit Cannavaro aus ihrem
Gedächtnis. Der Typ war es nicht wert, auch nur einen weiteren
Gedanken an ihn zu verschwenden. Sie kehrte zurück auf die Terrasse
und machte es sich auf einem der um einen Holzgartentisch
dekorierten Holzsessel gemütlich.
Als sie gerade so richtig entspannt war,
kreuzte ihr Nachbar Tony auf und lehnte sich an die Pforte. Tony
war stämmig gebaut, hatte kurzes blondes Haar, ein rundes freches
Gesicht und war gerade dreiundzwanzig Jahre alt geworden. Beth war
zwar nur vier Jahre älter, fühlte sich aber bedeutend erwachsener
als er und sein Mitbewohner Mike. Die jungen Männer arbeiteten bei
derselben Bank in der Londoner City, waren völlig unbeschwert und
wollten ihren Spaß haben.
„Hi Beth. Ich habe schon auf dich gewartet.
Darf ich mich zu dir setzen?“ Er hatte bereits die Pforte geöffnet
und kam näher.
„Was brauchst du denn, Tony? Zucker, Milch,
oder willst du dich zum Abendessen einladen?“, fragte sie trocken,
als er sich rittlings auf einen Stuhl setzte und die Ellenbogen auf
der Rückenlehne aufstützte.
„Nein, ausnahmsweise mal nichts davon. Aber
gegen Sex hätte ich nichts einzuwenden.“ Er grinste gespielt
anzüglich.
Beth lachte herzlich. „Mit mir? Darauf kannst
du lange warten, Tony Hetherington.“
„Das habe ich mir schon gedacht, aber fragen
kann man ja mal.“ Seine blauen Augen glitzerten humorvoll. „Spaß
beiseite: Bist du am kommenden Wochenende hier, oder fährst du zum
Cottage?“
„Die nächsten beiden Wochen bleibe ich hier,
aber dann mache ich drei Wochen Urlaub. Ich muss das Cottage
renovieren und freue mich darauf, endlich mal wieder zu surfen,
falls ich dazu komme. Du wirfst doch ein wachsames Auge auf meine
Wohnung, solange ich fort bin? Den Schlüssel hast du doch noch,
oder?“
„Ja klar, kein Problem, Beth. Nun zu meiner
Bitte: Als ich am Montag Geburtstag hatte und mit meinen Eltern zu
Abend essen musste, war das so öde, dass ich beschlossen habe,
jetzt am Sonnabend mit meinen Freunden so richtig zu feiern. Du
bist natürlich auch eingeladen. Bei uns herrscht akuter
Frauenmangel, du musst also unbedingt kommen.“
„Ich fühle mich geschmeichelt“, antwortete Beth
ironisch. „Eigentlich habe ich noch genug von eurer
Weihnachtsfeier, wo ich euch den ganzen Abend bedient habe und am
Ende auch noch die Gäste hinauskomplimentieren musste, weil du und
Mike dazu nicht mehr in der Lage gewesen seid. Vom Aufräumen und
Saubermachen ganz zu schweigen.“
Tony lachte verlegen. „Tut mir leid. Aber die
Party war super. Dieses Mal wollen wir grillen. Die Gäste werden
schon am Nachmittag eintrudeln, und alles spielt sich draußen ab.
Aufräumen und Saubermachen ist also nicht erforderlich.“
„Ach, so ist das. Du willst in meinem Garten
feiern, weil der doppelt so groß ist wie deiner.“
„Ja, das auch“, gab Tony unumwunden zu. „Und
Mike schreibt eine Einkaufsliste. Wenn es nach mir ginge, würden
einige Dutzend Bratwürstchen, Hamburger und Salat völlig
ausreichen. Aber er hält sich ja für einen begnadeten Koch und will
Spieße, mariniertes Hühnchen, etliche Salate und ich weiß nicht
was, auftischen. Du musst mir helfen, Beth.“ Er setzte seinen
treuen Dackelblick auf, dem seiner Meinung nach niemand widerstehen
konnte.
„An dir ist ein Schauspieler verloren gegangen,
Tony.“ Beth lachte trocken. „Aber die Masche zieht bei mir
nicht.“
„Ich weiß.“ Tony grinste jungenhaft. „Kommst du
trotzdem? Als du im vergangenen Monat am Wochenende im Cottage
warst, haben wir auch gegrillt. Es war ein ziemliches Desaster.
Mike hat die Hälfte der Gäste mit seinen gefüllten Schweinelendchen
vergiftet. Unsere Kollegen bei der Bank schmieren uns das ständig
aufs Butterbrot.“
„Du liebe Zeit!“ Beth amüsierte sich prächtig.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“
„Leider doch. Deshalb haben wohl auch die
meisten Frauen abgesagt, als wir sie wieder einladen wollten.
Eine
Lebensmittelvergiftung hat ihnen wohl gereicht.“
„Also gut, überredet. Ich helfe euch.
Vorausgesetzt, der Grill wird in eurem Garten aufgebaut. Ich möchte
nicht, dass meine Pflanzen Schaden nehmen. Und bei euch Chaoten
weiß man nie, was passiert. Die Gäste können in meinem Garten
trinken und essen, aber meine Wohnung ist tabu. Haben wir uns
verstanden?“
„Ja! Du bist die Beste, Beth!“ Freudestrahlend
sprang er auf und kehrte in seinen eigenen Teil des Gartens zurück.
„Vielen Dank!“, rief er ihr an der Pforte zu, bevor er wieder in
seiner Wohnung verschwand.
Am Sonnabend blickte Beth sich gegen
sieben Uhr abends zufrieden im Garten um. Die Sonne strahlte noch
vom blauen Himmel, die lässig gekleideten Gäste aßen und tranken im
Garten, standen in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich
angeregt oder tanzten. Auch in der Wohnung der beiden jungen Männer
hatten sich Gäste eingefunden. Hier wurde Hochprozentiges
ausgeschenkt, während Bier und Weißwein in großen, mit Eis
gefüllten Kübeln vor Beths Küchenfenster darauf warteten,
konsumiert zu werden. Ihre Hintertür hatte Beth sicherheitshalber
abgeschlossen, und den Schlüssel in die Tasche ihrer Jeans
gesteckt.
„So allein, Beth?“ Der beschwipste Tony legte
ihr einen Arm um die Taille. „Danke, dass du Mike seine
kulinarischen Experimente ausgeredet hast. Die Grillparty ist ein
voller Erfolg. Komm, darauf trinken wir.“
Lächelnd schüttelte Beth den Kopf. „Du weißt
doch, dass ich keinen Alkohol trinke.“
„Ich hole mir noch ein Glas. Bis später.“ Tony
ließ sie los, wandte sich halb um und verharrte verblüfft in der
Bewegung. „Das glaube ich jetzt nicht!“, rief er und schlang
schnell wieder den Arm um Beths Taille. „Mein großer Bruder gibt
uns die Ehre. Ich hatte ihm eine Einladung auf den Anrufbeantworter
in seiner Londoner Wohnung gesprochen, aber nie gedacht, dass er
sie annehmen würde. Er ist Anwalt, du weißt schon: der ernste,
intellektuelle Typ. Er spricht sechs Sprachen und arbeitet in der
ganzen Welt. So ein richtiger Workaholic. Zuletzt habe ich ihn im
vergangenen Jahr gesehen, aber Mum hat erzählt, er hätte sich vor
zwei Monaten verlobt. Die Frau an seiner Seite muss wohl seine
Verlobte sein.“
„Dass du einen Bruder hast, höre ich zum ersten
Mal“, sagte Beth und warf einen neugierigen Blick an Tony vorbei.
Dann erstarrte sie.
Der Mann mit dem harten, markanten Gesicht
hatte den Blick direkt auf sie gerichtet, bevor er sich wieder
seiner Begleiterin zuwandte. Ein angstvoller Schauer lief Beth beim
Anblick des Paares über den Rücken, das Mike gerade in den Garten
geführt hatte. Jetzt deutete er in Tonys Richtung.
Cannavaro! Das konnte doch
nicht wahr sein! Ungläubig starrte sie den großen, breitschultrigen
Mann an, der jetzt direkt auf sie zukam.
Sie bemerkte, dass er das dichte schwarze Haar
jetzt länger trug – bis zum Kragen des weißen Hemds, zu dem er
helle Chinos gewählt hatte. Die Freizeithose brachte die schmalen
Hüften und langen Beine gut zur Geltung.
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