Julia Extra Band 386

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IM SCHLOSS DES MILLIONÄRS von MILBURNE, MELANIE
Vier Wochen in einem Château! Lilys neuer Job als Physiotherapeutin ist ein Traum - wäre da nicht ihr Patient, der arrogante Playboy Raoul. Gerade noch hasst sie ihn, dann wieder begehrt sie ihn heiß …

GEHEIMNIS UNTER DER HEIßEN SONNE GRIECHENLANDS von COLLINS, DANI
Reichtum, Macht, eine betörend schöne Frau an seiner Seite: Die glamouröse Welt des griechischen Reeders Gideon Vozaras droht jäh zu zerbrechen, als er seine Gattin Adara des Betrugs verdächtigen muss …

BRING MEIN HERZ NICHT IN GEFAHR! von ARMSTRONG, LINDSAY
Harriets Herz rast. Wie kann der attraktive Millionär Damien Wyatt es wagen, sie mit einem leidenschaftlichen Kuss zu überraschen? Und das während ihres Vorstellungsgesprächs! Was hat er mit ihr vor?

VORSICHT, SEXY EX! von JORDAN, PENNY
Die Anziehungskraft zwischen Belle und ihrem Exmann Luc ist schon immer überwältigend gewesen. Als sie ihm jetzt bei einer Hochzeit begegnet, spürt sie sofort wieder dieses einzigartige, gefährliche Feuer …

DIE GEFANGENE DES SCHEICHS von RAYE HARRIS, LYNN
Scheich Zafir! Schockiert erkennt Genie, zu wem ihre Entführer sie bringen. Zafir war ihre große Liebe - bis sie begriff: Ein Mann wie er will eine Frau wie sie niemals heiraten, sondern nur als Geliebte!


  • Erscheinungstag 26.08.2014
  • Bandnummer 0386
  • ISBN / Artikelnummer 9783733704124
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Melanie Milburne, Dani Collins, Lindsay Armstrong, Penny Jordan, Lynn Raye Harris

JULIA EXTRA BAND 386

MELANIE MILBURNE

Im Schloss des Millionärs

Auch wenn es heiß zwischen ihnen knistert, glaubt der Playboymillionär Raoul Caffarelli, dass die schöne Lily nur hinter seinem Geld her ist. Denn was hat er ihr nach seinem Unfall schon zu bieten?

DANI COLLINS

Geheimnis unter der heißen Sonne Griechenlands

Adara bricht das Herz: Ihr Ehemann, der griechische Reeder Gideon Vozaras, hat eine Affäre mit seiner Sekretärin! Aber warum will er sie dann nicht gehen lassen, als sie spontan die Scheidung verlangt?

LINDSAY ARMSTRONG

Bring mein Herz nicht in Gefahr!

Wird dem Millionär Damien Wyatt sein Verlangen zum Verhängnis? Als die verführerische Harriet in sein Leben tritt, bricht er zum ersten Mal seine goldene Regel: Niemals mehr als eine Nacht!

PENNY JORDAN

Vorsicht, sexy Ex!

Gibt es noch eine zweite Chance für die Liebe? Anlässlich einer Hochzeit trifft Luc seine Exfrau Belle wieder. Überrascht muss er sich eingestehen: Er begehrt sie immer noch leidenschaftlich …

LYNN RAYE HARRIS

Die Gefangene des Scheichs

Seit die betörende Genie seine Liebe verriet, hat Scheich Zafir auf diesen Moment der Rache gewartet. Endlich hat er die Macht, über sie zu bestimmen – und er will nur eins: Genie in seinem Bett!

1. KAPITEL

„Aber ich behandle grundsätzlich keine männlichen Patienten“, erklärte Lily ihrer Chefin an der South London Rehabilitation Clinic. „Das wissen Sie doch genau.“

„Ich weiß, aber das hier ist eine tolle Gelegenheit“, entgegnete Valerie. „Raoul Caffarelli ist stinkreich. In den vier Wochen bei ihm in der Normandie würden Sie mehr verdienen als hier in einem Jahr, und ich habe sonst niemanden, der für den Job infrage kommt. Außerdem hat sein Bruder ausdrücklich Sie verlangt.“

Lily runzelte die Stirn. „Sein Bruder?“

Valerie verdrehte vielsagend die Augen. „Na ja, anscheinend verweigert Raoul jegliche Behandlung. Seit seiner Reha lebt er ziemlich zurückgezogen. Sein älterer Bruder Rafe hat einen Artikel über Ihren Erfolg bei Scheich Kasim Al-Balawis Tochter gelesen und will unbedingt, dass Sie seinem Bruder helfen. Geld spielt für ihn offensichtlich keine Rolle.“

Lily biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Die Aussicht auf ein großzügiges Sonderhonorar war ziemlich verlockend, vor allem in Anbetracht der katastrophalen finanziellen Situation ihrer Mutter. Doch die Vorstellung, einen Mann in seinem Zuhause zu behandeln, war ein Alptraum. Selbst wenn dieser Mann auf einen Rollstuhl angewiesen war.

Ich war seit fünf Jahren nicht auch nur in der Nähe eines Mannes.

„Meine Antwort lautet Nein“, sagte Lily und kehrte ihrer Chefin den Rücken zu, um eine Patientenakte abzulegen. „Niemals. Sie müssen jemand anderes hinschicken.“

„Ich fürchte, ein Nein ist keine Option“, erklärte Valerie. „Die Caffarelli-Brüder sind dafür bekannt, nicht lockerzulassen, und Rafe will unbedingt, dass Raoul bei seiner Hochzeit im September Trauzeuge ist. Er hat sich in den Kopf gesetzt, dass Sie die Einzige sind, die seinem Bruder wieder auf die Beine helfen kann.“

Lily schob die Schublade zu und drehte sich zu Valerie um. „Hält er mich etwa für eine Wunderheilerin? Sein Bruder wird vielleicht nie wieder auf die Beine kommen, schon gar nicht in ein paar Wochen.“

„Ich weiß, aber Sie könnten ihn sich doch zumindest mal ansehen“, bat Valerie. „Der Job ist ein Traum – freie Kost und Logis in einem alten Château in der Normandie. Nehmen Sie den Auftrag an, Lily. Sie würden mir und der Klinik damit einen riesigen Gefallen erweisen. Das Ganze ist die perfekte Gelegenheit, unseren guten Ruf seit Ihrem Erfolg mit der Tochter des Scheichs noch weiter zu festigen. Wir werden die ganzheitliche Klinik für die Reichen und Berühmten sein. Man wird uns förmlich die Türen einrennen.“

Lily versuchte, einen Anflug von Panik zu unterdrücken. Ihr Herz raste, als habe sie gerade zu Fuß das oberste Stockwerk eines Wolkenkratzers erklommen. Verzweifelt versuchte sie, sich eine Ausrede einfallen zu lassen, aber jedes Mal, wenn ihr eine durch den Kopf schoss, kam ihr der Wunsch in die Quere, ihrer Mutter zu helfen. Außerdem wollte sie sich ihrer Arbeitgeberin gegenüber loyal zeigen.

Werde ich das durchstehen?

„Ich muss mir erst mal Mr Caffarellis Röntgenaufnahmen und seine Krankenakte ansehen. Möglicherweise kann ich gar nicht viel für ihn tun. Es wäre verkehrt, ihm oder seinem Bruder falsche Hoffnungen zu machen.“

Sofort setzte sich Valerie an ihren Computer und ließ ihre Finger über die Tastatur eilen. „Ich habe die Aufnahmen und ärztlichen Gutachten bereits hier. Rafe hat sie mir gemailt. Ich leite sie in diesem Augenblick an Sie weiter.“

Kurz darauf warf Lily in ihrem Büro einen Blick auf die Unterlagen. Raoul Caffarelli hatte bei einem Wasserski-Unfall eine Wirbelsäulenverletzung erlitten. Sein rechter Arm war gebrochen, heilte jedoch anscheinend gut. Er hatte nur wenig Gefühl in den Beinen und konnte ohne fremde Hilfe weder stehen noch laufen. Die Neurochirurgen waren zu dem Schluss gekommen, dass seine Beine vermutlich nie wieder normal funktionieren würden, doch Lily hatte schon zu viele Fehlprognosen gelesen, um sich davon beeinflussen zu lassen.

Manche Wirbelsäulenverletzungen waren irreparabel, andere wiederum nicht, und dazwischen war alles möglich. Das hing von der Art der Verletzung ab – und von der Einstellung und dem allgemeinen gesundheitlichen Zustand des Patienten.

Lily kombinierte gern verschiedene Behandlungsmethoden – neben den Klassikern Bewegung, Muskelaufbau und Massage ein paar weitere, die als alternativ eingestuft wurden, wie zum Beispiel Aroma-Therapie, Ernährungsumstellung und Visualisierungs-Techniken.

Die Tochter des Scheichs, Halimah Al-Balawi, war eine ihrer Star-Patientinnen. Drei Neurochirurgen hatten der jungen Frau prophezeit, nie wieder laufen zu können, bevor Lily sie übernommen hatte. Nach drei Monaten hatte die junge Frau bereits mit Krücken gehen können und schließlich sogar ohne jede Hilfe.

Lily lehnte sich nachdenklich in ihrem Stuhl zurück und kaute auf einem Fingernagel. Für die meisten Frauen wäre es ein Traumjob, einen Mann zu behandeln, der so reich und berühmt war wie Raoul Caffarelli. Sie würden wahrscheinlich zehn Jahre ihres Lebens dafür hergeben, um nur einen einzigen Tag mit ihm zu verbringen, ganz zu schweigen von einunddreißig Tagen. Sie würden sich diese Gelegenheit niemals entgehen lassen und jede einzelne Sekunde davon genießen.

Für mich ist das wie Folter.

Ihr wurde schon bei der bloßen Vorstellung schlecht, einen männlichen Körper anzufassen, und Physiotherapie bedeutete Körperkontakt – engen Körperkontakt. Hände auf nackter Haut. Massagen … Berührungen.

Lilys Handy klingelte. Als sie das Gesicht ihrer Mutter auf dem Display sah, ging sie ran. „Hi, Mom. Alles in Ordnung?“

„Schätzchen, ich störe dich nur sehr ungern bei der Arbeit, aber die Bank hat gerade angerufen. Sie wollen die Hypothekenforderungen auf das Haus geltend machen, wenn ich die letzten drei Kreditraten nicht bezahle. Ich habe versucht, ihnen zu erklären, dass Martin mein Konto geplündert hat, aber sie haben gar nicht zugehört.“

Lily kochte innerlich vor Wut, wenn sie daran dachte, dass diese Internetbekanntschaft ihre Mom ausgenommen hatte wie eine Weihnachtsgans. Ihre Mutter hatte den Fehler gemacht, ihrem neuen Partner zu vertrauen, und musste jetzt bitter dafür büßen. Der Betrüger hatte einfach ihre Konten geknackt und ihre ganzen Ersparnisse geplündert.

War dieses Angebot ein Wink des Schicksals? Durfte Lily den Job wirklich ablehnen, wo ihre Mutter doch so dringend finanzielle Unterstützung brauchte? Mom hatte ihr in ihrer schlimmsten Zeit beigestanden – in jenen schrecklichen dunklen Tagen nach ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, in denen Lily fast verrückt geworden war. Ihre Mutter hatte auf alles verzichtet, um für Lily da sein zu können und ihr aus ihrem schwarzen Loch der Verzweiflung und des Selbsthasses herauszuhelfen. War Lily ihr dafür nicht etwas schuldig?

Es handelte sich ja nur um einen Monat.

Vier Wochen.

Einunddreißig Tage.

Ein ganzes Leben.

„Wir kriegen das wieder hin, Mom.“ Lily atmete zittrig ein. „Ich bekomme einen neuen Patienten, was allerdings bedeutet, dass ich den ganzen August in Frankreich verbringen muss, aber der Patient zahlt im Voraus. Das müsste das Problem mit der Bank regeln. Du wirst dein Haus auf keinen Fall verlieren, nicht, solange ich es verhindern kann.“

Raoul sah seinen Bruder finster an. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich allein gelassen werden will.“

Rafe seufzte frustriert. „Du kannst doch nicht den Rest deines Lebens wie ein Einsiedler leben. Was ist nur los mit dir? Verstehst du denn nicht, dass das hier deine beste, vielleicht sogar deine einzige Chance ist, wieder gesund zu werden?“

Raoul drehte seinen Rollstuhl mit dem gesunden Arm von seinem Bruder weg. Er wusste, dass Rafe es nur gut meinte, doch die Vorstellung, von irgendeiner jungen Engländerin mit obskuren Quacksalbermethoden behandelt zu werden, widerstrebte ihm zutiefst. „Die besten italienischen Ärzte haben mir versichert, dass sich mein Zustand nicht verbessern wird. Ich brauche diese Archer nicht.“

„Hör mal, ich weiß ja, dass es dir schwer zu schaffen macht, dass Clarissa eure Verlobung gelöst hat, aber deshalb brauchst du noch lange nicht alle Frauen …“

„Das hier hat überhaupt nichts mit Clarissa zu tun“, unterbrach Raoul ihn scharf und drehte seinen Rollstuhl wieder zurück.

Rafes Blick sprach Bände. „Du hast sie doch noch nicht mal geliebt. Sie schien nur deine Kriterien zu erfüllen. Der Unfall hat dir gezeigt, wie sie wirklich ist. Ich finde – und Poppy ist da ganz meiner Meinung –, dass du noch mal davongekommen bist.“

Raoul umklammerte die Rollstuhllehne so fest, dass seine Knöchel ganz weiß wurden. „Ach ja? Du findest, ich habe Glück gehabt? Sieh mich nur an, Rafe! Ich sitze im Rollstuhl. Ich kann mich noch nicht mal allein anziehen!“

Rafe fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. „Sorry, so habe ich das nicht gemeint.“ Er ließ die Hand wieder sinken. „Wirst du sie zumindest empfangen? Gib ihr doch für eine Woche oder wenigstens ein paar Tage eine Chance. Wenn es mit ihr nicht klappt, lassen wir es bleiben. Die Entscheidung, ob sie bleibt oder geht, liegt ganz bei dir.“

Raoul rollte seinen Stuhl zum Fenster und blickte auf die Wiesen, auf denen einige seiner wertvollen Zuchtpferde grasten. Er konnte nicht rausgehen und ihnen die Nüstern streicheln. Er konnte nicht das weiche Gras unter den Füßen spüren. Er war an diesen Rollstuhl gefesselt – gefangen in seinem eigenen Körper, der ihn vierunddreißig Jahre lang als Menschen definiert hatte – als Mann. Die Ärzte fanden, dass er großes Glück gehabt hatte; immerhin spürte er noch seine Beine und hatte volle Kontrolle über seine Ausscheidungsfunktionen. Wahrscheinlich konnte er sogar Sex haben, aber welche Frau würde ihn jetzt noch wollen?

Keine. Hatte Clarissa ihm das nicht mehr als deutlich zu verstehen gegeben?

Er wollte seinen alten Körper zurückhaben. Er wollte sein Leben zurück.

Raoul bezweifelte, dass diese Archer die Wunderheilerin war, für die Rafe sie zu halten schien. Sie war wahrscheinlich der größte Scharlatan weit und breit, und auf falsche Hoffnungen konnte er verzichten. Er musste allein sein, um sich an seine neue Situation zu gewöhnen. Er war noch nicht so weit, der Welt in diesem Zustand gegenüberzutreten. Bei der Vorstellung, von irgendwelchen Paparazzi in seinem Elend fotografiert zu werden, wurde ihm übel.

„Es handelt sich doch nur um einen Monat, Raoul“, riss Rafes Stimme ihn aus seinen Gedanken. „Bitte. Versuch es doch wenigstens.“

Raoul wusste, dass seine Brüder sich große Sorgen um ihn machten. Remy, der Jüngste, war erst am Tag zuvor bei ihm gewesen, um ihn aufzuheitern. Rafe und Remy taten wirklich alles, um ihm zu helfen! Von ihrem Großvater Vittorio konnte man das dagegen nicht behaupten. Mit Schuldzuweisungen und Vorwürfen kannte sich der alte Herr bestens aus, was jedoch Zuwendung und Mitgefühl betraf …

„Gib mir eine Woche Zeit, um darüber nachzudenken.“

Dass Rafe auf seinen Vorschlag nur mit Schweigen reagierte, ließ Raoul nichts Gutes ahnen.

Misstrauisch drehte er den Rollstuhl wieder zu seinem Bruder hin, der ihn zerknirscht aus dunkelbraunen Augen ansah. „Jetzt sag nicht, du hast …“

„Sie wartet im Frühstückszimmer“, unterbrach Rafe ihn.

Raoul stieß eine Reihe saftiger französischer, italienischer und englischer Flüche aus. Er kochte innerlich vor Wut. Noch nie hatte er sich so hilflos, so verdammt ohnmächtig gefühlt. Wofür hielt sein Bruder ihn eigentlich? Für ein kleines Kind, das keine eigenen Entscheidungen treffen konnte?

Das Château war sein Zufluchtsort. Niemand hatte hier etwas zu suchen, den er nicht ausdrücklich einlud.

„Beruhige dich doch“, sagte Rafe. „Sie kann dich hören.“

„Ist mir doch egal! Wie konntest du nur, verdammt noch mal?“

„Ich versuche nur, dir zu helfen, da du dir offensichtlich nicht selbst helfen willst. Ich ertrage es nicht, dich so zu sehen. Du sitzt den ganzen Tag nur herum, grübelst und reißt jedem den Kopf ab, der es auch nur wagt, dich anzusehen. Du gehst noch nicht mal nach draußen. Du benimmst dich, als hättest du schon aufgegeben. Aber du darfst nicht aufgeben. Du musst kämpfen.“

Raoul funkelte seinen Bruder aufgebracht an. „Ich gehe erst dann wieder nach draußen, wenn ich es ohne fremde Hilfe schaffe. Du hattest kein Recht, diese Frau ohne mein Einverständnis einzuladen. Das hier ist mein Haus. Schaff sie sofort hier raus.“

„Sie bleibt“, erklärte Rafe entschlossen. „Ich habe sie im Voraus bezahlt und bekomme das Geld nicht zurück. Das war ihre Bedingung, bevor sie den Job annahm.“

Raoul verdrehte verächtlich die Augen. „Sagt das nicht schon alles? Um Himmels willen, Rafe, gerade dir hätte ich mehr Verstand zugetraut. Sie nimmt dich doch nur aus. Wart’s ab, in zwei Tagen marschiert sie wegen irgendeiner blöden Bemerkung von mir hier raus und tänzelt fröhlich zur nächsten Bank.“

„Miss Archer hat ausgezeichnete Referenzen“, widersprach Rafe. „Sie ist hervorragend ausgebildet und sehr erfahren.“

Raoul grunzte geringschätzig. „Kann ich mir vorstellen.“

„Ich werde jetzt gehen, damit ihr euch kennenlernen könnt. Ich muss zurück zu Poppy. Wir sind dabei, unsere Hochzeit zu organisieren, und auf der will ich dich dabeihaben, Raoul, ob mit oder ohne Rollstuhl. Hast du verstanden?“

„Auf keinen Fall werde ich mich der Öffentlichkeit als Freak präsentieren“, zischte Raoul. „Nimm doch Remy als Trauzeugen.“

„Du kennst ihn doch. Er taucht womöglich gar nicht erst auf, weil ihm unterwegs irgendetwas Interessanteres über den Weg gelaufen ist. Nein, Poppy und ich wollen dich als Trauzeugen, und ich will sie nicht enttäuschen.“ Rafe ging zur Tür. „Ich rufe dich in zwei Wochen an, um mich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Ciao.

Lily umklammerte nervös ihre Handtasche. Trotz der sommerlichen Temperaturen hatte sie eiskalte Hände. Die lauten Stimmen aus dem Flur nebenan waren nicht zu überhören, und obwohl sie weder Französisch noch Italienisch fließend sprach, verstand sie genug, um mitzubekommen, dass Raoul Caffarelli nicht gerade erfreut über ihre Anwesenheit war. Welche Ironie. Schließlich war sie auch nicht gerade freiwillig hier. Aber das Geld auf dem Hypothekenkonto ihrer Mutter hatte zumindest eins ihrer Probleme beseitigt.

Das größte lag allerdings noch vor ihr.

Allein mit einem ihr völlig fremden Mann in diesem riesigen alten Schloss zu wohnen, war der Stoff für einen Horrorfilm. Ihre Knie zitterten so heftig, dass sie sie zusammenpressen musste.

Die Tür des Frühstückszimmers öffnete sich, und Rafe Caffarelli trat ein. Sein Gesichtsausdruck war finster. „Raoul ist in der Bibliothek. Lassen Sie sich von seiner miesen Laune nicht einschüchtern, er ist gerade nicht er selbst. Seine Situation frustriert ihn einfach.“

Lily stand auf, ihre Handtasche fest an sich gepresst. „Kein Problem.“ Sie schluckte. „Das Ganze muss sehr schwierig für ihn sein …“

„Es ist ein Alptraum, sowohl für ihn als auch für mich. Ich weiß nicht, wie ich an ihn herankommen soll. Er schottet sich von allen ab.“ Rafe rieb sich erschöpft das Gesicht. „Und er verweigert jegliche Kooperation. So habe ich ihn noch nie erlebt. Er konnte ja schon immer ziemlich stur sein, aber das hier schlägt dem Fass den Boden aus.“

„Vielleicht braucht er einfach noch Zeit“, wandte Lily ein. „Manche Menschen brauchen Monate, um ihren Zustand zu akzeptieren. Andere akzeptieren ihn nie.“

„Ich will unbedingt, dass er zu meiner Hochzeit kommt, und wenn ich ihn mit Gewalt dorthin zerren muss.“

„Ich werde mein Bestes versuchen, aber ich kann Ihnen nichts versprechen.“

„Wenn Sie etwas brauchen, können Sie sich an die Haushälterin Dominique wenden. Sie wird Ihnen Ihre Suite zeigen, nachdem Sie sich Raoul vorgestellt haben. Ein junger Mann namens Sebastien kommt jeden Morgen und hilft meinem Bruder beim Duschen und Anziehen. Haben Sie sonst noch irgendwelche Fragen?“

Hunderte, aber das hat noch Zeit. „Nein, ich glaube, das war’s vorerst.“

Rafe öffnete Lily nickend die Tür. „Ich zeige Ihnen jetzt, wo die Bibliothek liegt, aber Sie müssen allein hineingehen.“ Er verzog das Gesicht. „Raoul ist gerade nicht gut auf mich zu sprechen.“

Im Vergleich zu dem sonnigen Frühstückszimmer war die Bibliothek sehr dunkel. Nur ein einziges Fenster ließ Tageslicht herein.

Lilys Blick wurde sofort wie magisch angezogen von der schweigenden Gestalt im Rollstuhl hinter dem großen Schreibtisch. Raoul Caffarelli sah genauso umwerfend gut aus wie sein älterer Bruder. Er hatte die gleichen dunklen Haare, die gleiche bronzefarbene Haut und ein ähnlich markantes, Entschlossenheit suggerierendes Kinn. Seine Augen waren jedoch grünlich anstatt dunkelbraun. In diesem Augenblick blitzten sie vor Zorn.

„Sie haben doch bestimmt Verständnis dafür, wenn ich nicht aufstehe“, sagte er sarkastisch. Sein Gesicht wirkte dabei wie versteinert.

„Ich … selbstverständlich.“

„Wenn Sie nicht schwerhörig oder eine komplette Vollidiotin sind, haben Sie inzwischen wahrscheinlich gemerkt, dass ich keinen Wert auf Ihre Anwesenheit lege.“

Fest entschlossen, sich nicht von ihm einschüchtern zu lassen, hob Lily das Kinn. „Ich bin weder schwerhörig noch eine Idiotin.“

Raoul musterte sie ein paar Sekunden. Lily sah ihm seine französisch-italienische Abstammung deutlich an. Er hatte etwas Stolzes, fast Aristokratisches an sich, und daran konnte auch die Tatsache nichts ändern, dass er in einem Rollstuhl vor ihr saß. Er war überdurchschnittlich groß und offensichtlich sehr sportlich, was man an seinen starken, sich unter seinem Hemd abzeichnenden Oberarmen erkennen konnte. Sein rechter Arm war eingegipst, aber seine Hände wirkten kräftig und zupackend.

Raoul Caffarelli war sorgfältig rasiert, doch die dunklen Schatten auf seinem Kinn ließen auf viel Testosteron schließen. Seine Nase war etwas gebogener als die seines Bruders, und die Linien um seinen Mund herum verrieten, dass er abgenommen hatte. Er hatte die Lippen fest aufeinandergepresst. Lily fragte sich unwillkürlich, wie er wohl aussah, wenn er lächelte.

Erschrocken verdrängte sie diesen Gedanken wieder. Sie war nicht hier, um Raoul zum Lächeln zu bringen, sondern zum Gehen, und je eher sie damit anfing, desto schneller hatte sie es hinter sich.

„Ich nehme an, mein Bruder hat Ihnen all die schmutzigen Details meines Zustandes geschildert?“, fragte er, wobei er sie noch immer feindselig fixierte.

„Ich habe mir Ihre Röntgenaufnahmen angesehen und die Gutachten Ihrer Physiotherapeuten durchgelesen.“

Raoul hob eine Augenbraue. „Und?“, fragte er schroff.

Lily fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und versuchte, ihr wild klopfendes Herz zu ignorieren. „Ich glaube, es wäre einen Versuch wert, ein paar meiner Methoden anzuwenden. Ich habe schon andere Patientinnen mit ähnlichen Verletzungen erfolgreich behandelt.“

„Und was sind Ihre Methoden?“ Raoul kräuselte spöttisch die Lippen. „Weihrauch? Mantras singen? Meine Aura lesen? Hände auflegen?“

Lily spürte, wie die Wut in ihr aufstieg. Sie war daran gewöhnt, dass man sich über ihren ganzheitlichen Ansatz lustig machte, aber sein Sarkasmus ging ihr entschieden zu weit. Er würde seine Meinung schon noch ändern, wenn sie ihn erst mal wieder auf die Beine gebracht hatte. Plötzlich empfand sie diese Herausforderung geradezu als verlockend. „Ich kombiniere traditionelle Heilmethoden mit alternativen. Inwiefern, ist von Fall zu Fall unterschiedlich.“

„Und wovon hängt das ab?“

„Vom Patienten. Ich berücksichtige seine Ernährung, seinen Lebensstil, seine Schlafgewohnheiten, seine psychische Verfassung und …“

„Lassen Sie mich raten. Sie legen ihm die Karten oder erstellen sein Horoskop.“

Lily presste die Lippen zusammen, um sich eine scharfe Bemerkung zu verkneifen. Raoul Caffarelli war der unhöflichste Mann, dem sie je begegnet war, und arrogant noch dazu, aber das lag vermutlich an seiner privilegierten Herkunft. Er war ein verwöhnter Playboy, dem man immer alles auf dem Silbertablett präsentiert hatte. Seine Wut und sein Selbstmitleid waren typisch für Menschen, die noch nie einen Finger hatten krümmen müssen.

Dabei konnte er sich glücklich schätzen, keine Geldsorgen zu haben. Er hatte Menschen um sich herum, die ihn von vorn bis hinten bedienten, und eine Familie, die ihn nicht aufgab. War ihm denn bei all seinem Selbstmitleid in seinem luxuriösen Schloss gar nicht bewusst, dass es da draußen Menschen gab, die kein Dach über den Kopf hatten oder verhungerten, ohne dass sich auch nur irgendjemand einen Deut um sie scherte?

„Ich bin übrigens Stier, falls Sie das wissen wollen“, fügte er hinzu.

Spöttisch hob sie die Augenbrauen. „Das würde Ihren Dickkopf erklären.“

„Stimmt, ich kann ziemlich stur sein.“ Er sah sie pointiert an. „Aber Sie offensichtlich auch.“

„Ich ziehe das Wort ‚beharrlich‘ vor“, erwiderte Lily. „Ich halte nichts davon aufzugeben, bevor man nicht alle Optionen ausgeschöpft hat.“

Raoul trommelte geistesabwesend mit den Fingern seiner Linken auf die Armlehne – ein Geräusch, das in der Stille übermäßig laut widerhallte.

Lily wand sich innerlich unbehaglich unter seinem intensiven Blick. Verglich er sie gerade mit anderen Frauen? Falls ja, schnitt sie bestimmt negativ ab, so unauffällig wie sie sich kleidete. Außerdem trug sie grundsätzlich kein Make-up.

„Ich weiß absolut nicht, was Sie hier wollen“, sagte er schließlich gereizt. „Wenn ich könnte, würde ich Sie eigenhändig rauswerfen.“

Lily hielt seinem Blick stand. „Ich versichere Ihnen, Monsieur Caffarelli, dass ich mich mit Händen und Füßen gegen Sie zur Wehr setzen würde, sollten sie es auch nur wagen, Hand an mich zu legen.“

Raoul hob eine Augenbraue. „Sieh mal einer an. Die so gesetzt wirkende Miss Archer hat ja Stacheln. Skorpion?“

Lily knirschte innerlich vor Wut mit den Zähnen. „Nein, Jungfrau.“

„Kleinlich, kritisch und pedantisch also.“

„Ich bezeichne mich lieber als gründlich.“

Einer seiner Mundwinkel zuckte flüchtig – die bloße Andeutung eines Lächelns, die seine Gesichtszüge jedoch so verwandelte, dass es Lily für einen Moment den Atem verschlug. Doch sein Lächeln war so rasch verschwunden, wie es gekommen war. „Ich habe eine wochenlange Physiotherapie hinter mir, Miss Archer, und nichts hat funktioniert, wie Sie sehen können. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Sie Erfolg haben, wo viel qualifiziertere Menschen als Sie gescheitert sind.“

„Der Unfall ist noch nicht lange her“, widersprach Lily. „Der menschliche Körper braucht manchmal Monate, wenn nicht sogar Jahre, um sich von einem Trauma zu erholen.“

Seine Augen blitzten zynisch auf. „Sie wollen mich doch nicht etwa jahrelang behandeln, oder, Miss Archer? Ich prophezeie nämlich, dass Sie es hier nur zwei, höchstens drei Tage aushalten und sich dann mit Ihrem hübschen Geldpolster auf dem Konto vom Acker machen. Ich bin Menschen wie Ihnen schon öfter begegnet – Sie schlagen bloß Profit aus der Verzweiflung anderer. Sie haben mir nichts zu bieten, das wissen Sie genauso gut wie ich.“

„Ganz im Gegenteil, ich bin davon überzeugt, dass ich Ihnen helfen kann“, entgegnete Lily. „Sie sind gerade an einem kritischen Punkt angelangt. Wenn Sie unter Beaufsichtigung trainieren und …“

„Unter Beaufsichtigung?“, stieß er wütend hervor. „Ich bin kein kleines Kind, das man beaufsichtigen muss, weil es auf ein Klettergerüst steigt!“

„Das meinte ich nicht, sondern …“

„Ich mache nur das, was ich für richtig halte“, schnitt er ihr das Wort ab. „Ich brauche Ihre Hilfe nicht. Ich habe nicht darum gebeten und bezahle auch nicht dafür. Ich weiß genau, was ich zu tun habe, und ziehe vor, es allein zu tun. Also erweisen Sie uns beiden den Gefallen und nehmen den nächsten Flieger zurück nach London.“

Lily hielt seinem Blick nur mühsam stand. Seine Wut und die von ihm ausgehende negative Energie waren so stark, dass sie total verkrampft war und ihr das Herz bis zum Hals schlug. „Ihnen ist doch bewusst, dass Ihr Bruder viel Geld verliert, wenn ich jetzt gehe? In meinem Vertrag steht ausdrücklich, dass es nicht zurückerstattet wird.“

Verächtlich zog Raoul die Mundwinkel nach unten. „Ist mir doch egal.“

Lily war schockiert. Er sprach von einer Summe, die andere Menschen noch nicht mal in einem Jahr verdienten, und er hatte sie noch nicht mal selbst bezahlt. Seine Unterstellung, dass sie es einfach so einsacken würde, ohne etwas dafür zu tun, war eine absolute Frechheit.

Offensichtlich hatte er noch nicht wirklich verarbeitet, was ihm zugestoßen war. Er erinnerte sie an einen Leitwolf, der sich in die Einsamkeit zurückzog, um unbeobachtet seine Wunden zu lecken.

Habe ich es vor fünf Jahren nicht genauso gemacht?

Lily erwiderte seinen feindseligen Blick. „Und wie soll ich zum Flughafen kommen, jetzt, wo Ihr Bruder weg ist?“

„Ich bitte einfach einen meiner Stallburschen, Sie hinzubringen.“

„Ich fahre aber nicht.“

Ein Muskel zuckte in seinem Unterkiefer. „Ich kann Sie hier nicht gebrauchen.“

„Das haben Sie mehr als deutlich klargestellt“, erwiderte Lily schnippisch. „Ich habe ja nicht damit gerechnet, dass man mir den roten Teppich ausrollt, aber Sie könnten zumindest höflich bleiben. Oder kann man es sich in Ihren Kreisen erlauben, sich so ungehobelt aufzuführen?“

Aufgebracht starrte er sie an. „Mein Bruder hatte nicht das Recht, Sie ohne mein Einverständnis zu engagieren!“

„Und das reagieren Sie an mir ab?“, entgegnete Lily. „Das ist total unfair! Ich war stundenlang unterwegs, bin müde und hungrig, und kaum komme ich hier an, reißen Sie mir fast den Kopf ab, weil Sie nicht darüber hinwegkommen, ein paar Dinge nicht mehr so tun zu können wie früher. Dabei haben Sie zumindest ein Dach über dem Kopf und eine Familie, die Sie liebt, vom Geld mal ganz zu schweigen.“ Mit einer übertrieben melodramatischen Geste legte sie eine Hand aufs Herz. „Mir kommen die Tränen!“

Wenn Blicke töten könnten, würde sie jetzt tot umfallen. „Bis morgen Mittag sind Sie hier verschwunden, haben Sie mich verstanden?“

Lily fühlte sich plötzlich seltsam erregt von dem verbalen Schlagabtausch. Die Luft knisterte förmlich vor Spannung. „Ihr Pech – oder vielmehr das Ihres Bruders, aber was soll’s. Wie heißt es so schön? Wie gewonnen, so zerronnen!“

Raoul funkelte sie wütend an, bevor er auf die Gegensprechanlage drückte und sich auf Französisch mit seiner Haushälterin unterhielt. Lili bekam eine Gänsehaut, als sie die melodiöseste Sprache der Welt in seinem dunklen Timbre ertönen hörte. Unwillkürlich fragte sie sich, wie seine Stimme wohl klang, wenn er nicht wütend war.

„Dominique wird Ihnen die Gästesuite zeigen“, sagte Raoul Caffarelli barsch, als er das Gespräch beendet hatte. „Ich werde alles Nötige für Ihre Abreise morgen früh arrangieren.“

Kurz darauf erschien die Haushälterin in der Bibliothekstür und brachte Lily zu ihrer Gästesuite im zweiten Stock des Châteaus. Ihre Schritte hallten in einem langen und breiten Korridor wider, der von kostbaren Kunstgegenständen und beeindruckenden Marmorstatuen flankiert war.

„Monsieur Raouls Suite liegt dort.“ Dominique zeigte im Vorbeigehen auf eine Doppeltür. „Er schläft nicht besonders gut, daher wollte ich Sie nicht in seiner Nähe einquartieren.“ Sie sah Lily ganz bekümmert an. „Vor dem Unfall war er ganz anders. Ich gebe seiner Verlobten die Schuld.“

Lily blieb abrupt stehen und runzelte die Stirn. „Ich wusste ja gar nicht, dass er verlobt ist.“

„Ist er auch nicht“, erklärte Dominique. „Sie hat die Verlobung gelöst, als er im Krankenhaus lag.“

„Aber das ist ja schrecklich!“

Die Haushälterin schnaubte geringschätzig. „Ich konnte sie von Anfang an nicht ausstehen, genauso wenig wie seine anderen Freundinnen. Die Verlobte seines Bruders Rafe ist ganz anders. Poppy Silverton ist die sympathischste junge Frau, die Sie sich vorstellen können. Sie ist das Beste, das Monsieur Rafe je passiert ist. Ich hoffe sehr, dass Monsieur Raoul auch so jemanden findet.“

Kein Wunder, dass er so verbittert und zornig ist, dachte Lily. Wie herzlos von seiner Verlobten, ausgerechnet dann mit ihm Schluss gemacht zu haben, als er am Boden lag. So etwas war einfach nur grausam. Sie konnte ihn unmöglich geliebt haben. Wenn man jemanden wirklich liebte, hielt man auch in schlechten Zeiten zu ihm.

Lily folgte der Haushälterin in eine Suite, die im klassischen französischen Stil eingerichtet war. Das große Bett war mit golden besticktem weißem Leinen bezogen, das perfekt zu der mit Gold abgesetzten Wandfarbe der Suite passte. Von den Fenstern hatte man einen herrlichen Blick auf den streng angelegten Garten des Hauses mit seinen ordentlich geschnittenen Hecken, Terrassen und Springbrunnen. In der Nähe lag ein kleiner See.

„Ich hoffe, Sie werden sich hier wohlfühlen“, sagte Dominique. „Das Abendessen wird um acht serviert. Ich bezweifle, dass Monsieur Raoul Ihnen Gesellschaft leisten wird. Zurzeit hält er sich meistens im Arbeitszimmer auf – oder in seinem Schlafzimmer.“

„Wie kommt er eigentlich die Treppen hinauf und hinunter?“, fragte Lily. „Ich habe keinen Treppenlift gesehen.“

„Es gibt einen Fahrstuhl im Erdgeschoss, mit dem man in sämtliche Stockwerke kommt. Monsieur Raoul hat ihn vor ein paar Monaten einbauen lassen, als sein Großvater nach einem Schlaganfall zu Besuch kam. Natürlich gab es kein Wort des Danks. Vittorio Caffarelli ist ein schrecklicher Mensch. Er hat mich behandelt, als sei ich Abschaum.“

Lily hatte den Eindruck, dass sie noch eine Menge über die Caffarelli-Dynastie lernen musste. Sie hatte sich online informiert und wusste daher, dass die Caffarellis ihr Vermögen mit klugen Immobilien-Investitionen gemacht hatten und dass Raouls Eltern bei einem Motorboot-Unfall an der französischen Riviera ums Leben gekommen waren, als Raoul und seine beiden Brüder noch Kinder gewesen waren. Die drei Jungs waren bei ihrem Großvater aufgewachsen, hatten jedoch den Großteil ihrer Schulzeit in einem englischen Internat verbracht.

Raoul hatte eine privilegierte Jugend genossen, die jedoch von einer schrecklichen Tragödie überschattet gewesen war. Und jetzt musste er die nächste bewältigen. So unsympathisch er ihr auch war, Lily konnte nicht umhin, Mitleid für ihn zu empfinden.

„Schade, dass Sie nicht länger bleiben“, sagte Dominique. „Und das nicht nur wegen der Behandlung. Ihre Gesellschaft würde Monsieur Raoul einfach guttun. Er ist viel zu viel allein.“

Lily bedauerte ihre Abreise auch, was ziemlich schräg war, wenn man bedachte, dass sie noch vor wenigen Tagen händeringend nach Gründen gesucht hatte, gar nicht erst zu kommen. „Ich kann ihn nicht dazu zwingen, sich von mir behandeln zu lassen.“

„Vielleicht ändert er seine Meinung ja noch“, sagte Dominique. „Ihre Ankunft hat ihn wahrscheinlich etwas überrumpelt.“

Als die Haushälterin gegangen war, schlenderte Lily wieder zu einem der Fenster und blickte hinaus auf den Garten, die sich bis zum Horizont erstreckenden Weiden und den See. Ein malerischer Anblick.

Doch der verbitterte Mann im Erdgeschoss erinnerte sie daran, dass man auch im Paradies unglücklich sein konnte.

2. KAPITEL

Raoul hatte eigentlich allein auf seinem Zimmer essen wollen, doch die Vorstellung, eine oder zwei Stunden mit Lily Archer zu verbringen, war plötzlich ganz verlockend. Natürlich nur, weil er sie im Auge behalten wollte. Wer weiß, was sie anstellte, sobald er ihr den Rücken zukehrte? Sie brannte dann womöglich mit dem Tafelsilber oder einigen seiner kostbaren Kunstobjekte durch – oder schlimmer noch, schleuste einen Reporter ins Haus.

Mit ihrer unscheinbaren Aufmachung konnte sie ihn nicht täuschen. Wahrscheinlich gab sie sich absichtlich so unauffällig, um sich das Vertrauen ihrer Patienten zu erschleichen.

Ihre Augen waren jedoch faszinierend – verblüffend blau, so dunkel wie Schiefer und etwas verschleiert, so als verberge sie etwas. Augen galten als Fenster zur Seele, und anscheinend war Miss Lily Archers Seele nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.

Mühsam hievte Raoul sich in den elektronischen Rollstuhl, den er nur äußerst ungern benutzte. Wenn er das sirrende Motorgeräusch hörte, kam er sich nämlich noch gehandicapter vor als sonst. Er würde drei Kreuze machen, wenn man seinen rechten Arm endlich vom Gips befreite.

Als er den Flur zum Fahrstuhl entlangfuhr, fiel sein Blick auf sein Spiegelbild in einem der großen Spiegel an der Wand. Es kam ihm so vor, als würde er einen Fremden sehen. So als hätte jemand ihn entführt und ihn in den Körper eines anderen gesteckt.

Panik stieg in ihm auf. Was, wenn es ihm nie wieder besser ging? Es war eine unerträgliche Vorstellung, für den Rest seines Lebens an diesen Stuhl gefesselt zu sein. Den mitleidigen Blicken anderer Menschen ausgesetzt … oder schlimmer noch, ihren abgewandten Blicken, weil der Anblick seines kaputten Körpers sie abstieß.

Niemals!

Er würde wieder gesund werden, und wenn er Himmel und Erde in Bewegung setzen musste, um wieder auf die Beine zu kommen!

Doch das würde ihm nur gelingen, wenn er es genauso anpackte wie alles andere auch: allein.

Raoul trank gerade sein zweites Glas Wein, als Lily Archer den Speisesaal betrat. Sie trug ein langärmeliges beiges Kleid, das mindestens eine Nummer zu groß war und dessen Farbe ihr absolut nicht schmeichelte. Ihr Gesicht war ungeschminkt, obwohl sie etwas Lipgloss aufgetragen hatte.

„Möchten Sie etwas trinken?“ Er hielt die Weinflasche hoch.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich trinke grundsätzlich keinen Alkohol.“

„Sind Sie Abstinenzlerin?“ Raoul war sein spöttischer Tonfall bewusst, aber er hatte keine Lust, höflich zu sein.

Lily presste die Lippen zusammen und nahm zu seiner Linken Platz. Die ruckartige Bewegung, mit der sie ihre Serviette auf dem Schoß ausbreitete, verriet ihre Irritation. Warum war ihm eigentlich noch gar nicht aufgefallen, wie voll ihre Lippen waren? War das Licht in der Bibliothek denn so schlecht? Auch ihre hohen Wangenknochen, ihr schwanenhafter Hals und ihre hübsche kleine Stupsnase waren ihm vorhin entgangen.

Sie hatte eine hohe Stirn, und ihre tiefliegenden Augen verliehen ihr ein geheimnisvolles, fast unberührbares Aussehen. Ihre Haut war rein, faltenfrei und so hell, als verbringe sie die meiste Zeit in Innenräumen.

„Ich brauche keinen Alkohol, um mich gut zu fühlen“, sagte sie schnippisch.

„Und was gibt Ihnen stattdessen ein gutes Gefühl, Miss Archer?“

„Lesen und ins Kino gehen. Oder mich mit Freundinnen treffen.“

„Haben Sie keinen Freund?“

Sie zuckte kaum merklich zusammen, fasste sich jedoch so schnell wieder, dass ihre Reaktion den meisten Menschen vermutlich entgangen wäre – doch Raoul hielt sich etwas darauf zugute, nicht wie die meisten Menschen zu sein.

„Nein.“

Ihre einsilbige Antwort ließ keinen Zweifel daran, dass sie nicht näher darauf eingehen wollte.

Raoul griff nach seinem Weinglas und trank einen Schluck. „Stimmt was nicht mit den jungen Engländern, oder warum kriegt eine hübsche junge Frau wie Sie keinen ab?“

Sie senkte den Blick und spielte mit dem Stiel ihres leeren Weinglases herum. „Ich bin gerade nicht an einer Beziehung interessiert.“

„Tja, was das angeht, haben wir offensichtlich dieselbe Wellenlänge.“ Raoul leerte sein Glas in einem Zug.

Lily hob wieder den Blick. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich verändert, sie wirkte plötzlich offener, fast weich. „Tut mir leid, das mit Ihrer Verlobung“, sagte sie voller Mitgefühl. „Das muss Sie hart getroffen haben, zumal Sie in dieser besonderen Situation gerade besonders verletzlich gewesen sein mussten.“

Raoul fragte sich, welchen Online-Blog oder welches Forum sie besucht hatte. Oder hatten Rafe oder Dominique ihr etwa von seiner gescheiterten Beziehung mit Clarissa erzählt? Es wäre gelogen zu behaupten, dass ihm die Trennung nicht zu schaffen machte, aber das lag nur daran, dass er es bisher gewesen war, der seine Beziehungen beendete. Er zog es vor, die alleinige Kontrolle über sein Privatleben zu haben, genauso wie seine Brüder auch.

Gereizt schenkte Raoul sich Wein nach. „Keine Sorge, ich habe sie nicht geliebt.“

Lily runzelte verwirrt die Stirn. „Warum um alles in der Welt haben Sie Ihr dann einen Heiratsantrag gemacht?“

Raoul stellte die Flasche weg und sah Lily an. Sie wirkte geradezu schockiert. Steckte hinter der prüden nonnenhaften Fassade womöglich eine Romantikerin? Achselzuckend griff er nach seinem Glas. „Ich wollte endlich eine Familie gründen. Es wurde Zeit.“

Lily starrte ihn an, als spreche er Chinesisch. „Aber eine Ehe sollte ein Leben lang halten. Dafür muss man jemanden sehr lieben. Man muss die Gesellschaft dieses Menschen allen anderen vorziehen.“

Raoul zuckte gleichgültig die Achseln. „In den Kreisen, in denen ich verkehre, ist es wichtiger, jemanden zu heiraten, der am besten zum eigenen Lebensstil passt.“

„Also spielt Liebe für Sie keine Rolle?“

„Man muss schon großes Glück haben, um jemanden zu finden, den man liebt – so wie mein Bruder Rafe zum Beispiel. Aber Liebe ist keine notwendige Voraussetzung.“

„Das ist ja unglaublich!“ Angewidert lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück. „Wie kann man auch nur daran denken, jemanden zu heiraten, den man nicht liebt?“

Raoul erwiderte ihren Blick. „Viele Menschen heiraten aus Liebe und lassen sich ein paar Jahre später voller Hass scheiden. Liebe allein garantiert noch gar nichts. Es ist besser, sich mit jemandem zu verbinden, mit dem man etwas gemeinsam hat. Clarissa ist schön, kommt aus ähnlichen Kreisen wie ich, ist unterhaltsam – und gut im Bett. Was könnte man mehr verlangen?“

Lily verdrehte abfällig die Augen und griff nach ihrem Wasserglas. „Jetzt verstehe ich, warum sie die Verlobung gelöst hat. Ihre Einstellung ist absolut schockierend. Wir sehnen uns doch alle nach jemandem, der mit uns durch dick und dünn geht. Keine Frau – und kein Mann – sollte sich mit weniger zufriedengeben.“

„Sie sind ja eine echte Romantikerin, Miss Archer.“ Raoul wirbelte den Wein in seinem Glas herum. „Sie würden sich gut mit der Verlobten meines Bruders verstehen.“

„Sie scheint ein sympathischer Mensch zu sein.“

„Ist sie auch. Rafe kann sich glücklich schätzen, sie zu haben.“

Lilys sah ihn pointiert an. „Aber Sie glauben nicht, dass ihre Liebe Bestand haben wird?“

„Ich habe gesagt, dass Liebe nicht immer hält. In Rafes und Poppys Fall bin ich relativ zuversichtlich. Sein Reichtum bedeutet ihr nichts, sie liebt ihn um seiner selbst willen. Aber so etwas findet man nicht oft. Abgesehen von ihr habe ich bisher keine Frau getroffen, die nicht Dollarzeichen in den Augen hat.“

„Nicht alle Frauen sind geldgierige Biester!“, brauste Lily auf.

Raoul musterte sie eindringlich. „Warum haben Sie dann im Voraus um Ihr Honorar gebeten und auf einer Nichterstattungs-Klausel bestanden?“

Das Argument schien sie aus der Fassung zu bringen. „Ich … ich hatte eine dringliche finanzielle Angelegenheit zu regeln.“

„Sind Sie etwa eine Verschwenderin, Miss Archer?“ Raoul musterte ihr Outfit flüchtig. „Wenn ich Sie so ansehe, kann ich mir das kaum vorstellen.“

Errötend presste sie die Lippen zusammen. „Tut mir leid, wenn meine Kleidung Ihr Stilempfinden beleidigt, aber ich folge Modetrends nicht sklavisch“, erklärte sie hochmütig. „Ich habe andere Prioritäten.“

„Ich dachte, alle Frauen versuchen, das Beste aus sich zu machen.“

Gereizt sah sie ihn an. „Sind Sie wirklich so oberflächlich, dass sie Frauen nach dem beurteilen, was sie tragen, anstatt nach ihrer Persönlichkeit?“

Raoul fragte sich unwillkürlich, wie Lily Archer wohl unter diesem schrecklichen sackartigen Kleid aussah. Er war daran gewöhnt, dass Frauen in seiner Gegenwart ihren Körper schamlos zur Schau stellten, indem sie ein Minimum an Kleidung trugen – und ein Maximum an Make-up. Miss Lily Archer mit ihren unscheinbaren Outfits, dem ungeschminkten Gesicht und den dunkelblauen geheimnisvollen Augen war daher absolut faszinierend für ihn.

Vielleicht hätte ich sie doch nicht so schnell entlassen dürfen.

Hastig verdrängte Raoul diesen Gedanken wieder. „Ich beurteile Menschen nicht ausschließlich nach ihrer äußeren Erscheinung, aber sie gehört zum Gesamtpaket, oder? Genauso wie die Körpersprache, das Auftreten und die Art zu reden.“

Als Lily sich auf die Unterlippe biss, fiel Raoul auf, wie unglaublich jung sie aussah. Es fiel ihm schwer, ihr Alter einzuschätzen. Vermutlich war sie Mitte zwanzig, aber in diesem Augenblick sah sie eher aus wie sechzehn.

Dominique brachte die Suppe. „Darf ich Ihnen etwas Wein einschenken, Miss Archer?“, fragte sie, als ihr Blick auf Lilys leeres Weinglas fiel.

„Miss Archer ist Abstinenzlerin“, sagte Raoul ironisch. „Ich habe sie bisher noch nicht in Versuchung führen können.“

Dominiques schwarze Knopfaugen funkelten verschmitzt, als sie die Suppe vor ihn hinstellte. „Vielleicht ist Mademoiselle Archer ja immun gegen Versuchungen, Monsieur Raoul.“

Er lächelte. „Das werden wir ja sehen.“

Als die Haushälterin das Zimmer verließ, presste Lily wütend die Lippen zusammen, so als müsse sie sich beherrschen, nicht etwas zu sagen, das sie hinterher bereuen würde.

„Entspannen Sie sich, Miss Archer. Ich werde Sie nicht mit Alkohol und Ausschweifungen zu verführen versuchen. Außerdem könnte ich das in meinem Zustand noch nicht mal, wenn ich wollte.“

Ihre Wangen röteten sich. „Trinken Sie eigentlich immer so viel?“, fragte sie unvermittelt.

Raoul stellten sich die Nackenhaare auf. „Ich trinke Wein zu den Mahlzeiten, aber das macht mich noch lange nicht zum Alkoholiker.“

„Alkohol betäubt die Sinne und beeinträchtigt die Koordination und das Urteilsvermögen.“ Sie klang, als lese sie aus einem Anti-Drogen-und-Alkohol-Pamphlet vor. „Sie sollten darauf verzichten oder den Konsum zumindest einschränken, solange Sie noch nicht wieder gesund sind.“

Wütend knallte Raoul sein Glas auf den Tisch. „Ich werde vielleicht nie wieder gesund, Miss Archer! Und ich bin nur deshalb in diesem Zustand, weil irgendein hirnloser Idiot auf einem Jetski nicht darauf geachtet hat, wo er hinfährt.“

„Haben Sie schon mal mit jemandem über Ihre negativen Gefühle seit Ihrem Unfall gesprochen?“

„Ich muss mich nicht auf das Sofa irgendeines völlig überteuerten Psychologen legen, um ihm zu erzählen, wie es sich anfühlt, niedergemäht zu werden. Ich bin extrem angepisst, oder ist das Ihrer Aufmerksamkeit etwa bisher entgangen?“

Lily schluckte sichtbar, hielt seinem Blick jedoch tapfer stand. „Ich kann gut nachvollziehen, dass Sie wütend sind, aber Sie sollten Ihre Wut lieber dahingehend kanalisieren, wieder laufen zu lernen.“

Raoul sah im wahrsten Sinne des Wortes rot. Was dachte sie denn, womit er die letzten Wochen verbracht hatte? Mit welchem Recht unterstellte diese Frau ihm, dass er sich mit seiner Wut selbst sabotierte? Selbst wenn es ihm gelingen würde, seine Wut für seine Genesung einzusetzen, würde er noch lange nicht aus dem Rollstuhl hüpfen und sein altes Leben wiederhaben.

Sein altes Leben war vorbei.

Erledigt.

Futsch.

„Haben Sie eine Ahnung, wie es ist, total abhängig von der Hilfe anderer Menschen zu sein?“, stieß er hervor.

„Selbstverständlich. Ich arbeite ständig mit Behinderten.“

Raoul schlug so heftig mit der Faust auf den Tisch, dass die Gläser klirrten. „Bezeichnen Sie mich gefälligst nicht als behindert!“

Lily zuckte zusammen und wurde blass. „Ich … es tut mir leid …“

Raoul kam sich plötzlich wie der größte Rüpel der Welt vor, sah es jedoch nicht ein, sich zu entschuldigen. Außerdem war Rafe an allem schuld. Er hatte ihn in diese völlig unmögliche Lage gebracht. Diese Miss Archer war eindeutig nur wegen des Geldes hier. Ihre Behauptung, dass sie ihm helfen konnte, war absolut lächerlich. Sie war ein Scharlatan, eine Betrügerin, die nur seine Notlage ausnutzte. Er konnte es kaum erwarten, sie zu entlarven.

„Warum haben Sie diesen Job angenommen?“, fragte er sie.

Rasch fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. „Ihr Bruder hat mich darum gebeten. Er hat einen Artikel über meinen Erfolg bei einer anderen Patientin gelesen. Meine Chefin an der Klinik hat mich dazu ermutigt, die Stelle anzunehmen, und die Bezahlung ist … sehr gut.“

„Wenn ich mich recht an die Worte meines Bruders erinnere, war es nicht leicht, Sie zu überreden.“

Lily wandte den Blick ab und griff nach ihrem Löffel. „Ich behandle eigentlich keine Männer.“

Das weckte Raouls Neugier. „Warum nicht?“

Sie tauchte den Löffel in die Suppe, führte ihn jedoch nicht zum Mund. „Ich finde …“, sie rang nach Worten, „… die Zusammenarbeit mit ihnen schwierig.“

„Weil sie unkooperativ sind?“

Wieder befeuchtete sie sich die Lippen. „Es fällt allen Menschen schwer, mit den Folgen eines schweren Unfalls zurechtzukommen, ganz egal ob Mann, Frau oder Kind. Ich habe nur die Erfahrung gemacht, dass Frauen und Mädchen eher bereit sind, Hilfe anzunehmen.“

Raoul musterte Lily für ein paar Sekunden. Sie spielte mit ihrer Suppe herum und wich dabei seinem Blick aus. Ihre Wangen waren noch immer gerötet, und sie hatte die Augenbrauen zusammengezogen.

„Ihnen scheint die Suppe nicht zu schmecken. Soll ich Dominique bitten, Ihnen etwas anderes zu bringen?“

Lily erwiderte seinen Blick und lächelte, allerdings nur flüchtig. „Nein, nicht nötig … Ich bin wohl nicht besonders hungrig. Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir.“

Raoul bekam prompt ein schlechtes Gewissen. Sein Charme hatte seit seinem Unfall erheblich gelitten. Vielleicht sollte er Lily doch eine Woche bleiben lassen. Wer weiß, vielleicht konnte sie ja doch etwas für ihn tun. Schließlich hatte er gerade nichts Besseres vor, und es würde ihn aus dem langweiligen Trott reißen, in den sein früher so aktives Leben sich verwandelt hatte. Was hatte er schon zu verlieren? Sollte Lily tatsächlich eine Betrügerin sein, würde er sie entlarven. Hatte sie jedoch wirklich etwas zu bieten, profitierten sie beide davon.

„Ich habe eine rein hypothetische Frage. Wenn ich mich auf eine Behandlung von Ihnen einlasse – was genau käme dann auf mich zu?“

Lily errötete. „Ihr Bruder hat mir erzählt, dass Sie einen Trainingsraum haben. Ich würde mit ein paar leichten Übungen anfangen und das Pensum allmählich steigern.“

„Und sonst?“

„Würde ich gern einen Blick auf Ihre Ernährung werfen.“

„Ich ernähre mich ausgewogen.“

Sie betrachtete sein Weinglas und schürzte missbilligend die Lippen. „Es gibt immer Spielraum für Verbesserungen. Nehmen Sie irgendwelche Nahrungsergänzungsmittel zu sich?“

„Vitamine meinen Sie?“

„Zum Beispiel. Studien beweisen, dass Nahrungsergänzungsmittel beim Aufbau von Muskeln und Gewebe helfen und Gelenk­arthrose hinauszögern.“

Raoul lachte spöttisch. „Ich habe doch keine Arthrose! Ich bin erst vierunddreißig.“

Lily hob das Kinn. „Vorbeugende Gesundheitsmaßnahmen sind in jedem Alter ratsam.“

Raoul durchbohrte sie förmlich mit seinem Blick. „Wie alt sind Sie eigentlich?“

„Ich bin … ich bin … sechsundzwanzig.“

„Müssen Sie etwa erst darüber nachdenken?“

Ihr Lächeln war noch nicht mal ansatzweise aufrichtig. „Ich mag Geburtstage nicht besonders. Welche Frau tut das schon?“

„Sie sind noch viel zu jung, um sich wegen Ihres Alters Gedanken zu machen“, antwortete Raoul. „Das wird erst zum Problem, wenn Sie die dreißig oder vierzig überschritten haben, aber jetzt sind Sie fast noch ein Kind.“

Lily senkte den Blick wieder zu ihrer Suppe. „Mein Vater starb an meinem siebten Geburtstag. Seitdem ist das kein Tag mehr zum Feiern für mich.“

Raoul musste an den tragischen Tod seiner Eltern kurz vor seinem neunten Geburtstag denken. Rafe war damals zehn gewesen und Remy erst sieben. Die Beerdigung seiner Eltern genau an ­Raouls Geburtstag war das schlimmste Geschenk gewesen, das man sich vorstellen konnte … der Anblick der beiden blumenbedeckten Särge in der Kathedrale, die traurigen Chorgesänge …

Bis heute konnte Raoul weder Blumenschmuck noch Chormusik ertragen.

„Tut mir leid“, sagte er betroffen. „Was ist mit Ihrer Mutter? Lebt sie noch?“

„Ja, in Norfolk. Ich besuche sie, wann immer ich Zeit finde.“

„Sie wohnen in London, nicht wahr?“

Lily nickte.

„Allein?“

In ihren Augen flackerte etwas auf, bevor sie die Lider senkte. „Ja.“

Dominique kam herein, um ihre Teller abzuräumen. Stirnrunzelnd blickte sie auf Lilys kaum angerührte Suppe. „Haben Sie keinen Hunger, Mademoiselle? Möchten Sie vielleicht eine andere Vorspeise? Entschuldigen Sie, ich hätte Sie vorher fragen sollen. Schmeckt Ihnen die Suppe nicht?“

„Nein, sie war köstlich. Mir steckt wahrscheinlich noch der Flug in den Knochen, das ist alles.“

„Ich habe sehr leckeres Coq au vin als Hauptgericht. Das ist Monsieur Raouls Lieblingsgericht. Vielleicht regt das ja Ihren Appetit an?“

Lily lächelte. „Ganz bestimmt.“

Raouls Interesse regte sich erneut. Lily hatte ein umwerfendes Lächeln! Er spürte, wie sich das Blut in seinen Lenden regte – zum ersten Mal seit seinem Unfall. Er versuchte, das Gefühl zu ignorieren, doch dann begegnete er ihrem Blick, und es traf ihn wie ein Blitz. Lily war umwerfend schön, wenn sie ein bisschen lockerer wurde. Ihr Lächeln hatte sie total verwandelt. Warum gab sie sich nur solche Mühe, ihre Schönheit zu verbergen?

„Hoffentlich habe ich Dominique nicht verletzt“, sagte sie, als die Haushälterin gegangen war.

„Keine Sorge“, antwortete Raoul trocken. „Wenn sie so empfindlich wäre, hätte sie schon bei meiner Rückkehr nach dem Unfall gekündigt. Ich war unausstehlich. Bin es immer noch.“

„Es dauert eine Weile, bis man die Grenzen akzeptiert, die einem eine Verletzung auferlegt“, erklärte Lily.

Raoul griff wieder nach seinem Glas, führte es jedoch nicht zum Mund. Es juckte ihn in den Fingern, eine ihrer Hände zu berühren. Ob ihre Haut sich so glatt anfühlte, wie sie aussah? Ihr Mund war absolut faszinierend, weich und voll. Leider presste sie meistens die Lippen zusammen, was ihr eine unglaublich kontrollierte Aura verlieh.

Raoul gab sich eine mentale Kopfnuss.

Was zum Teufel ist los mit mir? Ich lese ihre Aura?

„Das hört sich so an, als sprächen Sie aus Erfahrung“, sagte er. „Hatten Sie auch schon mal einen Unfall?“

Sie wurde plötzlich wieder ganz zugeknöpft. „Ich bin nicht hier, um über mich zu reden, sondern um Ihnen zu helfen.“

„Gegen meinen Willen.“

Lilys Augen blitzten herausfordernd auf. „Ich reise morgen ja wieder ab, genau so, wie Sie es verlangt haben.“

Raoul wollte nicht mehr, dass Lily abreiste, zumindest noch nicht. Außerdem hatte sein Bruder für ihre Dienste eine fürstliche Summe hingeblättert. „Und wenn ich meine Meinung ändere?“

„Wie bitte?“

„Ich wäre bereit, Ihnen eine Woche Probezeit zu gewähren. Danach entscheide ich erneut, wie es weitergeht.“

Sie musterte ihn skeptisch. „Sind Sie sicher?“

„Wann fangen wir an?“

Lily griff nach seinem Weinglas und nahm es ihm weg. „Jetzt sofort.“

Raoul knirschte innerlich mit den Zähnen. Ihm war bewusst, dass er den Alkohol dazu benutzte, um sich zu betäuben – ein Verhalten, das ihn normalerweise bei anderen abstieß. Trotzdem ließ er sich nicht gern wie ein Kind behandeln, das sich nicht beherrschen konnte. „Wein hilft mir beim Einschlafen.“

„Alkohol stört den Schlafrhythmus. Dominique hat mir erzählt, dass Sie schlecht schlafen.“

„Früher nicht.“

„Haben Sie Alpträume?“

„Nein.“ Raoul sah Lily an, dass sie ihm kein Wort glaubte. Doch niemals würde er ihr jene schrecklichen Traumsequenzen schildern, die ihn nachts im Schlaf quälten … den unerträglichen Schmerz des Aufpralls … die Angst zu ertrinken, die Furcht, dass man ihn nicht rechtzeitig aus dem Wasser holen würde. Ihm brach schon der kalte Schweiß aus, wenn er nur daran dachte. Seit dem Unfall mied er seinen Swimmingpool, obwohl er früher die reinste Wasserratte gewesen war.

„Ich habe eine Liste mit Nahrungsergänzungsmitteln, die Sie einnehmen sollten“, sagte sie. „Und ich würde gern ein paar Wasserübungen mit Ihnen machen.“

Raoul hielt seinen Gipsarm hoch. „Hallo? Gips ist nicht wasserfest. Schwimmen kommt also nicht infrage.“

„Ich rede nicht von Schwimmen, sondern von Gehübungen.“

Er lachte geringschätzig. „Ich kann noch nicht mal an Land gehen, wie soll das im Wasser funktionieren? Sie haben den falschen Patienten. Der, den Sie suchen, ist vor über zweitausend Jahren gestorben.“

Lilys Blick war vernichtend. „Sie könnten sich eine Plastiktüte um den Gips binden. Es würde Ihrem Gleichgewichtssinn helfen, sich im Wasser zu bewegen.“

Raoul starrte sie wütend an. „Ich will mein Leben zurück! Alles andere interessiert mich nicht!“

Lily presste die Lippen zusammen, als habe sie es mit einem besonders störrischen Kind zu tun. „Mir ist durchaus bewusst, dass die Situation sehr schwierig für Sie ist, aber …“

„Da haben Sie verdammt recht“, schnitt er ihr das Wort ab. „Ich kann weder zu den Ställen gehen, um nach meinen Pferden zu sehen, noch mich ohne Hilfe rasieren oder anziehen.“

„Wie lange dauert es noch, bis der Gips abkommt?“

„Zwei Wochen.“

„Ihnen wird alles viel leichter fallen, wenn er erst mal weg ist. Dann können Sie unter Anleitung Gehübungen am Barren machen, wie meine letzte Patientin auch. Nach zwölf Wochen konnte sie fast schon wieder frei gehen.“

Raoul wollte aber nicht zwölf Wochen lang warten. Selbst zwölf Tage waren ihm schon zu viel. Er wollte jetzt wieder auf den Beinen sein. Er hatte keine Lust, sein Haus in ein Reha-Zentrum mit Barren, Handläufen und Rampen zu verwandeln. Er wollte sein altes Leben zurück, endlich wieder die Zügel in der Hand halten und nicht von anderen abhängig sein. Der Kontrollverlust war unerträglich. Wie sollte er sich je damit abfinden?

Ich hasse mein Leben!

3. KAPITEL

Lily gab sich alle Mühe, das köstliche Essen angemessen zu würdigen, aber die Spannung zwischen ihr und Raoul Caffarelli wirkte nicht gerade appetitanregend. Nach dem Hauptgang entschuldigte sie sich für einen Moment und suchte das nächstgelegene Badezimmer auf.

Als ihr Blick auf ihr Spiegelbild fiel, zuckte sie erschrocken zusammen. Manchmal erkannte sie sich selbst nicht wieder. Es kam ihr so vor, als wohne ein anderer Mensch in ihrem Körper. Das offene fröhliche Mädchen von früher war verschwunden, und an seine Stelle war eine langweilige junge Frau getreten, die älter aussah, als sie war.

Lily wusste, wie sehr ihre Mutter darunter litt, dass Lily sich absichtlich so hässlich machte, aber nur so konnte sie die Vergangenheit bewältigen. Nichts durfte sie mehr an das Mädchen erinnern, das sie damals gewesen war.

Denn dieses Mädchen hatte sich gewaltigen Ärger eingebracht.

Und das Mädchen von heute hielt sich Ärger vom Leib.

Als Lily ins Esszimmer zurückkehrte, räumte die Haushälterin gerade den Tisch ab. „Monsieur Raoul hat sich bereits zurückgezogen“, erklärte Dominique.

„Oh …“ Lily hatte keine Ahnung, warum sie so enttäuscht war. Einfach so ins Bett zu gehen, ohne ihr gute Nacht zu sagen, kam ihr ziemlich unhöflich vor. Wollte Raoul ihr damit beweisen, dass er wenigstens noch ein paar Teilbereiche seines Lebens unter Kontrolle hatte? Sie in ihre Schranken verweisen? Sie war schließlich nur eine Angestellte, noch dazu eine, die er gar nicht erst hatte engagieren wollen.

„Möchten Sie noch einen Kaffee im Salon trinken?“, fragte Dominique freundlich.

„Gern.“ Lily ging einen Schritt auf die Haushälterin zu. „Soll ich Ihnen mit dem Tablett helfen?“

Dominique lächelte. „Sie sind hier, um Monsieur Raoul zu helfen, nicht mir. Aber danke für das Angebot. Gehen Sie nur, ich werde Ihnen gleich den Kaffee bringen.“

Raoul versuchte, sich auf eine Pferdewebsite zu konzentrieren, aber es war zwecklos. In Irland fand jedes Jahr eine Auktion statt, zu der er bisher immer gegangen war, aber es war ausgeschlossen, in seinem jetzigen Zustand dort aufzutauchen. Solange er noch den Gips hatte, war er für längere Strecken auf einen elektrischen Rollstuhl angewiesen.

Und dann seine Beine … Raoul versuchte, mit den Zehen zu wackeln, aber irgendwie schien die Botschaft seines Gehirns nicht bei seinen Muskeln anzukommen. Er drückte einen seiner Oberschenkel, um zu überprüfen, ob er den Druck stärker spürte als am Tag zuvor, doch das Bein fühlte sich noch immer fast taub an.

Frustriert klickte er die Website weg. Seine Zukunft kam ihm vor wie eine unüberwindbare dunkle Schlucht. Sein Leben würde aus langen einsamen Nächten vor dem Computer bestehen. Und er würde Wein trinken. Viel Wein.

Dabei war ihm durchaus bewusst, dass er besser dran war als viele andere. Vom Verstand her war ihm alles klar, aber emotional konnte er es einfach nicht akzeptieren. Er war noch nicht so weit, noch nicht mal annähernd. Er wollte nicht sein ganzes Leben damit verbringen, anderen beim Leben zuzusehen, während sein eigenes stillstand. Er war nicht eitler als seine beiden Brüder, aber Raoul wusste, dass er gut aussah, und war daran gewöhnt, dass sich alle nach ihm umdrehten, wenn er einen Raum betrat. Jetzt, in diesem verdammten Rollstuhl, würde ihn niemand mehr bewundernd ansehen.

Unwillkürlich musste er an Clarissas Besuch im Krankenhaus denken. Sie hatte sich kaum dazu überwinden können, seinen Blick zu erwidern, obwohl sie erst wenige Tage zuvor in seinen Armen gelegen hatte.

Raoul versetzte einem Oberschenkel einen Klaps, um sein Bein zu Leben zu erwecken. Er schlug mit der flachen Hand zu, bis sie schmerzte, aber das brachte auch nichts. Als er sich frustriert durch das zerzauste Haar fuhr, wurde ihm vage bewusst, dass er mal wieder einen Haarschnitt brauchte.

Gefühle, die er vor langer Zeit in sich begraben hatte, stiegen in ihm auf. Seit dem Tod seiner Eltern hatte er nicht mehr geweint, noch nicht mal vor seinen Brüdern. Schon auf der Beerdigung seiner Eltern hatte er keine Träne vergossen, um dem Beispiel seines so stoisch wirkenden älteren Bruders zu folgen.

Raoul stieß sich vom Schreibtisch ab und steuerte zur Tür. Als er sie öffnete, kam Lily gerade den Flur entlang. Sie hielt den Kopf gesenkt und hatte die Arme vor dem Bauch verschränkt. Doch sie musste das leise Sirren des Rollstuhls gehört haben, denn plötzlich blickte sie hoch und blieb abrupt stehen. Ihre Wangen röteten sich leicht.

„Ich … ich dachte, Sie wären schon zu Bett gegangen.“

„Noch nicht. Ich weigere mich grundsätzlich, vor elf Uhr schlafen zu gehen, und selbst das ist mir noch viel zu früh.“

„Kann ich mir vorstellen“, sagte sie trocken.

„Sind Sie etwa keine Nachteule, Miss Archer?“

„Nein.“

Raoul wurde wieder neugierig. Was ging bloß hinter diesen unergründlichen dunkelblauen Augen vor? Was war nur so anziehend an Lilys steifer altjüngferlicher Förmlichkeit? Wieder fragte er sich unwillkürlich, wie sie wohl unter diesem langweiligen Kleid aussah. Unter dem losen Stoff waren ihre zarten Brüste nur zu erahnen.

Wie sie wohl im Badeanzug aussieht?

„Möchten Sie mir bei einem Schlummertrunk Gesellschaft leisten?“, fragte er spontan.

Sie starrte ihn so entgeistert an, als habe er ihr angeboten, Gift zu trinken. „Nein.“

Fragend hob Raoul die Augenbrauen. „Ein kleiner Schluck wird ja wohl nicht schaden.“

Lily presste die Lippen zusammen, bis sie fast weiß waren. „Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich keinen Alkohol trinke, Monsieur Caffarelli.“

„Nennen Sie mich Raoul. Das klingt nicht so förmlich.“

Lily wandte den Blick ab. „Ich wahre im Umgang mit meinen Patienten lieber professionelle Distanz.“

„Dann duzen Sie Ihre Patienten also grundsätzlich nicht?“

Als sie wieder die Arme um sich schlang, erinnerte sie ihn an einen sich zusammenrollenden Igel, der sich vor Angreifern schützt. „Nein.“

„Womit kann ich Sie dazu verlocken, Ihre Regel zu brechen?“

Ihr Blick war so eisig wie ein schottischer Bergsee. „Mit gar nichts.“

Raouls Herzschlag beschleunigte sich. Es gab nichts, was die Caffarelli-Brüder so erregend fanden wie eine Herausforderung. Je unüberwindbarer das Hindernis, desto mehr blühten sie auf. ­Raoul konnte sich noch gut daran erinnern, wie Rafe ihm und Remy Mut gemacht hatte, nachdem ihr Großvater vor ein paar Jahren das Familienvermögen mit einer unklugen Geschäftsentscheidung aufs Spiel gesetzt hatte.

Ziel anvisieren.

Drauf los.

Gewinnen.

Das war seitdem das Credo der Caffarellis.

Raoul musterte Lilys beherrschte Gesichtszüge. Ihr gefielen offensichtlich weder er noch ihre Situation. Er würde sich daher einen Spaß daraus machen, sie öfter so aus der Fassung zu bringen. „Gute Nacht, Miss Archer.“

Hochmütig hob sie das Kinn. „Gute Nacht, Monsieur Caffarelli.“

Er sah ihr hinterher, als sie rasch den Flur hinunterging. Kurz darauf hallte das Geräusch ihrer ins Schloss fallenden Tür in der Stille wider.

Stirnrunzelnd fuhr Rafe ins Arbeitszimmer zurück. Eine geschlossene Schlafzimmertür war eine ganz neue Erfahrung für ihn.

Und zwar eine, die ihm überhaupt nicht gefiel.

Als Lily am nächsten Morgen zum Frühstück herunterkam, unterhielt Dominique sich bei Kaffee und heißen Croissants mit einem Mann Ende zwanzig.

„Ach, Mademoiselle Archer, das hier ist Monsieur Raouls Pfleger, Sebastien“, stellte die Haushälterin ihn vor. „Oder sollte ich vielmehr sagen, Ex-Pfleger?“

Sebastien verdrehte vielsagend die Augen und stellte seine Kaffeetasse ab. „Ich wurde mal wieder gefeuert.“

„Oh.“

„Ich muss Sie warnen, er hat heute eine unglaublich miese Laune“, erklärte Sebastien. „Wahrscheinlich hat er letzte Nacht kein Auge zugetan.“

„Er ist nicht gerade glücklich über meine Anwesenheit“, erklärte Lily.

„Mag sein.“ Sebastien sah sie prüfend an, so als frage er sich, ob sie der Aufgabe gewachsen war, mit Raoul Caffarelli fertigzuwerden. „Aber Hunde, die bellen, beißen nicht, auch wenn ich zugeben muss, dass sein Bellen manchmal ganz schön furchteinflößend sein kann.“

„Ich habe nicht die Absicht, mich von ihm einschüchtern zu lassen“, erklärte Lily.

„Umso besser.“ Sebastien nickte der Haushälterin kurz zum Abschied zu, nahm seine Schlüssel und ging.

Dominique wischte die Krümel vom Küchentisch. „Monsieur Raoul ist sonst eigentlich nicht so.“ Sie hob den Blick zu Lily. „Sie brauchen keine Angst vor ihm zu haben. Er würde nie wirklich jemandem schaden.“

„Ich habe keine Angst vor ihm.“ Na ja, vielleicht ein bisschen.

Die Haushälterin musterte sie einen Moment länger als nötig. „Er ist gerade im Arbeitszimmer und schreibt E-Mails. Könnten Sie ihm vielleicht seinen Kaffee bringen? Das erspart meinen müden Füßen den Gang den Flur entlang.“

„Natürlich.“

Kurz darauf blieb Lily zögernd vor Raouls geschlossener Arbeitszimmertür stehen und lauschte den Geräuschen von drinnen. Sie hörte das Klicken einer Maus und kurz darauf ein paar heftige Flüche, weshalb sie einen Moment mit dem Anklopfen zögerte.

„Ja?“, bellte Raoul.

Lily atmete tief durch. „Ich bringe Ihnen Ihren Kaffee, Monsieur Caffarelli. Dominique hat mich darum gebeten.“

„Worauf warten Sie dann noch, verdammt noch mal?“

Als sie die Tür öffnete, sah sie ihn hinter einem Schreibtisch sitzen, der fast genauso groß war wie ihr Badezimmer zu Hause. Er trug Sportkleidung, was ihm jedoch nichts von seiner Autorität nahm. Eigentlich wirkte er fast noch einschüchternder als sonst. Sein enges weißes T-Shirt betonte seine breiten Schultern, und der Kontrast zu seiner dunklen Haut war ziemlich beeindruckend. Lily musterte verstohlen seine Brustmuskulatur und seine behaarten Unterarme und Hände.

Irgendetwas regte sich in ihrem Unterleib, als sie sich vorstellte, wie diese gebräunten Hände ihre helleren berührten und…

„Was stehen Sie noch da herum?“, fragte er schroff.

Lily presste die Lippen zusammen und näherte sich dem Schreibtisch. „Hier, Ihr Kaffee.“ Sie stellte die Tasse auf die Schreibtischplatte. „Sir“, fügte sie pointiert hinzu.

Durchbohrend sah er sie an. „Sir?“

Sie erwiderte seinen Blick. „Gefällt es Ihnen etwa nicht, so genannt zu werden?“

„Sie sind keine Bedienstete.“

„Nein. Ich bin ein Mensch, genauso wie Sie.“

„Sie sind auf gar keinen Fall so wie ich, Miss Archer“, antwortete er irritiert. „Abgesehen vom Geschlechtsunterschied sind Sie nämlich nicht an einen Rollstuhl gefesselt.“

„Das nicht, aber dafür für einen Monat an dieses Château.“

„Eine Woche, Miss Archer“, entgegnete Raoul tonlos.

„Dann eben eine Woche.“

Ein spannungsgeladenes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus.

Irgendwann warf Lily einen pointierten Blick auf Raouls Kaffee. „Ist das etwa Ihr Frühstück?“

Sein Blick warnte sie davor, sich mit ihm anzulegen. „Ich habe keinen Hunger.“

„Ihr Körper braucht Nahrung. Sie könnten nicht von ihm verlangen, gesund zu werden, wenn Sie ihm nicht geben, was er braucht.“

Raouls Augen glitzerten gefährlich. „So? Was braucht denn Ihr Körper, Miss Archer?“

Lily spürte seinen Blick so intensiv wie eine Berührung, als er sie von Kopf bis Fuß musterte. Sein Blick blieb für einen Moment an ihrem Mund hängen, so als frage er sich, wie es wohl sein würde, sie zu küssen. Ihr wurde ganz heiß, und sie verspürte den starken Impuls, sich mit der Zunge über die Lippen zu fahren, beherrschte sich jedoch gerade noch rechtzeitig. „Hier geht es nicht um meinen Körper, sondern um Ihren.“

„Mein Körper?“ Raoul grunzte. „Ich erkenne ihn noch nicht mal wieder, wenn ich in den Spiegel sehe.“

„Muskelschwund ist völlig normal nach einer Verletzung“, erklärte Lily. „Daran können wir arbeiten.“

Wieder musterte er sie von Kopf bis Fuß. „Werden Sie dieses Kleid tragen, wenn wir im Fitnessraum sind?“

Sie spürte, dass ihr wieder das Blut ins Gesicht schoss. „Nein, ich habe einen Trainingsanzug dabei.“

Das sardonische Glitzern in seinen Augen war irritierend. „Und was tragen Sie im Pool?“

„Na … einen Badeanzug.“

Seine Augen blitzten schon wieder teuflisch. „Vielleicht werde ich meine Meinung noch ändern, was die Wasserübungen angeht. Wer weiß, was für köstliche Überraschungen Sie für mich bereithalten.“

Lily presste die Lippen zusammen. „Ich werde Dominique bitten, Ihnen einen Proteinshake zu machen. Wenn Sie schon nichts zum Frühstück essen wollen, können Sie zumindest etwas trinken.“

Er musterte sie noch immer. „Sind Sie Ihren Patienten gegenüber eigentlich immer so herrschsüchtig?“

„Nur wenn sie sich kindisch benehmen.“

Raoul hob die Augenbrauen. „Sie haben ein ganz schön loses Mundwerk, Miss Archer.“

Lily hielt seinem durchbohrenden Blick stand. „Ich sage nur, was ich denke.“

„Hat Ihre flinke Zunge Ihnen schon mal Ärger bereitet?“

Lily versteifte sich. „Nicht in letzter Zeit.“

Er schwieg einen Moment. „Sie können sich die Mühe sparen“, sagte er irgendwann.

Verwirrt sah sie ihn an. „Wie bitte?“

Raoul lächelte zynisch. „Ich kann es förmlich in Ihrem Kopf rattern hören. Sie denken, wenn Sie nur unhöflich genug mir gegenüber sind, schicke ich Sie noch vor Ablauf der Probewoche weg. Dann können Sie das Geld einsacken und verschwinden, ist es nicht so, Miss Archer?“

„Ich akzeptiere grundsätzlich kein Geld, das ich nicht verdient habe. Und was die Unhöflichkeit betrifft, schießen Sie ja wohl den Vogel ab.“

„Unter Ihrer langweiligen Fassade sind Sie ganz schön temperamentvoll und schlagfertig.“

Sie hob das Kinn. „Es überrascht mich wenig, dass Sie das so sehen, wo Sie sich sonst nur mit hübschen, aber hohlen Frauen zu umgeben scheinen.“

Als Lily seine wütend zusammengepressten Lippen sah, befürchtete sie für einen Moment schon, zu weit gegangen zu sein. Doch plötzlich warf er den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Er hatte ein schönes Lachen – tief und melodiös. Lily bekam geradezu eine Gänsehaut, als sie es hörte. Und irgendetwas in ihr löste sich.

Pass bloß auf, ermahnte sie sich schnell. Nimm dich vor ihm in Acht.

Sie drehte sich zur Tür um. „Ich werde mich mal um den Proteinshake kümmern.“

„Miss Archer?“

Sie drehte sich wieder zu ihm um. „Ja?“

Raoul erwiderte ihren Blick eine gefühlte Ewigkeit lang. Doch was auch immer er hatte sagen wollen, blieb ungesagt. Sein Lächeln erlosch nach und nach, bis sein finsteres Stirnrunzeln zurückkehrte und er den Blick abwandte. „Schließen Sie bitte die Tür hinter sich, wenn Sie rausgehen.“

Der Fitnessraum befand sich in einem sonnigen Zimmer auf der Ostseite des Hauses und war mit sämtlichen modernen Geräten ausgestattet, die ein Sport-Junkie sich nur wünschen konnte. „Sie sind ja beeindruckend gut bestückt“, kommentierte Lily, ohne nachzudenken.

Raouls Augen glitzerten durchtrieben. „Ob Sie es glauben oder nicht, aber das habe ich schon öfter gehört.“

Lily spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. „Also … wir sollten anfangen …“, stotterte sie. Brachte er sie etwa mit Absicht so in Verlegenheit? In seiner Gegenwart errötete sie ständig wie ein Schulmädchen. Absolut demütigend.

„Wollen Sie mich im Rollstuhl behandeln, oder soll ich aussteigen?“

„Vielleicht könnten Sie sich auf die Hantelbank setzen“, schlug Lily vor. „Wir werden ein bisschen mit leichten Gewichten arbeiten.“ Sie schluckte. „Brauchen Sie Hilfe, um aus dem …?“

„Nein.“

Lily war erleichtert, ihn nicht berühren zu müssen. Die ganze Nacht hatte sie vor lauter Nervosität wachgelegen. Wie sich wohl seine Muskeln unter ihren Händen anfühlen würden?

Sie beobachtete, wie er sich vom Rollstuhl auf die Hantelbank setzte. Seine linken Armmuskeln traten vor Anstrengung hervor, als er das Gleichgewicht zu halten versuchte. Seine Lippen waren fest zusammengepresst, und er runzelte die Stirn so konzentriert, als wolle er jeden verletzten Nerv in seinem Körper dazu zwingen zu gehorchen. Als er schließlich auf der Bank saß, verzog er das Gesicht.

„Haben Sie Schmerzen?“, fragte Lily besorgt.

„Es geht schon.“

„Sie brauchen nicht den Märtyrer zu spielen. Genau dosierte Schmerzmittel sind kein Verbrechen.“

Gereizt sah er sie an. „Können wir jetzt mit der Pharmalektion aufhören und weitermachen?“

Seufzend griff Lily nach einer leichten Hantel. „Okay. Dreißig Einheiten in drei Sätzen zu zehn.“

Er musterte die Hantel so verächtlich, als sei sie völlig gewichtslos. „Im Ernst?“

„Sie können nicht einfach da weitermachen, wo Sie aufgehört haben. Das könnte Ihrer Wirbelsäule noch mehr schaden. Sie müssen langsam anfangen und die Übungen allmählich steigern.“

Stur schob Raoul das Kinn vor. „Das ist doch lächerlich. Ich werde meinen Bruder umbringen.“

Lily stützte die freie Hand in eine Hüfte und hielt ihm die Hantel hin. „Das können Sie später immer noch machen. Jetzt tun Sie, was ich Ihnen sage.“

Raoul verdrehte die Augen und griff nach der Hantel. „Wie mache ich mich?“ Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. „Wahnsinn, wie mein Bizeps sich vorwölbt, oder?“

Lily gab sich große Mühe, nicht auf seinen Körper zu achten. Es fiel ihr schwer, in seiner Gegenwart die Rolle der professionellen Therapeutin einzunehmen. Stattdessen fühlte sie sich wie eine junge Frau, die schon seit fünf Jahren nicht mehr in der Nähe eines gut aussehenden Mannes gewesen war. Sie konnte ihn sogar riechen – eine würzige Duftnote mit einem Hauch Limette und einem anziehend männlichen Unterton.

„Nicht so schnell“, ermahnte sie ihn, wobei sie hoffte, nicht so atemlos zu klingen, wie sie sich fühlte. „Sie müssen sich genauso auf die Entspannung konzentrieren wie auf die Anspannung, wenn nicht sogar noch mehr.“

Seine sündhaft schönen Augen glitzerten wieder durchtrieben. „Ich konzentriere mich immer auf die Entspannung.“

Lily lachte verkrampft. „Na klar doch. So, jetzt lassen Sie uns an Ihrer Stützmuskulatur arbeiten. Sie entwickelt sich bei Rückenverletzungen zurück. Man braucht eine gewisse Zeit, um sie wieder zu aktivieren. Sie können die Muskeln spüren, wenn Sie einen Finger in Ihren Bauch pressen – etwa so.“ Lily drückte zwei Finger in ihren eigenen von der Trainingsjacke bedeckten Bauch. „Stellen Sie sich einfach vor, Sie ziehen Ihren Bauchnabel Richtung Wirbelsäule.“

„Allein schaff ich das nicht.“

Lily seufzte. Raouls Unschuldsblick konnte sie keine Sekunde lang täuschen. „Das ist kein Kunststück. Sie spannen diese Muskeln ständig an.“

„Wobei?“

Lily schaffte es einfach nicht, Raouls Blick standzuhalten. Er wusste schließlich ganz genau, bei welcher Betätigung man diese Muskeln aktivierte. Vermutlich hatte er sie jahrelang bei Sexmarathons im Bett überstrapaziert.

Sie beschloss, das Thema zu wechseln. „Versuchen Sie, die Beine anzuheben. Können Sie sie bewegen?“

„Ein bisschen.“

„Zeigen Sie es mir.“

Raoul hob das rechte Bein einen Zentimeter, zitterte dabei jedoch vor Anstrengung. Links war es noch schlimmer. Da bewegte sich so gut wie gar nichts. „Ich schätze, so schnell werde ich nicht Marathon laufen“, versuchte er zu scherzen, doch Lily entging sein Unterton der Verzweiflung nicht. Seiner Körperkraft beraubt zu sein, musste tief an seinem männlichen Selbstwertgefühl kratzen. „Erst sorgen wir dafür, dass Sie stehen und gehen können, bevor wir ans Laufen denken. Können Sie mit den Füßen kreisen?“

Rechts klappte es ganz gut, aber links weniger. Raoul sah Lily frustriert an. „Das hat doch alles keinen Zweck. Ich kann das nicht. Ich will es nicht.“

„Sie brauchen mehr Geduld“, widersprach Lily. „Sie können nicht mit sofortigen Ergebnissen rechnen. So eine Behandlung kann Monate oder sogar Jahre dauern.“

Finster sah er sie an. „Hand aufs Herz, wie stehen meine Chancen? Nur zu, Sie brauchen nichts zu beschönigen. Ich kann die Wahrheit ertragen.“

Lily leckte sich die knochentrockenen Lippen. „Ich glaube, es wird ein langer und harter Kampf, bis Sie wieder voll beweglich sind.“

„Wollen Sie damit sagen, dass ich womöglich nie wieder laufen kann?“

Niemand hörte gern Hiobsbotschaften. Niemand wollte die Schicksalsschläge akzeptieren, die das Leben für einen bereithielt. „Es ist zu früh für Prognosen.“

„Sie halten sich absichtlich so bedeckt, oder?“, fragte Raoul verbittert. „Damit Sie aus dem Schneider sind, falls es nicht wie erhofft läuft. Sie kriegen Ihr Geld ja so oder so, nicht wahr, Miss Archer? Dafür haben Sie ja gesorgt.“

Lily war die Letzte, die Profit aus der Notlage anderer Menschen schlagen würde. Schließlich war sie selbst auf das Schlimmste missbraucht worden. Die Erinnerungen an jene Nacht quälten sie wie ein Krebsgeschwür, das man weder mit Ablenkungen noch mit Aktivitäten aushungern und vernichten konnte. Es wuchs immer weiter und schien nur auf eine Chance zu warten, sie zu zerstören.

„Ich habe Ihretwegen mehrere andere Patienten vertrösten müssen“, antwortete sie scharf. „Da ist eine finanzielle Entschädigung durchaus angemessen.“

Raoul musterte sie aus grünbraunen Augen. „Dann sollten wir dafür sorgen, dass das Geld meines Bruders gut angelegt ist, oder?“

Lily reichte ihm eine schwerere Hantel, wobei sie darauf achtete, nicht seine Finger zu berühren. „Ja, das sollten wir.“

Er folgte ihren Instruktionen eine Weile, doch seine Ungeduld war nicht zu übersehen. Er musste die Situation als total demütigend empfinden. Trotzdem war Geduld das Wichtigste. Es hatte keinen Sinn, wie ein Stier voranzupreschen. Aus so einer Krise kam man nur mit ganz kleinen Schritten heraus.

Sie war der lebende Beweis dafür.

„Ich glaube, für heute reicht es“, sagte sie nach einer Weile.

Raoul runzelte irritiert die Stirn. „Soll das ein Witz sein?“

„Nein.“ Entschlossen nahm Lily ihm die Hantel ab und trug sie zum Ständer. „Sie sitzen jetzt schon länger als zehn Minuten. Hat Ihr Neurochirurg Ihnen nicht geraten, das Sitzen zum jetzigen Zeitpunkt noch auf ein Minimum zu reduzieren?“

„Aber ich habe noch gar nichts getan“, protestierte Raoul und funkelte sie wütend an. „Sie haben nichts getan.“

„Ganz im Gegenteil, ich habe Sie bei Ihren Übungen beobachtet, Ihre Haltung und Ihre Muskelaktivität. Dabei ist mir aufgefallen, dass Sie im Nacken und in den Schultern sehr verspannt sind. Links ist es noch schlimmer als rechts, was vermutlich auf Ihren gebrochenen Arm zurückzuführen ist.“

„Und? Was wollen Sie dagegen unternehmen?“

Lily gefiel das Glitzern in seinen Augen überhaupt nicht. „Äh … wie meinen Sie das?“

„Wollen Sie mich nicht massieren?“

Ihr Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Stell dich nicht so an. Du hast Hunderte Patientinnen massiert.

Ja, aber keinen Mann!

Sie setzte ihr stummes Zwiegespräch fort, bis ihr Raouls verwirrter Blick bewusst wurde. „Ist alles okay?“, fragte er.

„Natürlich.“ Sie musste sich dazu zwingen, seinen Blick zu erwidern. „Ich werde aber erst eine Massageliege besorgen müssen, da ich keine mitgebracht habe. Es ging alles so schnell, und …“

„Ich habe schon eine“, unterbrach er sie.

Lily schluckte. „Sie … was?“ Ist doch klar, dass er eine Massageliege hat. Schließlich konnte er sich alles leisten. Wahrscheinlich besaß er gleich mehrere, womöglich sogar in sämtlichen Zimmern des Schlosses. Vermutlich waren sie vergoldet und mit Diamanten verziert.

„Sie steht im Raum neben der Sauna und dem Whirlpool.“

„War ja klar“, murmelte sie lauter als beabsichtigt.

Raoul hob eine Augenbraue. „Machen Sie sich etwa über meinen Reichtum lustig, Miss Archer?“

Lily errötete unter seinem Blick. „Nein, ich … Ich habe nur gerade laut gedacht.“

„Unterlassen Sie das bitte künftig in meiner Gegenwart.“

Halt durch. Lass ihn das Blickduell nicht gewinnen. Er will dich bloß einschüchtern. Tapfer erwiderte sie Raouls kalten Blick. Sie hatte keine Chance gegen ihn, aber in diesem Augenblick war ihr das egal. Raoul brauchte vermutlich das Gefühl, nicht völlig machtlos zu sein. Außerdem war das Ganze ein Spiel für ihn. Er würde sich die Zeit damit vertreiben, bei ihr sämtliche Knöpfe zu drücken, bis er es satt hatte.

Leider gelang ihm das nur allzu gut. Er drückte Knöpfe, die schon lange niemand mehr gedrückt hatte – und noch dazu einige, von deren Existenz sie bisher nichts geahnt hatte. Ihre Körperreaktionen auf ihn waren der beste Beweis dafür. Sein spöttischer Blick war elektrisierend. Seine glitzernden wissenden Augen sahen viel mehr, als ihr lieb war.

Aber Lily war nicht mehr jenes leichtsinnige Mädchen von damals.

Sie war jetzt vernünftig und besonnen.

Sie hatte ihren Verstand absolut beieinander.

Sie hatte ihre Gefühle unter Kontrolle.

„Wann möchten Sie die Massage?“, hörte Lily sich zu ihrem Entsetzen fragen. Das Mädchen, das sie heute war, hätte einem Mann nie eine Massage angeboten, schon gar nicht einem Mann, der so gefährlich attraktiv war wie Raoul Caffarelli. Ihr wurde ganz heiß vor Verlegenheit, als sie auf seine Antwort wartete. Ein spannungsgeladenes Schweigen breitete sich im Raum aus.

Ein sehr prickelndes, erotisch aufgeladenes Schweigen.

Lily unterdrückte ein Gefühl der Panik. Sex war nur etwas für andere. Das neue Mädchen in ihr hatte keinen Sinn für so rohe Bedürfnisse. Sie war praktisch von der Taille an abwärts tot.

Zumindest bis heute …

„Sagen wir um elf?“, schlug Raoul vor. „Ich muss vorher noch in mein Arbeitszimmer.“

„Gut … sehr gut“, stammelte Lily. „Ich werde schon mal alles vorbereiten. Sie brauchen sich nicht zu beeilen, falls Sie von Anrufen oder SMS oder Mails aufgehalten werden. Das Ganze hat überhaupt keine Eile.“ Wir könnten die Massage einfach verschieben. Oder komplett darauf verzichten.

„Dann also bis elf, Miss Archer.“ Raouls Blick war fast diabolisch. „Ich freue mich schon auf Ihre manuelle Behandlung.“

Lily verließ das Zimmer und seufzte tief. Wie schlimm würde diese Farce denn noch werden?

4. KAPITEL

Als Raoul schließlich um elf in der Tür des Massageraums erschien, war Lily das reinste Nervenwrack. Sie traute sich kaum, ihm in die Augen zu sehen. „Ich lasse Sie jetzt allein, damit Sie sich ausziehen … ich meine, sich fertigmachen können“, verbesserte sie sich hastig. Nervös schob sie sich eine Haarsträhne hinter ein Ohr und riskierte einen Blick. „Brauchen Sie Hilfe, um sich auf die Liege zu legen?“

Sein Gesichtsausdruck war unergründlich. „Nein. Ich rufe Sie, falls ich Sie brauche.“

„Okay.“ Lily schoss aus dem Zimmer und schloss die Tür. Ihr Herz flatterte wie ein Blatt Papier in einem Tornado. Als sie ein paar Minuten später zurückkehrte, lag er mit dem Gesicht nach unten auf der Liege. Sie hatte ihm vorher ein Handtuch hingelegt, um sich zuzudecken, doch wegen seines gebrochenen Arms war ihm das nicht ganz gelungen. Das Tuch bedeckte seinen knackigen Po nur halb.

Er ist splitterfasernackt unter dem Handtuch!

„Liegen Sie bequem?“, fragte sie schrill, während sie ihn zudeckte.

„Ja.“

Lily warf einen Blick auf die Narben auf seiner Wirbelsäule. Sie waren noch rot und geschwollen, würden jedoch im Laufe der Zeit verblassen.

Sie ließ den Blick über seinen Körper gleiten. Raoul war wirklich unglaublich gut gebaut – breitschultrig, mit schmalen Hüften und gut konturierten Muskeln. Trotzdem war er kein Muskelprotz. Sie hätte ihn stundenlang betrachten können. Es war schon so lange her, dass sie einen nackten Mann gesehen hatte – richtig gesehen hatte. Er sah aus wie das Modell eines Bildhauers – so schön, dass die Vorstellung, dass er weder gehen noch stehen konnte, unerträglich war.

„Mein Zustand muss viel schlimmer sein als gedacht“, sagte er mit gedehnter Stimme. „Ich spüre überhaupt nichts.“

Lily musste wider Willen lächeln. „Ich habe Sie noch gar nicht angerührt.“

„Warum brauchen Sie so lange?“

„Ach, nur so. Ich … ich fange jetzt an.“

Sie goss sich etwas Massageöl in die Hände, um es anzuwärmen, und holte rasch Luft. Dann legte sie die Hände auf seine Füße – eine Berührung, die sie schon unzählige Male ausgeführt hatte, jedoch nie zuvor so intensiv empfunden hatte wie bei ihm. Raoul zuckte zusammen, als ginge es ihm genauso. Lily holte wieder Luft und strich über sein rechtes Bein, um die Unterschenkelmuskulatur zu lockern. Er zuckte erneut zusammen und stieß einen unterdrückten Fluch aus.

„Spüren Sie das?“, fragte sie.

„Allerdings. Ihre Daumen fühlen sich an wie Korkenzieher.“

„Und Ihre Muskeln wie Beton.“

Er grunzte. „Stecken Sie mal in meinem Körper.“

Lily musste wieder lächeln. „Hören Sie auf zu jammern und entspannen Sie sich.“

Sie massierte seinen Oberschenkel mit kräftigen Bewegungen. Danach kam das andere Bein an die Reihe. Raoul hatte schöne männliche Beine – muskulös und dennoch schlank, kein Gramm Fett zu viel.

Behutsam schob sie das Handtuch nach unten, um seine Lendenwirbelmuskulatur zu massieren. Er war unglaublich verspannt, doch nach einer Weile spürte sie, wie er unter ihrer Berührung lockerer wurde.

Raoul seufzte tief auf und entspannte sich sichtlich. Sein Atem wurde ruhig und gleichmäßig.

Aufmerksam bearbeitete Lily die Muskulatur um seine Wirbelsäule. Sein Nacken und seine Schultern waren genauso verspannt wie vermutet, lockerten sich jedoch nach einer Weile. Seine Haut war glatt und warm und duftete nach dem Massageöl – und nach Mann. Eine schwindelerregende Mischung, die Lilys schlafende Sinne weckte.

Ihr Blick fiel auf sein volles schwarzes Haar, als sie seine Schultern massierte. Es juckte sie in den Fingern, es zu berühren, und ehe sie wusste, wie ihr geschah, ließ sie die Finger sanft hindurchgleiten. Es fühlte sich weich und geschmeidig an und roch angenehm nach frischen Äpfeln.

„Habe ich dort etwa auch Muskeln?“ Raouls tiefe Stimme drang gedämpft durch das Handtuch auf der Liege.

Lily war froh, dass er auf dem Bauch lag. So konnte er ihr Erröten wenigstens nicht sehen. „Nein, aber unter Ihrer Kopfhaut.“ Sie massierte die Verspannungen weg, die sie dort spürte. „Haben Sie manchmal Spannungskopfschmerzen?“

„Gelegentlich.“

„Migräne?“

„Nur selten.“

„Was tun Sie, um sich zu entspannen?“

„Ist das eine Fangfrage?“

Lily musste schon wieder lächeln. „Nein, die Frage war ernst gemeint. Was lässt Sie abschalten?“

Er schwieg einen Moment. „Wenn Sie mich das vor einem Monat gefragt hätten, hätte ich mit ‚Sex‘ geantwortet.“

Lily nahm die Hände von seinem Kopf und wischte sie grob an einem Handtuch ab. Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Am besten gar nichts. Das war besser, als sich zur Idiotin zu machen.

Er wandte den Kopf und musterte sie mit einem Auge. „Finden Sie Sex nicht auch sehr entspannend, Miss Archer?“

Was sollte sie nur darauf antworten? Dass Sex so ziemlich das Unentspannendste war, das sie sich vorstellen konnte? Raoul würde sie bestimmt auslachen und ihr das Gefühl vermitteln, albern, linkisch und unerfahren zu sein. Aber sie konnte ihm unmöglich die Gründe für ihre Gefühle nennen. Das würde zu viele schreckliche Erinnerungen wachrufen.

Autor

Lynn Raye Harris

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