Julia Extra Band 393

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

DER PRINZ UND DAS GLAMOUR-GIRL von LAWRENCE, KIM
Um eine Staatskrise zu verhindern, wird der mächtige Prinz Al Safar die verwöhnte Hannah Latimer heiraten! Er weiß, für ihn wird es ein Kinderspiel, das widerspenstige Glamour-Girl zu zähmen - bis er spürt, diese Frau weckt in ihm Gefühle, die er sich bisher verboten hat …

LIEBESTRÄUME AUF DER LUXUSJACHT von LENNOX, MARION
Eigentlich soll sich Rachel auf der Luxusjacht von einem Schicksalsschlag erholen, stattdessen bringt Schiffstycoon Finn Kinnard sie um ihren Schlaf. Trotz des sinnlichen Prickelns zwischen ihnen widersteht sie ihm - bis der Australier sie in das Abenteuer ihres Lebens lockt …

KÜSS MICH, UND ICH GEHÖRE DIR von MEIER, SUSAN
Adoptionsagentin Claire ist empört! Der attraktive Milliardär Matt Patterson will sein elternloses Patenkind Bella nicht mit nach Hause nehmen - es sei denn, sie selbst begleitet ihn als Nanny. Ein unerfüllbarer Wunsch … oder stimmt ein Blick in seine grünen Augen sie doch noch um?

VERLIEBT IN EINEN JETSET-MILLIARDÄR von COX, MAGGIE
Pop-Titan Hal Treverne ist vom Pech verfolgt. Nicht nur, dass er nach einem Skiunfall vorerst im Rollstuhl sitzt, jetzt scheint die rothaarige Therapeutin Kit auch noch gegen seinen Charme immun zu sein - dabei ahnt er, eine Nacht mit ihr könnte die Erfüllung eines sinnlichen Versprechens sein …


  • Erscheinungstag 13.01.2015
  • Bandnummer 0393
  • ISBN / Artikelnummer 9783733704339
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kim Lawrence, Marion Lennox, Susan Meier, Maggie Cox

JULIA EXTRA BAND 393

KIM LAWRENCE

Der Prinz und das Glamour-Girl

Society-Girl Hannah will ihr Leben ändern und armen Menschen helfen. Als sie stattdessen im Gefängnis eines Schurkenstaats landet, kann nur der arrogante Prinz Al Safar sie retten – doch zu welchem Preis?

MARION LENNOX

Liebesträume auf der Luxusjacht

Alles, nur keine Schiffsromanze! Selbst bei der bezaubernden Rachel bleibt Tycoon Finn Kinnard eisig. Erst als sie in tödliche Gefahr gerät, gesteht er sich, mit dieser Frau will er auf einer Insel stranden …

SUSAN MEIER

Küss mich, und ich gehöre dir

Plötzlich Vater! Für den Milliardär Matt ein Fiasko, denn in sein Jetset-Leben passt eigentlich kein Kind … Das ändert sich, als die verführerische Nanny Claire ihn lehrt, was echte Liebe ist …

MAGGIE COX

Verliebt in einen Jetset-Milliardär

Launisch, reich und sexy! Für die Physiotherapeutin Kit Blessington ist ihr neuer Patient Hal Treverne eine echte Herausforderung. Denn sie fühlt, der Musikmagnat will mehr von ihr – aber für wie lange?

1. KAPITEL

Hannah schlief nicht, als der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde. Sie lag nur da, die Augen geschlossen. Abgesehen von ein paar wenigen gestohlenen Momenten hatte sie seit achtundvierzig Stunden nicht geschlafen. Doch als sie jetzt den Schlüssel hörte, schoss sie förmlich hoch und schwang die Beine über das schmale Metallbett.

Hektisch strich sie sich das zerzauste Haar aus dem Gesicht und verkrampfte die zitternden Hände im Schoß. In den letzten beiden Tagen hatte sie gelernt, gefasst zu wirken. Doch nun wurde ihr klar, dass es nicht mehr darum ging, ob sie die Fassung verlor, sondern nur noch, wann. In diesem Augenblick schaffte sie es jedoch noch, sich den Anschein von Würde zu geben.

Sie blinzelte gegen die Tränen an, die heiß in ihren Augen aufsteigen wollten. Der Schmerz, den sie empfand, als sie sich auf die volle Unterlippe biss, half ihr, sich zu konzentrieren. Entschieden hob sie das Kinn, straffte die Schultern und setzte sich kerzengerade hin. Zumindest würde sie den Mistkerlen nicht die Genugtuung geben, zu weinen.

Sie atmete tief durch, versuchte, sich nur auf die nächsten Minuten zu konzentrieren. Aber der Gedanke ließ sich nicht verdrängen, dass sie selbst an allem schuld war.

Du hättest akzeptieren sollen, was die anderen gesagt haben: Du bist nicht für diese Arbeit geeignet. Bleib lieber bei deinem Schreibtischjob, bei deinen perfekt gepflegten Fingernägeln …

Hastig vergrub sie die Finger in den Handflächen, um ihre abgekauten Nägel zu verbergen, während sie einen Anflug von Hysterie herunterschluckte.

Wie hatte sie nur glauben können, dass ein Schreibtischjob bei einer ärztlichen Hilfsorganisation sie dafür qualifizierte, praktisch zu arbeiten?

Sie senkte die Lider, die Nerven bis aufs Äußerste angespannt, als die Tür schließlich aufschwang. Den Blick auf den Boden gerichtet, stieß sie die Worte hervor, die fast schon zu einem Mantra für sie geworden waren.

„Ich bin nicht hungrig, aber ich brauche Zahnbürste und Zahncreme. Wann kann ich den britischen Konsul sehen?“

Sie erwartete schon gar nicht mehr, eine Antwort zu bekommen. Seit man sie auf der falschen Seite der Grenze gefangen hielt, waren all ihre Fragen unbeantwortet geblieben. Stattdessen hatte man ihr Fragen gestellt, immer wieder die gleichen Fragen.

Doch was konnte sie dafür, dass das Militär von Quagani den Begriff „humanitäre Hilfe“ offenbar nicht verstand? Hannah hatte erklärt, keine Spionin zu sein und dass sie nie einer politischen Partei angehört habe. Als man ihr ein Foto zeigte, auf dem sie eine Fahne schwang und gegen die Schließung der örtlichen Grundschule protestierte, hatte sie nur gelacht – was vermutlich nicht sehr ratsam gewesen war.

Nachdem man den Vorwurf der Spionage fallen gelassen hatte, wurde sie bezichtigt, Medikamente geschmuggelt zu haben. Als Beweis präsentierte man ihr die Schachteln mit wertvollen Impfstoffen, die inzwischen nutzlos waren, weil man sie nicht gekühlt hatte.

Zunächst hatte Hannah geglaubt, sich keine Sorgen machen zu müssen, solange sie nur bei der Wahrheit blieb. Aber jetzt wusste sie nicht mehr, wie sie so naiv hatte sein können.

Es waren sechsunddreißig Stunden vergangen, und weder Journalisten noch Behörden hatten bisher von dem heiklen Zwischenfall an der Grenze erfahren, als der König von Surana im benachbarten Quagani anrief, um Scheich Malek Sa’idi zu sprechen.

Zwei Männer, die nicht unterschiedlicher hätten sein können, warteten gespannt auf den Ausgang dieses Gesprächs.

Der ältere Mann war Anfang sechzig und mittelgroß. Er trug einen wild wuchernden Bart, sein zotteliges Haar ringelte sich am Kragen und umrahmte in wilden Büscheln sein Gesicht. Mit seiner Tweedjacke und den verschiedenfarbigen Socken sah er aus wie ein zerstreuter Professor.

Die Augen hinter der Hornbrille wirkten jedoch hart, und unter seinem ungekämmten Haar verbarg sich ein risikobereiter und in gewisser Weise auch rücksichtsloser Geist. Bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr hatte dieser Mann schon zweimal ein Vermögen gemacht und es wieder verloren.

Auch jetzt stand er gerade davor, entweder einen riesigen finanziellen Erfolg einzufahren oder sich heillos zu ruinieren. Es gab jedoch in diesem Moment nur eines, was Charles Latimer tatsächlich wichtig war: sein einziges Kind. Statt des üblichen Pokerfaces zeigte er sich besorgt und leichenblass.

Der andere Mann hatte kurzes rabenschwarzes Haar. Seine olivfarbene Haut leuchtete golden in dem Licht, das durch die hohen Fenster fiel, die zum Innenhof hinausgingen. Der Mann war sehr groß, er hatte lange Beine und breite Schultern, beste Voraussetzungen für die Rudermannschaft in der Schule und später auf der Universität. Da in den Augen seines Onkels eine Karriere als Ruderer allerdings nichts wert war, waren Kamal Al Safars erste Olympische Spiele auch seine letzten gewesen. Die Goldmedaille, die er gewonnen hatte, lag irgendwo vergessen in einer Schublade. Kamal ging gerne an seine Grenzen – er wollte gewinnen, aber Preise bedeuteten ihm nichts.

Während Charles Latimer ruhelos auf und ab ging, saß Kamal reglos da. Nur sein Kiefermuskel zuckte, was darauf hindeutete, dass es in ihm arbeitete.

Seinen dreißigsten Geburtstag heute hatte er sich anders vorgestellt, trotzdem zeigte er nicht, wie enttäuscht er war. Er akzeptierte, dass seine Gefühle hinter seiner Pflicht zurückstehen mussten. Ein Pflichtgefühl, das ihm in Fleisch und Blut übergegangen war.

Schließlich stand er auf und ging zum Fenster hinüber. Er kämpfte gegen ein Gefühl der Enge an und öffnete das Fenster, sodass das Plätschern der Springbrunnen im Innenhof die Stimme seines Onkels übertönte. Schwüle Luft drang herein, vermischt mit dem schweren Duft nach Jasmin. Es war etwa zwanzig Grad wärmer, als es gestern in Antibes gewesen war. Antibes …

Bestimmt lag Charlotte Denning dort in diesem Moment neben dem Pool auf einer Sonnenliege, eine Flasche Champagner auf Eis neben sich, bereit, ihm wie versprochen ein besonderes Geburtstagsgeschenk zu machen.

Nachdem sie ein Jahr mit einem Mann verheiratet gewesen war, der ihren sexuellen Appetit nicht geteilt hatte, erfreute sie sich nach der Scheidung ihrer Freiheit.

Sie würde wütend sein, wenn sie feststellte, dass sie vergeblich auf Kamal wartete. Und noch wütender, wenn sie den Grund erst erfuhr.

Aber Vergnügungen dieser Art würde es für Kamal nicht mehr geben. Durch die anstehende Heirat waren alle Charlottes dieser Welt für ihn tabu. Und er würde heiraten, weil es eben seine Pflicht war. Nur für einige wenige Glückliche waren Pflicht und Vergnügen das Gleiche. Früher einmal hatte er sich selbst zu den Glücklichen gezählt.

Tief atmete er die duftende Luft ein, dann schloss er das Fenster, nicht gewillt, sich Bedauern oder Selbstmitleid hinzugeben. Immer wenn er kurz davor war, erinnerte er sich daran, dass er immerhin noch lebte. Anders als seine kleine Nichte Leila. Das Baby starb, als das Flugzeug, mit dem der Säugling und seine Eltern unterwegs gewesen waren, an einem Berg zerschellt war. Alle Passagiere waren ums Leben gekommen. Das Unglück hatte für viele Spekulationen gesorgt – und es hatte Kamals Zukunft für immer verändert.

Er lebte jetzt eine Zukunft, die er von Leilas Vater geerbt hatte. Jetzt war er der Erbe, nicht mehr nur der Ersatz.

Seitdem hatte Kamal gewusst, dass er eher früher als später heiraten musste. Da ihm also nur begrenzt Zeit blieb, um sich auszutoben, hatte er diese Zeit genutzt und sich einen gewissen Ruf erworben, sodass man ihn inzwischen sogar Prinz Herzensbrecher nannte.

Doch jetzt hatte seine Zukunft ihn eingeholt. Plötzlich hatte er eine Braut, deren Ruf seinem in nichts nachstand.

„Es ist erledigt“, sagte der König von Surana.

Kamal drehte sich zu seinem Onkel um und nickte. „Ich werde mich um alles Weitere kümmern.“

Charles Latimer brach in Tränen aus.

Kamal brauchte weniger als eine Stunde, um die nötigen Vorkehrungen zu treffen. Dann kehrte er zurück und setzte die beiden älteren Männer davon in Kenntnis, was geschehen würde. Der Höflichkeit halber hatte er den Plan von seinem Onkel absegnen lassen, der jetzt nickte und sich an seinen alten Collegefreund und Geschäftspartner wandte.

„Hannah sollte bis heute Abend wieder bei dir sein, Charlie.“

Wohl eher bei mir, hätte Kamal ihn korrigieren können, doch er hielt sich zurück. Erst einmal mussten sie das Mädchen freibekommen, danach würde er weitersehen.

Aber er musste auch in Erwägung ziehen, dass die Sache nicht so lief wie von ihm geplant, und er fühlte sich verpflichtet, darauf hinzuweisen. „Wenn sie allerdings hysterisch wird oder …“

„Keine Sorge.“ Charles Latimer lächelte stolz. „Hannah ist tough und ein kluges Mädchen. Sie versteht schnell und wird aus eigenem Willen mitkommen.“

Bald würde Kamal wissen, ob das väterliche Vertrauen gerechtfertigt war. Allerdings glaubte er nicht ganz daran. Offensichtlich hatte Latimer seine Tochter ihr ganzes Leben lang verwöhnt. Kamal hielt es für viel wahrscheinlicher, dass die verzogene englische Göre schon nach einem halben Tag in einer Gefängniszelle zusammengebrochen war.

So war er auf das Schlimmste vorbereitet, als er schließlich in Quagani angekommen war und die Zelle betrat. Doch Hannah Latimer war ganz anders, als er sie sich vorgestellt hatte.

Das Ziel seiner Rettungsaktion war nicht wie erwartet ein nervliches Wrack. Vielmehr sah Kamal sich einer schlanken, unglaublich schönen Frau in einfacher Gefängniskleidung gegenüber, die auf dem schmalen Eisenbett saß, die Hände im Schoss gefaltet und den Blick gesenkt.

Ihr Anblick erfüllte Kamal jedoch nicht mit Erleichterung, auch nicht mit Bewunderung. Was er fühlte, war nur reiner Zorn.

Unglaublich! Wegen dieser Frau wurden Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Und sie saß da und tat so, als hätte ein verdammter Butler die Zelle betreten, wobei sie sich nicht einmal dazu herabließ, dem vermeintlichen Butler ihre Aufmerksamkeit zu schenken. War sie schlicht zu dumm, um zu verstehen, in welcher Gefahr sie schwebte, oder hielt sie sich für unverwundbar, weil sie glaubte, Daddy würde sie aus jeder unangenehmen Situation retten?

Dann hob sie die dunklen Wimpern, und Kamal wurde schlagartig bewusst, dass hinter der kühlen Blondine ein zutiefst verängstigtes Wesen steckte. Als er einen Schritt näher trat, fielen ihm auch ihre verkrampften Kiefermuskeln und der leichte Schweißfilm auf ihrer hellen Haut auf.

Nachdenklich runzelte Kamal die Stirn. Sein Mitgefühl hob er sich normalerweise für Menschen auf, die es verdienten. Und Hannah Latimer zählte nicht dazu, verängstigt hin oder her. Denn diesen Schlamassel hatte sie sich selbst eingebrockt.

Trotzdem konnte er sich leicht vorstellen, dass Männer bei ihrem Anblick schwach wurden. Sogar er selbst fühlte sich ein wenig von ihr angezogen – bis sie den Mund aufmachte. Ihre schneidende Stimme klang so verächtlich und überheblich, dass sie sich damit bisher wohl kaum Freunde gemacht hatte.

„Ich bestehe darauf, den …“ Hannah stockte und erstarrte schockiert. Den Mann, der nun vor ihr stand, hatte sie noch nie zuvor gesehen.

Er war groß, sehr groß sogar, sodass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um ihn richtig ansehen zu können. Er hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Wachmännern, die bisher zu ihr in die Zelle gekommen waren, und er trug auch keine Uniform.

Vielmehr war dieser Mann sauber rasiert und in einen schneeweißen Kaftan gekleidet, der die kleine Zelle mit dem Geruch nach frischer Luft und sauberer Männerhaut erfüllte. Seltsam wirkte allerdings die Stoffbahn aus blauer Seide, die über seinem Arm hing. Schließlich wanderte ihr ängstlicher Blick von dem Stück Stoff zu seinem Gesicht.

Abgesehen von einer Narbe, die sich hell von seiner goldenen Haut abzeichnete, und der stolzen Nase, die wirkte, als hätte er sie sich einmal gebrochen, konnte man ihn nicht nur als gut aussehend beschreiben, sondern schlicht als schön. Mit großen Augen starrte Hannah auf seinen sinnlichen Mund, wandte jedoch schnell den Blick ab, als er kühl und ohne erkennbaren Akzent sagte: „Ich möchte, dass Sie das hier anziehen, Miss Latimer.“

Vor Angst zog sich ihr Magen zusammen, und ihre Lippen zitterten, als sie ein geflüstertes „Nein“ herausbrachte.

Seit ihrer Verhaftung war sie der Gnade von Männern ausgeliefert, die sie manchmal ansahen, als ob … Die eng stehenden Augen des Vernehmungsbeamten fielen ihr ein, und Abscheu stieg in ihr auf.

Sie starrte auf die Hand, die den blauen Stoff hielt, und stand ein wenig zu schnell auf. Der Raum drehte sich, während sie darum kämpfte, sich auf das seidene Tuch zu konzentrieren, das sich gegen das klinische Weiß der Wände und den gefliesten Boden leuchtend abhob. Blau, weiß, blau, weiß …

Ihre Beine knickten ein, als der Fremde sie gerade noch festhielt und zurück auf das Bett setzte.

Kamal bezwang seinen Ärger. Er wollte nicht hier sein, wollte all das nicht tun. Und vor allem wollte er kein Mitgefühl mit dieser Person haben, die ganz allein für diese unmögliche Situation verantwortlich war. Schlimmer noch, er wusste, dass sie auch schon zuvor durch ihr unbedachtes Handeln andere Menschen in Schwierigkeiten gebracht hatte. Andere verletzt hatte. Ob sie ihr Handeln je bedauerte?

Vielleicht hatte sie es getan, als ein einfallsreicher Journalist sie nach der zweiten, medienwirksam geplatzten Hochzeit als Herzlose Hannah tituliert hatte. Hätte sie auch nur den Hauch eines Gefühls gezeigt, wäre die Presse vielleicht ein wenig gnädiger mit ihr umgegangen, aber Hannah hatte sich hochnäsig gegeben.

Kamal hatte die Story verfolgt, weil er ihren Vater kannte. Und weil er wusste, was es hieß, den geliebten Menschen zu verlieren, mit dem man den Rest seines Lebens verbringen wollte. Nicht dass Amira ihn verlassen hätte. Nein, sie hätte ihn trotz allem geheiratet, aber er hatte sie gehen lassen.

Gegen seinen Willen ging sein Blick wieder zu dem schmutzigen, aber perfekt geschnittenen Gesicht der jungen Frau vor ihm … Er verspürte einen Anflug von Mitleid, den er jedoch sofort und entschieden verdrängte.

Denn Hannah Latimer hatte es nicht anders verdient. Wenn es überhaupt ein Opfer bei dieser ganzen Sache gab, dann war er es. Glücklicherweise hatte er keine romantischen Illusionen über die Ehe, zumindest nicht, was seine eigene betraf. Er hatte schon einmal geliebt und seine Liebe verloren. Diesen Fehler würde er kein zweites Mal begehen. Nur ein Idiot würde sich noch einmal diesem Schmerz aussetzen. Deshalb kam ihm eine Zweckehe eigentlich sehr gelegen.

Allerdings hatte er schon gehofft, seine Braut zumindest respektieren zu können.

Warum hatte dieses verwöhnte kleine Dummchen sich nur dazu entschlossen, den rettenden Engel zu spielen? Warum hatte sie sich nicht lieber ein Paar neue Schuhe gekauft? Gut, er wusste, dass sie nicht nur aus reinem Egoismus gehandelt hatte, aber er konnte nicht verstehen, warum eine ärztliche Hilfsorganisation sie eingestellt hatte. Sie konnte nicht viel älter sein als zwanzig Jahre und dürfte kaum Erfahrung besitzen …

Egal. Er musste sie jetzt hier herausholen. Auffordernd hielt er ihr den blauen Stoff hin. „Ziehen Sie das hier bitte an. Sofort.“

Mühsam kam Hannah auf die Füße. „Wenn Sie mich anfassen, werde ich das melden.“

„Nein, das werden Sie nicht“, entgegnete Kamal. „Wenn Sie hier raus wollen, tun Sie, was ich sage, und ziehen dieses verdammte Ding über.“

Ihr Atem ging heftig, während sie ihn mit großen Augen ansah und vor ihm zurückwich. „Sollten Sie mich in unangemessener Weise berühren, dann …“

Dann was, überlegte sie panisch. Sollte sie schreien? Wer sollte ihr schon zu Hilfe kommen?

„Sex ist das Letzte, das ich im Sinn habe, da können Sie sicher sein, Schätzchen. Selbst wenn …“ Verächtlich sah der Mann sie von Kopf bis Fuß an, ehe er hinzufügte: „Ich habe Sie nicht darum gebeten, sich auszuziehen.“ Er betonte jedes Wort, und dass er so ruhig sprach, ließ seine Stimme noch bedrohlicher klingen. „Ich habe Sie darum gebeten, sich zu bedecken.“

Kamal hatte ein abwechslungsreiches Leben geführt, doch dass eine Frau ihn ansah, als sei er ein fleischgewordener Albtraum, das hatte er noch nie erlebt. Am liebsten hätte er sie geschüttelt, statt sie zu trösten. Trotzdem bemühte er sich um einen beruhigenden Ton, als er sich zu ihr beugte. „Ihr Vater bat mich, Ihnen zu sagen …“ Er stockte und schloss die Augen. Wie hieß dieser verdammte Hund noch gleich? Er öffnete die Augen, als es ihm wieder einfiel. „Olive hat fünf Welpen bekommen.“

Zum Glück war Kamal auf die Idee gekommen, Hannah etwas zu präsentieren, von dem kein Fremder wissen konnte, was ihr bewies, dass er zu den Guten gehörte.

Hannah erstarrte, dann sah sie ihn fragend an.

„Ja, ich bin die Kavallerie“, sagte er und registrierte, wie sie zitternd aufseufzte und die Augen schloss. „Also tun Sie einfach, was ich sage, und bedecken Sie sich.“ Sein Blick ging zu ihren honigblonden zerzausten Locken.

„Hat mein Vater Sie geschickt?“ Hannah lächelte erschöpft. Ihr Vater hatte es also geschafft. Sie atmete aus und dankte ihm im Stillen, dann nahm sie das Stück Stoff. „Und wer sind Sie?“

In Gedanken ging sie die verschiedensten Möglichkeiten durch. War der Fremde ein Schauspieler? Eine Art Söldner? Oder ein korrupter Beamter? Ein Mann, der für Geld oder einen Adrenalinkick alles tun würde?

„Ich bin Ihr Ticket nach draußen.“

Hannah nickte. Wichtig war jetzt nur, dass er ihr die Freiheit versprach.

Plötzlich verspürte sie einen Anflug von Optimismus, den sie sich während der Zeit ihrer Inhaftierung verboten hatte. „Ist Dad …“

„Vergessen Sie Ihren Vater, und konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche. Sie dürfen sich auf keinen Fall ablenken lassen.“

Sein entschiedener Ton half Hannah, zu ihrer Selbstbeherrschung zurückzufinden. Er war sicher nicht gewillt, ihr seine breite Schulter anzubieten, damit sie sich dort ausweinen konnte. Und sie brauchte sie auch nicht. Wenn sie nach zwei gescheiterten Verlobungen immer noch nicht gelernt haben sollte, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen konnte, dann verdiente sie es nicht anders.

„Ja … in Ordnung.“ Sie musterte den schimmernden blauen Stoff und atmete tief durch. „Und was soll ich nun machen?“

Gegen seinen Willen verspürte Kamal so etwas wie Bewunderung. „Ich will, dass Sie den Mund halten und meinen Anweisungen folgen.“

Er beugte sich vor und nahm ihr den Stoff aus den Händen. Wenig später hatte er sie darin eingehüllt, sodass ihr Kopf und der Großteil ihres schäbigen Kleides bedeckt waren.

Dann trat er zurück, um sie anzusehen, nickte schließlich und legte den Rest der Stoffbahn über ihre Schulter. Einen Augenblick ließ er seine Hand auf ihrer Schulter liegen, und seine Berührung wirkte beruhigender als sein strenger Blick.

„Schaffen Sie das?“

„Ja“, antwortete sie und hoffte, dass es stimmte.

„Schön. Sie werden jetzt dieses Gebäude verlassen, und zwar mit hoch erhobenem Kopf. Seien Sie einfach … Sie selbst.“

Hannah sah in seine dunklen Augen. „Und die Wachen werden uns einfach gehen lassen?“ Seine Zuversicht grenzte an Verrücktheit.

„Ja.“

„Ich weiß zwar nicht, wie Sie es geschafft haben, dass man Sie hier hereingelassen hat, aber …“

„Hätte man mir den Zutritt verweigert, wäre das einer unerhörten Beleidigung gleichgekommen.“ Jeden anderen Ausländer hätte man in Quagani inhaftieren und sogar mit der Todesstrafe belegen können, aber nicht die zukünftige Braut des Thronerben von Surana.

Hätte Hannah Latimer nur einen anderen Zeitpunkt für ihren Ausflug über die Grenze gewählt, hätte allein der Einfluss meines Onkels genügt, um sie wieder freizubekommen, dachte Kamal bedauernd. Stattdessen war Hannah einer bewaffneten Grenzpatrouille in die Arme gelaufen, gerade als die herrschende Familie von Quagani politisch Stärke zeigen musste. Rivalisierende Gruppierungen hatten sie bezichtigt, das Land gegen fremde Übergriffe nicht ausreichend zu schützen – und darauf hatte die königliche Familie mit drakonischen Maßnahmen reagiert. Keine Milde, keine Sonderbehandlungen mehr, für niemanden.

Darum hatte sein Onkel Kamal gefragt, ob er gewillt sei, Hannah Latimer zu heiraten. Denn er sei Charles Latimer noch etwas schuldig.

„Sie ist nicht die ideale Frau“, räumte der König ein, „und auch nicht die Person, die ich mir für dich gewünscht hätte. Aber ich bin sicher, dass sie mit ein bisschen Anleitung … Soweit ich mich erinnere, war sie ein reizendes Kind. Ihrer Mutter, der armen Emily, sehr ähnlich.“ Der König seufzte.

„Sie ist jetzt erwachsen.“

„Es ist deine Entscheidung, Kamal.“

Es war das erste Mal, dass sein Onkel ihn um etwas gebeten hatte. Er war nicht nur Kamals Onkel und König, sondern auch der Mann, der nach dem Tod seines Vaters dessen Rolle übernommen und Kamal wie einen eigenen Sohn behandelt hatte. Deshalb gab es für Kamal nur eine Antwort auf diese Bitte.

Hannahs Kopfschütteln holte ihn in die Gegenwart zurück.

„Ich verstehe kein Wort von dem, was Sie sagen“, beschwerte sie sich.

„Das werden Sie schon noch.“ Obwohl er lächelte, lag ein drohender Unterton in seiner Stimme. „Niemand wird Sie etwas fragen, aber sollte es doch der Fall sein, dann schweigen Sie. Von mir aus brechen Sie in Tränen aus oder irgendetwas dergleichen. Oder stellen Sie sich vor, Sie würden vor einem Schwachkopf am Altar davonlaufen.“

Schockiert sah Hannah ihn an.

„Ich glaube, darin haben Sie Erfahrung“, setzte Kamal hinterher, um sich dann in autoritärem Ton an die Gefängniswärter zu wenden.

Auch wenn Hannah nicht verstand, was Kamal sagte, zeigten seine Befehle Wirkung. Die Wachmänner standen mit gesenkten Köpfen links und rechts neben der offenen Tür. Der Fremde, der bis eben noch reine Arroganz verkörpert hatte, verströmte jetzt stolze Autorität, als er wie selbstverständlich den Gang hinuntermarschierte und schließlich langsamer wurde, damit sie mit ihm Schritt halten konnte.

Was, zum Teufel, hatte das zu bedeuten?

Sie hatte erwartet, durch einen Hintereingang hinausgeschmuggelt zu werden. Stattdessen kam sie sich vor, als hätte man ihnen einen roten Teppich ausgebreitet. Niemand sah sie oder ihren Begleiter direkt an. Das Schweigen war beinahe mit Händen zu greifen.

Als sie schließlich nach draußen traten, schlug ihnen kochende Hitze entgegen. Da man sie im Dunkeln hergebracht hatte, erkannte Hannah erst jetzt, dass sie sich auf einer Militärbasis befand. Schon nach wenigen Schritten war sie schweißgebadet, aber nicht wegen der Hitze, sondern weil sie Angst hatte, entdeckt und wieder eingesperrt zu werden.

Ein Wachhund begann zu bellen, als sie weitergingen. Ob Hunde Angst riechen konnten? Während der Hundeführer versuchte, das Tier unter Kontrolle zu bringen, schnippte der Fremde neben ihr mit den Fingern und sah den Hund an, der sich sofort auf den Bauch legte und winselte.

Als hätte sich etwas von seiner Stärke auf sie übertragen, fühlte Hannah sich plötzlich zuversichtlicher – bis sie einen gefährlich aussehenden Mann entdeckte, der auf sie zukam und genauso gekleidet war wie der Mann, mit dem sie Schritt zu halten versuchte.

Ihr Überlebensinstinkt schrie ihr zu davonzulaufen, aber die Hand, die nun ihre umfasste, hielt sie davon ab. Ihr Begleiter war stehengeblieben, und während Hannah unter all dem Stoff schwitzte, fühlte seine Hand um ihre sich kühl und trocken an.

„Das ist Rafiq“, sagte er und deutete auf den Neuankömmling.

Also ein Freund, kein Feind.

Hannah brachte ein mühsames Lächeln zustande, als der Mann ihr respektvoll zunickte und dann ruhig und knapp die Fragen ihres Begleiters beantwortete.

Hannah, die kein Wort verstanden hatte, platzte heraus: „Ist alles in Ordnung?“

„Sie meinen, ob Sie der Justiz entfliehen können?“

„Ich bin unschuldig.“

Ihr Protest wurde mit einem sardonischen Lächeln quittiert. „Wir alle haben Schuld auf uns geladen.“ Er deutete hinter sich. „Unser Taxi wartet.“

Hannah drehte sich um und entdeckte einen Jet mit einem Familienwappen, das ihr vage bekannt vorkam.

2. KAPITEL

Hannahs Herz raste, als sie den Privatjet sah. Freudige Erregung erfasste sie bei dem Gedanken, von diesem schrecklichen Ort entfliehen und ihren Vater sehen zu können.

„Ganz ruhig bleiben.“

Hannah wandte dem Fremden den Kopf zu, sodass das Seidentuch verrutschte und ihr Gesicht enthüllte. Wie konnte dieser Mann nur so gelassen sein? Als ob nicht Blut, sondern eiskaltes Wasser durch seine Adern floss. Nein, das stimmt nicht, dachte sie und erinnerte sich an seine warme Hand an ihrem Ellbogen, als er sie hinausgeführt hatte.

Als Hannah das Tuch wieder über ihr Gesicht zog, entdeckte sie eine Gestalt, die über das Rollfeld auf sie zukam. Entsetzt weiteten sich ihre Augen, und sie wurde blass.

„Nicht rennen.“

Angst drehte ihr den Magen um. „Er …“

Kamal bemerkte, wie sie sich mit der Zunge über die trockenen Lippen fuhr. Ihr Blick ging hektisch hin und her, wie bei einem Tier, das nach einer Fluchtmöglichkeit sucht. Dann sah sie wieder zu dem Colonel hin, der sich ihnen, einen Stock in der Hand, mit selbstgefälliger Miene näherte, begleitet von einem bewaffneten Beamten.

Für einen kurzen Moment verspürte Kamal einen fast instinktiven Zorn. Er erinnerte sich an einen Vorfall aus seiner Kinderzeit. Nachdem er dem verhassten Sicherheitspersonal entkommen war, traf er in einer Seitenstraße auf drei ältere Jungen. Zunächst wusste er nicht, was vor ihnen am Boden lag, doch er sah, wie die Jungen auf das Etwas eintraten. Als alle drei lachten, war dieselbe blinde Wut in ihm hochgekocht.

Als er später zum Palast zurückkehrte, sah er schlimmer aus als der streunende Hund, den er nur gerettet hatte, weil er den Rabauken den Ring anbot, den er trug.

Sein Vater war eher amüsiert als wütend gewesen, als er entdeckte, dass der Ring verschwunden war.

„Du hast also ein unbezahlbares Erbstück gegen diesen flohübersäten Köter eingetauscht?“ Danach hatte er Kamal klargemacht, wie wichtig angemessenes Benehmen war.

Kamal hatte aus dieser Situation gelernt. Nicht nur in Bezug auf Benimm, sondern auch auf Verhandlungsgeschick. Wenn es eng wurde, konnte ein klarer Kopf das Ruder oft besser herumreißen als körperliche Gewalt. Deshalb hielt er sich zurück, als er den Mann auf sich zukommen sah.

„Hat er Sie verhört?“, fragte er Hannah.

Hannah zitterte, als sie sich daran erinnerte. „Er hat mich bewacht.“ Und er hatte dabei immer mit seinem Stock auf den Boden getippt, eine Erinnerung, die ihr noch jetzt einen Schauer über den Rücken jagte. Sein Schweigen und sein Blick waren bedrohlicher gewesen als die Männer, die ihr all die bohrenden Fragen gestellt hatten.

Kamals Kiefermuskeln zuckten. „Kopf hoch. Er kann Ihnen nichts anhaben.“

„Eure Hoheit, ich bin gekommen, um mich aufrichtig für dieses Missverständnis zu entschuldigen. Ich hoffe, dass Miss Latimer unser wunderschönes Land nicht in schlechter Erinnerung behält.“ Der Mann mit dem Stock lächelte breit.

Kamal streckte die Finger durch, die er unwillkürlich zu Fäusten geballt hatte, doch ihm blieb eine Antwort erspart, da neben dem wartenden Privatjet plötzlich ein Tumult ausbrach.

Als ein Schrei ertönte, hob der Bewaffnete an der Seite des Colonels seine Pistole. Kamal reagierte schneller und riss den Arm des Mannes herunter, sodass die Pistole auf den Boden krachte. Ein Schuss löste sich, und die Kugel landete in einer Mauer.

„Ganz ruhig, es ist nur …“

Kamal stockte, als der Falke, der über ihnen gekreist war, mit ausgestreckten Krallen auf den Kopf des Colonels herunterschoss. Dessen Mütze flog vom Kopf, ehe der Falke ein zweites Mal herabstieß. Diesmal hatte er etwas erbeutet, das wie ein totes Tier aussah.

Der Colonel ging in die Knie, die Hände schützend über den kahlen Kopf gelegt.

Kamal pfiff durch die Zähne und streckte den Arm aus. Eine Sekunde später landete der Falke auf seinem Handgelenk.

„Jetzt sollte Ihnen nichts mehr passieren, Colonel.“ Kamal nahm dem Vogel das Toupet aus den Klauen und reichte es mit spitzen Fingern dem Mann, der zusammengekrümmt vor ihm hockte.

Mit hochrotem Kopf stand der ältere Mann auf. Seine Würde hatte mehr Schaden genommen als sein Gesicht, das nur ein paar Kratzer abbekommen hatte.

Er nahm das Haarteil und stülpte es sich über den Kopf, was einer seiner Begleiter mit einem leisen Lachen quittierte. Als der Colonel herumwirbelte, starrte der Mann reglos geradeaus.

„Dieses Vieh sollte getötet werden. Es hat mir fast das Augenlicht geraubt.“

Kamal strich dem Falken sanft über den Kopf. „Ich muss mich entschuldigen, Colonel. Man kann sie bis zu einem gewissen Grad zähmen, aber sie ist und bleibt im Herzen ein Raubvogel. Doch das ist ja auch das Schöne an solch wilden Kreaturen, nicht wahr?“

Zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß der ältere Mann ein Grunzen aus und verbeugte sich.

Kamal lächelte, dann wandte er sich an Rafiq und gab ihm leise einen Befehl. Der große Mann verbeugte sich, murmelte „Eure Hoheit“ und umfasste Hannahs Ellbogen.

Hannah zuckte zusammen.

„Gehen Sie mit Rafiq“, sagte Kamal. „Ich werde bald wieder bei Ihnen sein.“ Ohne auf ihre Antwort zu warten, wandte er sich an den gedemütigten Colonel. „Sie müssen Emerald verzeihen. Ihr Beschützerinstinkt ist sehr ausgeprägt, und sie reagiert sofort, wenn sie Gefahr wittert. Aber wie Sie sehen …“, er fuhr mit dem Finger am Hals des Falken entlang, „… kann sie auch sanftmütig sein.“

Der ältere Mann schaffte es nur mit Mühe, ein Lächeln aufzusetzen. „Sie haben ein ungewöhnliches Haustier, Prinz Kamal.“

Kamals Lächeln war genauso falsch wie das des Colonels. „Sie ist kein Haustier, Colonel.“

Nachdem sich die Tür des Jets hinter Kamal geschlossen hatte, hob sich der Falke von seiner Hand und flog auf die Sitzstange.

Als Hannah die Glöckchen an seinen Krallen klingen hörte, wandte sie den Kopf zu Kamal um. „Wo ist mein Vater? Ich will sofort …“

Mit kalter Stimme unterbrach er sie, eisiger Spott im Blick. „Sie sollten wissen, dass ich für Hysterie nichts übrig habe.“

„Und Sie sollten wissen, dass mir das verdammt egal ist.“

Kamal war angenehm überrascht über ihren Wutausbruch. Zumindest war dieses Mädchen hart im Nehmen. Diese Fähigkeit würde sie noch brauchen.

„Vermutlich war es eine trügerische Hoffnung, dass Sie aus der zurückliegenden Erfahrung etwas gelernt haben.“ Spöttisch hob er eine Braue. „Zum Beispiel Demut.“

Das war doch der Gipfel! Dieser Mann wollte sie tatsächliche Demut lehren, wo er eben ein Paradebeispiel an Arroganz abgeliefert hatte?

„Sie haben mich da rausgeholt, und dafür bedanke ich mich“, fauchte sie. „Aber ich werde mich verdammt noch mal nicht von einem angeheuerten Helfer belehren lassen!“

Kamal zog seine Kopfbedeckung herunter, sodass sein kurzes rabenschwarzes Haar zu sehen war, das seine klassisch-strengen Züge noch betonte. „Ich würde vorschlagen, dass wir diese Diskussion verschieben, bis wir in der Luft sind.“

Es war eigentlich kein Vorschlag, sondern ein Befehl, zumal er ihr bereits den Rücken zugewandt hatte. Aber sie hatte nicht zwei Tage in einer Zelle verbracht, um sich jetzt abspeisen zu lassen.

„Sie können mich nicht einfach so stehen lassen!“

Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und sah über die Schulter. Doch statt ihr eine Antwort zu geben, sprach er leise mit seinem Handlanger, der sich dann respektvoll verbeugte und davoneilte. Erst dann richtete ihr Retter seine Aufmerksamkeit wieder ihr zu. „Man nennt so etwas Prioritäten setzen.“

Hannahs Magen krampfte sich zusammen. Dass sie zitterte, war vor allem ihrer Angst geschuldet, aber sie spürte auch, dass ihr Mund trocken wurde. Bis jetzt hatte ihre Furcht sie vor der primitiven Sinnlichkeit geschützt, die dieser Mann ausstrahlte. Als er nun kurz einen Finger unter ihr Kinn legte und sie ansah, war sie sich seiner Männlichkeit umso stärker bewusst.

„Setzen Sie sich und schnallen Sie sich an!“ Kamal musterte Hannah prüfend. War er nicht doch zu hart mit ihr umgesprungen? Nein, denn sie gab sich doch selbst hart, obwohl sie … Sein Blick wanderte über ihr fein geschnittenes Gesicht. Offenbar gehörte sie zu den Frauen, die selbst nach zwei Tagen in einer winzigen Gefängniszelle noch schön aussahen.

Überraschenderweise gehorchte sie ihm ohne Widerworte.

Als der Jet abhob, stieß Hannah einen tiefen Seufzer aus, hielt die Augen aber weiter geschlossen, selbst als sie spürte, wie eine Hand über ihre Schulter und ihre Taille strich, bevor ihr Sicherheitsgurt einschnappte.

Dass ihr Vater diesem Fremden, der sich immer noch nicht vorgestellt hatte, eine Nachricht für sie mitgegeben hatte, war das Einzige, was sie von einer Panik abhielt.

Seine Stimme unterbrach ihre Gedanken. „Wenn Sie etwas möchten, fragen Sie Rafiq. Ich muss arbeiten.“

Als sie die Augen öffnete, sah sie, wie ihr Retter seinen Kaftan abstreifte. Darunter trug er ein hellbraunes T-Shirt und schwarze Jeans. In der lässigen Kleidung hätte er eigentlich weniger beeindruckend wirken müssen, doch so war es nicht. Außerdem sah er sehr sexy aus.

Er musterte sie mit diesem dunklen Blick, den sie nun schon kannte.

Sie wollte so vieles wissen, doch sie stellte die Frage, die ihr in diesem Moment die wichtigste schien. „Wer sind Sie?“

Seine Mundwinkel hoben sich, doch seine Miene blieb sachlich, als er erwiderte: „Ihr zukünftiger Ehemann.“

Und damit drehte er sich um, ging durch eine Tür und schloss sie hinter sich, während das Dröhnen des startenden Jets Hannahs Protestrufe übertönte.

3. KAPITEL

„Kann ich Ihnen irgendetwas bringen?“

Die Frage riss Hannah aus ihrer Benommenheit. Wütend sah sie den riesigen Mann vor sich an, ehe sie aufsprang, sich an ihm vorbeidrängte und in die Kabine stürmte, in der ihr großer, unhöflicher Retter sich auf einem Bett ausgestreckt hatte – die Füße lässig gekreuzt und den Unterarm über die Augen gelegt.

„Ich dachte, Sie arbeiten“, rief Hannah anklagend.

Er schaute nicht einmal auf. „Ich ruhe mich aus, um neue Kräfte zu sammeln. Ich will doch gut aussehen auf den Hochzeitsfotos.“

„Könnten Sie bitte mal einen Moment ernst sein?“

Laut seufzend öffnete er die Augen, setzte sich auf und stellte die Füße auf den Boden. „Ich bin ganz Ohr. Schießen Sie los.“

„Ich befinde mich mit einem völlig Fremden in einem Flugzeug, das Gott weiß wohin fliegt. Vielleicht klären Sie mich endlich einmal auf, wer Sie sind!“

Schweigend sah er sie an. Sie klang so selbstbewusst, beherrscht und sexy. Was müsste wohl geschehen, dass sie die Kontrolle verlor? Ob er sie so weit bringen könnte?

„Hat mein Vater Sie wirklich geschickt?“, fragte sie ungeduldig.

Der Mann grinste unverschämt. „Ich soll Sie ganz lieb grüßen.“

Hannah ballte die Fäuste. „Dad weiß Ihren Sinn für Humor sicher zu schätzen, aber ich bin ein bisschen …“

„Verklemmt? Humorlos?“

Hannahs blaue Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Eigentlich sollte sie darüberstehen, denn die Leute hatten schon Schlimmeres über sie gesagt, und trotzdem hatte sie sich ihre Würde nicht nehmen lassen. Denn wenn die anderen merkten, dass sie sie mit ihren Worten trafen, dann besaßen sie die Macht, und sie selbst hatte verloren.

„Ich ziehe es vor, Bescheid zu wissen, mit wem ich in ein Flugzeug steige. Wenn Sie mich also aufklären könnten … Sagen Sie mir, wohin wir fliegen, dann lasse ich Sie in Ruhe schlafen.“

„Surana.“

Als der Fremde den Wüstenstaat mit dem reichen Ölvorkommen erwähnte, blitzte eine Erinnerung in Hannah auf. Sie hatte das Wappen auf dem Privatjet gesehen, und sie wusste, dass ihr Vater den König von Surana als seinen persönlichen Freund betrachtete. Die beiden Männer hatten sich vor vierzig Jahren in einer Privatschule kennengelernt. Die Freundschaft hatte all die Jahre überdauert. Angeblich hatte der König sie einst auf seinen Knien geschaukelt, doch Hannah konnte sich nicht daran erinnern.

„Und wird Dad in Surana auf uns warten?“

„Nein, wir treffen ihn an der Kapelle.“

Hannah kämpfte um Haltung. „Witzig.“ Sie wollte lachen, doch es gelang ihr nicht, als sie die rücksichtslos-entschlossene und doch so attraktive Miene ihres Retters bemerkte. Wenigstens hatte dieser Mann mich freibekommen, erinnerte sie sich selbst. „Das ist nicht lustig.“

Lässig zuckte er die Schultern. „Ich wünschte, es wäre ein Scherz. Denn ich habe genauso wenig Lust, Sie zu heiraten, wie umgekehrt. Aber bevor Sie nach Daddy schreien, lassen Sie mich die Alternativen erklären: Entweder Sie heiraten mich, oder Sie verbringen die nächsten zwanzig Jahre in einem Gefängnis in Quagani. Oder noch schlimmer …“

„Was sollte noch schlimmer sein?“

„Wie wär’s mit der Todesstrafe?“

„Das stand nie zur Debatte.“ Ihr Magen verkrampfte sich vor Entsetzen. „Oder doch?“

Spöttisch hob er eine Braue.

„Wenn ich also das Geständnis unterschrieben hätte …“ Ihre Stimme verklang.

„Das haben Sie ja nicht.“ Gegen jede Vernunft verspürte Kamal ein schlechtes Gewissen. Er benannte doch nur die Fakten, verantwortlich war er dafür nicht. Trotzdem gefiel ihm nicht, dass ihr Blick sich vor Entsetzen verschattete. „Also denken Sie nicht darüber nach.“

Herausfordernd hob sie das Kinn. „Ich hätte überhaupt nicht daran gedacht, wenn Sie nicht davon gesprochen hätten.“

„Vielleicht ist es ja an der Zeit, dass Sie sich unerfreulichen Tatsachen stellen und akzeptieren, dass man nicht immer davonlaufen kann.“

Wenn sie erst gelandet waren, hatte Hannah allerdings genau das vor. Sie würde vor diesem Mann davonlaufen, so schnell wie möglich. „Natürlich bin ich dankbar, dass ich in Freiheit bin, aber ich habe nichts falsch gemacht.“

„Sie haben einen souveränen Staat illegal betreten und Drogen dabei gehabt.“

Wütend biss Hannah die Zähne aufeinander. Seine Selbstgerechtigkeit brachte sie zur Weißglut. „Ich habe mich verirrt und hatte Medikamente bei mir. Impfstoff und Antibiotika.“

„Morphium?“

Hannah fühlte sich in die Defensive gedrängt. Seine harte, rücksichtslose Art war viel effektiver als die Verhörmethoden der Beamten im Gefängnis. „Ja.“

„Und eine Kamera.“

„Nein.“

„Hat Ihr Handy keine Kamera? Und hat man Ihnen nicht gesagt, dass Sie sich nicht vom Fleck rühren sollen, wenn der Wagen stehen bleibt?“

Hannah fühlte Tränen unter ihren Lidern brennen. „Es war ein Notfall.“ Die Hilfsorganisation hatte ihr nur deshalb die Aufgabe übertragen, weil kein anderer zur Verfügung stand.

„Und Sie waren zur Stelle und sind eingesprungen.“ Ihr Retter betrachtete sie fast mitleidig. „Aber jetzt müssen Sie die Konsequenzen für diese Entscheidung tragen.“

Verständnislos schüttelte sie den Kopf. „Also muss ich Sie heiraten, weil Sie mich gerettet haben? Natürlich, das hätte mir klar sein sollen.“

Er baute sich vor ihr auf, und Verachtung funkelte in seinem Blick.

Sie spürte seine Wut und der Vogel auf seiner Sitzstange vermutlich auch, denn er begann zu kreischen, sodass Hannah schützend die Hände über den Kopf riss.

„Sie wird Ihnen nichts tun“, erklärte Kamal ruhig.

Hannah ließ die Hände sinken und sah kurz zu der faszinierenden wilden Kreatur hinüber, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Mann vor ihr zuwandte. „Ich habe mir auch keine Sorgen wegen des Vogels gemacht. Aber ich würde Sie nicht einmal heiraten, wenn Sie nicht verrückt wären.“

Vielleicht liegt sie nicht ganz falsch mit ihrer Annahme, dachte Kamal. Denn es konnte nur verrückt sein, ihre vollen Lippen und diese unglaublich langen Beine anzustarren. Und froh darüber zu sein, dass sie nicht vor ihm zurückwich.

„Sie wollen Fakten? Na schön. Wenn wir in Surana gelandet sind …“ Kamal sah auf seine Uhr.

„Dann wird auf Eure Königliche Hoheit vermutlich ein roter Teppich und ein Empfangskomitee warten“, unterbrach ihn Hannah und deutete eine Verbeugung an, während sie ihn unverwandt ansah.

„Unter den gegebenen Umständen wird es keinen offiziellen Empfang geben. Man wird sich bedeckt halten. Wir werden auf direktem Weg zum Palast fahren, wo mein Onkel, der König …“

Ihre Augen weiteten sich. „König? Sie wollen mir also allen Ernstes weismachen, dass Sie wirklich ein Prinz sind?“

Eindringlich sah er sie an. „Was glauben Sie denn, wer ich bin?“

„Irgendjemand, den mein Vater bezahlt hat, um mich aus dem Gefängnis zu holen. Ich dachte, Sie tun nur so, um …“

„Ich bin mir noch nicht sicher, ob sie schlicht dumm oder unglaublich naiv sind.“ Kamal schüttelte den Kopf. „Sie glauben also wirklich, ich hätte einfach in dieses Gefängnis spazieren können, weil ich so getan habe, als sei ich von königlichem Geblüt, und schon hätten sich alle Türen geöffnet, damit sie gehen können?“

Missbilligend starrte Hannah ihn an, als er den Kopf zurückwarf und laut lachte.

„Was soll ich denn sonst glauben?“

„Dass Sie von Glück sagen können, einen Vater zu haben, der sich so um sie kümmert – und der meinen Onkel kennt. Es gibt nur einen Grund, warum sie nicht mit Konsequenzen rechnen müssen, nämlich weil Sie meine Verlobte sind.“

„Aber ich bin raus aus der Sache! Sie können allen sagen, dass die Hochzeit abgeblasen ist.“

„Mir ist bewusst, dass es in Ihrer Welt so abläuft.“ Eine Welt, in der es kein Ehrgefühl gab.

„Was soll das heißen?“

„Dass Sie Ihre Verpflichtungen in den Wind schießen, wenn es Ihnen gerade passt.“

Dass er so unverblümt auf ihre Verlobungen anspielte, ließ Hannah erröten.

„Aber so läuft das hier nicht“, fuhr Kamal fort. „Mein Onkel fühlt sich Ihrem Vater verpflichtet, und nun hat er dem Herrscher von Quagani sein Wort gegeben.“

„Aber ich habe mein Wort nicht gegeben.“

„Ihr Wort!“ Verächtlich lachte Kamal auf.

Tränen brannten in Hannahs Augen, und wütend blinzelte sie sie fort. „Ich werde mich von Ihnen nicht heruntermachen lassen!“

„Ihr Wort …“, Kamal schnippte mit den Fingern, „… bedeutet gar nichts. Das meines Onkels hingegen schon. Er ist ein integrer, ehrenwerter Mann.“

„Tut mir leid, wenn ich Ihren Onkel in Verlegenheit bringe …“

„Aber anscheinend tut es Ihnen nicht leid genug, um die Konsequenzen für Ihr Handeln zu tragen.“

Konsequenzen, Konsequenzen. Hannah hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. „Das ist doch albern. Was soll denn Schreckliches passieren, wenn wir nicht heiraten?“

„Ich bin froh, dass Sie das fragen.“

Er klappte den Laptop auf, der auf dem Tischchen stand, und deutete mit dem Finger auf den Bildschirm. „Wir sind zwar ein kleines Land, aber politisch relativ stabil, und wir verfügen über ein reiches Ölvorkommen. Die neuen Ölquellen, die wir im letzten Jahr entdeckt haben, werden uns noch reicher machen.“

Bei seinem belehrenden Ton schürzte Hannah die Lippen. „Ich lese auch ab und zu die Zeitung.“

„Geben Sie nicht mit Ihrem IQ an“, meinte er, „denn Dummheit ist die einzig mögliche Entschuldigung für Ihre kleine Eskapade.“

Sie blitzte ihn wütend an. „Ich weiß, dieses Land ist ein Paradebeispiel für politische Stabilität und religiöse Toleranz. Allerdings wusste ich nicht, dass die königliche Familie eine lange Reihe von Schwachsinnigen zu verzeichnen hat. Aber das passiert nun mal, wenn man innerhalb der Familie heiratet.“

„Dann werden Sie ja frisches Blut hereinbringen, nicht wahr? Die Hochzeit wird stattfinden. Und je eher Sie das akzeptieren, desto besser.“

Hannah biss sich auf die Lippe. Selbst die Beamten im Gefängnis hatten sie nicht mit solcher Verachtung angesehen, und auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte, tat es ihr weh.

„Soll ich Ihnen auch sagen, warum?“ Er wartete einen Moment, doch als sie schwieg, fuhr er fort: „Wir haben ein Problem. Wir sind ein Binnenstaat, aber das Öl muss verschifft werden. Was bedeutet, dass wir von anderen Staaten abhängig sind. Die neue Pipeline wird im Moment in Quagani gebaut und verläuft durch drei Länder. Wussten Sie, dass Ihr Vater an dem Bau der Pipeline beteiligt ist?“

Das war Hannah neu, aber sie wäre eher gestorben, als dies zuzugeben. „Dann überrascht es mich, dass man sie nicht bereits mit einer Prinzessin aus Quagani verheiratet hat.“

„Das war geplant, aber dann hat sie meinen Cousin getroffen.“ Kamal hatte sich langsam in Amira verliebt, und er glaubte, dass es bei ihr genauso gewesen war. Hätte er sie und seinen Cousin nicht mit eigenen Augen zusammen gesehen, hätte er über die Vorstellung von Liebe auf den ersten Blick gelacht. „Für ihre Familie war es in Ordnung, dass sie ihm … den Vorzug gab, zumal er der Thronfolger war und ich, wie man so schön sagt, nur der Ersatz.“

„Wo ist dann das Problem? Wenn die beiden Familien nun zusammengehören, ist doch alles in Ordnung.“

„Er starb … sie starb … und ihr Baby auch.“ Das Einzige, was die beiden Herrscher nun verband, waren Trauer und das Bedürfnis, jemandem die Schuld geben zu können.

Hannah räusperte sich unbehaglich. Trotzdem klang ihre Stimme heiser. „Das tut mir leid. Aber mein Vater würde mich um kein Geld der Welt verheiraten.“

Kamal starrte die Frau an, die für ihn nichts als ein verwöhntes Gör war. „Haben Sie noch nie daran gedacht, dass Ihr Vater, der ja auch nur ein Mensch ist, vielleicht ganz froh wäre, die Verantwortung für Sie abzugeben? Und ich glaube, dass ihm das kaum jemand übelnehmen würde.“

„Mein Vater sieht mich nicht als seinen Besitz an.“

Vielleicht aber als schwere Last, die auf seinen Schultern lag. „Bedeutet Ihnen Ihr Vater genauso viel wie umgekehrt?“

„Was soll das heißen?“

„Wenn Quagani den Zugang zur Pipeline schließt, ist nicht nur die Finanzierung für das neue Schulprogramm in unserem Land gefährdet. Auch Ihr Vater besitzt Anteile an der neuen Raffinerie.“

Besorgt zog Hannah die Brauen hoch, als er das Schulprogramm erwähnte. Durch ihren Job wusste sie, wie viel gute Bildung ausmachte. „Mein Vater ist an vielen Unternehmungen beteiligt.“

„Mein Onkel lässt Ihren Vater bei diesem Deal mitmachen, weil er ihm einen Gefallen tun will. Er kennt dessen Situation.“

Hannah verspannte sich kurz. „Welche Situation? Wollen Sie damit sagen, dass mein Vater schon wieder sein ganzes Geld verloren hat?“

Über die Jahre hatte sein rücksichtloses und impulsives Geschäftsgebaren Hannah zur Verzweiflung gebracht, aber das war Vergangenheit. Nach dem Herzinfarkt hatte ihr Vater die Warnungen der Ärzte in Bezug auf Stress ernst genommen. Und er hatte ihr hoch und heilig versprochen, auf riskante Geschäfte zu verzichten.

„Nicht das ganze Geld.“

Als Hannah den unversöhnlichen Blick des großen dunklen Mannes spürte, wurde es ihr plötzlich zu eng in der Kabine. Auch wenn sie den Kopf schüttelte, weil sie sich weigerte, ihm zu glauben, wusste sie doch tief im Inneren, dass er die Wahrheit sagte.

Die Arme vor der Brust verschränkt, sah Kamal sie an und merkte, dass sie langsam begriff. Dass sie nun die Tochter eines armen Mannes war und in Zukunft entweder in sehr bescheidenen Verhältnissen leben oder sich selbst durchlagen musste, ohne Daddys Geld. Das schien sie mehr zu berühren als alles andere.

„Ihr Vater hat sich bei einer Reihe von Projekten verspekuliert, und wenn das Geschäft mit der Pipeline scheitert, steht er vor dem Bankrott.“

Hannahs Herz begann zu rasen. Stress … was könnte stressiger sein als ein Bankrott? Vielleicht die Erniedrigung, ertragen zu müssen, wenn man einer ganzen Kathedrale voller Menschen erklären musste, dass die Hochzeit der Tochter nicht stattfinden würde.

Sie hatte akzeptiert, dass sie mitverantwortlich war für seinen ersten Herzinfarkt. Aber ihr Vater war auch nicht mehr so jung, wie er es gerne gewesen wäre. Und wenn ein Mann mit seiner Krankheitsgeschichte und einem Herzproblem wieder von vorne beginnen musste, würde das seiner angeschlagenen Gesundheit sicher nicht gut tun.

Doch sie ließ sich von ihrer Sorge nichts anmerken und sah ihren zukünftigen Ehemann mit kritischem Blick an. Jetzt wurde ihr bewusst, dass sie trotz zweier geplatzter Verlobungen ihre kindlich romantischen Träume von der großen Liebe noch nicht aufgegeben hatte.

„Also haben Sie der Ehe mit mir zugestimmt“, sagte sie schließlich und versuchte, ruhig zu klingen. „Aber warum? Weshalb wollen Sie jemanden heiraten, dessen Anblick sie nicht einmal ertragen? Wollen Sie wirklich eine völlig Fremde zur Frau nehmen, nur weil ihr Onkel Ihnen das gesagt hat?“

„Ich könnte jetzt darüber sprechen, dass man seine Pflicht tun und anderen einen Dienst erweisen muss“, schoss er zurück, „aber damit würde ich nur meine Zeit vertun. Weil sie nicht die geringste Ahnung davon haben. Ich hatte die Wahl und habe mich entschieden. Nun sind Sie an der Reihe.“

Sie sank auf das Bett, ließ den Kopf hängen und verkrampfte die Hände im Schoß. Schließlich sah sie wieder auf. Sie hatte einen Entschluss gefasst, war aber noch nicht bereit, ihre Entscheidung preiszugeben.

„Wie geht es dann weiter? Falls wir heiraten …“ Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und spürte plötzlich, wie erschöpft sie war.

„Sie wären dann eine echte Prinzessin und müssten nicht mehr nur so tun als ob.“

„Prinzess…“ Das wurde ja immer verrückter.

Dass sie so aufrichtig überrascht war, irritierte Kamal. „Messen Sie dem Ganzen nicht zu viel Bedeutung zu. In unserer Familie ist ein Titel nahezu verpflichtend. Aber er hat wenig zu bedeuten.“ So war es bei ihm gewesen. Bis sein Cousin tödlich verunglückt war und er selbst Kronprinz wurde.

Das war jetzt zwei Jahre her, und trotzdem gab es immer noch Verschwörungstheoretiker, die darauf bestanden, dass bei dem Flugzeugabsturz etwas vertuscht worden war. Sie glaubten nicht an einen technischen Fehler, sondern waren der Ansicht, dass der Thronerbe und seine Familie Opfer eines Terroranschlags geworden waren.

Manche gingen sogar noch weiter, sodass Kamal sich in seiner Trauer um Amira und den geliebten Cousin obendrein noch dem Vorwurf ausgesetzt sah, für die Tragödie verantwortlich zu sein, um selbst den Platz des Thronfolgers einnehmen zu können.

Dabei hatte er diesen Titel nie gewollt! Aber jetzt hatte er auch noch eine reizende Braut bekommen – was konnte sich ein Mann mehr wünschen?

„Offiziell wohne ich im Palast. Aber ich besitze noch ein Apartment in Paris, eine Wohnung außerhalb von London und eine Villa in Antibes.“ Ob Charlotte dort wohl noch auf ihn wartete? Wahrscheinlich nicht. „Wenn wir wollen, könnten wir uns das ganze Jahr aus dem Weg gehen.“

„Ich könnte also so weiterleben wie bisher, und nichts würde sich ändern?“

„Gefällt Ihnen Ihr Leben, das Sie geführt haben, so sehr?“

Auch wenn seine Stimme nüchtern klang, glaubte Hannah Verachtung herauszuhören. Sie versuchte, in seinem Blick zu lesen, doch seine dunklen Augen wirkten wie tiefe, unergründliche Seen, von denen sie sich seltsam angezogen fühlte.

Sie verdrängte die Vorstellung, in diese Seen einzutauchen, sich von dem kalten Wasser umarmen zu lassen. Abrupt senkte sie den Blick und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.

Als sie wieder aufsah, hatte sie ein kaltes Lächeln aufgesetzt. Dabei wusste sie, dass sie für diese Katastrophe selbst verantwortlich war. Denn sie hatte nicht gewartet, bis ein Fahrer zur Verfügung stand, wie man ihr geraten hatte, und sie war auch nicht beim Wagen geblieben, obwohl man ihr auch das eingedrillt hatte.

„Ich liebe meine Freiheit“, erklärte sie, doch Kamal war nicht entgangen, dass sie seine Frage nicht direkt beantwortet hatte.

„Dann haben wir wenigstens etwas gemeinsam.“

Was für ein absurdes Gespräch. „Könnte ich vielleicht etwas zu trinken haben?“ Hannah schloss die Augen.

Kamal merkte, wie erschöpft sie war. Und sie hatte etwas Verletzliches an sich … Sein Mund verzog sich. Vermutlich hatten die beiden Einfaltspinsel, die sie kurz vor der Hochzeit stehen gelassen hatte, das auch gedacht.

„Ich weiß nicht, ob Alkohol eine gute Idee wäre.“

Abrupt öffnete sie die Augen. „Ich hatte auch eher an Tee gedacht.“

„Den kann ich besorgen.“ Er gab Rafiq ein Zeichen, dann wandte er sich wieder an Hannah. „Wenn wir verheiratet sind, ist zumindest Schluss damit, dass Sie ständig jemandem das Herz brechen.“

„Ich habe niemandem …“ Den Rest des Satzes schluckte sie herunter. Kamal wusste offenbar über ihre Vergangenheit Bescheid. Doch sie hatte keine Lust, es ihm zu erklären. Nicht jetzt – niemals.

Sie sah den großen, imposanten Mann, der ihr Ehemann werden sollte, nachdenklich an und dachte über einen Ausweg nach, der sie aus diesem Albtraum befreien würde.

4. KAPITEL

„Ich bringe frischen Tee und …“ Rafiq kam näher und stolperte, als der Jet durch ein Luftloch flog.

„Ist schon in Ordnung“, entgegnete Kamal ungeduldig. „Wir müssen wegen Miss Latimer nicht so ein Aufheben machen.“ Er murmelte dem anderen Mann etwas zu, auf Arabisch, wie Hannah vermutete, dann verschwand Rafiq wieder.

„Rafiq kann sehr viel, aber seine kulinarischen Fähigkeiten sind eher begrenzt.“ Kamal hob den Deckel von der Platte mit den Sandwiches. „Ich hoffe, Sie mögen Huhn.“

„Ich bin nicht hungrig“, meinte Hannah dumpf.

„Ich habe Sie nicht gefragt, ob Sie Hunger haben, Hannah“, erwiderte Kamal gelangweilt und legte ein Sandwich auf den Teller, den er ihr zuschob.

Wütend sah sie ihn an. „Wie soll ich an Essen denken, wenn man mich auffordert, meine Freiheit zu opfern?“ Denn das war das Einzige, was ihr noch geblieben war, nachdem ihr Selbstwertgefühl von zwei Männern erschüttert worden war. Beide hatten sie betrogen und belogen. Zumindest ihre Freiheit war ihr geblieben.

„Sie werden essen, weil Sie einen langen Tag vor sich haben.“ Das Lächeln, das er ihr zuwarf, wirkte geringschätzig.

Hannah stöhnte leise auf, dann schüttelte sie den Kopf. „Dad kann das hier nicht gewollt haben.“

In diesem Moment sah Hannah so jung und verzweifelt aus, dass Kamal gegen sein Mitleid ankämpfen musste. „Es war eine gemeinsame Entscheidung, und wenn hier jemand das unschuldige Opfer ist, dann ja wohl ich.“

Hannah blieb der Mund offen stehen. Dass man diesen Mann als unschuldig oder als Opfer bezeichnete, war absolut unpassend.

„Aber ich werde mir nichts anmerken lassen“, fuhr Kamal fort. „Und ich verstehe ehrlich gesagt nicht, was Ihr Problem ist.“

„Mein Problem ist, dass ich Sie nicht liebe. Ich kenne Sie nicht einmal.“

„Ich bin Kamal Al Safar, und von jetzt an haben Sie alle Zeit der Welt, mich kennenzulernen.“

Er hatte wirklich auf alles eine Antwort. „Ich kann es kaum erwarten.“

„Kein Grund, ein Drama daraus zu machen. Wir sind nicht die Ersten, deren Ehe auf einer anderen Basis als Liebe aufgebaut ist.“

„Also haben Sie nichts dagegen, wenn Ihnen jemand vorschreibt, wen Sie heiraten sollen?“ Hannah war enttäuscht, als er lässig die Schultern zuckte.

„Hätte ich widersprochen, würden Sie immer noch in der Gefängniszelle schmoren.“

Sie wollte ihm schon eine passende Antwort geben, als sie wieder den Colonel vor sich sah, der mit seinem Stock auf den Boden klopfte. „Glauben Sie nicht, dass ich Ihnen dafür nicht dankbar bin.“

Er hob eine Braue. „Na, das ist ja immerhin etwas. Denn eine Ehe auf etwas so Vergänglichem wie Liebe aufzubauen, wäre genauso, als würde man ein Haus auf Sand bauen.“

Das Wort Liebe klang bei ihm, als würde es einen bitteren Nachgeschmack auf seiner Zunge hinterlassen. „Waren Sie denn schon einmal verliebt?“, fragte Hannah darum spontan.

Kurz wurde sein Blick ausdruckslos, doch als er sie wieder ansah, schimmerte nichts als Zynismus in den dunklen Tiefen auf.

„Ich nehme an, dass Sie eine Expertin auf diesem Gebiet sind. Zwei Verlobungen, das ist schon beachtlich. Verloben Sie sich mit jedem Mann, mit dem Sie schlafen?“

„Was fällt Ihnen ein?“ Hannah war es eigentlich egal, ob er glaubte, sie würde mit jedem Mann schlafen, der ihr über den Weg lief. Doch seine Doppelmoral machte sie rasend, sodass sie ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen hätte.

Wie konnte dieser Mann, der sicher unzählige Frauen gehabt hatte, es wagen, sie derart herabzusetzen? „Hier geht es doch nur um Geld und Macht“, fauchte sie ihn an. „Sie tun alles, um weder das eine noch das andere zu verlieren. Sie sprechen ständig von Pflicht, weil sie sich dann vermutlich besser fühlen. Aber ich nenne es Gier.“

Kamal hatte Mühe, seinen Zorn im Zaum zu halten. „So verächtlich kann nur eine Frau über Geld sprechen, die sich ständig aus Daddys prall gefüllter Geldbörse bedienen konnte und nie in ihrem Leben arbeiten musste. Aber vielleicht sind Sie auch einfach nur dumm.“

Dumm! Das Wort dröhnte in ihrem Kopf, pochend wie eine tiefe Wunde. „Ich arbeite sehr wohl.“ Könnte sie all den Menschen, die sie dumm nannten, doch beweisen, dass man mit Legasthenie nicht automatisch beschränkt war! Dass man mit etwas Unterstützung trotzdem gute Leistungen erbringen konnte. Ihre Stimme zitterte vor unterdrückter Empörung, als sie das Thema wechselte: „Würde diese Ehe eigentlich nur … auf dem Papier bestehen?“

„Sie wird“, korrigierte er sie. „Bei offiziellen Verpflichtungen und einigen anderen Anlässen wird von uns erwartet, dass wir uns zusammen zeigen.“ Er musterte ihr Gesicht. „Aber das meinten Sie nicht, oder?“

Hannah knabberte an ihrer Unterlippe und schüttelte den Kopf.

„Man erwartet von uns, dass wir für einen Erben sorgen.“

Das Bild, das vor ihrem inneren Auge aufstieg, schockierte sie. Sie sah Kamal nackt vor sich und wandte schnell den Blick ab. Doch das Bild blieb, genauso wie das unangenehme Gefühl in ihrem Magen.

„Vielleicht wird das eine lehrreiche Erfahrung für Sie sein.“

Panik erfasste sie. „Ihr Angebot, mir in Sachen Sex etwas beibringen zu wollen, macht die Sache nicht schmackhafter für mich.“ Gott im Himmel, was für eine Enttäuschung würde er erleben.

Er lachte auf. „Ich meinte damit nicht, dass ich Sie auf sexuellem Gebiet erziehen wollte, aber wenn Sie mir das ein oder andere zeigen möchten, habe ich nichts dagegen.“

Die schlagfertige Antwort, die er von ihr erwartet hatte, blieb aus. Stattdessen stellte er erstaunt fest, dass sie errötete. Und das irritierte ihn, obwohl ihn sonst nichts so leicht aus der Fassung bringen konnte.

Hannah machte es nur noch nervöser, dass sie sich derart unbeholfen fühlte, während ihr Blick über seine schlanke, muskulöse Gestalt schweifte. „Ich kann nicht einfach mit Ihnen ins Bett springen. Ich kenne Sie doch gar nicht.“

„Wir haben Zeit.“ Er warf ihr ein schmales Lächeln zu. „Jede Menge Zeit. Und keine Sorge, ich erwarte nicht, dass wir so schnell die Ehe vollziehen, falls das für Sie in Ordnung ist.“

„Wie bitte?“

„Kein Sex.“

Sie senkte die Lider. „Damit werde ich schon klarkommen.“

„Mit Ihren kleinen Abenteuern wird es allerdings auch vorbei sein. Die Legitimität des Thronerben darf nicht infrage gestellt werden“, warnte er sie.

„Und gelten für Sie die gleichen Regeln?“ Ohne auf seine Antwort zu warten, schnaubte sie verächtlich und fuhr fort: „Sie müssen nichts dazu sagen, aber vielleicht können Sie mir etwas anderes beantworten. Wissen Sie, ob die Impfstoffe rechtzeitig in dem Dorf eingetroffen sind?“

Die Sorge in ihrem Blick schien zu aufrichtig, um gespielt zu sein. Vielleicht besaß diese Frau doch ein Gewissen … Was sie jedoch nicht davon abhielt, immer nur das zu tun, was sie wollte.

„Schade, dass Sie nicht daran gedacht haben, als Sie die Grenze ohne Papiere überquert haben …“

„Mein Jeep ist stehen geblieben, und ich habe die Orientierung verloren.“ Es gefiel ihr gar nicht, dass sie sich rechtfertigte. „Wissen Sie etwas über die Impfstoffe? Könnten Sie das herausfinden?“ Laut Bericht hatte sich die Infektion in dem Dorf rasend schnell ausgebreitet. Die Sterberate würde hoch sein, wenn nichts unternommen würde.

„Ich habe keine Ahnung.“ Kamal wandte sich ab und konzentrierte sich nur noch auf seinen Computerbildschirm.

Hannah stellte noch ein paar Fragen, doch er schien sie völlig auszublenden. War dies ein Vorgeschmack auf den Rest ihres Lebens? Ihre Träume von echter Liebe hatte sie schon fast aufgegeben, aber bei der Vorstellung an solch eine unterkühlte Verbindung zog sich ihr der Magen zusammen.

Kamal sah sie nicht einmal an, als der Flieger landete, sondern stand einfach nur auf und ließ sie sitzen. Stattdessen deutete der bullige Bodyguard ihr mit einem Kopfnicken an, Kamal zum Ausgang zu folgen.

Hannah hatte längst jegliches Zeitgefühl verloren, deshalb blinzelte sie überrascht gegen die helle Sonne, als sie zwischen den beiden Männern von Bord ging. Sie warf einen Blick auf ihr Handgelenk und zuckte zusammen, als sie sich daran erinnerte, dass man ihr die Uhr weggenommen hatte. Die Uhr war eines der wenigen Dinge, die ihrer Mutter gehört hatten. Man hatte ihr alles genommen, als man sie einsperrte, selbst die Sonnenbrille, die sie jetzt dringend gebraucht hätte.

Plötzlich riss sie die Augen auf.

„Ich habe gar keinen Ausweis!“

Kamal blieb unten an der Treppe stehen und drehte sich mit kühlem Blick zu ihr um. „Sie brauchen keinen Ausweis.“

„Einer der Vorteile, wenn man zur königlichen Familie gehört?“ Hannah beobachtete, wie eine uniformierte Gestalt sich als Antwort auf Kamals Worte ehrerbietig verbeugte.

Drei Limousinen mit getönten Scheiben standen am Rand des Rollfelds bereit. Eine für jeden? Doch bei so viel Bewaffneten war es Hannah unmöglich, über ihren eigenen Scherz zu lachen. Stattdessen eilte sie hinter Kamal her, der zu dem vordersten Wagen ging, wurde aber schon nach wenigen Metern von einer großen Hand auf ihrer Schulter zurückgehalten.

Fragend sah sie den Bodyguard an, der langsam den Kopf schüttelte.

Sie verdrängte einen erneuten Anflug von Panik und rief hinter Kamal her: „Fahren Sie weg?“

Er wandte sich zu ihr um. „Man wird sich um Sie kümmern.“

Hannah presste die Lippen aufeinander und achtete nicht darauf, dass sich ihre Brust zusammenschnürte, weil sie sich plötzlich so allein gelassen fühlte. Sie hasste dieses Gefühl. Und sie hasste Kamal. Aber sie würde nicht weinen, nicht wegen diesem verdammten Mann.

Entschieden verdrängte Kamal den Anflug von Mitgefühl, der ihn beim Anblick dieser Frau erfasste, und stieg in den Wagen. Er ärgerte sich über ihren anklagenden Blick, der ihm das Gefühl gab, ein rücksichtsloses Monster zu sein. Ein absurder Gedanke, denn schließlich hatte er sie gerettet. Er hatte zwar nicht erwartet, von ihr als Held gefeiert zu werden, aber dass er in diesem Stück plötzlich den Schurken spielte, passte ihm auch nicht. Sicher, es war nicht einfach für sie, aber das Leben erforderte nun einmal Opfer und Kompromisse.

„Was passiert jetzt mit mir?“, brachte Hannah heraus, obwohl ihre Kehle wie zugeschnürt war, als sie sah, wie Kamals Wagen losfuhr.

„Mir wurde gesagt, dass ich Sie zu Dr. Rainis Haus bringen soll“, antwortete Rafiq, der bis jetzt kaum ein Wort gesprochen hatte. Er deutete mit dem Kopf zu dem geöffneten Wagen und wartete offenbar darauf, dass sie einstieg.

Ein Anflug von Rebellion erfasste Hannah. Die letzten paar Tage hatte man sie ihrer Unabhängigkeit beraubt, und sie würde nicht zulassen, dass es so weiterging.

Sie hob das Kinn und blieb stehen. „Ich brauche keinen Arzt.“

Offenbar aus dem Konzept gebracht, brauchte der Riese einen Moment, ehe er antwortete. „Nein, das haben Sie falsch verstanden. So ein Doktor ist sie nicht, sondern Philosophieprofessorin an der Universität. Sie wird Ihnen beim Ankleiden für die Hochzeit helfen und Ihre Brautjungfer sein.“

Er stand neben der geöffneten Tür, doch Hannah rührte sich nicht vom Fleck.

„Was ist mit meinem Vater?“

„Ich glaube, Ihr Vater erwartet Sie an der königlichen Kapelle.“

Plötzlich erinnerte sich Hannah an einen Artikel, den sie über Surana gelesen hatte. Die verschiedensten Religionen lebten hier friedlich nebeneinander, doch die königliche Familie war dem Christentum verpflichtet, eine Seltenheit in dieser Region.

Nachdem der Wagen den Flughafen verlassen hatte, bog er auf einen palmengesäumten Boulevard ein, der von hohen modernen Gebäuden gesäumt wurde. Schließlich kamen sie in einen wohl älteren Teil der Stadt mit engeren Straßen.

Die Trennscheibe zwischen Vorder- und Rücksitzen wurde heruntergefahren.

„Wir sind bald da, Miss.“

Hannah nickte Rafiq dankend zu. Inzwischen waren sie in einem wohlhabenden Vorort angekommen. Wenig später fuhr der Wagen durch ein Tor in einen gepflasterten Innenhof, der von einer hohen Mauer umgeben war.

Die Tore schlossen sich wieder, und ein Angestellter erschien. Rafiq sprach kurz mit dem Mann, dann sah er sich um wie jemand, der hinter jedem Busch Gefahr witterte, ehe er ihr die Tür öffnete.

Hannah war gerade ausgestiegen, als die Eingangstür des dreistöckigen, weiß getünchten Hauses sich öffnete.

„Willkommen. Ich bin Raini, Kamals Cousine.“

Die Professorin war eine große, schlanke attraktive Frau von Mitte dreißig; ihre dunklen Haare trug sie zu einem kurzen Bob geschnitten. Sie lächelte herzlich, als sie Hannah die Hände entgegenstreckte.

„Ich würde dich ja fragen, ob du einen guten Flug hattest, aber ich sehe schon …“

Ihre herzliche Art ließ Hannah jede Abwehr vergessen, und Tränen traten in ihre Augen. Peinlich berührt putzte sie sich mit dem Taschentuch, das die Professorin ihr in die Hand gedrückt hatte, die Nase. „Tut mir leid. Normalerweise … Ich bin nur … Ich muss ja schrecklich aussehen.“

Die Frau umarmte sie und führte sie dann ins Haus. „Du musst dich nicht entschuldigen. Wenn ich das Gleiche durchgemacht hätte wie du, wäre ich jetzt ein hoffnungsloser Fall.“ Tröstend legte Raini eine Hand auf Hannahs Arm. „Hier entlang.“ Sie öffnete eine Tür, die in einen langen Flur führte. Die Türen standen offen und gaben den Blick in große sonnendurchflutete Räume frei.

Die Ältere lächelte mitfühlend. „Du musst todmüde sein, aber ich fürchte, wir haben nicht mehr viel Zeit. Hier herein.“ Sie stieß eine der Türen ganz auf und wartete, dass Hannah eintrat.

Es war ein großes Zimmer mit gefliestem Boden, hohen Terrassentüren und einer eingebauten Schrankwand. Das einzige Möbelstück war ein Bett, das auf einem niedrigen Podest stand.

„Es ist sehr spärlich eingerichtet, ich weiß. Ich würde es gerne anders gestalten und mag ein bisschen Durcheinander, aber Steven ist ein Minimalist.“ Sie lächelte, als sie den Mann erwähnte, der vermutlich ihr Ehemann war.

Ihr liebevoller Blick erinnerte Hannah an das, was sie nicht haben würde und trotzdem immer noch wollte. Schmerz krampfte ihre Brust zusammen, und sie sank auf das Bett. „All das ist so unwirklich“, seufzte sie.

Verständnisvoll verzog die andere Frau das Gesicht. „Deinen Hochzeitstag hast du dir bestimmt anders vorgestellt“, meinte sie sanft. „Aber auf den Tag an sich kommt es eigentlich gar nicht an. Bei meiner Hochzeit ist auch alles schiefgegangen. Viel wichtiger ist der Mensch, mit dem man den Rest seines Lebens verbringen will. Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?“

Hannah hob den Kopf. „Wie bitte?“

Die andere Frau missverstand ihre verständnislose Miene. „Du kannst mir das auch ein andermal erzählen. Ich bin einfach nur froh, dass Kamal endlich jemanden gefunden hat. Dieses ganze Playboygetue, das passte gar nicht zu ihm. Er ist nicht so schlecht, wie diese schreckliche Klatschpresse ihn darstellt.“

„Ich habe die Zeitungen nie gelesen“, entgegnete Hannah.

Sie war jetzt noch verwirrter als vorher, aber zwei Dinge wurden ihr klar: Erstens glaubte seine Cousine, dass sie Kamal aus freien Stücken heiraten wollte, und zweitens wusste sie nun, dass ihr zukünftiger Ehemann einen schlechten Ruf hatte.

„Ich habe darum gebetet, dass er eines Tages über die Geschichte mit Amira hinwegkommt. Aber wenn man jemanden auf diese Weise verliert …“ Kamals Cousine zuckte die Schultern. „Ich habe mich manchmal gefragt, ob ich mich auch so nobel verhalten würde, wenn Steven sich in eine andere verliebt.“ Sie hielt kurz inne. „Amira hat mir erzählt, dass Kamal sie einfach nur glücklich sehen wollte. Er und Hakim waren wie Brüder.“

Hannah verstand zunächst nicht, in welcher Verbindung die erwähnten Personen standen, doch dann erinnerte sie sich an Kamals Erklärung, dass Amira sich für einen anderen entschieden hatte. Die Frau, deren Platz Hannah nun einnehmen sollte, hatte Kamals Cousin geheiratet. Beide waren bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen, sodass Kamal zum Thronerben aufgestiegen war. Er hatte so getan, als würde es ihm nichts ausmachen, aber wenn seine Cousine recht hatte …

„Amira wäre eine wunderschöne Königin gewesen“, sagte Raini und riss Hannah aus ihren Gedanken. „Aber sie hat nie die Gelegenheit bekommen …“ Tief seufzte Raini auf. „Zu traurig.“ Sie fasste sich wieder und setzte ein herzliches Lächeln auf. „Aber heute ist kein Tag für Tränen. Du wirst auch eine wunderschöne Königin werden, und du heiratest einen ganz besonderen Mann.

Hannah wusste, dass eine Antwort von ihr erwartet wurde. „Ohne ihn wäre ich immer noch im Gefängnis.“

Bestätigend nickte Raini. „Bei einem Notfall ist er genau der richtige Mann. Als Steven gekidnappt wurde …“ Sie schüttelte den Kopf und öffnete den Kleiderschrank. „Wie ich schon sagte, Kamal ist ein ganz besonderer Mensch, aber Geduld ist nicht gerade seine Stärke. Er hat mir gesagt, dass du in einer halben Stunde auf dem Weg sein sollst.“ Sie deutete auf die Kleider im Schrank. „Such dir eins aus, Hannah. Dein Vater wusste nicht genau, welche Größe du hast, deshalb habe ich jedes Kleid in drei verschiedenen Größen bestellt, aber …“ Abschätzend sah sie Hannah an. „Achtunddreißig, oder?“

Hannah nickte.

„Die Dusche ist dort drüben.“ Raini deutete auf eine Tür. „Wenn du noch etwas brauchst, ruf einfach. Ich ziehe mich nur kurz um.“

Duschen zu können, war ein Segen. Und alle Kleider waren wunderschön, doch Hannah entschied sich für das schlichteste, ein schmales Kleid aus Seide, dessen Säume mit Perlen und Kristallen verziert waren.

Als Raini in einem eleganten Hosenanzug zurückkehrte, kämpfte Hannah gerade mit ihren Haaren, die sich frisch gewaschen nur schwer zu einem eleganten Knoten hochstecken ließen.

„Du siehst wunderschön aus“, sagte die ältere Frau und trat zurück, um sie anzusehen. „Ich dachte, das hier würde dir vielleicht gefallen.“

Hannahs Blick zuckte zu dem Spitzenschleier, und sie kämpfte um Fassung.

„Er ist herrlich“, brachte sie hervor, doch sie hätte Raini am liebsten die Wahrheit gesagt – dass diese Hochzeit nur eine entsetzliche Täuschung war.

„Er hat meiner Großmutter gehört. Ich habe ihn bei meiner Hochzeit auch getragen und dachte, er könnte dir gefallen.“

Hannah fühlte sich nur noch elender, weil sie dieser Frau die liebende Braut vorspielte. „Das kann ich nicht …“

„Ich bestehe darauf. Außerdem passt er perfekt hierzu.“ Raini öffnete eine kunstvoll verzierte Holzschachtel.

Hannah starrte mit großen Augen auf den Inhalt der Schachtel. „Das ist wirklich sehr nett von dir, aber ich kann das nicht tragen. Es ist viel zu kostbar. Das hier ist wunderschön.“ Sie drapierte den Schleier über ihrem langen Haar. „Aber das andere kann ich nicht annehmen.“

„Es gehört mir nicht … leider.“ Raini lachte und hob die Tiara aus dem Seidenfutter. Die Diamanten, die in dem zarten Goldreif steckten, glitzerten im Licht. „Kamal hat die Tiara schicken lassen. Er möchte, dass du sie trägst. Lass mich mal …“ Sie wirkte sehr konzentriert, als sie die Tiara vorsichtig feststeckte. „So“, hauchte sie ehrfürchtig. „Du siehst aus wie aus einem Märchenbuch. Eine richtige Prinzessin.“

Hannah hob die Hände, um die Tiara abzunehmen. „Aber meine Haare …“

„An deiner Stelle würde ich sie offen tragen. Es sieht sehr schön aus.“

Hannah zuckte die Schultern und ließ die Hände wieder sinken. Die Frisur war wirklich ihre geringste Sorge.

5. KAPITEL

Gequält keuchte Hannah auf, als sie einen ersten Blick auf ihr neues Zuhause warf.

„Ich weiß“, meinte Raini lächelnd, doch voller Mitgefühl. „Ich würde dir ja gerne sagen, dass der Palast innen nicht so Ehrfurcht gebietend ist, wie er von außen aussieht.“ Sie warf einen kritischen Blick auf die vielen Türmchen. „Aber es ist so. Selbst in Hollywood könnte man so etwas nicht bauen. Als ich hier lebte …“

„Du hast hier gewohnt?“ Wie konnte eine so lässige Frau in solch einem pompösen Gebäude leben?

Raini kicherte. „Meine Eltern hatten hier eine Wohnung, bis mein Vater abberufen wurde. Er ist Diplomat.“ Sie fuhren durch einen vergoldeten Torbogen in einen Innenhof, der die Größe eines Footballfeldes hatte. In mehreren Springbrunnen sprudelten eindrucksvolle Wasserfontänen empor.

Sie stiegen aus, und Rafiq führte sie in den Palast. Das schreckliche Gefühl drohenden Unheils, das Hannah schwer wie ein Stein auf der Brust lag, wurde stärker, als sie der großen Gestalt durch eine riesige Halle, dann durch lange leere Flure mit Marmorboden folgten. Sie schnappte nach Luft, als sie plötzlich einen bekannten Menschen sah.

„Dad!“

„Hannah! Du siehst wunderschön aus, Kind.“

Angestrengt versuchte Hannah, sich ihr Entsetzen nicht anmerken zu lassen. Sie hatte ihren Vater noch nie so blass und abgespannt gesehen. Selbst im Krankenhaus hatte er nicht so zerbrechlich gewirkt. Er schien um mindestens zehn Jahre gealtert zu sein.

Hatte sie sich bis eben noch vorgestellt, sich beim Wiedersehen in seine Arme zu werfen und ihn zu bitten, alles wieder in Ordnung zu bringen, verflog dieser Gedanke, als Tränen über seine Wangen liefen. Sie hatte ihren immer fröhlichen Vater noch nie weinen sehen, außer an ihrem Geburtstag, an dem sich der Tod ihrer Mutter jährte. An diesem Tag wollte er immer allein sein, um sich ungestört seiner Trauer hingeben zu können. Ihn jetzt weinen zu sehen, schnitt ihr tief ins Herz.

Ob absichtlich oder nicht, schien sie immer der Grund für seine Tränen zu sein. Wäre sie nicht geboren, dann wäre seine geliebte Frau nicht gestorben. Und auch jetzt war sie an seiner Trauer schuld, da hatte Kamal ganz recht.

Sie hatte eine Arbeit übernommen, für die sie kaum qualifiziert war, und sie hatte versagt. Doch nicht nur sie selbst hatte die Konsequenzen tragen müssen. Auch andere Menschen litten darunter. Damit musste es nun vorbei sein. Hannah schluckte. Sie hatte einen Fehler gemacht und würde nun die Folgen ausbaden – in diesem Fall war es eine Ehe mit dem unglaublich attraktiven Prinzen von Surana.

„Ich dachte, ich hätte dich verloren.“ Ihr Vater rang um Fassung. „In Quagani herrscht die Todesstrafe. Es war der einzige Weg, um dich herauszubekommen. Sie wollten ein Exempel an dir statuieren, und ohne die Intervention des Königs hätten sie das auch getan. Kamal ist ein guter Mann.“

Das scheint jeder zu glauben, dachte Hannah düster.

„Ich weiß, Dad. Und es ist alles in Ordnung“, log sie.

„Wirklich?“

Sie nickte. „Es ist Zeit, dass ich es endlich mal bis zum Altar schaffe, meinst du nicht?“

„Er wird auf dich achtgeben.“ Ihr Vater drückte ihre Hand. „Ihr werdet gegenseitig aufeinander aufpassen. Du weißt, deine Mutter war die große Liebe meines Lebens …“

Trauer drückte Hannah das Herz zusammen. „Ja, das weiß ich, Dad.“

„Als wir geheiratet haben, hat sie mich noch nicht geliebt. Sie war schwanger, und ich habe sie überredet … Ich will damit sagen, dass sich die Liebe zu einem Menschen entwickeln kann. So wie bei mir und deiner Mutter.“

Hannahs Kehle war wie zugeschnürt von ungeweinten Tränen. Schweigend nickte sie, tief berührt, dass er sie so ins Vertrauen zog. Es war sinnlos, ihm zu erklären, dass der Fall bei ihr ganz anders lag. Ihr Vater hatte die Frau geliebt, die er geheiratet hatte, während der Mann, den sie heiraten würde, ihr nur Verachtung entgegenbrachte.

„Bist du bereit?“, fragte ihr Vater.

Um seinetwillen lächelte sie und nickte. Nachdem Raini einem der Angestellten Anweisung gegeben hatte, schwangen die großen Türen auf.

Hannah hatte damit gerechnet, hier auf den gleichen Luxus zu treffen, dem sie bisher begegnet war. Stattdessen betrat sie einen relativen kleinen, beinahe gemütlich wirkenden Raum. Die friedliche Stille stand in starkem Kontrast zu dem Gefühlsaufruhr, der in ihr tobte.

Abgesehen von dem Priester waren nur die Sänger des Chors und vier weitere Menschen anwesend: Zwei festlich gekleidete Herrscher saßen erwartungsvoll in der Kirchenbank, und zwei Männer standen vorne am Altar. Der eine war groß und blond, der andere … groß und sehr dunkel.

Hannah schloss die Augen und zwang sich, ruhig zu atmen. Als sie die Lider wieder hob, lächelte sie. Sie wollte nicht, dass ihr Vater sich noch schlechter fühlte.

„Nervös?“

Kamal warf seinem Trauzeugen einen Blick zu. „Nein.“ Resigniert würde seinen Gemütszustand besser beschreiben. Es hatte nur eine Frau gegeben, mit der er vor den Altar hatte treten wollen. Doch er hatte zusehen müssen, wie sie diesen Schritt mit einem anderen machte. Niemals würde er den Ausdruck auf ihrem Gesicht vergessen: Sie hatte vor Freude gestrahlt.

Doch jetzt schob sich ein anderes Gesicht vor das von Amira. Ein Gesicht mit feinen klassischen Zügen, von blonden langen Haaren umrahmt.

„So etwas nennt man wohl eine Mussheirat“, überlegte der andere Mann und warf einen Blick auf die beiden Könige. „Sie ist doch nicht …“

Kamal versuchte sich vorzustellen, wie Hannah ein Kind im Arm hielt. „Nein, ist sie nicht.“

„Dann solltest du das dringend ändern. Ich hoffe, sie weiß, worauf sie sich einlässt.“

„Wusstest du das?“, gab Kamal neugierig zurück.

„Nein, aber ich habe ja auch keine Thronerbin geheiratet.“ Steven seufzte. „Raini und ich haben entschieden, es nicht noch einmal mit künstlicher Befruchtung zu versuchen. Acht Jahre müssen genug sein. Noch mehr kann sie nicht verkraften.“

Kamal schlug dem anderen Mann auf die Schulter. „Tut mir leid.“

Kamal hatte nie den Blick dafür verloren, wie unfair das Leben sein konnte, und wenn doch, hätte ihn Rainis Situation daran erinnert. Die Welt war voller ungeliebter und ungewollter Kinder. Und hier waren zwei Menschen, die einem Kind alle Liebe der Welt schenken würden, doch sie konnten keinen Nachwuchs bekommen.

Eine der Grausamkeiten des Lebens.

„Danke.“ Steven sah zu Raini hinüber, die vor Hannah her schritt.

Kamal stockte der Atem, als Hannah näher kam. Schon in ihrem zerzausten, verdreckten Zustand war sie eine wunderschöne Frau gewesen. Aber diese große schlanke Gestalt, die jetzt auf ihn zukam, erschien ihm wie ein Traum in Weiß. Ihre Haare ergossen sich in einer goldenen Wolke über ihre Schultern, Diamanten funkelten in ihrem Spitzenschleier, doch die Juwelen verblassten beinahe neben dem Leuchten in ihren großen blauen Augen.

Der Chor stimmte das Ave Maria an, als die Braut am Arm ihres Vaters langsam zum Altar schritt.

Eine seltsame Ruhe überkam Hannah, als sie schließlich vor ihrem Bräutigam stand. Das Zittern setzte erst ein, als der Priester sie zu Mann und Frau erklärte und Kamal sie zum ersten Mal direkt ansah, mit einem eindringlichen Blick, der sie völlig verwirrte.

Viel zu durcheinander, wusste sie nicht, wer sich zuerst vorgebeugt hatte. Sie spürte nur, dass sie wie von Zauberhand zu Kamal hingezogen wurde.

Weit hatte sie die Augen geöffnet, als er ihre Lippen mit seinen berührte. Als der warme Druck sich vertiefte, senkte sie die Lider. Ihr Mund öffnete sich wie von selbst, während sie seinen Kuss erwiderte.

Es war Kamal, der sich von ihr löste. Seines Dufts und seiner Berührung beraubt, kehrte die Realität mit voller Macht zurück. Sie hatte gerade ihren Ehemann geküsst, und sie hatte es genossen – sehr sogar. Das war falsch, völlig falsch, in jeder Hinsicht. Ihr war, als habe er einen Schalter umgelegt, denn sie war nicht in der Lage, gegen die Hitze anzukämpfen, die sie plötzlich durchflutete.

Als er ihre Hand an seine Lippen hob, sah er, wie der selbstvergessene, sinnliche Funke in ihren Augen der Panik wich. Er selbst war nicht schockiert, aber überrascht, wie stark sie körperlich auf ihn reagiert hatte.

„Lächeln! Du bist eine strahlende Braut“, mahnte er sie.

Und Hannah lächelte, bis ihre Kiefermuskeln schmerzten. Doch sie konnte an nichts anderes denken als an diesen Kuss, der ihre Lippen noch immer prickeln ließ. Zum ersten Mal in ihrem Leben verstand sie, welche Macht Sex hatte und dass man alles vergessen konnte unter dem Einfluss dieser besonderen Droge.

Die beiden Landesherrscher küssten sie auf die Wange, dann gab ihr Vater ihr einen Kuss und hielt ihre Hand fest umklammert.

„Du weißt, dass ich immer für dich da bin, Hannah.“

„Ich weiß, Dad. Es ist alles gut.“ Sie blinzelte die Tränen fort, doch der Kloß im Hals blieb.

„Ich werde auf sie aufpassen, Charles.“

Kamals aufrichtiger Ton gefiel ihr nicht. Einem Mann, der so gut lügen konnte, konnte man nicht vertrauen. Da sie wusste, dass ihr Vater sie beobachtete, wehrte sie sich nicht, als Kamal ihre Hand nahm. Erst als sie außer Sichtweite waren, riss sie sich los.

Seine einzige Reaktion war ein spöttisches Grinsen.

Nachdem sie sich von allen verabschiedet hatten, gingen sie schweigend zu seinen Privatgemächern. Kamal fiel es schwer, die spröde Eisprinzessin neben sich mit der Frau in Verbindung zu bringen, von deren weichen, warmen Lippen er gekostet hatte. Die intensive Hitze, die kurz zwischen ihnen aufgeflammt war, hatte ihn neugierig gemacht, und er war begierig darauf, diese Erfahrung zu wiederholen.

Er begehrte seine Frau. Nun ja, das Leben steckte voller Überraschungen, und nicht alle waren schlecht.

Hannah schaute sich verwirrt in den riesigen Räumlichkeiten um. Wenn sie Kamal richtig verstanden hatte, waren zwei miteinander verbundene Schlafzimmer für sie vorbereitet worden. Doch sie konnte immer nur an ihren Vater denken, der bei der Hochzeit müde und krank ausgesehen hatte. Und an Kamals verlangenden Blick, als er sich den Kuss geraubt hatte.

„Diese Ehe mag zwar nicht lange halten, aber … wir könnten trotzdem Spaß haben, meinst du nicht?“

Kamals Worte rissen sie aus ihren Gedanken. Er war ihr nahe, viel zu nahe. Sie hatte Mühe zu atmen, ihr Körper reagierte gegen ihren Willen auf seinen sinnlich provokanten Blick. „Das Einzige, was mir heute Nacht Spaß machen würde, wäre, meine Ruhe zu haben“, entgegnete sie kühl.

„Das glaube ich nicht.“

Hannah seufzte. „Na schön, also finde ich dich attraktiv. Ist es das, was du hören willst?“ Sie warf ihm einen verärgerten Blick zu. „Ich finde so einige Männer attraktiv, aber deshalb schlafe ich nicht mit allen.“

„Gut gekontert. Das mag ich an dir.“

„Du bist vielleicht schön anzuschauen, aber dein Ego macht die Wirkung zunichte.“

„Ich könnte an mir arbeiten. Mit deiner Hilfe.“

Groß, rücksichtslos und sexy wie die Sünde – sie hätte wetten mögen, dass es wohl eher viele Dinge gab, die Kamal ihr beibringen könnte …

Vor lauter Selbstekel drehte sich ihr der Magen um. Dass sie überhaupt an so etwas denken konnte, schockierte sie. Sie hob das Kinn, wieder ganz die Eisprinzessin, und entgegnete hochmütig: „Ich stehe nicht auf Gelegenheitssex und will auch keinen Unterricht.“

„Wir sind verheiratet. Das hat nichts mit Gelegenheitssex zu tun.“

Hannahs Blick ging zu dem Ring an ihrem Finger. Er fühlte sich schwer an. Sie fühlte sich selbst schwer, erschöpft und schwach … vor Verlangen.

Nein, sie schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich war die Flasche Champagner schuld, die Raini geöffnet hatte. Hatte sie ein oder zwei Gläser getrunken? Egal, das Einzige, was sie brauchte, war Schlaf.

Kamal beugte sich zu ihr. „Du weißt, wo ich bin, solltest du deine Meinung ändern.“ Unverwandt sah er sie an, während er auf die Verbindungstür deutete, die Hannah erst jetzt bemerkte. „Für mich ist das okay, wenn wir … nur Sex haben. Ich werde mich morgen früh weder benutzt noch billig fühlen.“

Sein kehliges Lachen war der Auslöser.

Hannah verengte die Augen, hob das Kinn und zog seinen Kopf zu sich herunter, bis er ihrem ganz nahe war. Sie sah noch, wie sein Blick sich verdunkelte, ehe sie seinen Mund eroberte.

Der letzte Rest von Vernunft, der ihr geblieben war, sagte ihr, dass sie sich gerade unglaublich dumm verhielt, doch es war zu spät. Denn er erwiderte ihren Kuss mit solch gekonnter Sinnlichkeit, dass Hannah alles andere vergaß.

Kamal spürte, wie Begierde seinen Körper förmlich durchflutete.

Hatte er je eine Frau so sehr gewollt?

Doch sein Verlangen verflog, als er den Alkohol roch. Wenn er mit seiner Frau schlief, sollte sie nicht nur willig, sondern auch wach und vor allem nüchtern sein.

Er musterte Hannahs gerötetes Gesicht und ihre Augen, die beinahe fiebrig glänzten. Es war offensichtlich, dass sie nicht nur zu wenig Schlaf bekommen, sondern auch einen kleinen Schwips hatte.

„Du hast getrunken.“

Sie zuckte zusammen. „Ich bin nicht betrunken.“

Ihr Schmollmund hätte ihn fast wieder umgestimmt. „Darüber werden wir nicht streiten“, entschied er. „Ich denke, wir sollten erst einmal schlafen. Gute Nacht, Hannah.“

Damit ging er in sein Zimmer und ließ sie stehen. Nicht nur, dass Hannah sich jetzt billig vorkam, sie fühlte sich auch unattraktiv. Zwei Männer hatten sie zurückgewiesen, mit denen sie verlobt gewesen war. Und jetzt wies sie auch ihr Ehemann zurück. Doch Hannah war zu müde, um sich darüber weiter den Kopf zu zerbrechen. Angezogen fiel sie aufs Bett und war augenblicklich eingeschlafen.

6. KAPITEL

Da Hannahs Stolz es ihr verbot, um Hilfe zu fragen, verlief sie sich prompt in den weitläufigen Fluren. Sie fand Kamal schließlich im vierten Raum, in dem sie nachsah. Das Zimmer mit der Lichtkuppel war genauso beeindruckend wie die anderen Räume, in die sie hineingeschaut hatte.

Kamal sah nicht auf, als sie eintrat. Der Falke auf seiner Sitzstange beobachtete sie jedoch mit seinem scharfen Blick, während sein Meister weiter mit gerunzelter Stirn auf den Bildschirm seines Handys starrte.

Bewusst verdrängte Hannah den seltsamen Schmerz in ihrer Brust, trat an den Tisch und räusperte sich.

Als Kamal immer noch nicht hochsah, stieg Wut in ihr auf. Wenn er sich schlecht benehmen wollte, na schön, das konnte sie auch. Zumal sie sich verdammt schlecht fühlte nach dem gestrigen Abend.

„So läuft das also?“

Kamal blickte von seinem Handy hoch und lächelte. „Guten Morgen, liebes Weib.“

Autor

Marion Lennox
Marion wuchs in einer ländlichen Gemeinde in einer Gegend Australiens auf, wo es das ganze Jahr über keine Dürre gibt. Da es auf der abgelegenen Farm kaum Abwechslung gab, war es kein Wunder, dass sie sich die Zeit mit lesen und schreiben vertrieb. Statt ihren Wunschberuf Liebesromanautorin zu ergreifen, entschied...
Mehr erfahren
Kim Lawrence
Kim Lawrence, deren Vorfahren aus England und Irland stammen, ist in Nordwales groß geworden. Nach der Hochzeit kehrten sie und ihr Mann in ihre Heimat zurück, wo sie auch ihre beiden Söhne zur Welt brachte. Auf der kleinen Insel Anlesey, lebt Kim nun mit ihren Lieben auf einer kleinen Farm,...
Mehr erfahren
Maggie Cox
Schreiben und Lesen gingen bei Maggie Cox schon immer Hand in Hand. Als Kind waren ihre liebsten Beschäftigungen Tagträumen und das Erfinden von Geschichten.
Auch als Maggie erwachsen wurde, zu arbeiten begann, heiratete und eine Familie gründete blieben ihre erfundenen Heldinnen und Helden ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Was immer auch...
Mehr erfahren
Susan Meier
Susan Meier wuchs als eines von 11 Kindern auf einer kleinen Farm in Pennsylvania auf. Sie genoss es, sich in der Natur aufzuhalten, im Gras zu liegen, in die Wolken zu starren und sich ihren Tagträumen hinzugeben. Dort wurde ihrer Meinung nach auch ihre Liebe zu Geschichten und zum Schreiben...
Mehr erfahren