Julia Extra Band 429

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ZWISCHEN RACHE UND VERLANGEN von CREWS, CAITLIN
Eine skrupellose Erbschleicherin ist seine blutjunge Stiefmutter Kathryn, glaubt Luca Castelli. Er müsste sie hassen, weil sie das Castelli-Imperium an sich reißen will! Trotzdem raubt er ihr schon am Grab seines Vaters einen ersten heißen Kuss …

WIE ZÄHMT MAN EINEN MILLIARDÄR? von KENDRICK, SHARON
"Du wirst mir Tag und Nacht zur Verfügung stehen." Wie bitte? Amber hat sich wohl verhört! Doch Conall Devlins Blick erlaubt keine Zweifel: Der Milliardär will ihr eine Lektion erteilen. Tagsüber soll sie für ihn arbeiten. Aber was kann er nachts von ihr wollen?

DIE LETZTE NACHT MIT DEM PRINZEN von HAYWARD, JENNIFER
Goodbye, Sofia: Die königliche Pflicht ruft, Prinz Nikandros muss unerwartet den Thron von Akathinia besteigen. Da ist für seine Geliebte kein Platz mehr. Doch dann erfährt er, dass er die schöne Bürgerliche nicht allein in Manhattan zurückgelassen hat …

TANZ MIT MIR, BIS DER MORGEN KOMMT von LANE, SORAYA
Goodbye, Sofia: Die königliche Pflicht ruft, Prinz Nikandros muss unerwartet den Thron von Akathinia besteigen. Da ist für seine Geliebte kein Platz mehr. Doch dann erfährt er, dass er die schöne Bürgerliche nicht allein in Manhattan zurückgelassen hat …


  • Erscheinungstag 07.03.2017
  • Bandnummer 0429
  • ISBN / Artikelnummer 9783733708993
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Caitlin Crews, Sharon Kendrick, Jennifer Hayward, Soraya Lane

JULIA EXTRA BAND 429

CAITLIN CREWS

Zwischen Rache und Verlangen

Wenn Luca sie hasst – warum küsst er sie dann so heiß? Kathryn kann doch nichts dafür, dass sein Vater sie im Testament bedacht hat! Sie ist dem rachsüchtigen, viel zu attraktiven Italiener wehrlos ausgeliefert …

SHARON KENDRICK

Wie zähmt man einen Milliardär?

Milliardär Conall Devlin will die widerspenstige Amber zähmen: Entweder sie arbeitet für ihn – oder sie fliegt vom Anwesen, das er gerade gekauft hat! Conall ahnt nicht, dass er es ist, der gezähmt wird …

JENNIFER HAYWARD

Die letzte Nacht mit dem Prinzen

Ein letztes Mal liegt Sofia in den Armen von Prinz Nikandros – dann ist ihre stürmische Affäre in Manhattan vorbei. Doch diese letzte Liebesnacht könnte alles ändern: ihre Zukunft und die des Inselreichs …

SORAYA LANE

Tanz mit mir, bis der Morgen kommt

Millionär Blake Goldsmith braucht dringend eine Frau, um endlich den Ruf als Playboy-Junggeselle loszuwerden! Eine Scheinehe mit der Ballerina Saffron ist die Lösung – doch dann beginnt ein Liebestanz …

1. KAPITEL

„Bitte, sag mir, dass das ein schlechter Witz ist, Rafael.“

Luca Castelli verheimlichte seine Verärgerung nicht, als er seinem älteren Bruder in einer der privaten Bibliotheken der Familienvilla gegenübersaß. Rafael war der Chef des Familienunternehmens, womit Luca normalerweise kein Problem hatte.

Aber an diesem Tag war überhaupt nichts normal.

„Ich wünschte, es wäre so“, antwortete Rafael, der in einem gemütlichen Sessel vor dem prasselnden Kaminfeuer saß. „Leider. Was Kathryn betrifft, haben wir keine Wahl.“ Er wirkte asketisch, fast wie ein Mönch, die markanten Gesichtszüge wie in Stein gemeißelt. Das war wieder der alte Rafael, freudlos, verbittert – nicht der glückliche Rafael der letzten Jahre, der die tot geglaubte Liebe seines Lebens geheiratet hatte und inzwischen sein drittes Kind mit ihr erwartete.

Luca hasste es, dass die Trauer sie alle mit ihrer unliebsamen Vergangenheit konfrontierte. Luca hasste Trauer, Punkt.

Ihr Vater, der berühmt-berüchtigte Gianni Castelli, der aus einer Kombination von Weinanbau, Geld und Unerbittlichkeit ein mindestens zwei Kontinente umspannendes Imperium aufgebaut hatte, den die Öffentlichkeit aber eher durch sein schillerndes Eheleben kannte, war tot.

Draußen schlug der Januarregen gegen die Fenster des alten Landsitzes der Castellis. Die Villa thronte so selbstverständlich am oberen Ufer eines Bergsees in den Dolomiten Oberitaliens, wie sie es seit Generationen getan hatte. Die Wolken hingen tief und schwer über dem Wasser und verhüllten den Rest der Welt, als wollten sie auf diese Weise dem alten Mann Tribut zollen, der am selben Vormittag im Mausoleum der Castellis beigesetzt worden war.

Asche zu Asche, Staub zu Staub. Nichts würde mehr sein wie zuvor.

Rafael, der bereits seit Jahren de facto das Familienunternehmen geführt hatte, obwohl sich Gianni stets vehement geweigert hatte, seinen Platz zu räumen, war nun offiziell der Boss. Und Luca war ebenso offiziell als Geschäftsführer eingesetzt, ein Titel, der die Vielzahl seiner Aufgaben als Mitinhaber der Firma kaum erahnen ließ. Beides war längst überfällig gewesen, seit ihr Vater gesundheitlich immer mehr abgebaut hatte.

„Ich verstehe nicht, warum wir das Miststück nicht einfach ausbezahlen können wie die ganze restliche Horde seiner Exfrauen.“ Luca hörte selbst, wie unangemessen aggressiv er klang. Es fiel ihm schwer, ruhig auf dem Sofa sitzen zu bleiben, aber er wusste, wenn er erst aufstand, würde er sich nicht beherrschen können. Das konnte mit einem umgeworfenen Bücherregal oder einer zerbrochenen Glastischplatte enden – Zeichen von Kontrollverlust, den er sich nicht erlaubte, schon gar nicht vor seinem Bruder. „Überschreib ihr eine großzügige Abfindung, und schick sie in die Wüste.“

„Unser Vater hat sich in seinem Testament bezüglich Kathryn eindeutig geäußert“, erwiderte Rafael, der auch nicht glücklich darüber zu sein schien. „Und sie ist seine Witwe, nicht eine seiner geschiedenen Frauen – ein entscheidender Unterschied. Sie hat die Wahl: entweder eine Abfindung oder eine Position in der Firma. Und sie hat sich für Letzteres entschieden.“

„Das ist doch lächerlich.“

Tatsächlich war es viel mehr als bloß lächerlich, aber Luca hatte kein Wort für das, was er jedes Mal empfand, wenn die sechste und letzte Ehefrau seines Vaters auch nur erwähnt wurde. Kathryn. Die sich in diesem Moment ein Stockwerk tiefer in der großen, repräsentativen Bibliothek befand und echte Tränen über den Tod eines Ehemannes weinte, der dreimal so alt wie sie gewesen war und den sie nur aus höchst zweifelhaften Gründen geheiratet haben konnte. Als sie zusammen draußen in der Kälte gestanden hatten, hatte Luca gesehen, wie ihr die Tränen still über die Wangen rannen, als könnte sie sich vor Trauer kaum halten. Er nahm es ihr nicht ab. In seiner Familie hatte er eine Liebe, die eine solche Trauer hervorbrachte, nicht erlebt. Jedenfalls nicht bis vor Kurzem. Rafaels Glück war die erste Ausnahme seit Generationen.

„Woher sollen wir wissen, dass Vater sie nicht in London auf der Straße aufgegabelt hat?“ Er sah seinen Bruder scharf an. „Was zum Teufel soll ich im Büro mit ihr anfangen? Kann sie überhaupt lesen?“

Rafael wandte den Blick seiner dunklen Augen, die Lucas so ähnlich waren, nicht von seinem Bruder. „Du wirst etwas finden, um sie zu beschäftigen, denn das Testament sichert ihr eine Anstellung für drei Jahre zu. Und dabei ist es völlig unerheblich, ob du sie magst oder nicht.“

Mögen war nicht annähernd das, was Luca in den Sinn kam, wenn er an diese Frau dachte. „Ich hege keinerlei Gefühle für sie, welcher Art auch immer.“ Er lachte abfällig. „Was schert mich ein weiteres dieser jungen Dinger, die der alte Mann sich nur zugelegt hat, um seinem Ego zu schmeicheln?“

Sein Bruder antwortete nicht, sah ihn nur schweigend an. Die alten Fenster klapperten, das Feuer knisterte und knackte. Und Luca wollte plötzlich nicht abwarten, was Rafael ihm als Nächstes sagen würde. „Wenn du so entschlossen bist“, kam er ihm zuvor, „warum bringst du sie nicht in Sonoma unter? In unseren Weingärten in Kalifornien könnte sie Erfahrungen sammeln, wie wir es als Jugendliche getan haben. Es wäre für sie ein netter Urlaub, weit, weit weg.“ Von mir, fügte er insgeheim hinzu. Weit, weit weg von mir.

Rafael zuckte die breiten Schultern. „Sie hat sich nun mal für Rom entschieden.“

Rom. Lucas Stadt. Lucas Territorium im hart umkämpften Weingeschäft. Die Marktmacht und globale Verbreitung der Weine von Castelli schrieb er sich als Erfolg auf die Fahne, nicht zuletzt, weil er in den letzten Jahren in diesem Bereich weitgehend allein schalten und walten durfte. Ganz sicher musste er nicht für einen der zahlreichen Fehler seines Vaters büßen und den Babysitter spielen.

Den schlimmsten Fehler seines Vaters in einer langen Reihe von Fehlern – darunter Luca selbst. Sein Vater hätte ihm in diesem Punkt sicher zugestimmt. „Ich habe keinen Platz für einen zusätzlichen Mitarbeiter“, wandte er ein. „Mein Team ist klein und handverlesen. Es gibt keinen Platz für eine Frau, die sich nur eine Auszeit nehmen will von ihrer wahren Berufung: die Trophäe für irgendeinen reichen, alten Mann zu sein.“

Doch Rafael kehrte den Boss heraus. Gnadenlos. „Dann musst du eben Platz schaffen.“

„Wie soll ich eine solche Vetternwirtschaft vor meinen Leuten vertreten? Es bringt mir das ganze Team durcheinander und gefährdet den Erfolg unserer Arbeit …“

„Luca“, fiel Rafael ihm leise, aber entschieden ins Wort. „Ich nehme deine Einwände zur Kenntnis. Aber du solltest das große Ganze im Auge behalten.“

Obwohl Luca innerlich kochte, bemühte er sich, äußerlich unberührt zu wirken. Er streckte die langen Beine aus und fuhr sich lässig durch das schwarze Haar, ein Bild der Unbekümmertheit. Diese Rolle war ihm in Fleisch und Blut übergegangen, denn er hatte sie sein ganzes Leben lang gespielt. Umso mehr war es ihm ein Rätsel, warum es ihm in letzter Zeit zunehmend schwerfiel, diese Fassade aufrechtzuerhalten. Warum sie sich plötzlich nicht mehr wie eine Zuflucht, sondern wie ein Käfig anfühlte. „Klär mich auf“, meinte er nun, in der für ihn typischen, spöttisch gelangweilten Art.

Rafael war anzusehen, dass er sich nicht täuschen ließ. „Kathryn steht im Zentrum des öffentlichen Interesses“, sagte er nach kurzem Überlegen. „Das weißt du so gut wie ich. Saint Kate war seit der Nachricht vom Tod unseres Vaters auf sämtlichen Titelseiten der Boulevardpresse. Ihre große Trauer. Ihre Uneigennützigkeit. Ihre wahre Liebe zu dem alten Mann, allen Widrigkeiten zum Trotz. Und so weiter.“

„Du verzeihst, wenn ich meine Zweifel anmelde, was ihre selbstlose Hingabe betrifft? Es kommt vermutlich der Wahrheit viel näher, dass sie vor allem an seinem Bankkonto interessiert war, auch wenn das nicht annähernd so rührend und unterhaltsam ist.“

„Die Wahrheit ist ein dehnbarer Begriff und hat wenig mit dem zu tun, was du in sämtlichen Klatschspalten abgedruckt findest.“ Rafael erlaubte sich den Anflug eines Lächelns. „Keiner weiß das besser als ich.“

Luca hielt es für klüger, zu schweigen, doch er fand nicht, dass die Art und Weise, wie seine jüngste Stiefmutter geschickt die Presse manipulierte, auf eine Stufe zu stellen war mit den Klatschgeschichten über Rafael und seine Frau Lily. Letztere war früher einmal Rafaels und Lucas Stiefschwester gewesen – der Stammbaum der Castellis war mehr als verworren – und hatte außerdem fünf Jahre lang als tot gegolten, was die Geschichte der beiden natürlich zu einem gefundenen Fressen für die Presse gemacht hatte.

„Fakt ist“, fuhr Rafael fort, „obwohl wir beide die Geschäfte schon seit ein paar Jahren führen, wird es in der Öffentlichkeit anders wahrgenommen. Und Vaters Tod könnte allzu leicht Anlass zu der Behauptung geben, dass seine undankbaren Söhne vor die Wand fahren, was er aufgebaut hat. Wenn wir Kathryn ausschließen und sie schlecht behandeln, wird das auf uns zurückfallen. Damit würden wir nur Öl ins Feuer gießen.“ Er stellte sein Whiskyglas auf den Tisch, ohne davon getrunken zu haben. „Und das will ich nicht. Wir werden uns vor der Klatschpresse keine Blöße geben. Das verstehst du natürlich. Es ist wichtig.“

Was Luca vor allem verstand, war, dass dies ein Befehl war. Von dem Vorstandsvorsitzenden von Castelli Wine und jetzt offiziellen Familienoberhaupt der Castellis an einen seiner vielen Untergebenen. Die Tatsache, dass Luca die Hälfte des Unternehmens gehörte, änderte nichts daran, dass er Rafael unterstellt war. Und es interessierte Rafael nicht, ob Luca diese Sache gefiel oder nicht. Er hatte eine Anweisung erteilt.

Luca stand auf, ehe er etwas sagte, was er bereuen würde. „Das kann nicht gut enden“, gab er noch ruhig zu bedenken.

„Es muss gut enden“, widersprach Rafael. „Genau das ist der Punkt.“

„Ich werde dich daran erinnern, dass das Ganze deine Idee war, wenn sich die Sache zu einem Desaster für Castelli Wine auswächst und die Inkompetenz dieser Frau unser Schiff gnadenlos zum Sinken bringt.“ Luca wandte sich zur Tür. Er musste sich irgendwie körperlich abreagieren – Laufen, Schwimmen, Gewichtheben oder Sex. Nur nicht darüber nachdenken, was diese neue Sachlage für ihn bedeutete.

Rafael lachte. „Kathryn ist kein Eisberg und unser Unternehmen nicht die Titanic.“ Er sah seinen Bruder scharfsinnig an. „Aber vielleicht meinst du ja, dass sie dein Untergang ist?“

Luca meinte vor allem, dass er ganz gern auf die hintergründigen Anspielungen seines Bruders verzichtet hätte. Erst recht, wenn sie Kathryn betrafen.

Zur Hölle mit dieser Frau! Und zur Hölle mit seinem Vater, der sie seinen Söhnen aufgehalst hatte.

Er beantwortete Rafaels Frage mit einer rüden Geste, und das ungenierte Lachen seines Bruders folgte ihm durch die langen Flure des imposanten alten Familiensitzes. Vorbei an einer endlosen Reihe von Ahnenporträts, die Luca überhaupt nicht mehr bewusst wahrnahm. Genauso wenig wie die Marmorskulpturen dieses oder jenes bekannten italienischen Bildhauers, die so ziemlich in jeder Ecke oder Nische standen. Das alles war schon da gewesen, bevor Luca oder Rafael geboren worden waren, und würde noch genauso hier stehen, wenn Arlo, Rafaels ältester Sohn, irgendwann Großvater sein würde. Die Familie der Castellis überdauerte, egal, was für einen Schlamassel ihre Mitglieder zwischenzeitlich anrichteten.

Was vermutlich hieß, dass auch er diese Sache letztendlich überstehen würde. Irgendwie.

Aus einem der Zimmer hörte er Lilys Stimme und warf im Vorbeigehen einen Blick hinein. Seine im sechsten Monat schwangere Schwägerin hatte wieder einmal eine „Diskussion“ mit dem achtjährigen Arlo und dem zweijährigen Renzo über „angemessenes Verhalten“. Luca grinste unwillkürlich, denn Lilys Standpauke ähnelte sehr denjenigen, die er als Kind am selben Ort erhalten hatte. Natürlich nicht von seiner Mutter, die auf dieser Rolle sehr bald nach Lucas Geburt dankend verzichtet hatte, und ganz bestimmt nicht von seinem Vater, der Wichtigeres zu tun gehabt hatte, als sich um häusliche Angelegenheiten oder Kindererziehung zu kümmern. Nein, er war von gut bezahlten und dementsprechend bemühten Nannys erzogen worden, neben einer ganzen Reihe von Stiefmüttern, deren Motive erheblich komplizierter gewesen waren.

Wahrscheinlich rührte daher seine tief verwurzelte Abneigung gegen Komplikationen. Und gegen Stiefmütter.

Luca war in einer sehr chaotischen Familie aufgewachsen, die zudem ihre vielfältigen privaten Dramen in aller Öffentlichkeit in den Klatschspalten der Boulevardpresse ausgebreitet hatte. Luca hatte das immer gehasst. Er liebte es, wenn alles sauber und glatt lief. Geordnet. Keine Melodramen. Keine theatralischen Spielchen, die in der Presse breitgetreten wurden, wie es regelmäßig bei den Castellis der Fall war. Dabei kümmerte es ihn nicht, dass er als einer der unverbesserlichsten Playboys der Welt galt. Im Gegenteil, er pflegte dieses Image sogar bewusst, sodass ihn im ersten Moment niemand wirklich ernst nahm, was ihm sowohl privat wie auch geschäftlich oft von Nutzen war. Er war kein Herzensbrecher, aber er hielt sich einfach fern von den emotionalen Komplikationen, in die sich alle anderen Mitglieder seiner Familie regelmäßig verstrickten.

Doch Kathryn ist eine andere Geschichte, schoss es ihm durch den Kopf, als er die große Bibliothek im Erdgeschoss betrat und sein Blick sofort auf die zierliche Gestalt fiel, die am Fenster stand und in den Nebel hinausblickte, als wollte sie mit ihm um den trostlosesten Eindruck konkurrieren. Kathryn verhieß nicht bloß Chaos. Kathryn war die Katastrophe schlechthin.

Es überraschte ihn nicht, dass die Presse diese Woche gar nicht genug über Saint Kate berichten konnte, wie die Boulevardreporter sie getauft hatten, weil sie sich so hingebungsvoll einem alten Mann wie Gianni Castelli – und seinem Vermögen – gewidmet hatte. Kathryn spielte die Rolle der unschuldigen und verletzbaren Witwe so gut, dass Luca oft gedacht hatte, sie wäre besser Schauspielerin geworden.

Es war schon eine ganz besondere Vorstellung, mit fünfundzwanzig Jahren die verständnisvolle Geliebte und fügsame Trophäe für einen dreimal so alten Mann zu spielen. Unbegreiflich war Luca, wieso ein so offensichtliches Flittchen wie Kathryn ihn derart verrückt machte, dass es ihm sogar jetzt in den Fingern kribbelte, ihre seidige Wange zu berühren. Er fühlte sich unwiderstehlich zu ihr hingezogen, und nichts konnte daran etwas ändern … nicht die Tatsache, dass sie mit seinem eigenen Vater verheiratet gewesen war, und nicht die Aussicht, dass sie nun auch noch in sein Büro in Rom, seine Zuflucht, eindringen würde.

Er starrte sie von der Tür her an, quer durch den großen Raum, als könnte er diese Gefühle kraft seines Willens verschwinden lassen. Oder sie verschwinden lassen. Aber er wusste es natürlich besser.

Sein Vater hatte es praktisch zu seinem zweiten Beruf gemacht, über die Jahre eine ganze Reihe viel jüngerer Frauen zu heiraten und ihren Retter zu spielen. Er war in dieser Rolle aufgegangen. Gianni Castelli hatte nie viel Zeit für seine Söhne oder für seine erste Frau gehabt, die er in eine psychiatrische Klinik abgeschoben und nach ihrem Tod, wenn überhaupt, nur sehr kurz betrauert hatte. Aber für die Parade seiner Geliebten und Ehefrauen mit all ihren Bedürfnissen, Sorgen, Krisen und Melodramen hatte er stets ein offenes Ohr gehabt und sich in der Rolle des großzügigen Wohltäters, der sämtliche Probleme durch Zücken seiner Kreditkarte aus der Welt schaffen konnte, gefallen. Als Gianni kaum einen Monat nach der Scheidung von seiner fünften Frau mit seiner sechsten Ehefrau im Schlepptau in Italien aufgetaucht war, war Luca nicht besonders überrascht gewesen.

„Er hat eine neue Braut“, hatte Rafael ihn vorgewarnt, als Luca an jenem Wintermorgen vor zwei Jahren in den Dolomiten eingetroffen war. „Schon wieder.“

Luca verdrehte nur die Augen. „Ist sie wenigstens volljährig?“

„Gerade so.“

„Sie ist dreiundzwanzig“, mischte sich Lily ärgerlich ein, zu dem Zeitpunkt hochschwanger mit Renzo. „Also wirklich kein Kind mehr. Und sie scheint sehr nett zu sein.“

„Natürlich ist sie nett.“ Rafael grinste ungeniert, als Lily ihn missbilligend ansah. Ihr liebevolles Verhältnis schien eine Wiedergutmachung für all das Chaos, das die Castellis durch die Generationen in ihren privaten Beziehungen angerichtet hatten. „Das ist schließlich ihr Job, oder nicht?“

Luca bereitete sich also innerlich auf eine weitere Stiefmutter vom Typ der letzten vor: eine scharfe Blondine, die Gianni vergöttert hatte, obwohl sie mehr Zeit an ihrem Handy oder damit verbracht hatte, seinen Söhnen unsittliche Angebote zu machen, als mit ihm. Corinna, ein Exmodel für Bademoden, war zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit neunzehn Jahre jung gewesen.

Doch anstelle einer weiteren mit Silikon aufgepolsterten Goldgräberin, fand Luca beim Betreten der großen Bibliothek, wo ihn sein Vater mit seinem Enkel Arlo erwartete, Kathryn vor. Kathryn, die dort nicht hätte sein sollen.

Das war sein erster Gedanke gewesen. Wie vom Donner gerührt blieb er stehen und sah die Frau finster an, die ihn in ihrer kühlen, britischen Art höflich anlächelte. Bis ihr Lächeln seinem grollenden Blick nicht mehr standhielt und sie die sinnlichen Lippen zusammenpresste.

Sie gehört nicht hierher, schoss es ihm erneut durch den Kopf. Sie sollte nicht neben dem hohen Lehnstuhl stehen, in dem sein alter, hinfälliger Vater saß, das Haar schlohweiß und die Hände von Arthrose gezeichnet. Sie hätte nicht mit gefalteten Händen wie ein Schulmädchen dastehen sollen, sondern Luca mit kokettem Augenaufschlag zu bezirzen versuchen, wie er es von seinen jungen Stiefmüttern gewohnt war.

Sie hätte nicht seine Stiefmutter sein sollen. Dieser Gedanke drängte sich in den Vordergrund. Nicht sie.

Bekleidet mit einer schwarzen Hose, kombiniert mit einem schlichten karamellfarbenen Kaschmirpullover, dessen dezenter Ausschnitt ihre Reize nicht gewollt betonte, wirkte sie elegant, geschäftsmäßig und alles andere als billig und aufgetakelt. Sie war klein und zierlich, das zarte Gesicht beherrscht von großen graugrünen Augen unter einem langen, dunklen Pony und eingerahmt von glattem dunkelbraunem Haar, das ihr in seidigen Kaskaden über die Schultern fiel und im flackernden Schein des Kaminfeuers golden reflektierte. Und dann war da natürlich ihr Mund.

Ihr Mund. Die sinnlichen Lippen einer Kurtisane, voll und aufreizend. Einen Moment lang hatte Luca das irrwitzige Gefühl, Kathryn hätte keine Ahnung von ihrer erotischen Ausstrahlung. Als wäre sie eine echte Unschuld … völlig absurd natürlich. Vielleicht war der Wunsch Vater seiner Gedanken gewesen. Keine Unschuld heiratete einen schwerreichen Mann, der alt genug war, ihr Großvater zu sein.

„Luca“, hatte sein Vater ihn angefahren. „Was ist los mit dir? Zeig, dass du Manieren hast! Kathryn ist meine Frau und deine neue Stiefmutter.“

Unbändiger Zorn erfüllte ihn, drohte ihn zu ersticken. Nur wenige Schritte, und er stand dicht vor ihr, baute sich in voller Größe vor ihr auf, sodass sie noch winziger wirkte.

Aber sie wich nicht zurück. Nicht Kathryn. Ein kurzes, schmerzliches Aufblitzen in ihren ausdrucksvollen Augen. Erkenntnis, gefolgt von Bestürzung. Dann hatte sie sich wieder im Griff, nahm die zierlichen Schultern zurück und hielt ihm ihre Hand entgegen.

„Es freut mich, dich kennenzulernen“, begrüßte sie ihn höflich, doch ihr kühler, britischer Tonfall half nicht, die Glut erkalten zu lassen, die sie in ihm entfacht hatte.

Er nahm ihre Hand, obwohl er im selben Moment wusste, dass es ein Fehler war. Schon bei der ersten Berührung durchzuckte ihn heißes Verlangen. Doch anstatt sie vernünftigerweise loszulassen, fasste er noch fester zu und fühlte, wie ihr Puls raste. Noch dazu öffnete sie ihre Lippen, als würde sie es auch fühlen.

Luca musste sich brutal ins Gedächtnis rufen, dass sie nicht allein waren und sie nicht frei war. Tatsächlich war sie etwas viel Schlimmeres als nur nicht frei!

„Es ist mir ein Vergnügen, Stiefmutter“, sagte er in fast anzüglichem Ton, weil er des Aufruhrs seiner Gefühle nicht Herr wurde. Er sah und spürte, wie sie erstarrte, entweder als Reaktion auf seine Feindseligkeit oder weil sie sich seines Dilemmas bewusst war. Er würde es nie erfahren. „Willkommen in der Familie.“

Von da an war es nur noch schlimmer geworden.

Und nun befand er sich wieder an exakt der gleichen Stelle. In der großen Bibliothek, zwei Jahre später, wo Kathryn verloren am Fenster stand, in einem schlichten schwarzen Kleid, in dem sie viel zu hübsch und zerbrechlich aussah. Das lange dunkle Haar hatte sie hochgesteckt, das zarte Gesicht war kreideweiß, die großen Augen unter den dunklen Ponyfransen blickten durch das Fenster auf den See hinaus.

Sie sah wirklich mitgenommen aus. Als würde sie aufrichtig um Gianni trauern … den Mann, den sie doch schamlos für ihre Zwecke ausgenutzt hatte. Zwecke, die offensichtlich einschlossen, dass sie sich gegen Lucas Willen in dessen Büro drängte.

Das machte ihn wütend. Jedenfalls redete er sich ein, dass es nur das war, was so heiß in ihm aufwallte: Wut. Und nicht dieses andere, viel gefährlichere Gefühl – dieses unstillbare Verlangen, das er mit aller Macht zu verleugnen versuchte, um sich nicht selbst zu verachten.

„Komm schon, Kathryn“, sagte er bewusst spöttisch in die Stille hinein und sah, wie Kathryn beim Klang seiner Stimme erstarrte. „Der alte Mann ist tot, und die Reporter sind fort. Für wen soll diese rührselige Vorstellung sein?“

2. KAPITEL

Der unverwechselbar spöttische Klang von Luca Castellis Worten, sein makelloses Englisch, kaum merklich eingefärbt von seinem italienischen Akzent, gerade so, dass es sexy war, aber mit einem schroffen Unterton, den er ausschließlich für sie reservierte … Kathryn zuckte unwillkürlich zusammen. Derart, dass es ihm nicht entgehen konnte.

Bravo, dachte sie verzweifelt. Jetzt weiß er genau, wie sehr er dir unter die Haut geht.

Sie glaubte nicht mehr daran, dass sie ihn irgendwie dazu bringen könnte, sie zu mögen. Luca hatte in den vergangenen zwei Jahren keinen Zweifel daran gelassen, dass es dazu nie kommen würde. Aber es war elementar wichtig für sie, dass er sie in dieser neuen Phase ihres Lebens nicht offen hasste.

Waffenstillstand war besser als nichts und musste für den Anfang genügen. Ihre Mutter hatte sie schließlich nicht zu einem Feigling erzogen, auch wenn Kathryn sie in vieler Hinsicht enttäuscht hatte. Rose Merchant hatte sich nie unterkriegen lassen, woran sie ihre Tochter bei jeder Gelegenheit erinnert hatte. Deshalb war eine Karriere in der freien Wirtschaft, die ihrer Mutter als Alleinerziehende verwehrt geblieben war, das Mindeste, das Kathryn anstreben konnte, um die Opfer ihrer Mutter zu würdigen.

Und um ihre Schuldgefühle wegen ihrer Heirat mit Gianni zu beschwichtigen … das einzige Mal, dass die Würdigung der Opfer ihrer Mutter es ihr ermöglicht hatte, auch etwas für sich zu tun. Doch das wollte sie lieber nicht genauer analysieren, weil sie sich dann undankbar vorkam.

Kathryn richtete sich auf und strich sich nervös über den Rock ihres dezenten schwarzen Kleids. Sie hatte sich viele Gedanken darüber gemacht, was sie zur Beerdigung tragen sollte, um nicht wie das berechnende Flittchen auszusehen, für das sie die Familie … und vor allem Luca … hielt. Trotzdem hatte sie schreckliche Angst, dass es letztendlich nur zu einer billigen Möchtegern-Version von Audrey Hepburn gereicht hatte. Die Presse würde sich darauf stürzen und es eine Hommage an Audrey oder etwas ähnlich Peinliches nennen, und Luca würde natürlich annehmen, dass sie es bewusst darauf angelegt hätte, im Hinblick auf irgendein finsteres Ziel, das er ihr von Anfang an unterstellt hatte. Er fand nie ein gutes Haar an ihr.

Doch es war sinnlos, das Unvermeidliche hinauszuzögern. Sie hatte sich immer gewünscht, im kreativen Bereich für die Firma arbeiten zu können. Die Entwicklung neuer Marken und Werbestrategien interessierte sie viel mehr als die eher trockene Arbeit mit Zahlen. Ihre ganze Ehe hatte sie sich ausgemalt, sich einmal zusammen mit Lucas kreativem Genie für das Familienunternehmen einzusetzen.

Kathryn atmete tief ein, drehte sich um und nahm all ihren Mut zusammen, um sich ihrem ganz persönlichen Dämon zu stellen. „Hallo, Luca“, sagte sie und war stolz darauf, wie kühl und gelassen ihre Stimme klang, obwohl sie genau das Gegenteil fühlte. Aus verschiedenen Gründen, vor allem aber, weil sie von Anfang an das Gefühl gehabt hatte, direkt in die Sonne zu blicken, wenn sie Luca Castelli ansah. Und wie jedes Mal machte es sie ganz schwindelig.

Er kam auf sie zu und war, sehr zu ihrem Leidwesen, so sündhaft schön wie immer. Groß und breitschultrig, besaß er den perfekten Körper eines Athleten, weshalb die internationale Boulevardpresse gar nicht genug davon bekam, ihn abzulichten. Sein dichtes schwarzes Haar wirkte immer ein wenig zerzaust, als würde er sich ständig mit den Fingern hindurchfahren, um es sich aus dem markanten Gesicht zu streichen. Selbst jetzt, am Tag der Beerdigung seines Vaters, bekleidet mit einem maßgeschneiderten dunklen Anzug, verströmte er ein lässiges Flair. Jene scheinbar träge, spielerische, vollkommen entspannte Haltung, wie sie nur der Spross einer ebenso uralten wie steinreichen Familie überzeugend entfalten konnte. Egal, was er gerade tat, er besaß die Aura eines Mannes, dessen vornehmlicher Lebenszweck das pure Vergnügen war. Sein sinnlicher Mund und seine blitzenden samtbraunen Augen schienen stets zu einem gewinnenden Lachen bereit.

Außer natürlich, wenn er sie ansah.

Sein finsterer Blick machte ihn nicht weniger attraktiv. Aber er sorgte dafür, dass Kathryn innerlich zitterte und am liebsten die Flucht ergriffen hätte. Nur hätte das alles noch verschlimmert. Und wenn sie eines in den vergangenen zwei Jahren gelernt hatte, dann, dass man Luca Castelli nicht entkommen konnte. Er ließ sich nicht ausmanövrieren. Man konnte ihn allenfalls überleben.

„Hallo, Stiefmutter.“ Seine tiefe, warme Stimme schlich sich in ihr Herz, während der unverkennbar spöttische Unterton ihr einen Dolchstoß versetzte, weil er ihr das furchtbare Gefühl gab, sich schämen zu müssen. Scheinbar ungerührt schlenderte Luca auf sie zu und bannte sie mit seinem glühenden Blick. „Oder sollen wir dir jetzt lieber eine andere Anrede zuteilwerden lassen? Die Witwe Castelli hat einen interessant morbiden Klang, meinst du nicht? Ich werde es auf deine Visitenkarten drucken lassen.“

„Weißt du“, erwiderte sie kühl, „wenn du einmal nur für fünf Minuten nicht unausstehlich zu mir wärst, würde die Welt davon nicht untergehen.“

Er näherte sich ihr mit versteinerter Miene. „Ich begreife nicht, warum es unbedingt ein Büro sein muss. Und dann auch noch ausgerechnet mein Büro. Es gibt doch unzählige Hotelbars in ganz Europa, die Frauen mit deinen Ambitionen eine geeignete Bühne bieten. Du solltest keine Mühe haben, dort innerhalb weniger Wochen dein nächstes Zielobjekt zu finden.“

Es hätte sie eigentlich nicht überraschen dürfen, dass er sie derart hasste, denn Luca hatte mit seinem Urteil nicht hinter dem Berg gehalten, seit sie vor zwei Jahren mit Gianni Castelli nach Italien gekommen war.

„Ich vermute, deine Welt würde wirklich untergehen, wenn du die Möglichkeit in Betracht ziehen würdest, dass ich nicht das bin, wofür du mich hältst.“ Es war absurd, wie sehr es sie kränkte, dass dieser feindselige Mann sie nie gemocht hatte. Kathryn flüchtete sich in Wut. „Du müsstest all deine Vorurteile überdenken, und wer weiß, was dann passieren könnte? Für einen so festgefahrenen Mann wie dich muss das beängstigend sein.“

Sie hätte eigentlich wissen müssen, dass es unklug war, ihn anzugreifen. Ihr blieben ein paar endlos erscheinende Sekunden, es zu bereuen, als Luca jetzt durch den riesigen Raum auf sie zukam, vorbei an raumhohen Regalen voller kostbarer Erstausgaben in Sprachen, deren Existenz ihr teilweise gar nicht bekannt gewesen war. Es war zweifellos dieser privilegierte Hintergrund, der Luca Castelli sein nahezu grenzenloses Ego verlieh.

„Ich kann genauso gut die Gelegenheit nutzen, um dir mitzuteilen, was ich von allen Mitarbeitern meines Büros in Rom erwarte“, sagte er kalt. „Erstens, Gehorsam. Ich sage dir, wenn ich etwas von dir hören will. Andernfalls ziehe ich es vor, dass du schweigst. Du kannst davon ausgehen, dass das immer der Fall ist. Zweitens, Diskretion. Wenn ich dir nicht vertrauen kann, wenn du ständig zur Klatschpresse rennst und rührselige Interviews darüber gibst, wie man dir Unrecht getan und dich zum Opfer gemacht hat, Saint Kate …“

Sie zuckte sichtlich zusammen. „Bitte, nenn mich nicht so! Du weißt genau, dass die Boulevardpresse das erfunden hat.“ Ihre eigene Mutter hatte mehr als einmal über diesen Namen und das damit verbundene Image die Nase gerümpft. Und natürlich darauf hingewiesen, dass sie Kathryn alles geopfert und sehr wenig im Gegenzug dafür erhalten hatte, aber niemals als heilig bezeichnet worden war. „Es hat nichts mit mir zu tun.“

„Glaub mir“, erwiderte Luca in der für ihn so typischen, spöttischen Art, „ich mache mir keine Illusionen über dich oder die Reinheit deiner Motive.“

Seine Worte trafen sie wie eine Ohrfeige. Sie blinzelte, schluckte, zwang sich aber, nicht zurückzuweichen. Denn dies war ihre Chance, etwas zu tun, wovon sie ehrlich glaubte, dass sie gut darin sein würde … anstatt etwas zu tun, wovon andere meinten, sie sollte gut darin sein. Ihr war klar, dass er sie hasste. Warum, war letztlich egal. Kathryn war nie auf Status oder Juwelen aus gewesen oder was immer sich ihre Vorgängerinnen sonst von einer Heirat mit Gianni Castelli erhofft hatten. Nein, sie hatte nur eines gewollt: die Chance, sich in einem Job zu beweisen, von dem sie überzeugt war, dass er ihr lag, in einem Unternehmen mit internationaler Bedeutung. Sich so eine strahlende, vielversprechende Zukunft aufzubauen und ihrer Mutter zu beweisen, dass auch sie Erfolg haben konnte. Auf ihre Weise und nicht auf Rose’. Das hatte Gianni ihr versprochen, als er sie überredet hatte, ihr Masterstudium in Business Administration in London aufzugeben und ihn zu heiraten: Die Möglichkeit, in seinem Familienunternehmen zu arbeiten, wenn die Ehe beendet war.

Und sie wusste, wenn sie ihrem Impuls nachgab und tat, wonach ihr in diesem Moment zumute war – davonlaufen –, würde sie nicht mehr zurückkommen, und Luca würde ihr ganz bestimmt keine zweite Chance geben, egal, was in Giannis Testament stand. Ihre Mutter würde ihr das nie verzeihen. Und das einsame, kleine Mädchen in Kathryns Innerem, das sich nie etwas anderes gewünscht hatte als Roses Liebe und Anerkennung, konnte das nicht zulassen.

„Luca“, sagte sie deshalb so ruhig wie möglich, „bevor du richtig beleidigend wirst, worin du zugegebenermaßen ein besonderes Talent hast, solltest du verstehen, dass ich die volle Absicht habe …“

„Der Himmel bewahre mich vor den Absichten einer skrupellosen Frau“, fiel er ihr ins Wort. „Drittens, im Testament meines Vaters heißt es nur, dass ich deinem Wunsch Rechnung tragen muss, deine Talente in einem Bürojob auszuprobieren, aber nicht, welcher Art diese Beschäftigung sein soll. Falls du also meinst, dich über irgendetwas beklagen zu müssen – egal worüber –, wird es nur schlimmer. Verstanden?“

Er war ihr jetzt so nahe, dass sie Panik in sich aufsteigen fühlte. Ihr Herz pochte, ihre Knie zitterten. Sie wusste nicht, was mit ihr geschah, und suchte instinktiv ihr Heil im Angriff. „Was für großartige Aussichten!“ Sie gab sich keine Mühe, ihren Sarkasmus zu mäßigen, während sie Lucas provozierendem Blick standhielt. Gianni war tot, jetzt wurde mit offenem Visier gekämpft. „Hast du vielleicht vor, mich mit der Zahnbürste den Boden schrubben zu lassen? Das würde mich bestimmt … irgendetwas lehren. Ganz sicher.“

„Das bezweifle ich sehr. Aber, wenn ich dir etwas auftrage, egal was es ist, erwarte ich, dass es erledigt wird. Ohne Ausflüchte.“

Sie weigerte sich, sich einschüchtern zu lassen, auch wenn Lucas Zorn körperlich greifbar schien – zusammen mit all den anderen gefährlichen Schwingungen, die stets zwischen ihnen vorhanden waren. Er war ihr so unglaublich nah. „Und was, wenn sich herausstellt, dass du dich irrst und ich gar nicht so unnütz bin, wie du denkst? Ich vermute, dass Entschuldigungen nicht gerade zu deinen Stärken gehören.“

Ein verächtliches Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. „Habe ich dir jemals gesagt, wie sehr ich Frauen wie dich hasse?“

Hass. Was für ein starkes Wort. Kathryn hatte nie begriffen, warum alles, was sich zwischen ihnen abspielte, so heftig sein musste. Und warum es sie so tief berührte. Als würde Luca Castelli ihr etwas bedeuten. Was natürlich Unsinn war. Er war für sie einfach ein Mittel zum Zweck. „Nun, du hast es bislang nicht offen ausgesprochen“, antwortete sie und war stolz darauf, wie gefasst sie klang. „Trotzdem ist es dir gelungen, von Anfang an keinen Zweifel an deinen Gefühlen zu lassen.“

„Mein Vater hat im Lauf der vergangenen Jahre immer jüngere Frauen geheiratet, etwa so häufig, wie andere Männer ihr Hemd wechseln“, sagte Luca abweisend. „Du bist lediglich die letzte in einer langen Reihe unbedeutender Bettgespielinnen. Du bist nicht die schönste und nicht einmal die jüngste. Du bist lediglich diejenige, die ihn überlebt hat. Es muss dir doch klar gewesen sein, dass du ihm nichts bedeutet hast.“

Kathryn schüttelte den Kopf. „Ich weiß genau, was ich deinem Vater bedeutet habe.“

„An deiner Stelle würde ich mich mit berechnenden, intriganten Machenschaften nicht auch noch brüsten“, parierte er sofort. „Schon gar nicht in meinem Büro. Du wirst feststellen, dass meine hart arbeitenden Mitarbeiter, die wegen ihrer Leistungen und nicht wegen ihrer zweifelhaften Verführungskünste geschätzt werden, davon wenig begeistert sein werden.“

Verführungskünste. Die unverhohlene Verachtung, mit der er dieses Wort aussprach, war einfach zu viel. Kathryn verlor die Beherrschung. „Ich habe mich in den zwei Jahren meiner Ehe immer wieder gefragt, warum du mich derart hasst.“ Sie ignorierte das gefährliche Aufblitzen in seinen dunklen Augen. „Wie es sein kann, dass ein erwachsener, kluger Mann mit deinen herausragenden Fähigkeiten als Geschäftsmann einen anderen Menschen quasi auf den ersten Blick und völlig grundlos verabscheut? Es ergab für mich einfach keinen Sinn.“

Mehr denn je war sie sich in diesem Moment der eindrucksvollen Umgebung bewusst. Gerade hier in der großen Bibliothek waren sie von Zeugnissen geschichtsträchtiger italienischer Pracht buchstäblich umzingelt. Draußen verlor sich der kristallklare Bergsee im Nebel, umsäumt von den majestätischen Gipfeln der Dolomiten. Doch auch in dieser verwunschenen, märchenhaften Welt war Giannis Tod für Kathryn ein spürbarer Verlust. Der gute, alte Gianni … nie wieder würde sie ihn zum Lachen bringen oder den Klang seiner tiefen Stimme hören, wie er sie cara nannte. Aber Luca benahm sich so abscheulich wie immer. Sie konnte es einfach nicht ertragen. „Ich bin ein anständiger Mensch, der einfach nur versucht, das Richtige zu tun. Mit anderen Worten…“, sie erhob ihre Stimme, als Luca etwas Abfälliges einwerfen wollte, „… ich habe all den Hass und die Unterstellungen nicht verdient, mit denen du mich überschüttest. Ich habe deinen Vater geheiratet und mich um ihn gekümmert, mehr nicht. Weder dein Bruder noch du hattet Interesse daran, das zu tun. Es gäbe durchaus Männer in eurer Position, die mir dafür danken würden.“

Luca baute sich vor ihr auf, als wollte er ihr endgültig die Luft zum Atmen nehmen. „Du warst doch nur eine von vielen …“

„Ja, aber das ist es doch gerade“, fiel sie ihm mutig ins Wort. „Nachdem du all die anderen zuvor erlebt hast, warum schenkst du mir überhaupt so viel Beachtung? Die anderen fünf hast du nicht so offen verachtet. Lily hat mir von ihnen erzählt. Ihre Mutter hast du sogar gemocht. Meine direkte Vorgängerin hat mehr als einmal versucht, zu dir ins Bett zu kriechen, und du hast jedes Mal gelacht, wenn du sie aus deinem Schlafzimmer geworfen hast. Du hast sie nur aufgefordert, es endlich bleiben zu lassen, weil es für dich nie infrage gekommen wäre. Du hast nicht einmal deinem Vater davon erzählt. Aber du hast sie nicht gehasst, wie mich … obwohl du wusstest, dass sie all das war, was du mir vorwirfst.“

„Behauptest du im Ernst, dieser Ausbund an Tugend zu sein, als den dich die Boulevardpresse darstellt? Komm schon, Kathryn, für so naiv kannst du mich nicht halten!“

Es war, als wollte sich alles, was sie in zwei Jahren an Kränkungen durch ihn hinuntergeschluckt hatte, auf einmal Luft machen. „Ich habe wirklich keine Ahnung, warum du mich vom ersten Moment an so gehasst hast. Ich begreife nicht, was in deinem Kopf vor sich geht.“ Ohne zu überlegen, stieß sie ihm zwei Finger in die breite Brust. „Aber nach heute ist mir das auch völlig egal. Behandle mich einfach wie jeden anderen deiner Mitarbeiter. Hör auf, so zu tun, als wäre ich ein Dämon, der geradewegs aus der Hölle geschickt worden ist, um dich zu quälen.“

Als sie ihn berührte, erstarrte er. „Nimm deine Hand weg“, sagte er kalt und bedrohlich. „Sofort.“

„Ich muss nicht beweisen, dass ich ein anständiger Mensch bin. Es ist mir egal, wenn alle Welt erfährt, dass euer Vater euch gezwungen hat, mich einzustellen. Ich weiß, dass ich meinen Job gut machen werde. Meine Arbeit wird für sich sprechen.“ Seine Aufforderung ignorierend, stieß sie ihm erneut die Finger in die Brust. „Aber deine Beleidigungen werde ich mir nicht länger anhören!“

„Ich sagte, du sollst die Hand wegnehmen.“

Trotzig hielt sie seinem warnenden Blick stand, obwohl ihr hätte klar sein müssen, dass sie mit dem Feuer spielte. „Es ist mir egal, was du von mir denkst!“ Um ihre Worte zu unterstreichen, stieß sie ihn ein drittes Mal, noch fester als zuvor, in die weiche Stelle unter dem Brustbein.

Luca reagierte so schnell, dass sie gar nicht begriff, wie ihr geschah. Kaum hatten ihre Finger ihn berührt, hatte er ihre Hand gepackt und ihr auf den Rücken gedreht, während er Kathryn fest an seine breite Brust presste. Sie hatte das Gefühl, von den höchsten Gipfeln der Dolomiten in einen Abgrund zu stürzen. Der dünne Stoff ihres Kleids bot keinen ausreichenden Schutz, als sie ihm jetzt so unerwartet nahekam. Sie roch den Duft seines exklusiven Aftershaves, fühlte seine Kraft und seine lodernde Leidenschaft, die sie zu verzehren drohte … und konnte keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen.

„Das …“, flüsterte Luca an ihren halb geöffneten Lippen, „… das denke ich von dir …“ Und dann küsste er sie auf den Mund.

3. KAPITEL

Er fragte nicht um Erlaubnis. Er zögerte nicht. Er nahm einfach von ihren Lippen Besitz.

Kathryn wartete auf das vertraute Gefühl von Angst, Unbehagen, ja Panik, das immer bei ihr einsetzte, sobald ein Mann sexuelles Interesse an ihr zeigte … doch es kam nicht.

Luca küsste sie mit der für ihn so typischen Selbstsicherheit. Leidenschaftlich, fordernd, wundervoll männlich. Und vor allem, als hätten sie sich schon tausend Mal zuvor geküsst. Als hätten die vergangenen zwei Jahre nur darauf abgezielt. Auf diesen heißen, erregenden Moment, der Kathryn mangels Erfahrung völlig überwältigte. Ihr blieb gar nichts anderes übrig, als sich dem Ansturm ihrer Gefühle zu ergeben. Eine wohlige Schwäche breitete sich in ihr aus, während gleichzeitig ein unbändiges Verlangen in ihr erwachte und nach Erfüllung drängte.

Kathryn vergaß. Sie vergaß, wer er war. Dass sie zwei Jahre seine Stiefmutter gewesen war, obwohl er acht Jahre älter war als sie. Und sie vergaß, dass er nicht nur ihr schärfster Kritiker und erbitterter Feind, sondern jetzt auch ihr Boss war.

Sie vergaß alles außer dem erregenden, himmlischen Zauber, den er in diesem Moment auf sie ausübte. Als wüsste er genau, wonach sie sich sehnte und wozu sie fähig war, wenn sie sich ganz im Feuer der Leidenschaft verlor. Dieses Feuer, das sich verzehrend in ihr ausbreitete und sie veranlasste, dem Liebesspiel seiner Zunge wie entfesselt entgegenzukommen …

Er schob sie plötzlich von sich, als hätte er sich an ihr verbrannt. „Verdammt“, stieß er aus, gefolgt von einem heftigen italienischen Fluch. Doch es kostete ihn sichtlich Mühe, sie loszulassen.

Kathryn brachte kein Wort heraus. Sie begriff nicht einmal im Ansatz, was mit ihr geschah, welche Gefühle mit so überwältigender Macht von ihr Besitz ergriffen hatten.

Eine ganze Weile standen sie einfach nur da und blickten sich an. Lucas Gesicht war wie versteinert.

Schließlich hielt Kathryn das angespannte Schweigen nicht mehr aus. „Du hast mich geküsst“, sagte sie und hätte sich am liebsten geohrfeigt, als die Worte ausgesprochen waren. Doch ihre Lippen waren noch heiß von seinem Kuss, und in ihrem Innern brannte immer noch ein Feuer, dessen sie nicht Herr werden konnte.

In seinen dunklen Augen glomm eine gefährliche Glut. „Wag es nicht, vor mir die Unschuld zu spielen.“

„Was soll das heißen?“

„Es soll heißen, dass ich den Unterschied zwischen einer Unschuld und einer Hure kenne. Dein Kuss hat dich verraten.“

Sie fühlte einen flammenden Zorn in ihm, den sie genauso wenig verstand wie die Leidenschaft, mit der er sie geküsst hatte. „Hör zu, Luca“, sagte sie vorsichtig. „Was da gerade zwischen uns passiert ist, sollten wir als emotionale Überreaktion nach einem sehr langen, anstrengenden Tag abschreiben …“

„Ich werde nicht dein nächstes Zielobjekt sein, Kathryn“, fiel Luca ihr scharf ins Wort. „Hör gut zu, was ich sage: Vergiss es.“

„Ich habe keine Zielobjekte. Ich bin doch keine Waffe! Wie kannst du nur so etwas von mir denken?“

Er packte sie am Arm und zog sie zu sich heran. Sofort entflammte zwischen ihnen erneut dieses verzehrende Feuer, das ihr die Sinne zu rauben drohte.

„Ich will dich nicht in meinem Büro haben. Ich will nicht, dass du den Namen Castelli noch mehr beschmutzt, als es bereits geschehen ist. Ich will dich nicht in der Nähe von irgendetwas sehen, das mir wichtig ist.“

Sie musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um nicht zurückzuweichen. „Diese Drohung wäre vermutlich viel überzeugender, wenn du mich nicht gerade festhalten würdest“, sagte sie so ruhig wie möglich. „Schon wieder, übrigens.“

Luca lachte verächtlich und ließ sie los. „Ich werde niemals so tief sinken, eine abgelegte Geliebte meines Vaters zu übernehmen. Noch werde ich zulassen, dass du mit deinen kleinen Intrigen meine Mitarbeiter korrumpierst. Deine Spielchen funktionieren bei mir nicht.“

„Genau.“ Sie wusste selbst nicht, welcher Teufel sie in diesem Moment ritt. „Deshalb hast du mich ja auch wohl geküsst … um deine Unangreifbarkeit zu beweisen.“

Luca erstarrte, wie vom Donner gerührt.

Unwillkürlich hielt Kathryn den Atem an. Die Anspannung zwischen ihnen wuchs bedrohlich, unausweichlich auf eine Katastrophe zusteuernd. Es war elektrisierend, erregend. Wie aus weiter Ferne hörte Kathryn das Prasseln des Regens an den Fensterscheiben. Irgendwo in dem weitläufigen alten Herrenhaus stieß Klein Renzo einen seiner durchdringenden, spitzen Schreie aus, die sowohl überschäumende Freude als auch Wut oder Angst bedeuten konnten.

Luca schüttelte leicht den Kopf, wie von einem Bann befreit. Er wich zurück, seine dunklen Augen blitzten verächtlich. „Das wirst du noch bereuen“, versprach er unheilvoll. „Dafür werde ich sorgen. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“

Es klang so unwiderruflich, dass sie erst einmal nichts darauf zu erwidern wusste. Auf den Lippen noch die Erinnerung an Lucas Kuss, ihre Gefühle völlig in Aufruhr, sah sie wie gelähmt zu, als Luca auf dem Absatz kehrtmachte und davonging.

Am liebsten hätte sie das Ganze vergessen. Einfach die großzügige Abfindung akzeptieren, die Rafael ihr angeboten hatte, und damit verschwinden. Sie hätte das Leben führen können, das sie immer schon wollte, weit weg von den Castellis, in deren Schatten sie zu lange existiert hatte. Doch das hätte bedeutet, dass die vergangenen zwei Jahre umsonst gewesen wären. Dass sie zwei Jahre ihres Lebens für schnödes Geld weggeworfen hätte. Es hätte sie zu genau der Frau gemacht, für die Luca sie hielt … all die Opfer ihrer Mutter wären letztendlich ebenfalls umsonst gewesen. Und das Einzige, was ihr, Kathryn, bliebe, wären Schuldgefühle und die Gewissheit, versagt zu haben.

Kathryn konnte viel ertragen. Ihr war gar nichts anderes übrig geblieben, nachdem sie in den Augen ihrer Mutter sowieso immer unzureichend gewesen war. Aber sie brachte es nicht über sich, alles noch schlimmer zu machen. Ein kleiner Teil in ihr war immer noch davon überzeugt, dass sie die Liebe ihrer Mutter gewinnen könnte, wenn sie sich nur genug darum bemühte. Wenn sie es nur ein einziges Mal schaffte, das Richtige zu tun.

„Ich bin froh, dass wir dieses klärende Gespräch hatten“, rief sie Luca nach. „Damit wird der Montagmorgen für uns alle so viel leichter.“

Er drehte sich nicht um, verlangsamte aber seinen Schritt. „Montagmorgen?“

Sie empfand eine gewisse Genugtuung über diesen winzigen Sieg, auch wenn er ihr letztendlich nichts bringen würde. „Oh ja“, bekräftigte sie nur einen Hauch triumphierend. „Dann fange ich nämlich in deinem Büro an.“

Er hätte sie nie anfassen dürfen. Und ganz bestimmt hätte er sie nicht küssen dürfen.

Aber was diese Frau betraf, war er immer schon ein hoffnungsloser Narr gewesen. Und damit er das auch nur ja nicht vergaß, verfolgte der Gedanke an Kathryn Luca auf der gesamten Rückfahrt nach Rom.

Das berüchtigte Verkehrschaos der Stadt, die er so liebte, meisterte er in seinem PS-starken, schnittigen Sportwagen gleichermaßen unerschrocken wie verwegen. Ja, er war froh über die Ablenkung, denn die Gefahren des Straßenverkehrs ängstigten ihn weit weniger als der Gedanke an Kathryn.

Dennoch vermutete er, dass beides – sein Hang zu riskantem Fahren und zu der jungen Witwe seines Vaters – Zeichen seiner dunklen Seite waren. Beweis, dass er sich tief im Innern nicht von all den anderen Castellis der Geschichte unterschied, sosehr er sich auch um Kontrolle und Beherrschung bemühte.

Viel zu schnell erreichte er die große Renaissance-Villa, in der er wohnte und in der auch sein Büro untergebracht war. Er warf einem Bediensteten, der ihn in der Garage empfing, die Autoschlüssel zu, betrat das Haus … und blieb unschlüssig in der leeren Empfangshalle stehen. Wie aus dem Nichts sah er im Geist ihre Augen vor sich, nachdem er sie geküsst hatte – schiefergrün und verträumt. Ganz zu schweigen von ihrem sinnlichen Mund …

Luca fluchte ausgiebig auf Italienisch. Er fuhr sich mit beiden Händen durch das dichte schwarze Haar und machte sich auf den Weg in die Büros, die die ersten beiden Stockwerke des liebevoll restaurierten Altbaus im historischen Tridente einnahmen, nur einen Steinwurf von der Spanischen Treppe und der Piazza del Popolo entfernt.

Sein Büro, seine große Liebe. Eigentlich das Einzige, was er je geliebt hatte. Und auch das Einzige, das – in gewisser Weise – seine Liebe je erwidert hatte, indem es ihm Erfolg um Erfolg einbrachte.

Seine Wohnung befand sich im Penthouse, das sich über die oberen beiden Stockwerke erstreckte. Luca nahm den Privatlift nach oben und betrat die großzügigen Räume, die er minimalistisch mit Stahl, Chrom, Leder und ausgesuchten Kunstwerken eingerichtet hatte, um das geschichtsträchtige Mauerwerk, die hohen, mit alten Fresken geschmückten Decken und den unbezahlbaren Blick auf die ewige Stadt zur Geltung zu bringen. Luca zog sich aus und ging hinaus an den Pool auf der Dachterrasse, die das Hauptschlafzimmer mit seinen Panoramafenstern umschloss und einen atemberaubenden Rundumausblick auf die Ewige Stadt bot.

Wenn Rom mehr als zweieinhalbtausend Jahre überdauert hatte, würde er doch wohl Kathryn überleben. Sie hatte ja keine Ahnung, worauf sie sich einließ! Luca war im günstigsten Fall ein schwieriger Chef, anspruchsvoll und fordernd – und das war das, was seine loyalen, handverlesenen Mitarbeiter offen über ihn sagten. Was wusste eine ehemalige Vorzeigeehefrau über die Geschäftswelt? Sie träumte vielleicht davon, eine Geschäftsfrau zu sein, würde aber vermutlich nicht einmal eine Woche überdauern.

Natürlich: Sie wird überhaupt nicht klarkommen! dachte er unsäglich erleichtert. Warum hatte er das nicht schon früher erkannt? Man erwartete von ihm, dass er ihre Launen mit Nachsicht ertrug, nicht, dass er seine sorgfältig kontrollierte Lebensweise umkrempelte. Je eher sie begriff, wie wenig sie für ein Leben geschaffen war, das hauptsächlich aus Arbeit und nicht aus Spaß bestand, desto eher würde sie wieder abspringen und sich nach einer neuen Eroberung umsehen. Das Problem würde sich von selbst erledigen.

Luca war immer noch nervös und aufgewühlt. Nicht einmal die winterlich kalte Abendluft beruhigte ihn. Er war außer Kontrolle. Überspannt und entsetzt über sich selbst. Vielleicht lag es ja an der Trauer, obwohl er seinem Vater gar nicht so nahegestanden hatte. Allenfalls hatte er sich in sentimentalen Momenten gewünscht, den Mann besser verstehen zu können, dessen Schatten all die Jahre auf ihn gefallen war.

Trotzdem hatte ihn die Beerdigung vielleicht doch härter getroffen, als er sich bewusst gemacht hatte. Denn er konnte nicht begreifen, warum er Kathryn geküsst hatte. Was, zum Teufel, war nur mit ihm los? Wie konnte er – ein Mann, der stolz darauf war, sein Leben immer, immer sauber und geordnet und frei von jeglichen Gefühlsverwicklungen zu halten – sich so machtlos und ausgeliefert fühlen?

Er tauchte in das Wasser des beheizten Pools ein und begann zu schwimmen, mit kraftvollen Zügen, Bahn um Bahn. Er schwamm und schwamm, forderte sich alles ab, doch es half nichts. Sie war immer noch da, machte sich in seinem Kopf breit und ihm dadurch bewusst, wie leer sein Leben ansonsten war.

Ausdrucksvolle graugrüne Augen. Das seidige dunkle Haar mit den langen Ponyfransen, die ihr etwas Geheimnisvolles verliehen. Alles, was sie ausmachte, steckte wie ein Splitter in ihm, den er nie loswerden konnte, sondern sich im Gegenteil nur immer tiefer ins Fleisch trieb. Sie zehrte und zehrte an ihm, und wenn er ihr nahe war, hatte er keine Ahnung mehr, wer er war. Wozu er fähig sein könnte.

Luca hielt im Schwimmen inne und schlug mit der flachen Hand auf die Überlaufkante des Pools, sodass das Wasser in alle Richtungen spritzte.

Er hielt prinzipiell nichts von Vetternwirtschaft. Er fing niemals etwas mit seinen weiblichen Angestellten an, und er würde den Teufel tun, die abgelegten Frauen seines Vaters zu übernehmen. Er war ein heftiges, zorniges Kind gewesen, oftmals monatelang von seinem Vater – dem einzigen überlebenden Elternteil – in dem riesigen alten Herrenhaus allein zurückgelassen, weil er so schwierig war. Noch als Jugendlicher hatte er sich dieses Verhalten abgewöhnt. Und dieses Gefühlschaos war genau das, was er sein ganzes Erwachsenenleben gemieden hatte.

Es war einfach kein Thema.

Luca schwang sich aus dem Pool, wickelte sich in ein Badetuch und ging wieder hinein, ohne einen Blick dafür, wie malerisch die Sonne über der alten Stadt versank. Und auch als er an einem der großen Panoramafenster stand, galt seine Aufmerksamkeit nicht den gewundenen, gepflasterten Straßen unterhalb, die zur Piazza di Spagna und der berühmten Spanischen Treppe führten, wo sich an manchen Abenden halb Rom zu versammeln schien. Nein, er sah nur Kathryn in ihrem schlichten Trauerkleid wie eine elfenhafte Witwe aus einem Märchen, und das musste aufhören. Schon vor diesem Tag hatte sie bei ihm zwei dicke Minuspunkte gehabt: zunächst natürlich ihre Heirat mit seinem Vater, und dann ihre ständige Präsenz in den Klatschspalten, die endlose Heiligsprechung der Saint Kate, wobei man sie gern als das unerschrockene englische Mädchen darstellte, das allen möglichen Drachen in seiner dekadenten altitalienischen Familie die Stirn geboten hatte.

Das stieß ihn ab. Und er redete sich ein, dass auch sie ihn abstieß.

Dieser Kuss heute war der dritte Minuspunkt auf ihrem Konto. Er konnte nicht abstreiten, dass er die Initiative ergriffen und sie an sich gerissen hatte, überwältigt von einer kopflosen Leidenschaft, von der er so sicher gewesen war, dass er sie restlos aus seinem Leben verbannt hatte. Wie oft hatte er es erlebt, wie solch ein irrationales Verlangen seinen Vater blind für alles andere gemacht hatte? Wie oft hatte er kopfschüttelnd mit angesehen, wie sein Bruder wegen Lilys angeblichem Tod verzweifelt war? Wie oft hatten ihm seine eigenen unbändigen Gefühlsausbrüche als Kind einen Bärendienst erwiesen? Vor langer Zeit hatte er sich geschworen, einen großen Bogen um derartige Minenfelder zu machen, und, ehrlich gesagt, war es ihm nie besonders schwergefallen.

Bis er Kathryn kennenlernte. An der Wahrheit gab es nichts zu leugnen: Er hatte sie geküsst. Eine Schwäche, die er notgedrungen akzeptieren musste, auch wenn er sie nicht verstand.

Das eigentliche Problem aber war, wie sie seinen Kuss erwidert hatte. Wie sie sich an ihn geschmiegt hatte. Wie sie die Lippen seinem Kuss geöffnet hatte und ihre Zunge seiner entgegengekommen war. Wie sie sich ganz in diesem Kuss verloren hatte, bis Luca fast vergessen hätte, wer und wo sie waren. Dass sie seine Stiefmutter war, die Witwe seines Vaters … und dass sie sich viel zu nahe an dem Familienmausoleum befanden, in dem der alte Mann gerade erst beerdigt worden war.

Er war emotional überspannt, wie alle in seiner Familie. Allein die Tatsache, dass ihn bei der bloßen Erinnerung an diesen Kuss heißes Verlangen durchzuckte, bewies es.

Aber was für ein Spiel spielte sie?

Sie war gut, das musste er ihr lassen. Sie küsste wie eine Unschuld … und er glaubte ihre Lippen immer noch auf seinen zu spüren. Das war vielleicht das Ärgerlichste bei alledem.

Als die Sonne über Roms altehrwürdiger Skyline unterging, schwor sich Luca, dass er diesen kleinen Abenteuerausflug ins Unternehmerleben für die junge Witwe seines Vaters nicht nur so unangenehm wie möglich gestalten würde, nein, er würde etwas viel Schlimmeres machen. Er würde den Heiligenschein der Saint Kate … beflecken. Und sie selbst ebenso. Unwiderruflich.

Als Kate am Montagmorgen pünktlich um neun Uhr in den Büros von Castelli Wine in einem der schönsten Viertel Roms eintraf, war sie gut vorbereitet.

Dies war Krieg, und sie stellte sich auf eine langwierige Belagerung ein. Zwar hatte sie in der Bibliothek in der alten Villa am Fuß der schroffen, nebelumwobenen Berge eine Schlacht verloren, aber auf lange Sicht bedeutete das gar nichts. Eine kleine, unbedeutende Schlacht. Ein Kuss, mehr nicht.

Letztendlich zählte nur, wer den Krieg gewann.

Die Rezeptionistin begrüßte sie merklich unterkühlt auf Italienisch und tat, als könne sie Kathryns stockende Bemühungen, ihr in derselben Sprache zu antworten, nicht verstehen. Nur, um im nächsten Moment in fließendem Englisch einen Anruf entgegenzunehmen, wobei sie Kathryn triumphierend anblickte. Kathryn aber war fest entschlossen, sich nicht provozieren zu lassen.

„Wie schön“, sagte sie nur, als die Rezeptionistin aufgelegt hatte, „Sie sprechen also doch Englisch. Sagen Sie Luca bitte, dass ich hier bin.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sie sich in einen der unbequemen, antiken Sessel im Wartebereich und bemühte sich, völlig entspannt zu wirken. Und wartete.

Und wartete.

Es war Krieg, wie sie sich mehrfach ins Gedächtnis rief. Im Lauf des Wochenendes war ihr der Gedanke gekommen, dass Luca bei all dem Aufstand, den er machte, vielleicht gar keine Ahnung hatte, mit wem er es zu tun hatte. Er sah nur das festgefahrene Bild der Goldgräberin, die sich seinen reichen Vater geangelt hatte. Kathryn gelangte zu dem Schluss, dass ihr genau das einen Vorteil verschaffte. Deshalb konnte sie es gelassen aussitzen, wenn er sie an diesem Morgen in seinem Vorzimmer schmoren lassen wollte. Sie würde weder ihm – und schon gar nicht seiner Rezeptionistin – die Genugtuung verschaffen, auch nur einen Hauch von Ungeduld zu zeigen.

Stattdessen konzentrierte sie sich mit unbewegter Miene ganz auf ihr Smartphone, schrieb ihrer Mutter pflichtschuldig, dass sie wie geplant ihren Job bei Castelli Wine angetreten habe, und blätterte dann die Nachrichten durch. Eine ganze Stunde lang.

Als Luca endlich auftauchte, fühlte sie ihn, noch ehe sie ihn sah. Mit der für ihn typischen, elektrisierenden Ausstrahlung füllte er mühelos das große, sonnendurchflutete Foyer, sodass Kathryn im Moment seines Erscheinens ein unmissverständliches Kribbeln verspürte. Ganz bewusst wartete sie einige Momente, bevor sie hochblickte.

Da war er. Atemberaubend wie immer, bekleidet mit einem maßgeschneiderten Anzug und einem weißen Hemd, dessen offener Kragen den Blick auf sonnengebräunte Haut freigab und ahnen ließ, was für ein perfekter, durchtrainierter Körper sich unter dem Stoff verbarg.

Allmählich fand sie sogar seinen finsteren Blick in ihrer Gegenwart fast charmant … ungefähr wie das Liebeslied eines Monsters.

„Du bist spät“, sagte er.

Eine höchst unfaire Feststellung. Doch Kathryn brauchte erst gar nicht in das triumphierende Gesicht der Rezeptionistin zu blicken, um zu begreifen, dass Widerspruch zwecklos war. Außerdem hatte Luca sie gewarnt, sich nicht zu beklagen. Sie tat es nicht, sondern stand einfach auf und strich sich den Rock glatt.

„Ich entschuldige mich dafür. Es wird nicht wieder vorkommen.“

„Irgendwie bezweifle ich das“, erwiderte Luca, und es klang fast schon gefährlich gut gelaunt.

Sie hielt es für klüger, nicht darauf zu antworten. Stattdessen ging sie entschlossen auf ihn zu, wobei sie sich mit jedem Klacken ihrer hohen Absätze auf dem glänzenden Marmorboden energisch einredete, dass sie sich kaum noch daran erinnerte, was in der alten Villa im Norden zwischen ihnen vorgefallen war. Nicht an seinen heißen, fordernden Kuss, nicht an die zärtliche Berührung seiner Hand an ihrer Wange … Sie hatte nicht davon geträumt, hatte nicht die letzten beiden Nächte deswegen wachgelegen und vergeblich versucht, all die erotischen Bilder und Sehnsüchte zu verdrängen, die diese Episode in ihr geweckt hatte. Ganz sicher nicht!

Luca blickte ihr mit unergründlicher Miene entgegen. Sie hasste es, nicht zu wissen, was er dachte, als sie ihm in die heiligen Hallen von Castelli Wine folgte. Nur kurz hatte er sie von Kopf bis Fuß gemustert, doch sie hatte ihr Outfit so gewählt, dass es keinen Anstoß erregen konnte: ein enger schwarzer Rock kombiniert mit einer konservativen Seidenbluse. Außerdem würdigte Luca sie von da an erst einmal keines Blickes mehr.

Vor der Tür des mit Glaswänden abgetrennten Konferenzraumes blieb er stehen und winkte der Gruppe zu, die dort um den Tisch versammelt saß. Meine Kollegen, dachte Kathryn. Unwillkürlich durchzuckte es sie freudig, was natürlich komplett naiv war, denn keiner der Anwesenden blickte ihr auch nur entfernt freundlich entgegen.

Abrupt blieb sie neben Luca stehen, der die Hand schon an der Klinke hatte.

„Was hast du ihnen gesagt?“

„Meinen Leuten?“ Obwohl er die für ihn typische, spöttische Gelassenheit zur Schau trug, konnte er einen gewissen triumphierenden Unterton nicht verhehlen. „Die Wahrheit natürlich.“

„Und welche Wahrheit wäre das?“

„Es gibt nur eine. Die trotzige Vorzeigefrau meines Vaters hat darauf bestanden, dass man ihr einen Job gibt, den sie nicht verdient. Da offene Stellen bei uns rar sind, waren dafür einige Umstrukturierungen erforderlich. Ich habe dich zu meiner geschäftsführenden Assistentin ernannt. Das ist die begehrteste Position in diesem Zweig des Unternehmens.“ Er wirkte entspannt, seine dunklen Augen blitzten. Offensichtlich schien er sich bestens zu amüsieren. Eine Erkenntnis, die Kathryn einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Ebenso wie sein Lächeln, das kurz vor seinen Augen Halt machte. „Die zweithöchste Position nach mir. Also mit ziemlich viel Macht ausgestattet.“

„Warum solltest du das tun?“, fragte sie skeptisch. „Warum lässt du mich nicht irgendwo im Keller Akten abheften?“

„Weil das, liebe Stiefmutter“, sagte er bedeutungsvoll, „nur das Unvermeidliche hinauszögern würde. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du die vorgesehenen drei Jahre nicht aushalten wirst. Wenn du aber schon nach drei Tagen gehst? Oder nach drei Wochen? Umso besser.“

„Ich werde nicht gehen.“

Er nickte in Richtung der Mitarbeiter, die um den Konferenztisch versammelt waren und sie unverhüllt feindselig begutachteten.

„Alle meine Mitarbeiter dort sind von mir handverlesen. Sie haben sich ihre Positionen in diesem Unternehmen hart erarbeitet. Sie funktionieren als eingespieltes Team. Doch ich habe sie informiert, dass das alles nun der Vergangenheit angehört, weil du irgendwie hineinbugsiert werden musst, ob es uns gefällt oder nicht.“ Luca wandte sich ihr zu und sah sie an. „Wie du siehst, sind sie begeistert.“

Kathryn rutschte das Herz in die Hose, denn sie begriff, was er getan hatte. Ihre naive Vorstellung, sich kraft ihrer Talente und harter Arbeit aus einer möglichst unauffälligen Ecke des Büros heraus Anerkennung zu erringen, zerschlug sich auf Anhieb. Sie konnte sich vorstellen, wie ihre Mutter reagieren würde. Genau das hatte Rose vorhergesagt, als Kathryn gegen ihren Rat den Entschluss gefasst hatte, es auf eigene Faust zu versuchen. Und wie es aussah, hatte ihre Mutter wieder einmal recht behalten. Aber auch wenn es sie zu einem höchst undankbaren Kind machte, wünschte sich Kathryn von ganzem Herzen, dass sich die Prophezeiung ihrer Mutter nicht bewahrheiten würde. „Du hast mich zur Zielscheibe gemacht“, sagte sie ausdruckslos. „Ganz bewusst.“

Lucas Lächeln wurde breiter, aber nicht freundlicher. „Genau.“ Ohne ein weiteres Wort stieß er die Tür zum Konferenzraum auf und warf Kathryn den Wölfen zum Fraß vor.

4. KAPITEL

Genau drei Wochen und zwei Tage später bestieg Kathryn den Privatjet der Castellis auf dem Flugplatz vor den Toren Roms in ihrer Funktion als meistgehasste Mitarbeiterin in Lucas Büro. Sie meinte, die Lage im Griff zu haben. Es war alles eine Frage des Lächelns.

Kathryn lächelte jedes Mal, wenn eisige Stille einkehrte, sobald sie den Raum betrat. Sie lächelte, wenn ihre Mitarbeiter so taten, als hätten sie sie nicht verstanden, und sie dadurch zwangen, ihre Frage ein oder zwei Mal zu wiederholen. Sie lächelte, wenn sie bei Besprechungen einfach ignoriert wurde. Sie lächelte, wenn sie aufgefordert wurde, Fragen zu früheren Projekten zu beantworten, die sie gar nicht kennen konnte.

Sie lächelte und lächelte. Und stellte fest, wie gut sie ihre Erfahrungen mit der Boulevardpresse als opferbereite Saint Kate im reichlich unterkühlten Verhältnis zu ihren Kollegen nutzen konnte. Zumal es Letztere sichtlich ärgerte, wenn sie sich nicht provozieren ließ.

Luca war natürlich eine andere Sache.

An Bord des Jets begab sie sich in den Salonbereich und setzte sich – lächelnd – auf das runde Ledersofa im Zentrum. Luca hatte bereits an einem der seitlichen Tische in einem bequemen Ledersessel Platz genommen und telefonierte auf Italienisch.

Während er sprach, begutachtete er sie von Kopf bis Fuß und ließ sie auch nicht aus den Augen, nachdem er das Telefonat beendet hatte.

„Du bist immer noch da“, bemerkte er nach langem Schweigen.

Kathryn lächelte noch strahlender. „Natürlich. Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht gehen werde.“

„Die letzten Wochen können dir doch unmöglich Spaß gemacht haben.“

„Du hast dir zweifellos alle Mühe gegeben, dafür zu sorgen.“ Sie schenkte ihm ein extra strahlendes Lächeln. „Ich weiß das zu schätzen.“

Er blickte sie finster an, und sie lächelte, so lange, dass sie fast versucht war, ihn einfach zu ignorieren und den Fernseher einzuschalten. Doch das wäre kein angemessenes Verhalten für eine Angestellte gewesen.

„Du warst schon da, als ich heute früh ins Büro gekommen bin“, sagte er schließlich schroff.

„Ich bin jeden Morgen schon da, wenn du ins Büro kommst“, korrigierte sie ihn sanft. „Deine Assistentin darf doch nicht so spät kommen wie ich an meinem ersten Tag. Das wäre ein schlechtes Beispiel.“

Seine dunklen Augen blitzten auf. Sie erwartete allerdings nicht, dass er zugeben würde, dass er sie an jenem Morgen absichtlich hatte warten lassen, um sie dann rügen zu können. Und er enttäuschte sie nicht.

„Du weißt doch mit deiner Zeit bestimmt Besseres anzufangen“, meinte er mit einer bezeichnenden Geste, als würde sie einen sexy Bikini und nicht ein schlichtes, geschäftsmäßiges Kostüm tragen. „Zum Beispiel den einen oder anderen Trip an die richtigen Orte, wo man reiche Männer trifft, damit du dir dein nächstes Zielobjekt aussuchen kannst.“

„Oh, das hatte ich tatsächlich für dieses Wochenende geplant“, antwortete sie freundlich. „Doch dann hast du die Geschäftsreise nach Kalifornien angesetzt. Also wird meine Goldgräberei wohl warten müssen.“

Er sprach kein Wort mehr mit ihr, bis sie die Flughöhe erreicht hatten und der sehr diskrete Flugbegleiter auf dem großen Couchtisch in der Mitte des Salons das Abendessen serviert hatte. Kathryn merkte plötzlich, wie hungrig sie war, denn sie hatte wie üblich die Mittagspause durchgearbeitet. Nicht dass ihr Engagement irgendetwas an Lucas mangelnder Wertschätzung für sie geändert hätte.

Daran bist du doch gewöhnt. Ein Gedanke, den sie sofort wieder beiseiteschob. Dass sie in den Augen ihrer Mutter eine einzige Enttäuschung war, hatte schließlich seine guten Gründe. Kathryn war sich ihrer Unzulänglichkeiten durchaus bewusst, und das nicht nur, weil sie ihr immer wieder vorgehalten worden waren. Denn wenn sie nicht so eine Versagerin gewesen wäre, hätte sie die Heirat mit Gianni erst gar nicht als die perfekte Lösung gesehen. Stattdessen hätte sie nämlich mit einem hervorragenden Universitätsabschluss den Grundstein für eine erfolgreiche Karriere gelegt, wie ihre Mutter es von ihr erwartet hatte.

„Erzähl mir die ganze Geschichte“, forderte Luca sie überraschend auf, nachdem sie eine Weile schweigend gegessen hatten.

Er wirkte lässig entspannt, wie meistens. Doch ihr Herz schlug schneller, wenn sie ihn nur ansah. Die Tatsache, dass sie sich praktisch allein in einem Flugzeug befanden, machte es auch nicht besser. Kathryn jedenfalls konnte an nichts anderes denken.

Es war das erste Mal, dass sie so ungestört mit Luca war. Da sind der Pilot und der Flugbegleiter, rief sie sich ins Gedächtnis. Wir sind nicht wirklich allein.

Aber im selben Moment war ihr klar, dass diese beiden nicht zählten, weil sie unaufgefordert niemals stören würden. Genauso gut hätte sie mit Luca auf einer einsamen Insel gestrandet sein können. Eine gefährliche Vorstellung!

Zumal sein glühender Blick verriet, dass er wahrscheinlich ähnlich erregende Fantasien hegte.

„Was für eine Geschichte?“, fragte sie heiser.

„Das anrührende Märchen, wie eine offensichtlich so tugendhafte, junge Frau sich unsterblich in einen Mann verliebt, der der Vater ihrer eigenen Eltern hätte sein können. Was sonst?“

Es war natürlich beleidigend gemeint. Aber immerhin hatte er sie noch nie zuvor danach gefragt. Keiner hatte sie gefragt. Alle Welt glaubte genau zu wissen, warum eine junge Frau einen viel älteren Mann heiratete … und natürlich traf es auch in ihrem Fall zumindest teilweise zu. Es hatte gute Gründe gegeben, und einige davon waren finanzieller Natur. Was aber nicht bedeutete, dass sie so kalt und berechnend war, wie Luca glauben wollte.

„Es war kein Märchen“, antwortete sie langsam, schlug die Beine auf dem weichen Ledersofa unter und strich sich den Rocksaum über die Knie. „Er war einfach … nett. Ich habe ihn rein zufällig in einer Einrichtung für Senioren und Menschen mit degenerativen Erkrankungen kennengelernt.“

„Wie rührend.“

„Du weißt natürlich, dass es deinem Vater nicht gut ging. Er war dort, um einen Spezialisten zu sehen. Ich saß auch im Wartezimmer, und wir kamen ins Gespräch.“

„Ich nehme an, deine Anwesenheit an diesem Ort diente dazu, deinen Heiligenschein aufzupolieren?“, warf Luca spöttisch ein.

Kathryn dachte an ihre Mutter, deren Körper vorzeitig gealtert war, weil sie geschuftet und Böden geschrubbt hatte, um Kathryn alle Chancen zu ermöglichen. Sie sah die von schwerer Arthrose gezeichneten Hände einer Frau, die sich ein ganz anderes Leben erträumt hatte. Ich hatte auch Pläne, Kathryn, hörte sie Rose wie stets mit vorwurfsvollem Unterton sagen. Aber ich habe sie für dich geopfert.

Wie konnte Kathryn nicht mindestens das Gleiche für ihre Mutter tun?

„So ungefähr“, antwortete sie nun dem Mann, der es nicht verdiente, irgendetwas von diesen ganz privaten Nöten aus ihrem Leben zu erfahren. „Ich liebe es einfach, wenn mein Heiligenschein so richtig glänzt.“

Luca lachte. So einnehmend und gewinnend, dass Kathryn für einen Moment das Gefühl hatte, die Sonne ginge auf. Bis ihm bewusst wurde, was er tat, und sein Lachen wie auf Knopfdruck verschwand.

Doch Kathryn verstaute diesen Moment in ihrer Erinnerung wie einen Schatz. Ein unerwartetes Geschenk, das ihr in der nächsten schlaflosen Nacht das Herz erwärmen konnte. Sie versuchte erst gar nicht, zu analysieren, warum sie irgendetwas, das von diesem Mann kam, als einen Schatz betrachten sollte. Gerade weil sie wusste, dass er sie für derartige Gedanken nur noch mehr hassen würde.

„Und in diesem Wartezimmer wurdest du dann plötzlich von einer stürmischen Leidenschaft für einen über Siebzigjährigen gepackt?“, fragte er nun spöttisch. „Das soll ja passieren. Zwar seltener bei jungen Frauen von Anfang zwanzig, aber warum nicht, wenn er sein beachtliches Bankkonto erwähnt?“

„Ich mochte ihn“, sagte Kathryn schlicht. Und genau das beschrieb im Kern die Wahrheit ihrer Ehe, ungeachtet aller übrigen Umstände. „Er brachte mich zum Lachen und ich ihn. Es war überhaupt nicht berechnend, Luca, egal, wie sehr du es auch so haben möchtest. Gianni war ein guter Freund für mich.“ Ein besserer Freund als die meisten, wenn sie ehrlich war.

„Mein Vater. Gianni Castelli. Ein guter Freund.

Seufzend stellte Kathryn ihren Teller auf den Tisch. Ihr war der Appetit vergangen. „Klingt, als hättest du in deiner unendlichen Weisheit entschieden, dass das unmöglich wahr sein kann.“

Luca lachte erneut, doch diesmal klang es nicht freundlich. „Mein Vater wurde schon reich geboren und sein einziges Ziel war es, diesen Reichtum noch zu vermehren“, erklärte er schroff, wobei sein italienischer Akzent deutlicher als sonst durchschlug. „Das war sein ganzes Bestreben, dem er sich widmete, seitdem er denken konnte. Daneben hatte er nur ein einziges Hobby … zu heiraten, je unangemessener, desto besser. Mach dir nichts draus.“

„Ich glaube nicht, dass du deinen Vater sehr gut gekannt hast“, warf Kathryn ein und hob beide Hände, als sie das Aufblitzen in Lucas Augen sah. „Nicht so, wie ich ihn kannte. Mehr will ich gar nicht sagen.“

„Du sprichst von zwei Jahren an seiner Seite gegenüber meinem ganzen Leben?“

„Ein Sohn weiß wenig davon, was für ein Mann sein Vater war.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Er kann nur wissen, was für ein Vater er war oder nicht war, und daraus Rückschlüsse auf den Mann ziehen. Ist das nicht typisch für die Geschichte der Menschheit? Keiner von uns kennt seine Eltern. Jedenfalls nicht so richtig.“

Was auf sie ganz sicher zutraf. Ihr Vater hatte sich noch vor ihrer Geburt verdrückt, und ihre Mutter hatte alles aufgegeben, was ihr wichtig war, damit Kathryn nicht darunter leiden musste. Oh, Kathryn wusste die Größe des Opfers zu schätzen, denn ihre Mutter hatte sie bei jeder Gelegenheit daran erinnert, was sie für sie aufgegeben hatte. Wofür Kathryn sogar Verständnis aufbrachte, aber sie konnte nicht sagen, dass sie die Frau, die ihre Mutter war, verstand … oder guthieß, wie diese Frau sie ihr ganzes Leben lang behandelt hatte.

„Ich kannte meinen Vater sehr viel länger als du“, sagte Luca nach einigem Überlegen. „Er hatte keine Freunde. Lediglich Geschäftspartner und eine Ansammlung von Ehefrauen. Er wies jedem in seinem Leben eine Rolle zu und erwartete, dass er sie spielte. Und wehe demjenigen, der seinen Erwartungen nicht gerecht wurde.“

„Steckt das etwa hinter all dem Hass und all den Angriffen gegen meine Person?“ Sie betrachtete ihn nachdenklich. „Hast du einen Vaterkomplex?“

Sie hätte besser den Mund gehalten. Kathryn glaubte zu spüren, wie etwas in ihm explodierte. Wie eine Naturgewalt, obwohl das Flugzeug weiter ruhig auf Kurs blieb und Luca sich nicht einmal rührte. Lediglich das Aufblitzen in den samtenen Tiefen seiner dunklen Augen und die Art, wie er eine Hand zur Faust ballte, verrieten, in welcher Gefahr sie sich kurzfristig befand.

Dann blinzelte er und hatte sich wieder im Griff. Kathryn atmete vorsichtig auf, während sie seinem feindseligen Blick tapfer standhielt.

„Warum ausgerechnet ich?“, fragte er scharf. „Ich habe doch wirklich keinen Hehl daraus gemacht, was ich von dir halte. Warum also unbedingt mein Büro, wo dir doch klar sein muss, dass es dir in jeder anderen Abteilung unseres Unternehmens viel besser gehen würde?“

„Ist das deine kaum verhüllte Art zu fragen, ob ich dir aus meinen üblichen berechnenden Motiven nachstelle?“

„War es überhaupt verhüllt?“, entgegnete er gefährlich sanft. „Dann muss ich etwas falsch gemacht haben.“

Sie klammerte sich an ihr Lächeln. „Ich habe natürlich in Erwägung gezogen, für deinen Bruder zu arbeiten. Zwar glaube ich nicht, dass er mich besonders mag, aber mit ihm ist es zumindest nicht so …“ Sie deutete bezeichnend zwischen sich und Luca hin und her. „Es wäre auf jeden Fall leichter gewesen.“

„Warum also?“, hakte Luca nach. „Um uns beide zu bestrafen?“

„Tatsache ist, dass dein Bruder der Bewahrer in der Firma ist. Darin ist er sehr gut. Er wird dafür sorgen, dass der Name Castelli auch in der Zukunft Bestand hat. Er ist die ruhige, verlässliche Hand am Steuer.“

„Und was bin ich in deinem Szenario?“ Luca lachte spöttisch. „Der betrunkene Fahrer vielleicht? Ich fahre gern schnell, zu schnell. Aber niemals betrunken, Kathryn.“

Sie ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. „Du bist der Innovator. Der kreative Kopf. Nie zufrieden. Immer bestrebt, die Grenzen zu erweitern. Von meinen persönlichen Gefühlen dir gegenüber einmal abgesehen, gibt es im ganzen Unternehmen keinen aufregenderen Ort, wo man arbeiten könnte. Das weißt du natürlich auch. Es ist der Grund, warum deine Mitarbeiter auf so …“, es kostete sie alle Mühe, ihr Lächeln zu bewahren, „… aggressive Weise loyal sind.“

Luca wirkte überrascht, was sie eigentlich mit Genugtuung hätte erfüllen müssen. Tatsächlich aber ging ihr die Art, wie er sie nun anblickte, derart unter die Haut, dass sie kaum mehr zu atmen wagte.

„Kannst du das denn?“, fragte er in seltsamem Ton. „Von deinen persönlichen Gefühlen absehen?“

Sie schaffte es, seinem Blick unbewegt standzuhalten. „Ich muss es, wenn mir dieser Job etwas wert ist.“ Noch nie war sie so ehrlich mit ihm gewesen. Als hätte sie nichts zu verlieren, obwohl genau das Gegenteil der Fall war. Denn dies war ihre einzige Chance zu beweisen, dass sie auch ohne den Rat und die Einmischung ihrer Mutter etwas aus sich machen konnte. Ihre einzige Chance, das Opfer ihrer Mutter zu würdigen und dabei frei zu bleiben. „Anders als du habe ich keine Wahl.“

Das Château der Castellis, Geschäftszentrale von Castelli Wine in den Vereinigten Staaten, thronte wie eine Grande Dame auf einer Anhöhe im fruchtbaren nordkalifornischen Sonoma-Tal. Ringsum erstreckten sich die Weingärten wie üppig grüne Röcke in alle Richtungen über die Hügel bis zum Horizont. An diesem kühlen Winterabend waren die Fenster des Weinguts hell erleuchtet und strahlten einladend in die Nacht, während eine Schlange von Autos langsam über die von Zypressen gesäumte Auffahrt auf das Haus zufuhr.

Luca liebte dieses Schauspiel – hoch dramatisch und darin so typisch italienisch, angefangen bei dem imposanten Gebäude bis hin zu dem makellos gepflegten Park, der dem berühmten Boboli-Garten in Florenz Konkurrenz machen konnte. Das alles war natürlich ganz nach dem Geschmack der Touristen, die zur Weinverkostung nach Sonoma kamen.

Heute war der jährliche Castelli Wine Winterball. Der Grund, warum Luca um die halbe Welt geflogen war. Vor knapp einer Stunde war der Privatjet gelandet, was nach Rafaels Vorstellung sicherlich zu eng kalkuliert gewesen wäre. Doch die beiden Brüder waren sich zumindest einig, wie wichtig es war, öffentlich zu demonstrieren, dass sich seit dem Tod des Seniorchefs nichts geändert hatte: Für Castelli Wine lief das Geschäft wie gewohnt weiter.

Nichts war mehr angetan, die Leute zu beruhigen, als ein elegantes, entspanntes und schönes Gesicht an vorderster Front. Und kaum jemand entsprach diesem Bild so sehr wie Kathryn, wie Luca insgeheim widerstrebend einräumte. Und natürlich er selbst. Worauf er nicht zum ersten Mal baute.

Zum x-ten Mal schaute er auf die Uhr, verärgert, dass Kathryn ihn nicht schon auf dem Flur erwartet hatte, nachdem er sich in seiner Suite rasch geduscht und umgezogen hatte. Aus dem großen Ballsaal erklangen bereits Musik und Lachen herauf in den Flügel des Châteaus, der der Familie vorbehalten war. Luca starrte auf die Tür von Kathryns Zimmer, als könnte er sie dadurch zwingen, herauszukommen.

Als sich die Tür schließlich öffnete und Kathryn auf den Flur trat, erstarrte Luca bei ihrem Anblick. Für einige Momente war er wie vom Donner gerührt, bevor ihn im nächsten Moment heftiges Verlangen durchfuhr.

„Was, zum Teufel … hast du da an?“, fragte er rau.

Der unterkühlte Blick, mit dem sie ihn betrachtete, brachte ihn fast um. Er zehrte an ihm, weckte in ihm den unbändigen Wunsch, in ihr eine ebenso verzehrende, heiße Leidenschaft zu entfachen.

„Ich glaube, man nennt es ein Kleid“, antwortete sie gelassen.

„Nein.“

Sie blinzelte. „Nicht? Bist du sicher? Als ich es zuletzt in einem Wörterbuch nachgeschlagen habe, hieß es noch ‚Kleid‘. Oder war es ‚Robe‘? Vermutlich könnte man beides sagen …“

„Sei still.“

Sie war klug genug zu schweigen, hatte aber keine Ahnung, wie knapp sie entkommen war – fast hätte er ihr den Mund mit einem leidenschaftlichen Kuss verschlossen. Alles in ihm drängte danach. Er glaubte fast, ihre Lippen auf seinen zu fühlen. Langsam ging er auf sie zu, unfähig, sich zu beherrschen oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

Ja, Kathryn trug ein Kleid. Ein Hauch von einem Kleid aus cremefarbenem Chiffon. Eigentlich hätte sie darin wie ein Gespenst aussehen müssen, doch stattdessen schimmerte ihr makelloser, englischer Alabasterteint wie Seide. Es war eine ärmellose Abendrobe mit einem filigranen, hohen Ausschnitt und einer breiten Schärpe, die ihre zierliche Taille betonte. Der bodenlange Rock umspielte in weichen Falten ihre schlanke Figur. So weit, so gut. Das allein wäre mit seiner stilvollen Eleganz einer Grace Kelly würdig gewesen.

Doch es waren die Aussparungen im Stoff, die Luca um den Verstand brachten. Zwei große, keilförmige Ausschnitte, beginnend bei dem reizvollen Punkt unterhalb ihrer hohen Brüste und sich dann seitlich erweiternd. Luca wollte seine Lippen überall dorthin pressen, wo er ihre seidige, nackte Haut erblickte. Hier und jetzt.

Erst als sie ihn mit großen Augen ansah, wurde ihm bewusst, dass er es laut ausgesprochen haben musste. Und dann war es ihm egal, weil er völlig den Verstand und die Kontrolle verlor. Er drängte Kathryn zurück und stemmte die Hände zu beiden Seiten von ihr gegen die Zimmertür.

„Das kannst du nicht tun!“, flüsterte sie. „Luca! Wir können das nicht tun.“

Luca überlegte nicht mehr, was er tat. Dieses Kleid setzte ihre Reize so unglaublich verführerisch in Szene. Noch dazu hatte sie ihr schimmerndes dunkles Haar zu einer eleganten Frisur hochgesteckt, sodass er sich gar nicht an der schlanken Silhouette ihres Halses sattsehen konnte.

„Hat mein Vater dir diese Diamanten geschenkt?“ In dem Versuch, sich abzulenken, berührte er die funkelnden Ohrstecker. Erst den einen, dann den anderen. Vergeblich.

Es war grundfalsch, verboten. Dieses unbändige Verlangen, das durch seinen Körper tobte und alles hinwegfegte … einschließlich seiner guten Vorsätze. Er wusste es natürlich. Und trotzdem scherte er sich nicht darum, auch wenn ihm klar war, dass er es früher oder später bereuen würde.

„Antworte“, drängte er, sein Mund viel zu nah an ihrem zarten Ohr. „Was musstest du tun, um sie dir zu verdienen, Kathryn?“

Sie zuckte zurück vor der Berührung seiner Fingerspitzen, doch es war zu spät. Er fühlte, wie sie erschauerte, sah, wie ihr das Herz im Halse schlug. Und wusste genau, was es bedeutete.

„Du bist hier als meine Assistentin, sonst nichts“, erinnerte er sie leise. „Der Ball ist nicht als Gelegenheit für dich gedacht, deine Reize zur Schau zu stellen und dir einen neuen Interessenten zu suchen.“

„Du bist widerlich.“

„Interessant“, flüsterte Luca. Sein Atem streichelte ihre Wange, und er fühlte, wie Kathryn erneut erschauerte. „Was, meinst du, ist widerlicher … die Tatsache, dass du hier durch das Château stolzierst und sowohl das Heim meiner Familie als auch die Erinnerung an meinen Vater besudelst? Oder die Tatsache, dass du keine Skrupel hast, ein Kleid zu tragen, das jeden Mann im näheren Umkreis veranlasst, an nichts anderes zu denken als an dich und wie du wohl nackt aussiehst?“

Jetzt wandte sie ihm das Gesicht zu, wobei sie gleichzeitig beide Hände gegen seine breite Brust stemmte. Luca wich keinen Zentimeter zurück und bemerkte voller Genugtuung, wie sie zart errötete.

„Nur du denkst so etwas“, entgegnete sie wütend. „Weil du immer nur schlecht denkst. Alle anderen hingegen sehen ein schönes Kleid von einem weltbekannten Modeschöpfer, sonst nichts.“

„Sie werden die Witwe meines Vaters sehen, ganz in Weiß, die ihren nackten Körper zur Schau stellt“, widersprach er. „Sie werden sehen, wie du alle Regeln des Anstands missachtest, ganz zu schweigen von der Erinnerung an deinen lieben Freund.“

Sie lachte spöttisch. „Was hätte ich denn deiner Meinung nach anziehen sollen? Eine schwarze Kutte? Würde es dich glücklich machen, wenn ich in Sack und Asche ginge?“

Er stemmte die Hände mit aller Macht gegen die Wand. Denn er wusste, wenn er Kathryn anfassen würde, könnte er sich nicht mehr zurückhalten. „Du hast mir eine lächerliche Geschichte erzählt. Etwas von einer reichlich unwahrscheinlichen Freundschaft, die rein zufällig in einem Wartezimmer ihren Anfang nahm zwischen einem der reichsten Männer der Welt und dir … unserer Lieblingsheiligen.“ Sein Blick schweifte zu ihren sinnlichen Lippen, die sie angesichts seines beißenden Spotts gekränkt zusammenpresste. „Der Stoff für eine rührselige TV-Romanze. Wie aber lautet die wahre Geschichte?“

„Ich kann nichts dafür, dass du so zynisch und abgestumpft bist.“

In ihren ausdrucksvollen graugrünen Augen funkelten Zorn, Trotz und noch etwas, das er nicht verstand, das ihn aber ungeheuer faszinierte. Das war sein Verderben. Sie faszinierte ihn ohnehin viel zu sehr. Vielleicht war das von Anfang an das Problem gewesen, die Wahrheit, die er nur die ganze Zeit über verdrängt hatte.

„Ich habe Neuigkeiten für dich, Luca: Wenn du nur nach Hintergedanken und Gemeinheiten suchst, wirst du auch nichts anderes finden. Es ist die alte Geschichte von der sich selbsterfüllenden Prophezeiung.“

„Weißt du, warum ich dich so hasse?“, fragte er kalt. „Nicht, weil du meinen Vater seines Geldes wegen geheiratet hast. Das haben all die anderen auch getan. Nein, weil du die Stirn besitzt, die Gekränkte zu spielen, wenn jemand die Dinge beim Namen nennt. Weil du die Klatschspaltengeschichten inzwischen anscheinend selber glaubst. Aber Saint Kate ist nur ein Mythos. Du bist alles andere als eine Heilige!“

Sie versuchte erneut, ihn von sich zu schieben. „Ich habe keinen Einfluss darauf, was du über mich denkst, und schon gar nicht, was die Boulevardpresse über mich schreibt. Aber auch wenn es dich schwer trifft, es ist mir völlig schnuppe, ob du mich hasst oder nicht!“

Er glaubte ihr nicht, ohne wirklich zu wissen, warum. Und dann verabschiedete sich der Rest seiner Vernunft. Er kam noch näher und strich mit der Fingerspitze ihren schlanken Hals hinab, über die zarte Haut entlang des Ärmelausschnitts, folgte der verführerischen Rundung ihrer Brust und erreichte den Ausschnitt oberhalb ihrer Taille.

Kathryn atmete schneller. Aber sie bat ihn nicht, aufzuhören. Sie drängte ihn auch nicht mehr fort. Stattdessen umklammerte sie die Revers seines Jacketts und zog ihn fast zu sich heran.

Luca war in diesem Moment ganz darauf fixiert, was zwischen ihnen ablief. Das unglaubliche Gefühl ihrer zarten, seidigen Haut unter seiner Fingerspitze, der verführerische Duft ihres exklusiven Parfüms, der seine Sinne betörte, die elektrisierende Anspannung, die sich ins Unerträgliche steigerte.

Es war der schiere Wahnsinn. Und doch schaffte er es nicht, den Bann zu brechen. Er küsste sie nicht. Denn er ahnte, dass er diesmal nicht aufhören würde. Aber er beugte sich noch näher, bis sich ihrer beider Atem mischte. Bis er in ihren schönen Augen genau lesen konnte, was sie empfand. Bis gerade die Tatsache, dass er sie nicht küsste und sie immer noch nur mit einer Fingerspitze berührte, in höchstem Maße erotisch wurde.

Es war alles, woran er noch denken konnte. Er wollte es zu sehr. Er wollte sie. Luca wollte sich in ihren Armen verlieren, wollte sich zusammen mit ihr mitten in das lodernde Feuer der Leidenschaft stürzen, das sie beide verzehrte.

„Das“, setzte er seinen früheren Gedankengang fort, „trägt eine Hure, die signalisiert, dass sie wieder zu haben ist. Die Form ist zweifellos diskret gewählt – aber das ändert nichts an der Botschaft.“

Er fühlte, wie sie erstarrte, und konnte der Versuchung nicht widerstehen. Wohl wissend, dass es nicht klug war, legte er seine Hand auf die nackte Haut ihrer Taille. Kaum fühlte er ihre unwiderstehliche Wärme, stand er lichterloh in Flammen. Wie ein Feuersturm raste unbändiges Verlangen durch seinen Körper.

Aber obwohl die Art, wie Kathryn erschauerte, ihm verriet, dass es ihr nicht anders erging, versuchte sie erneut mit aller Macht, ihn fortzustoßen.

Er wich zurück, ohne jedoch seine Hand sinken zu lassen.

„Was hast du vor, Luca?“ Ihr unbewegter Blick und ihr unterkühlter Ton drangen zu ihm vor. „Willst du beweisen, dass ich eine Hure bin, indem du dich wie ein Freier verhältst? Meinst du, dass es so funktioniert?“

Jetzt zog er seine Hand zurück und richtete sich auf. Allerdings wollte er lieber nicht genauer analysieren, warum es ihn so viel Überwindung kostete. Frust wandelte sich in Groll. Was hatte diese Frau an sich, dass er sich einfach nicht in den Griff bekam?

„Ich muss die Wahrheit nicht beweisen“, stieß er aus. „Sie existiert, egal wie sehr du sie beschönigst oder leugnest, um besser dazustehen.“

Stolz hielt Kathryn seinem Blick stand. Nur die leichte Rötung ihrer Wangen war Hinweis auf das, was zwischen ihnen vorgefallen war. „Du wirst feststellen, dass diese Rechnung nicht aufgeht“, sagte sie kühl, und ihre Worte trafen ihn wie Dolchstöße mitten ins Herz. „Hurenhaftes Verhalten verlangt immer zwei. Und nicht eine verdorbene Hure und einen Unschuldigen, der sich nur zufällig die Hände schmutzig macht. Gleichgültig, wie sehr du dich selbst belügst!“

Ohne ein weiteres Wort drängte sie sich an ihm vorbei und schritt den Flur hinunter, mit der Anmut und Eleganz einer Königin.

Autor

Caitlin Crews
Caitlin Crews wuchs in der Nähe von New York auf. Seit sie mit 12 Jahren ihren ersten Liebesroman las, ist sie dem Genre mit Haut und Haaren verfallen und von den Helden absolut hingerissen. Ihren Lieblingsfilm „Stolz und Vorurteil“ mit Keira Knightly hat sie sich mindestens achtmal im Kino angeschaut....
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