Julia Extra Band 433

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IM PALAZZO DER BRENNENDEN LEIDENSCHAFT von LAWRENCE, KIM
Ein verführerisches Angebot! Tess kann den Sommer über in Danilos Palazzo wohnen, wenn sie sich dafür um seine Schwester kümmert. Doch was als vernünftiges Arrangement beginnt, wird unter den Sternen der Toskana zu einer gefährlich heißen Versuchung …

BLITZHOCHZEIT MIT DEM MILLIARDÄR von COLLINS, DANI
"Sie dürfen die Braut jetzt küssen." Behutsam lüftet Mikolas den Schleier - und erstarrt. Das ist nicht die Frau, die er heiraten wollte! Der Milliardär fasst einen Entschluss: Die Hochzeit ist geplatzt, dafür muss diese erotische Fremde seine Geliebte werden …

WIE ZÄHMT MAN EINEN PRINZEN? von KENDRICK, SHARON
Lisa stockt der Atem, als ein umwerfend attraktiver Mann ihre Boutique betritt: Prinz Luciano Leonidas! Unvergesslich die sinnlichen Stunden in seinen Armen, die Verzweiflung, als Schluss war! Doch was will Luc jetzt von ihr? Noch in derselben Nacht soll Lisa es erfahren …

CINDERELLA UND DER IRISCHE LORD von LENNOX, MARION
"Hilfe!" Eine junge Frau droht im Moor zu versinken - der breitschultrige Finn rettet sie! Er ist hingerissen, doch schweren Herzens muss er sie gehen lassen. Er ahnt nicht, dass sie sich bald wiedersehen werden: in Schloss Glenconaill, das sie zu gleichen Teilen geerbt haben …


  • Erscheinungstag 30.05.2017
  • Bandnummer 0433
  • ISBN / Artikelnummer 9783733709037
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kim Lawrence, Dani Collins, Sharon Kendrick, Marion Lennox

JULIA EXTRA BAND 433

KIM LAWRENCE

Im Palazzo der brennenden Leidenschaft

Spontan bietet Danilo Raphael der zarten Engländerin Tess an, vorübergehend in seinem Palazzo zu wohnen. Da kann er sie vor dem Stalker beschützen, der sie verfolgt! Aber wer beschützt dann sein Herz?

DANI COLLINS

Blitzhochzeit mit dem Milliardär

Um ihre Schwester vor einer Zweckheirat zu bewahren, gibt Viveka sich als die Braut aus. Doch selbst durch ihren dichten Schleier zieht der Milliardär Mikolas Petrides die falsche Braut in seinen maskulinen Bann …

SHARON KENDRICK

Wie zähmt man einen Prinzen?

Die Lust ist stärker als die Vernunft: Prinz Luciano lässt sich zu einer Liebesnacht mit der schönen, bürgerlichen Lisa hinreißen. Mit schweren Folgen – für sie, ihn und die Zukunft seines Landes …

MARION LENNOX

Cinderella und der irische Lord

Plötzlich Schlosserbin! Jo kann es kaum fassen, als sie in Irland ein Anwesen erbt. Doch noch fassungsloser ist sie, als sie sieht, wer der zweite Erbe ist. Charmant, sexy – verhängnisvoll vertraut …

1. KAPITEL

Tess lehnte ihre heiße Stirn gegen den Kühlschrank und zwang sich, ihrer heiseren Stimme einen optimistischen Klang zu geben. „Mir geht’s gut“, gab sie vor. „Ich fühle mich schon hundertmal besser.“

„Du bist eine echt schlechte Lügnerin“, gab Fiona am anderen Ende der Leitung zurück.

Tess richtete sich auf und legte die Hand an ihren schmerzenden Kopf, während sie schwach lächelnd auf den Kommentar ihrer Freundin antwortete. „Nein, ich bin eine exzellente Lügnerin.“

Erst gestern noch hatte sie aufrichtig geklungen, als sie der persönlichen Assistentin ihrer Mutter gesagt hatte, wie leid es ihr täte, nicht zur offiziellen Eröffnung des Gemeindezentrums kommen zu können, wo ihre Mutter das Band durchschneiden würde. Die Grippe hatte auch ihre Pluspunkte. Doch was sie Fiona gesagt hatte, war keine reine Lüge gewesen, es ging ihr tatsächlich ein wenig besser. Obwohl ein wenig besser als total fertig immer noch ziemlich schlimm war.

„Eigentlich wollte ich auf dem Heimweg noch vorbeikommen, aber ich musste länger arbeiten. Du bist nicht die Einzige mit Grippe – bei uns ist das halbe Büro krank. Es ist ein Albtraum. Aber morgen früh werde ich bei dir vorbeischauen, nachdem ich Sally und die Mädchen zum Bahnhof gebracht habe. Brauchst du irgendetwas?“

„Also, du musst wirklich nicht …“

„Ich komme auf jeden Fall.“

Tess schnäuzte sich. Sie war zu schwach, um zu protestieren.

„Dann gib mir aber nicht die Schuld, wenn du dich ansteckst“, brummte sie.

„Ich kriege nie Grippe.“

„Fordere bloß nicht dein Schicksal heraus“, erwiderte Tess und lehnte sich erschöpft gegen den Küchentresen. Es war wirklich verrückt, aber ihre Knie zitterten nach dem kurzen Weg vom Schlafzimmer in die Küche noch immer vor Anstrengung.

„Bis dahin sieh zu, dass du genug trinkst“, sagte Fiona, und Tess hörte die Besorgnis in der Stimme ihrer Freundin, als sie noch hinzufügte: „Hast du auch wirklich alle Schlösser ausgetauscht?“

„Ich habe alles getan, was die Polizei mir geraten hat.“

Mit dem Resultat, dass sich Tess wie eine Gefangene in ihrer eigenen Wohnung vorkam. Sie warf einen Blick auf den zusätzlichen Riegel an der Eingangstür.

„Sie hätten diesen widerlichen, kranken Typen sofort verhaften sollen.“

„Der Polizist hat erwähnt, es gäbe die Möglichkeit einer einstweiligen Verfügung.“

Fiona holte tief Luft. „Aber warum …“ Doch dann seufzte sie verständnisvoll. „Na klar, deine Mutter!“

Tess erwiderte nichts, was auch nicht nötig war. Fiona war einer der wenigen Menschen, die alles wussten. Sie war dabei gewesen, als Tess mit zehn Jahren das Aushängeschild für den Kampf ihrer Mutter gegen Mobbing auf dem Schulhof gewesen war. Und auch später, als ihre Mutter ein Foto von ihr, das sie mit Tränen während der Beerdigung ihres Vaters zeigte, dazu benutzt hatte, die Wahl in den Gemeinderat zu gewinnen.

„Sie meint es ja gut“, verteidigte Tess ihre Mutter. Es stimmte, dass Beth Tracey – sie hatte als Witwe wieder ihren Mädchennamen angenommen – nur aus den besten Absichten heraus handelte. Auch wenn sie ein Talent für Eigenwerbung hatte, handelte es sich bei allem, wofür sie sich einsetzte, stets um eine gute Sache.

„Es geht das Gerücht um, sie wolle für das Bürgermeisteramt kandidieren.“

„Ja, das habe ich auch gehört“, erwiderte Tess und fügte hinzu: „Was diese einstweilige Verfügung betrifft … selbst wenn ich sie beim Gericht beantragt hätte, gibt es keine Garantie dafür, dass man mir auch recht gegeben hätte. Denn er kommt nun einmal ziemlich … harmlos daher. Und ich hatte keinen Beweis, dass er in meiner Wohnung war. Er hat ja auch nichts mitgenommen.“ Sie vernahm das Zittern in ihrer eigenen Stimme. Dabei hatte sie sich fest vorgenommen, sich nicht in die Opferrolle zu fügen.

„Aber was er getan hat, war noch viel schlimmer. Dieser Widerling ist in dein Zuhause eingedrungen.“

Tess war froh, dass ihre Freundin nicht sehen konnte, wie ihre Knie nachgaben und sie zu Boden sank. Dieser Vorfall war der Wendepunkt für sie gewesen. Sie hatte erkannt, dass sie den Mann nicht einfach ignorieren konnte. Er war gefährlich!

Obwohl das Ganze jetzt schon einen Monat zurücklag, wurde ihr bei dem Gedanken daran immer noch schlecht. Aber das war nichts im Vergleich zu dem überwältigenden Ekel und dem Gefühl der Verletzung, das sie an jenem Abend empfunden hatte. Die Rosenblätter auf dem Bett, der Champagner und die Gläser auf dem kleinen Nachttisch waren schon schlimm genug gewesen. Doch es war die herausgezogene Schublade mit ihrer Unterwäsche, die Tess dazu gebracht hatte, sich ins Bad zu flüchten und sich dort zu übergeben.

Es machte den Eindruck, als hätte ihr Stalker gewollt, dass sie von seiner Existenz erfuhr. Gleichzeitig hatte er sich alle Mühe gegeben, keine Beweise für seine Identität zu hinterlassen.

„Ja, ich weiß.“ Sie räusperte sich und versuchte, ihre Stimme wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Aber aus der Sicht des Gerichts ist das Hinterlassen von Blumen und Champagner kein Verbrechen.“

„Stalking wird heutzutage strafrechtlich verfolgt. Hast du der Polizei von den E-Mails erzählt?“

„Ja, aber sie waren ja nicht bedrohlich. Trotzdem waren die Polizisten sehr verständnisvoll.“ Tess hatte anfangs gedacht, dass sie ihr nicht glauben würden. Doch im Gegensatz zu ihr hatten die Profis sofort verstanden, dass die vermeintlich tiefe Beziehung, von der Ben Morgan ausging, nur darin bestand, dass sie sich manchmal an der Bushaltestelle gegrüßt hatten.

„Aber Verständnis hilft dir nicht, wenn er dich eines Nachts im Schlaf ersticht.“

Tess hielt erschrocken den Atem an, und Fiona ruderte eilig zurück. „Was er natürlich nie machen würde. Der Typ ist ein Weichei, der geborene Verlierer. Entschuldige! Ich und meine große Klappe! Bist du okay?“

Tess biss die Zähne zusammen und versuchte, die Wirkung von Fionas unbedachter Bemerkung abzuschütteln, obwohl sie sie wie eine eisige Faust im Magen spürte. Entschlossen reckte sie das Kinn. Angst zu empfinden würde bedeuten, dass der Verrückte gewonnen hatte.

„Nichts, was zwei Aspirin und eine Tasse Tee nicht kurieren könnten“, erwiderte sie und kam mühsam wieder auf die Beine.

„Stellt das verdammte Ding leiser, sonst schalte ich den Fernseher aus“, rief Fiona und fuhr dann, wieder zu Tess gewandt, fort: „Bitte, entschuldige. Meine Schwester badet gerade, und ich muss mich um die Zwillinge kümmern. Kinder unter fünf Jahren und ein weißer Teppich sind keine gute Kombination!“

„Also los, kümmere dich wieder um deine Familie, Fiona.“

„Bist du sicher, dass du okay bist? Du klingst einfach furchtbar.“

Tess lachte heiser in sich hinein. „Ich sehe noch viel furchtbarer aus.“

Sie schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Schon nach dem Aufstehen hatte sie im Spiegel ihre rote Nase, die dunklen Augenringe und ihr bleiches Gesicht gesehen. „Aber mir geht’s gut.“

Fiona machte am anderen Ende der Leitung einen ungläubigen Laut.

„Na gut“, räumte Tess ein. „Ich fühle mich zwar furchtbar, werde mir aber eine Tasse Tee machen und mich dann ins Bett legen.“

„Gute Idee! Dann also bis morgen!“

Tess setzte den Wasserkessel auf und holte aus dem Kühlschrank eine geöffnete Packung Milch. Doch nachdem sie etwas davon in ihre Tasse gegossen hatte, stellte sie naserümpfend fest, dass sie sauer war.

Nun sehnte sie sich umso mehr nach einer Tasse Tee. Der Lebensmittelladen war nur hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt … wenn sie die Abkürzung durch die kleine Gasse nahm.

Immer noch im Pyjama, warf sie sich den Dufflecoat über, den Fionas letzter Freund in ihrer Wohnung zurückgelassen hatte. Er war zwar ein schlanker Mann, doch sein Mantel war immer noch viel zu weit für ihre zierliche Gestalt.

Langsam, langsam, ermahnte sie sich, als sie die Treppe hinunterstieg. Auf dem Weg zum Laden vernahm sie die beruhigende Stimme des Polizisten in ihrem Kopf.

„Hören Sie, Sie dürfen jetzt nicht paranoid werden. Indem Sie Ihre E-Mail-Adresse gelöscht haben, haben Sie auf jeden Fall das Richtige getan. Was den Rest angeht, würde ich Ihnen lediglich ein paar Vorsichtsmaßnahmen empfehlen. Versuchen Sie, mit Freunden unterwegs zu sein. Wenn Sie allein sind, suchen Sie öffentliche Plätze auf, die gut beleuchtet sind. Wir haben schon oft erlebt, dass sich solche Typen dann neue Opfer suchen.“

Plötzlich blieb Tess stehen, denn ihr wurde bewusst, wie dunkel und verlassen die Gasse war. Sie hatte sich in genau die Situation gebracht, vor der die Polizei sie gewarnt hatte.

Panik stieg in ihr auf und sie wäre am liebsten umgekehrt. Doch die Hauptstraße, wo Lichter und Menschen ihr Sicherheit gaben, war nicht mehr weit entfernt.

„Dir wird nichts passieren. Du bist kein Opfer.“ Doch ihr Mantra verlor seine Wirkung, als sie eine Gestalt am anderen Ende der Gasse sah, die direkt auf sie zukam.

Sie öffnete den Mund, um zu schreien, doch es gelang ihr nicht. Sie war wie gelähmt und konnte sich nicht rühren. Ihr Atem setzte aus. Sie hatte das Gefühl, als säße etwas Böses auf ihrer Brust und schnürte ihr die Kehle zu.

„Entspann dich. Ich bin hier, um auf dich aufzupassen, Liebling …“

Es war zwar kein Schrei, doch es war ein Geräusch. Verzweifelt versuchte Tess erneut, Alarm zu schlagen.

„Ohne mehr Details zum Fall Ihrer Schwester zu kennen, kann ich nichts Genaues sagen. Aber von Ihrer Beschreibung her bezweifle ich, dass diese Behandlungsmethode für sie die richtige ist.“

Danilo schlug die Augen nieder, um seine Gefühle zu verbergen.

„Wenn Sie möchten, dass ich sie mir anschaue …“

Danilo sah ihn wieder an.

Der Mann ihm gegenüber las seinen Ausdruck offensichtlich korrekt. „Ich nehme an, Sie wollen erst mit ihr darüber sprechen, oder?“

„Mit wem?“

„Mit Ihrer Schwester. Soweit ich weiß, hat bislang keine Behandlung bei ihr angeschlagen.“

„Sie will wieder gehen können.“

Der verständnisvolle Gesichtsausdruck des Mannes quälte Danilo. Er sprang auf und wandte sich zum Gehen. „Ich melde mich wieder bei Ihnen!“

Ein Leben. Das wollte er für seine Schwester. Aus diesem Grund hatte er sie auch zu jedem einzelnen der Topspezialisten für Erkrankungen der Wirbelsäule geschleppt und sich auf den neuesten Stand der Forschung auf diesem Gebiet gebracht. Er würde nicht aufgeben, sondern sie fragen, und sie würde einverstanden sein.

So wie immer.

Stirnrunzelnd winkte er seinen Fahrer weg, der ihm die Tür der Limousine öffnen wollte.

„Ich gehe zu Fuß.“

Als Danilo mit beiden Händen in den Taschen über das Pflaster lief, das noch nass vom Regen war, versank er tief in seinen Gedanken. Daher nahm er den plötzlichen Hagel auch kaum wahr, der sein Haar mit kleinen Eiskristallen bedeckte. Es war ein typisch englischer Sommer.

Es gab Momente im Leben eines Mannes, in denen er sich seinem Scheitern und seinen Schwächen stellen musste. Bei ihm war es in London gewesen, als er sich damit hatte konfrontieren müssen. Es war die Unfallnacht, die seine Eltern das Leben gekostet und aus seiner Schwester eine Invalidin in einem Rollstuhl gemacht hatte.

Er hätte dort sein sollen, hätte am Steuer des Wagens sitzen sollen, dann wäre vielleicht alles anders gekommen. Doch das würde er nie erfahren, denn er hatte damals ein besseres Angebot gehabt. Eine Nacht mit einer wunderschönen Blondine in London. Die Entscheidung war ihm nicht schwergefallen.

Doch jetzt fühlte er nur noch Abscheu sich selbst gegenüber, als er noch einmal an den Moment dachte, als die Polizei ihn schließlich im Hotel ausfindig gemacht hatte. Es war früh am Morgen gewesen, und zu diesem Zeitpunkt lag seine kleine Schwester bereits in Rom im Krankenhaus und kämpfte um ihr Leben. Ganz allein, denn ihre Eltern lagen in der Leichenhalle.

Er hatte eine Nacht mit bedeutungslosem Sex der Pflicht seiner Familie gegenüber vorgezogen.

Wenn er nicht so ein selbstsüchtiger Bastard gewesen wäre … doch wer konnte schon mit Sicherheit sagen, was dann passiert wäre? Natürlich, alles hätte anders kommen können. Aber er wusste es nicht, und das war seine Strafe. Verglichen mit seiner Schwester Nat war er glimpflich davongekommen. Doch von diesem Tag an hatte er sich geschworen, alles zu tun, was zu ihrer Heilung nötig war.

Das war das einzig Richtige, daran zweifelte er nicht. Trotzdem hatte er ein komisches Gefühl gehabt, als der Chirurg vorgeschlagen hatte, dass er mit ihr über die Behandlung sprechen sollte. Denn das letzte Mal hatte sie auch Hoffnung gehabt, die jedoch grausam zerstört worden war. Er würde ihren trostlosen Gesichtsausdruck nie vergessen.

Danilo war so tief in Gedanken versunken, dass er an der Gasse vorbeiging, bevor er das Geräusch hörte – der Schrei einer Frau, voller Angst. Er reagierte sofort. Nie hätte er so tun können, als hätte er nichts gehört. Wenige Sekunden später stand er am Eingang der kleinen Kopfsteinpflastergasse. Die Straßenlaternen beleuchteten die Szene, und innerhalb von Sekunden wusste er alles, was er wissen musste.

Der Typ hielt die Frau fest, und sie wollte sich befreien.

Roter Nebel nahm ihm die Sicht, als die Wut in ihm hochstieg, ihm wurde schwindelig. Wenn er eins nicht ausstehen konnte, waren es Männer, die anderen ihren Willen aufzwingen wollten. Anderen, die schwächer oder anders waren als sie. Das war schon in der Schule so gewesen, und daran hatte sich nichts geändert.

Der Mann sah Danilo nicht kommen und leistete deshalb auch keinen Widerstand, als er ihn am Kragen packte und von der Frau wegzog. Ein Blick auf ihr Gesicht, das zu blass war, um hübsch genannt zu werden, genügte, um Danilos ritterliche Instinkte weiter anzustacheln.

Sie erinnerte ihn an Nat, obwohl sie äußerlich keine Ähnlichkeit mit ihr hatte. Nat war wunderschön, nicht so unscheinbar, und sie war ziemlich groß für eine Frau. Egal – er war zwar nicht da gewesen, als seine Schwester ihn gebraucht hatte, doch er war jetzt da.

„Was, zum Teufel …“

Der Mann ruderte hilflos mit den Armen, bis Danilo ihn schließlich absetzte und sich beschützend vor die junge Frau stellte.

Die Aggression im Gesicht des Mannes erlosch, und er versuchte sogar zu lächeln, während er seine Hand ausstreckte.

„Das ist ein Missverständnis …“

„Das glaube ich nicht“, erwiderte Danilo mit schneidender Stimme und wandte sich an die junge Frau. „Möchten Sie, dass ich die Polizei rufe?“

„Ich will nur nach Hause.“

Ihre Stimme klang rau und flehend, dann zog sie auf einmal schwer die Luft ein und röchelte, als fiele es ihr schwer zu atmen. Sofort war er an ihrer Seite.

„Oder soll ich Sie vielleicht ins Krankenhaus bringen?“

„Ihr geht’s gut“, mischte sich der Mann ein. „Sie irren sich, Kumpel. Sie wissen doch, wie das ist. Wir hatten nur eine kleine Meinungsverschiedenheit, nicht wahr, Liebling?“

Tess sah ihn entsetzt an und spürte erneut Panik aufsteigen. Was sollte sie tun, wenn ihr Retter ihm glaubte und sie wieder mit dem Angreifer allein ließ?

„Ich bin nicht Ihr Kumpel. Und nein, ich weiß nicht, wie es ist, wenn man einer Frau seinen Willen aufzwingen will.“

„Aber sie ist meine …“

Ben Morgans Stimme jagte Tess einen Schauer über den Rücken. Verzweifelt schüttelte sie den Kopf. Noch immer war ihr die Kehle wie zugeschnürt. Um Morgans lauerndem Blick nicht zu begegnen, schloss sie die Augen.

In diesem Moment tauchte eine Szene aus der Vergangenheit vor ihrem inneren Auge auf. Sie war erst sechzehn gewesen, und der Mann, mit dem ihre Mutter sich traf, hatte versucht, sich ihr zu nähern. Doch sie hatte Glück gehabt. Denn als sie vor lauter Angst auf seine neuen Schuhe gekotzt hatte, hatte er es plötzlich nicht mehr darauf abgesehen, Spaß mit ihr zu haben.

Plötzlich vernahm sie Schritte, und als sie die Augen wieder aufmachte, war ihr Stalker verschwunden.

„Er ist weg“, sagte der Fremde.

Mit einem Mal fiel ihr sein italienischer Akzent auf. Und nicht nur das – als sie ihn ansah, erkannte sie, dass er unglaublich attraktiv war.

„Oh, ich würde Sie am liebsten küssen“, platzte sie erleichtert heraus. „Aber keine Angst, das werde ich nicht tun. Ich habe nämlich Grippe.“ Dankbar sah sie zu ihm auf. „Ich bin froh, dass er Sie nicht geschlagen hat.“

Sie fiel in sein lautes Lachen mit ein und hatte jetzt die Möglichkeit, ihn genauer zu studieren.

Seine Haut hatte einen olivfarbenen Ton, der gut zu den dunklen Augen passte. Seine Züge waren klassisch, mit markanten Wangenknochen, einer breiten Stirn, gerader Nase und den sinnlichsten Lippen, die Tess je bei einem Mann gesehen hatte.

Auch sein Lächeln war umwerfend und machte sie schwindelig. Doch dann lachte er plötzlich nicht mehr, sondern sah sie besorgt an.

„Also, es geht mich ja nichts an“, meinte er und fügte hinzu: „Aber finden Sie nicht, dass Sie in der Wahl ihrer Freunde etwas vorsichtiger sein sollten?“

Anstatt zu antworten, sah Tess ihn nur mit großen Augen an, als würde sie den Sinn seiner Worte nicht verstehen. Danilo fluchte leise auf Italienisch, war jedoch erleichtert, als er erkannte, dass sie ihn verstanden hatte.

„Nein, er ist nicht … niemals … auf gar keinen Fall …“

Plötzlich schluchzte sie auf.

Schuldbewusst sah er sie an und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. Plötzlich gaben ihre Knie nach, und sie wäre bestimmt zu Boden gesunken, wenn er ihr nicht den Arm um die Taille gelegt hätte, um sie zu stützen. Im selben Moment realisierte er folgende Einzelheiten: Sie zitterte am ganzen Leib, und obwohl sie klein und zierlich war, hatte sie Kurven.

„Bitte, werden Sie jetzt nicht ohnmächtig!“

Unter anderen Umständen hätte Tess über diesen Satz vielleicht laut gelacht. Machos sagten immer solche Dinge, über die sie sich nur lustig machen konnte. Aber zumeist wussten sie nicht, worüber sie lachte, denn Alphamännchen hatten normalerweise auch keinen Sinn für Humor.

Aber jetzt lachte sie nicht. Stattdessen lehnte sie sich gegen die Hand, die stützend ihre Hüfte umfasste, und hoffte inständig, dass sie nicht das Bewusstsein verlor.

„Mir geht’s schon wieder besser.“ Langsam kehrte die Welt in ihren Fokus zurück, und sie gestand sich ein, dass er noch immer unverschämt gut aussah.

Angesichts der Schweißperlen auf ihrer Haut war dies keine sehr ehrliche Aussage, aber Danilo war froh über ihr positives Denken.

„Atmen Sie tief und langsam … ein … aus … nein, nicht zu tief.“ Sie schwankte leicht, und er verstärkte den Griff um ihre Taille, während er gleichzeitig nach seinem Handy griff. Insgeheim fragte er sich, ob er es noch schaffen würde, wie geplant auf direktem Weg zurück nach Rom zu fliegen. „Ja, so ist es besser …“

Zuerst hatte Tess geglaubt, seine Augen wären dunkelbraun, doch jetzt, bei näherer Betrachtung, erkannte sie, dass sie dunkelblau wie der Nachthimmel waren und von kleinen silbernen Punkten durchsetzt, die wie Sterne glitzerten.

Sie befeuchtete ihre trockenen, spröden Lippen mit der Zungenspitze und nickte. „Ich bin okay.“

Das sah Danilo ganz anders. „Mein Wagen wird gleich hier sein. Wo wohnen Sie?“

Tess, deren Herz noch immer stark pochte, wenn auch aus Erleichterung und nicht aus Angst, hörte sich ihre Adresse sagen wie ein gehorsames verlorenes Kind. „Ich brauche kein Auto. Meine Wohnung liegt gleich um die Ecke.“ Was war noch um die Ecke – der verrückte Ben? Sie erschauerte bei dem Vornamen, bei dem sie ihn nannte, um ihn harmlos erscheinen zu lassen. Aber irgendwie funktionierte das nicht mehr. Er hatte auf sie gewartet und ihr aufgelauert. Tat er das vielleicht immer noch?

Zuerst war Danilo erleichtert über ihre Zurückweisung, denn er hätte sich sehr gern aus diesem kleinen Drama zurückgezogen. Doch dann sah er ihren Blick, beobachtete, wie sie sich angstvoll umsah und entschied sich anders.

„Es liegt auf meinem Weg.“

„Wirklich?“ Tess vermutete, dass das eine Lüge war, aber im Moment war es ihr egal. Der Gedanke, heute noch einmal auf ihren Stalker zu treffen, war einfach unerträglich.

Besorgt sah er sie an. „Sie sind jetzt in Sicherheit.“

Seine Stimme holte sie vom Abgrund der Panik zurück, und die unerwartete Freundlichkeit in seiner Stimme bewirkte, dass ihr die Tränen kamen.

„Bitte, seien Sie nicht so nett zu mir“, bat sie ihn mit bebender Stimme. „Dann werde ich bestimmt weinen. Ich bin normalerweise nicht so …“ Sie biss sich auf die Lippen. „Und was Ben betrifft, so ist er nicht mein Freund. Er glaubt es nur.“

Danilo zuckte die Schultern. „Das geht mich nichts an.“ Er wollte auch nicht, dass es ihn etwas anging, obwohl er sich beim Anblick des blassen, verängstigten Gesichts der jungen Frau schuldig fühlte.

„Ich habe eine Schwester, die nicht viel jünger ist als Sie. Und ich hoffe, wenn sie irgendwann mal jemanden braucht …“ Er brach ab. Seine Schwester hatte ihn gebraucht, und er war nicht da gewesen.

Tess holte tief Luft, und Danilo beobachtete, wie sie versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen. Er war hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Irritation, als er die Träne sah, die ihre Wange herunterlief. Plötzlich fiel ihm auf, dass ihre Augen bernsteinfarben waren. So etwas hatte er noch nie gesehen. Wie außergewöhnlich! Trotzdem durfte er nicht vergessen, dass er nicht für sie verantwortlich war.

„Danke für Ihr Angebot“, sagte Tess in diesem Moment. „Wenn es wirklich auf Ihrem Weg liegt, nehme ich es gern an. Aber es ist wirklich nicht nötig. Mir geht’s bestimmt gleich wieder besser.“

Nachdem ihr erster Satz noch ganz fest geklungen hatte, hatte ihre Stimme beim letzten schon ein wenig gezittert. Als sie ihn jetzt anschaute, musste Danilo unwillkürlich an den Labrador seines Vaters denken.

„Ich hätte allerdings nichts dagegen, wenn Sie mich ein Stück begleiten würden“, fuhr sie fort. Plötzlich wurde ihr ganzer Körper von einem Zittern erfasst, das sie nicht mehr kontrollieren konnte. Sie schüttelte die Hand, die Danilo ihr beruhigend auf die Schultern legte, nicht ab. In diesem Moment war sie froh über seinen Beistand, auch wenn sie sich sonst immer über Frauen, die auf die Unterstützung von Männern angewiesen waren, lustig machte.

Lass dir ausnahmsweise mal helfen, sagte sie sich. Schließlich hast du die Grippe und bist gerade erst deinem Stalker entkommen.

2. KAPITEL

„Ich heiße Tess.“ Wenigstens zeugte es von guten Manieren, dass sie sich dem Mann, der sie aus einer brenzligen Situation gerettet hatte, vorstellte.

„Raphael, Danilo Raphael.“

Der Name eines Engels. Äußerst passend unter diesen Umständen, obwohl ihr Schutzengel ihr mehr wie ein gefallener Engel vorkam.

Sie hatten jetzt das Ende der Gasse erreicht, und sie blieb zögernd stehen. Danilo ging an ihr vorbei und sah sich auf der Straße mit den identischen viktorianischen Häusern um. „Rechts oder links?“

Tess antwortete nicht sofort, denn sie wunderte sich noch immer darüber, dass das Schicksal ihr einen so attraktiven Retter geschickt hatte. Danilo war ein dunkler Typ und strahlte etwas Gefährliches aus. Mit welcher Leichtigkeit er Ben hochgehoben und von ihr weggezerrt hatte!

Als sie ihn weiterhin anstarrte, zog er die Augenbrauen hoch und sah sie fragend an. Ein Hitzeschauer ergriff ihren Körper, den sie sofort der Grippe zuschob. Verlegen schüttelte sie sich und zwang sich, wieder in die Gegenwart zurückzukehren und seine Frage zu beantworten.

„Rechts“, sagte sie und zeigte vage in die Richtung. Sie musste aufhören, über ihn nachzudenken, denn sie würde ihn höchstwahrscheinlich nie wiedersehen. Aber er war im richtigen Moment erschienen, und dafür würde sie ihm ewig dankbar sein. „Es ist gleich da vorn, das Haus mit der roten Tür.“

„Okay, dann bringe ich Sie noch bis zu Ihrer Wohnungstür hoch.“

„Also, das … das ist wirklich nicht nötig.“

Doch er gab nicht nach. Erst als sie vor der Haustür standen, registrierte sie die Limousine, die hinter ihnen gehalten hatte. Genau wie der Mann an ihrer Seite wirkte auch der Wagen ziemlich exklusiv. Tess nickte ihm zu. „Sieht ganz so aus, als würden Sie abgeholt.“

Er drehte sich um und hob die Hand. „Bin gleich wieder da.“

Sie sah zu, wie er zum Auto ging und ein paar Worte mit dem Fahrer wechselte. Am liebsten hätte sie ihre Tür geöffnet und wäre ins Haus geschlüpft. Doch das wäre ihrem Retter gegenüber mehr als undankbar gewesen.

Ein paar Minuten später kehrte er zurück und sah Tess auffordernd an. „Nach Ihnen!“

„Na gut“, erwiderte sie, schloss die Tür auf und trat in den Hausflur. „Ich wohne im vierten Stock.“

„Wo ist der Lift?“

„Es gibt keinen.“ Sie zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, als sie langsam die Wendeltreppe hochstieg. Das war gar nicht so einfach, denn ihre Knie zitterten immer noch.

Das Gehen wurde auch dadurch nicht leichter, dass er direkt hinter ihr war. Plötzlich schwankte sie erneut. Bevor sie stürzen konnte, fing Danilo sie auf und hob sie hoch. Sie klammerte sich an seinem Jackett fest, als er sie mit sicheren Schritten die Treppe hochtrug.

„Das … das ist doch nicht nötig“, stieß sie hervor, doch er ließ sich nicht beirren.

Sie wandte den Kopf und zwang sich, nach vorn zu schauen. Aber sein heißer Atem auf ihrer Wange, seine harte Brust und die plötzliche Intimität der Situation trugen zu ihrem weiteren Orientierungsverlust bei.

Vor der Wohnungstür ließ er sie endlich herunter.

„Das war wirklich nett von Ihnen.“

Er sah sie stirnrunzelnd an. „Ich bin nicht nett.“

„Oh, doch.“ Sie suchte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. „Also dann … vielen Dank noch einmal und gute Nacht!“

Er sah sie an. Für seinen Geschmack war sie etwas zu blass und zu dünn. Aber einen Moment lang fragte er sich doch, wie sie ausgesehen hätte, wenn sie keinen Mantel aus einem Secondhandshop getragen hätte.

Sie fummelte ein wenig mit dem Schlüssel herum, bis es ihr endlich gelang, die Tür zu öffnen. Dann wandte sie sich noch einmal zu ihm um.

„So, jetzt brauchen Sie sich nicht mehr um mich zu kümmern. Mir geht’s schon wieder sehr viel besser.“

Danilo stieß einen tiefen Seufzer aus und schloss kurz die Augen. Er wäre wirklich am liebsten gegangen, denn die Stimme der Vernunft sagte ihm, dass das Ganze ihn nichts anging. Und er hätte auch auf sie gehört, wenn seine Schuldgefühle sich nicht lautstark zu Wort gemeldet hätten.

„Sie sehen aber nicht so aus, als würde es Ihnen viel besser gehen.“ Das war noch untertrieben. Im hellen elektrischen Licht wirkte ihr Gesicht weiß wie Papier, und die Schatten unter ihren Augen waren so dunkel, dass sie wie blaue Flecken aussahen.

„Gibt es jemand, der sich um Sie kümmern könnte?“ Den Stab weiterzugeben, schien ihm plötzlich eine gute Idee zu sein. „Sie sollten jetzt nicht allein sein.“

Allein. Das Wort hallte in Tess’ Kopf wider, und sie betrachtete zweifelnd den neuen Riegel an der Tür. Natürlich hatte er recht. Normalerweise wäre sie heute auch gar nicht allein gewesen, denn eigentlich hatte sie einen Ausflug mit ihren Kolleginnen Lily und Rose geplant, die beide an derselben Schule arbeiteten wie sie.

Wenn sie nicht diese verdammte Grippe gehabt hätte, wäre sie jetzt mit den beiden an der See. Die einzige Person, die sie sonst noch anrufen könnte, war Fiona. Bestimmt würde ihre Freundin alles stehen und liegen lassen, sobald sie hörte, was passiert war. Doch sie wollte ihr nicht den letzten Abend mit ihrer Schwester und ihren Nichten verderben, die in Hongkong lebten und auf deren Besuch Fiona sich schon ewig gefreut hatte.

Natürlich gab es auch noch ihre Mutter, die ebenfalls bestimmt sofort kommen würde, wenn Tess sie anrief. Denn so ambitioniert sie auch war, das Wohl ihrer Tochter ging ihr über ihre Karriere. Doch Tess wusste, was geschehen würde, wenn sie ihr alles erzählte. Spätestens einen Tag später würde ihre Geschichte in allen Zeitungen und Online-Medien erscheinen, mit ihr als Opfer und ihrer glamourösen Mutter als Retterin, die man unbedingt wählen musste, wenn einem an Recht und Ordnung gelegen war. Tess hatte am eigenen Leib erfahren, was es bedeutete, im Zentrum der Kampagnen ihrer Mutter zu stehen. Sie hatte wirklich keine Lust darauf, diese Erfahrung zu wiederholen.

Sie kniff die Augen zusammen, war sich seiner dunklen, grüblerischen Präsenz jedoch sehr bewusst. Plötzlich kam er ihr noch größer vor, was wahrscheinlich mit den niedrigen, schrägen Deckenbalken zusammenhing. Ihr Macho-Schutzengel brauchte ihr nicht zu sagen, dass sie die Situation mit Ben in den Griff bekommen musste, das war ihr selbst klar. Aber nicht mehr heute Abend. Wenn sie weiter darüber nachdachte, würde ihr Kopf noch explodieren.

Tess öffnete die Augen. „Ich glaube …“ Sie blinzelte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihn hereingebeten zu haben, doch plötzlich stand Danilo in ihrem kleinen Flur und sah sie abwartend an.

„Es gibt niemanden“, stieß sie hervor und fügte müde hinzu: „Ich muss einfach nur diese Grippe wegschlafen, mehr nicht.“

„Heißt das, Sie wollen so tun, als wäre der Zwischenfall da unten gar nicht passiert?“

Sein Einwand ging ihr gegen den Strich. „Ich werde es zumindest versuchen.“ Es gefiel ihr nicht, dass er ihr ein schlechtes Gewissen machte. Gleichzeitig wusste sie, dass sie ihm dankbar sein musste, denn er hatte sie schließlich gerettet.

Danilos Blick wanderte von ihrem Gesicht zu dem neuen Riegel an der Tür, den er sofort korrekt interpretierte. Seine Züge wurden hart. Er spürte die Wut in sich aufsteigen und ballte die Fäuste.

„Wollen Sie Ihren Freund aus der Gasse wirklich so leicht davonkommen lassen?“

„Er ist nicht mein Freund“, erwiderte sie, hatte aber nicht die Hoffnung, dass er ihr glauben würde. Sein skeptischer Gesichtsausdruck bestätigte sie in dieser Annahme. Tess öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Warum interessierte es sie überhaupt, was dieser Fremde von ihr dachte?

Sie knöpfte den Dufflecoat auf, verhedderte sich jedoch bei dem Versuch, ihn auszuziehen. Die Situation war so absurd, dass sie lachen musste.

Danilo konnte sich auf ihr Verhalten keinen Reim machen. War sie so sehr daran gewöhnt, von einem Mann schlecht behandelt zu werden, dass sie darüber lachen konnte? Das konnte er einfach nicht verstehen. Missbrauch war etwas, was ihn bis aufs Blut reizte.

Tess kämpfte weiter mit dem Mantel und war froh, als sie sich endlich herausgewunden hatte. Sie ließ ihn achtlos zu Boden fallen und wandte sich ihrem Retter zu.

„So, und jetzt werde ich ins Bett gehen. Noch einmal vielen Dank für das, was Sie getan haben.“

Doch er rührte sich nicht, sein Blick war weiterhin auf das Schloss und den Riegel gerichtet.

„Sie sollten so nicht leben müssen – in ständiger Angst, meine ich“, stieß er hervor. „Das ist eine Schande! Wie lang geht das schon so?“

Tess hob abwehrend die Hand. „Bitte! Dieses Gespräch habe ich heute schon einmal geführt. Aber so etwas Schlimmes wie eben gerade ist vorher noch nie passiert.“

„Aber es sind Dinge passiert, nicht wahr?“ Er sah sie eindringlich an. „Empfinden Sie immer noch etwas für diesen Mann?“

Die Frage erstaunte sie. „Ich habe noch nie etwas für ihn empfunden. Ich kenne ihn ja kaum.“ Und Sie kenne ich auch nicht, hätte sie gern hinzugefügt, unterließ es jedoch, weil sie jetzt nur noch wollte, dass er ging und sie in Frieden ließ. Wusste er denn nicht, dass Schutzengel im richtigen Moment erscheinen und dann wieder leise verschwinden sollten, anstatt jemandem Kopfschmerzen zu bereiten?

„Was tragen Sie da eigentlich?“, fragte er und betrachtete sie entgeistert von Kopf bis Fuß. „Einen Pyjama!“

„Ja, einen Pyjama“, erwiderte sie gereizt. „Vielleicht tragen Sie ja keinen, ich aber schon.“ Plötzlich errötete sie, als ihr klar wurde, was sie gerade gesagt hatte. Sie hatte angedeutet, dass er womöglich nackt schlief. Und nicht nur hatte sie es gesagt, jetzt machte sich dieser Gedanke in ihrem Kopf breit. Sie stellte sich einen völlig Fremden nackt vor.

„Sie haben etwas Besseres verdient!“

Danilo hatte keine Ahnung, woher diese Worte kamen. Noch immer stand er stocksteif da und versuchte, seine Verlegenheit hinter einer steinernen Miene zu verbergen. Insgeheim fragte er sich, warum er nicht längst weg war. Darauf gab es nur eine Antwort: Aus irgendwelchen Gründen fühlte er sich dieser fremden jungen Frau gegenüber verpflichtet. Er hatte Nat damals nicht retten können, doch vielleicht konnte er dieser Fremden helfen, die offensichtlich selbstzerstörerische Tendenzen hatte.

„Also, um das noch einmal klarzustellen“, erklärte sie, „der Mann von vorhin ist nicht mein Freund. Alles, was uns verbindet, ist dieselbe Bushaltestelle, an der wir manchmal ein paar Worte miteinander gewechselt haben.“

Danilo sah sie abwartend an, und sie fuhr seufzend fort: „Zuerst habe ich gedacht, er wäre ganz nett, doch dann sind plötzlich ein paar komische Dinge passiert. Er ist überall aufgetaucht, wo ich war, vor der Schule, an der ich arbeite, zum Beispiel. Danach hat er angefangen, mir Nachrichten und E-Mails zu schicken. Ich habe gedacht, wenn ich ihn ignoriere, würde der Spuk sich legen und er würde verschwinden. Aber dann ist er letzten Monat in meine Wohnung eingebrochen. Ich habe zwar keinen Beweis dafür, doch es kann nur er gewesen sein. Er hat nichts mitgenommen, dafür aber Rosen und Champagner hinterlassen. Ich bin zur Polizei gegangen, und man hat mir zu einigen Sicherheitsmaßnahmen geraten.“

Er hörte ungläubig zu, während seine Wut auf den Mann immer größer wurde. „Ich hätte ihn erwürgen sollen!“

„Naja, vielleicht habe ich ihn zumindest mit meiner Grippe angesteckt.“

Dieser grimmige Satz stand in einem solchen Gegensatz zu der derangierten, schmächtigen Figur vor ihm, dass er lachen musste.

„Sie sollten die Polizei informieren.“

„Er hat mich ja nicht direkt angegriffen oder mir wehgetan. Ich habe einfach nur Panik bekommen, als er aufgetaucht ist. Vielleicht hätte ich mit ihm sprechen sollen und …“

„Sie haben keine Schuld an dem, was passiert ist.“

„Ja, das ist mir klar. Ich wollte nur sagen, dass ich die Situation besser in den Griff hätte kriegen müssen.“ Tess legte eine Hand an ihre pochende Schläfe. „Ich werde den Vorfall der Polizei wahrscheinlich melden, aber nicht heute Abend.“

„Wahrscheinlich?“ Seine Stimme wurde lauter.

Sie schloss die Augen. „Wenn Sie mich anschreien, sage ich Ihnen gleich, dass ich losheulen werde, und das ist kein hübscher Anblick.“ In diesem Moment überkam sie ein Niesanfall. Danilo reichte ihr eine Packung Papiertaschentücher. Sie zog eines heraus, schnäuzte sich laut und sah ihn mit wässrigen Augen an. „Danke.“

„Was werden Sie jetzt tun?“, fragte er, obwohl seine innere Stimme ihm zuflüsterte, dass ihn das nichts anging.

Seufzend drehte Tess ihm den Rücken zu und ging in den Küchenbereich, der durch einen Tresen vom Wohnzimmer abgetrennt war. „Leider habe ich meine Milch für den Tee nicht bekommen. Daher werde ich improvisieren müssen.“ Sie streckte die Hand nach einer Flasche Sherry aus, die ganz hinten im Küchenschrank stand.

Danilo, der gegen den Tresen gelehnt war, sah ihr dabei zu, wie sie sich ein Glas nahm und etwas Sherry hineingoss.

„Oh, entschuldigen Sie, wo sind nur meine Manieren geblieben? Möchten Sie vielleicht auch etwas?“

Er betrachtete amüsiert das Etikett auf der Flasche und schüttelte den Kopf. „Danke, ich verzichte. Sind Sie sicher, dass Sie jetzt Alkohol trinken sollten?“

Sie warf ihm einen Killerblick zu und ließ sich mit dem Glas in der Hand auf die Couch fallen, bevor sie die Augen schloss und einen großen Schluck nahm. Der Alkohol brannte in ihrer rauen Kehle, sodass sie husten musste.

„Für eine Frau, die von einem Stalker verfolgt wird, sind Sie ganz schön vertrauensselig.“

Tess zwang sich, die Augen wieder zu öffnen. Vertrauensselig? Genau das war sie überhaupt nicht. Im Gegenteil, manche hielten sie sogar für ziemlich paranoid, was bestimmt mit dem Zwischenfall mit dem Freund ihrer Mutter zusammenhing. Das Komische war nur, dass sie vor diesem Fremden, der jetzt vor ihr stand, und einen unglaublichen Sex-Appeal verströmte, keine Sekunde Angst gehabt hatte. Lag es an ihrem fiebrigen Zustand, oder war es reine Dummheit?

„Moment mal. Sie sind jetzt aber nicht auch so ein Freak, der mir gleich sagen wird, dass er sich unsterblich in mich verliebt hat?“

Er lachte. „Nein.“

Tess spürte plötzlich, dass ihr Ohr wehtat. Als sie darüber strich, fiel ihr auf, dass ihr Ohrring fehlte. Offensichtlich hatte sie nicht nur ihn, sondern auch ihren Verstand verloren, denn Danilos Lachen schmerzte sie.

Wäre sie in besserer Verfassung gewesen, hätte sie ihm sofort gesagt, dass sie eine ganze Reihe von Verehrern hatte. Das wäre zwar ein wenig kindisch, dafür aber wahr gewesen.

Es hatte lange gedauert, bis sie sich von einem pickeligen Teenager mit Brille zu einer attraktiven Frau entwickelt hatte. Zwar hätte sie sich noch mehr Kurven gewünscht, war aber stolz auf ihre reine Haut und wusste, dass Männer sich für sie interessierten. Das Problem war nur, dass bisher niemand dabei gewesen war, der sie wirklich angezogen hatte.

Die meisten behandelten sie, als wäre sie eine Puppe, die jeden Moment zerbrechen könnte. Wenn sie herausfanden, dass sie nicht nur nett und höflich, sondern eigentlich ziemlich tough war, zogen sie sich zurück. Alle außer Ben natürlich.

Der Mann, der sie so liebte, wie sie war, war offenkundig verrückt. Vielleicht war das ja der Preis, den sie zahlen musste.

Sie hoffte inbrünstig, dass es nicht so war.

Tess hatte keine Ahnung, wer der perfekte Mann für sie war, wusste aber, dass er sie niemals von oben herab behandeln, sondern ihr auf Augenhöhe begegnen würde. Wenn er ihr außerdem noch tollen Sex bieten würde, umso besser. Aber bisher war so jemand noch nicht einmal im Ansatz auf der Bildfläche erschienen.

Natürlich kannte sie das Risiko, das sie einging, indem sie auf den Richtigen wartete. Möglicherweise gehörte sie damit zu den Frauen, die für den Rest ihres Lebens allein blieben. Zu denen, die den Männern die Schuld an allem gaben, statt bei sich selbst anzufangen und sich einzugestehen, dass ihre Misere vielleicht nicht ganz unverschuldet war.

„Glauben Sie vielleicht, dass ich das Ganze provoziert habe?“

„Sie können sich nicht dauernd Gedanken darüber machen, was andere von Ihnen denken. Sind Sie jetzt wach und klar?“

„Ja, leider.“

Der trockene Kommentar ließ ihn schmunzeln. Es gab gewiss nicht viele Leute, die nach einem solchen Zwischenfall noch dazu fähig waren. „Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?“

„Dass Sie mich nicht lieben. Ich bin noch dabei, mich davon zu erholen.“

„Also nicht. Dann möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen.“

„Vielleicht noch einen Riegel vor der Tür anzubringen? Oder wollen Sie mit mir in ein entlegenes Cottage auf den Äußeren Hebriden fahren? Daran habe ich auch schon gedacht.“

„Für einen weiteren Riegel ist kein Platz an Ihrer Tür, und auf den Äußeren Hebriden regnet es zu viel.“

Danilo fragte sich, wie es hatte geschehen können, dass diese Engländerin zu seinem Problem geworden war.

Aber das war sie ja gar nicht. Bis auf die Tatsache, dass sie einen starken Beschützerinstinkt in ihm geweckt hatte, den er einfach nicht unterdrücken konnte.

Gib dir halt mehr Mühe!

Auf diesen Vorschlag seiner dunklen Seite hin lächelte er nur dünn. Dann runzelte er die Stirn, während er von der kleinen wehrlosen Gestalt auf dem Sofa zu der Tür mit den vielen Schlössern hin- und herschaute. Er könnte jetzt einfach gehen, denn er hatte bereits mehr getan, als man von ihm erwarten konnte.

Warum war er dann immer noch da?

Weil er wusste, wie hoch der Preis für egoistisches Handeln war. Danilo lebte mit seiner Schuld, die ständig präsent war, und er wollte das Gleiche nicht noch einmal riskieren.

Es hatte auch nichts damit zu tun, den Helden zu spielen. Dafür wäre er eindeutig die falsche Besetzung gewesen.

Immer wenn er an Heldenmut dachte, musste er an seine kleine Schwester denken. Sie war der heldenhafteste Mensch, den er kannte. Plötzlich verdunkelte sich sein Blick. Ja, das musste der Zusammenhang sein, nach dem er gesucht hatte. Natalia konnte er nicht mehr retten, aber hier ergab sich plötzlich die Möglichkeit, etwas für jemanden zu tun, und es würde kein großes Opfer für ihn bedeuten.

„Dieses Zeug ist ziemlich gut.“ Tess lehnte sich zurück und merkte, wie der Alkohol ihr durch die Adern floss. Sie entspannte sich.

„Wann müssen Sie wieder im College sein?“

„In der Schule“, korrigierte sie ihn schläfrig und gähnte laut. Sie betrachtete ihn und musste sich eingestehen, dass es ein sehr ästhetischer Anblick war. Dann fiel ihr auf, dass auch er sie ansah – allerdings nicht aus Bewunderung, sondern weil er ihr eine Frage gestellt hatte. Was hatte er sie eigentlich gefragt?

„Ich unterrichte“, sagte sie und lallte dabei ein wenig. Der Grippevirus und die Ereignisse der letzten Stunden forderten ihren Tribut.

Danilo sah sie überrascht an. „Sie sind Lehrerin?“

„Nein, ich bin eine ausgezeichnete Lehrerin“, gab sie zurück und gähnte erneut.

Der Humor in ihrer Antwort schien ihn nicht erreicht zu haben. „Was unterrichten Sie denn?“

„Nach meinem Abschluss an der Universität habe ich erst einmal Vertretungsunterricht gemacht. Dann habe ich einen kleinen Jungen mit Muskelschwund betreut, und jetzt unterrichte ich Vorschulklassen.“ Sie lächelte verlegen, und er hatte den Eindruck, dass sie mehr Informationen über sich preisgegeben hatte, als ihr lieb war.

„Eine Lehrerin mit Erfahrung in …“ Er schüttelte den Kopf. „Moment mal, zuerst möchte ich Sie noch etwas anderes fragen. Dieser Mann von vorhin … er weiß, wo Sie wohnen.“

Tess schloss die Augen. „Danke für diese beruhigende Abschiedsbemerkung. Bestimmt werde ich danach gut schlafen können.“

„Ich habe nicht versucht, Sie zu beruhigen.“

„Nicht? Ich bin schockiert.“

„Ich möchte Ihnen eine praktische Lösung für Ihr Dilemma anbieten. Tatsache ist, dass er bereits einmal hier eingebrochen ist und es vielleicht ein zweites Mal probieren wird. Meiner Meinung nach haben Sie zwei Möglichkeiten. Sie können sich entweder an die Polizei wenden oder …“

„Mit der Angst leben?“, unterbrach sie ihn mit einem bitteren Lachen. „Es tut mir leid, dass ich Ihre motivierende Rede unterbrechen muss, aber …“

„Mit mir nach Italien kommen. Dort wird Ihr Stalker Sie nicht finden.“

Wahrscheinlich versuchte er nur, sie auf andere Gedanken zu bringen. „Warum nicht nach Australien? Ich wollte schon immer surfen lernen.“ Sie öffnete ein Auge. „Bitte, geben Sie sich keine Mühe, komisch zu sein. Das passt nicht zu Ihnen!“

„Meine kleine Schwester Natalia lebt mit mir zusammen. Ich muss aber oft weg wegen meiner Arbeit und …“

„Sie wollen mich als Kindermädchen engagieren?“

„Natalia ist fast neunzehn.“ Er musterte sie mit einem schätzenden Blick. „Wie alt sind Sie?“

„Sechsundzwanzig.“

„Meine Schwester ist seit einem Unfall an den Rollstuhl gefesselt. Ihr Leben steht still, die meisten ihrer Freunde sind nach der Schule weggezogen. Ich habe den Eindruck, dass sie sich oft sehr allein fühlt.“ Danilo hatte sich so sehr auf Nats Genesung konzentriert, dass er sie in gewisser Weise in die Arme dieses Taugenichts namens Marco getrieben hatte.

Das konnte wieder geschehen, und dann war er vielleicht nicht für sie da. Aber wenn sie jemanden in ihrem Alter hätte, eine Freundin, der sie sich anvertrauen könnte … „Ich glaube, das würde ihr sehr helfen.“

„Oh, das tut mir leid.“ Seine Beschreibung berührte Tess zutiefst. „Aber was ist mit Ihren Eltern?“

„Sie sind bei demselben Unfall ums Leben gekommen.“

Betroffen sah sie ihn an und spürte, wie die Tränen in ihr aufstiegen. Bei ihrem nächsten Satz war ihre Stimme rau.

„Tut mir aufrichtig leid.“ Ziemlich lahm, aber was hätte sie sonst sagen können?

Er nickte kurz.

„Aber das geht nicht.“

„Warum nicht?“

Sie sah ihn empört an. „Fragen Sie das im Ernst? Ich kann doch nicht einfach hier von einem Moment auf den anderen alles stehen und liegen lassen und …“ Dann brach sie ab und dachte: Warum eigentlich nicht?

Es würde ihr Problem mit einem Schlag lösen. Sie wäre sicher vor Ben und könnte dazu noch Urlaub machen. Nach Italien hatte sie schon immer fahren wollen.

„Die Entscheidung liegt bei Ihnen“, erwiderte er gleichmütig, als wäre ihm das Ergebnis egal. „Wenn Sie sich entschieden haben …“ Er zog eine Karte aus seiner Jackentasche und reichte sie ihr.

„Das ist die Nummer meiner Assistentin in London. Sie wird alles organisieren, Flug und so weiter. Ihr müssen Sie auch Ihre Referenzen schicken. Ich habe mir überlegt, dass Sie Ende der Woche fliegen könnten, entweder am Donnerstag oder Freitag. Vorausgesetzt, Sie sind dann nicht mehr krank.“

„Aber ich habe Grippe“, gab sie zurück. „Sie wollen Referenzen?“

„Ist das ein Problem?“

„Nein, natürlich nicht.“

„Schließen Sie hinter mir die Tür ab!“ Damit drehte er sich um und ging hinaus.

Es war zwei Uhr morgens, als Tess auf dem Sofa aufwachte. Sie hielt noch immer die Visitenkarte in der Hand. Dann warf sie einen Blick auf die unverschlossene Tür und fröstelte. Wenigstens hatte sie ein bisschen geschlafen, was bestimmt der Mischung aus Sherry und Grippe zuzuschreiben war. Sie betrachtete erneut die Karte und las laut den Namen, der darauf gedruckt war.

Danilo Raphael.

Vielleicht würde sie ja noch einmal über sein Angebot nachdenken. Aber erst musste sie die Tür verriegeln.

3. KAPITEL

Als Tess am nächsten Tag ihrer Freundin von dem Plan erzählte, war Fiona entsetzt.

„Du bist wohl total verrückt geworden. Du kennst den Mann doch gar nicht.“ Sie betrachtete die Visitenkarte, die Tess ihr gegeben hatte. „So etwas kann jeder drucken. Er könnte auch ein Perverser sein.“

„Also jetzt mal langsam, Fiona. Ich bin ja kein Idiot. Meine Recherchen im Netz haben ergeben, dass er der ist, für den er sich ausgibt.“ Danilo war offenbar sogar so etwas wie eine Legende, aber davon wollte Tess ihrer Freundin nichts erzählen. Stattdessen griff sie nach ihrem Handy, googelte ihn und reichte Fiona das Telefon.

Ihre Freundin riss die Augen auf. „Wow! Dieser Typ hat dich gerettet?“

Tess machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich würde sagen, er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort.“ Sie wollte nicht mehr darüber nachdenken, was hätte passieren können, wäre er nicht da gewesen.

Fiona konnte den Blick nicht von dem Foto abwenden. „Sieht er wirklich so toll aus? Das ist kein getürktes Bild, oder?“

„Nun, in Wirklichkeit sieht er ein bisschen älter aus.“ Älter und härter, dachte Tess. Trotzdem ließ sich nicht leugnen, dass er die perfekten Züge eines Models hatte. Bestimmt gab es eine Unzahl von Frauen, die alle scharf darauf waren, mit ihm gesehen zu werden.

„Wirklich ein heißer Typ!“

Tess ignorierte die Bemerkung und stopfte ihre letzten Sachen in den Koffer. Dann ließ sie ihn zuschnappen und seufzte. „Ich hasse es, zu packen. Irgendwie schaffe ich es nie, die richtigen Sachen mitzunehmen.“

„Du würdest auch in einem Müllsack noch gut aussehen“, gab ihre Freundin zurück. „Wenn ich deine Figur hätte … aber lassen wir das. Was mich allerdings interessieren würde: Was macht dieses Prachtbild von Mann denn, wenn er gerade keine Frauen rettet?“

„Dann verdient er Geld.“

„Er klingt ja immer besser.“

„Wenn ich es richtig verstehe, kauft er bankrotte Firmen auf und bringt sie wieder in Schwung. Vor ein paar Jahren, als seine Eltern gestorben sind, hat er den Familienbetrieb übernommen. Das war anscheinend auch das Ende seiner wilden Partyzeit.“

„Hat er dann geheiratet und Kinder bekommen?“

„Keine Ahnung“, gab Tess zurück. Darüber hatte sie nichts herausfinden können. Doch irgendwie schockierte sie die Vorstellung, dass er ein glückliches Familienleben führen könnte.

Auch die Informationen in Bezug auf den Unfall waren recht spärlich gewesen. Aber sie spürte instinktiv, dass dies der entscheidende Wendepunkt in Danilos Leben gewesen sein musste. Sie merkte, wie ihre Freundin sie anstarrte und beeilte sich, hinzuzufügen: „Außerdem hat er mich engagiert, damit ich mich um seine Schwester kümmere. Wer weiß, ob ich ihn überhaupt zu Gesicht bekomme.“

Danilo gab sich Mühe, die Frage seines Cousins Franco so genau wie möglich zu beantworten.

„Also, sie ist zierlich und ziemlich unscheinbar. Insgesamt macht sie einen verlorenen Eindruck … große Augen in einem schmalen Gesicht.“ Seine Mundwinkel zuckten, als er den enttäuschten Ausdruck in Francos Augen sah. „Was hast du denn erwartet – ein Supermodel?“

Franco grinste. „Ich hätte nichts dagegen gehabt. Was soll ich also mit diesem Mäuschen machen?“

„Fahr sie nur nach Hause. Nat erwartet sie schon.“

„Ich muss also nicht bleiben und den Babysitter spielen? Das wäre mir sehr recht. Ich muss mich nämlich später mit dem Eventmanager treffen.“

„Angelica wird sich um sie kümmern und sie Nat vorstellen.“ Stirnrunzelnd fügte er hinzu: „Gibt es etwa noch mehr Probleme mit der Party?“

„Nein, es geht nur noch um ein paar Details. Ich möchte, dass alles perfekt ist.“

„Allerdings.“ Er sah seinen Cousin prüfend an. Franco log offensichtlich, doch er ließ es für den Moment dabei bewenden.

„Kann ich sie absetzen und mich dann aus dem Staub machen?“

Tess passte ihre Schritte dem langsameren Tempo ihrer Sitznachbarin aus dem Flugzeug an. Sie waren die letzten Passagiere des Fluges aus London, die durch den Zoll gingen. Als sie die Eingangshalle betraten, ertönten laute Willkommensrufe, und im nächsten Moment war die ältere italienische Dame von ihren Verwandten umringt.

Sie küssten und herzten sie überschwänglich, was Tess sehr berührend fand. Als ein junger Mann dann auch sie auf die Wange küsste, war sie doch sehr überrascht. Mit hochrotem Kopf zog er sich sofort zurück.

„Bitte, entschuldigen Sie, Signora.“

Die alte Dame lachte und nahm Tess’ Hand. „Das ist Tess. Sie hat sich während des Fluges um mich gekümmert.“

„Gibt es jemanden, der Sie abholt?“, erkundigte sich ein Mann, der sich als Sohn ihrer Mitreisenden vorstellte.

Tess nickte und sah sich suchend um. Natürlich hatte sie nicht wirklich erwartet, dass Danilo Raphael sie persönlich abholen würde. Aber ein bisschen enttäuscht war sie schon, als sie ihn nicht erblickte.

„Ich nehme an, das dort ist meine Kontaktperson“, sagte sie und zeigte auf einen jungen Mann in einem Designeranzug, der als Letzter auf jemanden zu warten schien. „Bitte, entschuldigen Sie mich jetzt. Und noch einmal herzlichen Glückwunsch zur Geburt Ihres ersten Enkels“, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.

„Entschuldigen Sie?“

Franco sah überrascht auf, als die ausnehmend hübsche junge Dame ihn ansprach. Sie hatte langes, glänzendes Haar, trug Stiefel und einen kurzen Rock, der ihre wohlgeformten Beine zur Geltung brachte. Einen Moment lang machte es ihm nichts aus, dass er anscheinend vergeblich zum Flughafen gekommen war.

„Suchen Sie zufällig mich?“

„Schon mein Leben lang, cara.“

Sie sah ihn mit ihren bernsteinfarbenen Augen an und zog die Brauen hoch. „Was noch nicht sehr lang sein kann, oder?“

Franco kam sich plötzlich vor wie ein Schuljunge und errötete.

„Bitte entschuldigen Sie, aber ich hatte den Eindruck, dass Sie jemanden abholen wollen. Hat Mr. Raphael Sie vielleicht geschickt?“

„Sie sind die Mau …“ Im letzten Moment kriegte er sich noch in den Griff und betrachtete überrascht ihre pinkfarbenen Lippen. „Ich glaube, da hat es ein Missverständnis gegeben“, sagte er dann.

Komisch – über dieses Wort hatte Tess den ganzen Flug über nachgedacht. War es vielleicht ein kolossaler Fehler gewesen hierherzukommen? Aber jetzt war es zu spät. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen.

„Ich hätte mich Ihnen vorstellen müssen. Mein Name ist Tess Jones.“

Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Ich bin Franco, Danilos Cousin. Bitte entschuldigen Sie, ich hatte Sie mir anders vorgestellt. Ich …“

Sie sah ihn neugierig an. „Was hatten Sie denn erwartet?“

Aber Franco hütete sich, die Frage zu beantworten. „Wo haben Danilo und Sie sich eigentlich kennengelernt?“, konterte er stattdessen.

„Oh, das ist eine lange Geschichte. Jedenfalls war er sehr nett zu mir.“

Der junge Mann sah sie irritiert an. Sein Cousin? Nett? Das war das letzte Wort, mit dem er Danilo beschrieben hätte. Aber Franco ließ sich nichts anmerken. Seine Fantasie schlug jedoch Purzelbäume.

Es war bereits nach Mitternacht, als Danilo seinen Wagen an den Sicherheitskameras vorbei durch das große schmiedeeiserne Tor lenkte. Dann ging es durch die lange baumbestandene Einfahrt zum Palazzo Florentina hinauf, seit Generationen der Sitz der Familie Raphael. Hierhin war er nach dem Tod seiner Eltern zurückgekehrt.

Nach einer Kurve kam das imposante Gebäude mit dem steinernen Turm in Sicht, der von einem Strahler erleuchtet wurde. Wenige Minuten später erreichte er den Innenhof, dessen Mauern aus den gleichen Steinen gebaut worden waren wie das Haupthaus.

Vor langer Zeit, als das Anwesen der königlichen Familie, die es auch erbaut hatte, als Sommerresidenz gedient hatte, waren die Nebengebäude Stallungen gewesen. Doch jetzt gab es nur noch einen Flügel, in dem Pferde untergebracht waren. Bis jetzt hatte Danilo es nicht übers Herz gebracht, die Zahl der Tiere zu reduzieren. Seine Mutter war eine sehr gute Reiterin gewesen und hatte jedes einzelne Pferd geliebt. Deshalb rechtfertigte er die Ausgaben damit, dass er sich versprach, irgendwann wieder selbst zu reiten.

Er stieg aus und ging auf den gegenüberliegenden Flügel zu, in dem die Pferde luxuriös untergebracht waren, in einem anderen Flügel befanden sich die Garagen. Der Rest war in Apartments für das Personal verwandelt worden. In dem größten von ihnen wohnte zurzeit eine entfernte Cousine. Seit dem Tod ihres Mannes arbeitete Angelica hier als Haushälterin, und sie hatte auch als Einzige einen Garten.

Danilo sah zum Fenster von Francos Apartment hoch. Er schien nicht zu Hause zu sein, alles war dunkel. Aber das wunderte ihn nicht besonders. Wahrscheinlich hatte sein Cousin ein verführerisches Angebot bekommen und würde morgen völlig erledigt zur Arbeit erscheinen.

Seine Lippen zogen sich zusammen, als ihm klar wurde, wie bitter dieser Gedanke war. War er etwa eifersüchtig auf Francos Lebensstil? Wohl kaum, denn es war schließlich noch nicht so lange her, dass er selbst der Partykönig gewesen war.

Auch wenn er inzwischen nicht gerade wie ein Mönch lebte, war sein Sexleben viel … diskreter. Diskret und austauschbar.

Er war ein anderer Mann geworden. Sein öffentliches Image hatte sich verändert, sein Leben hatte sich verändert … doch innerlich? Konnte er wirklich von sich behaupten, nicht mehr der egoistische Bastard von früher zu sein? Wenn man sich zum Beispiel den heutigen Tag anschaute und die Geschichte mit der englischen Maus … er hatte die Aufgabe ohne Zögern seinem Cousin zugeschoben. Trotzdem hielt man ihn allgemein für ein verantwortliches und geschätztes Mitglied der Gesellschaft.

Letztlich war es ihm aber auch egal, was die anderen von ihm dachten. Das Einzige, was er wollte und worauf sein ganzes Bemühen gerichtet war, war, seine Schwester wieder laufen zu sehen.

Er ging weiter, fest entschlossen, nicht weiter über das Thema Schuld nachzudenken, das sein Leben immer mehr zu bestimmen schien.

Jetzt befand er sich auf der von Zedern gesäumten Allee und sog die weiche Abendluft begierig ein. Schließlich war er den ganzen Tag in einem Büro mit Klimaanlage eingeschlossen gewesen und hatte sich auch noch zum Dinner mit einem Geschäftsfreund treffen müssen.

Komischerweise hatte er sich kaum auf das Gespräch konzentrieren können, weil er ständig an ein paar große bernsteinfarbene Augen hatte denken müssen. Augen, die ihn verängstigt angeschaut hatten.

Diese verdammten Augen hatten ihm den ganzen Tag über ein schlechtes Gewissen gemacht, was ihn ziemlich genervt hatte. Die junge Engländerin zu engagieren, war ihm bei ihrer Begegnung als eine gute Idee erschienen. Erst später war ihm aufgefallen, dass es einige Haken bei der Sache gab. Insgeheim hatte er gehofft, dass Tess kalte Füße bekommen würde. Das hatte er eigentlich von ihr erwartet. Doch sie hatte ihn überrascht. Jetzt lag sie vermutlich in ihrem Zimmer, völlig eingeschüchtert von der prächtigen Umgebung.

Er hoffte nur, dass Nat ihr gegenüber nicht zu brüsk gewesen war. Danilo hatte die Reaktion seiner Schwester nicht erwartet. Erst im Nachhinein hatte er eingesehen, dass es wenig sensibel von ihm gewesen war, sie einfach mit der Nachricht zu überfallen, dass sie bald eine weitere Person im Hause haben würden. In Gedanken ging er noch einmal ihr unerfreuliches Gespräch durch.

„Eine Begleiterin?“

Er hatte den gefährlichen Unterton ihrer Stimme nicht gleich erkannt. „Mehr eine Freundin.“

„Hältst du mich für so bedauernswert, dass du mir Freunde kaufen musst? Freunde kann man nicht kaufen!“

„Ich wollte nur …“

„Glaubst du, ich bin so dumm, dass ich nicht verstehe, was du vorhast? Sie ist ein Wachhund, richtig? Ein Spion, der dir alles über mich berichten soll. Ich habe dir versprochen, Marco nicht wiederzusehen. Vertraust du mir wirklich so wenig?“

„Natürlich vertraue ich dir“, hatte Danilo geantwortet und im Stillen gedacht, dass es der Junge war, dem er nicht vertraut hatte. Er hatte einen schlechten Einfluss auf seine kleine Schwester, die sich früher nie so mit ihm angelegt hätte.

Er hatte sich von ihren Tränen nicht erweichen lassen, als sie ihm schließlich den Namen genannt hatte. Dann hatte er Marco rausgeschmissen, und seine Entscheidung war richtig gewesen. Denn es hatte sich herausgestellt, dass der junge Mann schon mehrmals mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war.

„Wenn du mit dieser Frau nicht zurechtkommst, kein Problem“, beschwichtigte er.

„Kennst du überhaupt ihren Namen?“

„Ja, sie heißt Tess.“

Danilo stieß einen leisen Fluch aus. Er hasste Auseinandersetzungen, aber Nat hatte sich verändert. Er wusste nicht mehr, wie er mit ihr umgehen sollte.

Jetzt ging er auf die freischwebende Treppe zu, die von einer gläsernen Kuppel im zweiten Stockwerk beleuchtet wurde. Doch plötzlich drang ein Lachen an sein Ohr und verdrängte seine deprimierenden Gedanken. Er blieb stehen und lauschte. Jetzt vernahm er Musik und Stimmen, dann wieder dieses Lachen.

„Verdammt, Franco, ich habe dich gewarnt“, stieß er wütend hervor und dachte an die Nacht, als sein Cousin ein paar seiner Freunde mitgebracht hatte. Sie hatten einen Pfad der Verwüstung hinterlassen, und er hatte in der Bücherei eine schlafende Blondine vorgefunden.

Franco war am nächsten Morgen zwar ziemlich zerknirscht gewesen, hatte sich aber dadurch verteidigt, dass er ihm Eifersucht vorgeworfen hatte. Wenn er seinen Fehler jetzt tatsächlich wiederholt hatte, würde Danilo nichts anderes übrig bleiben, als ihn rauszuschmeißen. Und das würde mit Sicherheit Francos Mutter auf den Plan rufen.

Warum musste dieser Idiot es immer übertreiben?

Doch erst nachdem er durch mehrere Zimmer gegangen und etliche Türen zugeschlagen hatte, erkannte Danilo, dass die vermeintliche Party anscheinend im Kinoraum stattfand, der sich im Erdgeschoss befand.

Seine Spannung ließ ein wenig nach, und er lächelte über den Fehler, den er gemacht hatte.

Der Kinoraum war ihm damals, als er ihn hatte bauen lassen, als eine gute Idee erschienen. Leider wurde er von der Familie kaum genutzt.

Die halb geöffnete Tür des schallgedämpften Raums erklärte den Lärm. Als er sie aufstieß und eintrat, wurden die Stimmen und Geräusche lauter.

Auf der Leinwand ging gerade ein alter Schwarzweißfilm zu Ende. Drei Leute saßen in einem Halbkreis davor.

Danilos Blick fiel als Erstes auf den Rollstuhl seiner Schwester. Daneben stand ein Tischchen mit einer großen Schüssel Popcorn. Nats Gesicht war von einem breiten Lächeln überzogen, was ihm sehr zu Herzen ging. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er sie zuletzt so sorgenfrei gesehen hatte. Das erinnerte ihn an eine Zeit, als … Doch noch bevor die Rührung ihn zu überwältigen drohte, sah er zu Franco hinüber. Sein Cousin saß auf dem Boden und hielt eine Flasche Bier in der Hand. Zum ersten Mal wirkte er wie ein ganz normaler junger Mann, und nicht wie ein Model aus einem Katalog. Er protestierte lautstark, als die dritte Person eine Handvoll Popcorn aus der Schüssel nahm und ihn damit bewarf.

„Das ist für dich, Franco“, rief seine Schwester. Sie zielte ebenfalls auf ihn. Franco zog den Kopf ein.

Danilo merkte, wie er bei der Szene schmunzeln musste, hatte aber auch das Gefühl, alt oder zumindest der einzige Erwachsene im Raum zu sein. Jetzt fiel sein Blick auf die Fremde, die das Gesicht von ihm abgewandt hatte und auf einem der großen Ledersessel vor der Leinwand saß. Sie hatte die Füße hochgezogen, man hätte kaum sagen können, ob sie achtzehn oder achtunddreißig Jahre alt war. Jedenfalls unterhielten sich die drei ihretwegen auf Englisch. Danilo war überrascht, dass sein Cousin eine neue Freundin zu haben schien.

Neugierig betrachtete er die Gestalt auf dem Sofa, registrierte die pinkfarben lackierten Zehennägel, die Jeans und das T-Shirt mit dem Logo ‚Rettet die Bäume‘. Doch er interessierte sich weniger für das Logo als für die Kurven, die unter dem Baumwollstoff verborgen waren.

Noch während er sie betrachtete, warf die junge Frau den Kopf zurück und lachte. Jetzt konnte er ihr jugendliches Profil sehen und dann, als sie sich ein wenig zur Seite neigte, das ganze Gesicht.

Sie sah sehr gut aus, oder sollte man sie gar schön nennen? Diese Unterscheidung fiel ihm nicht leicht, zumal sein Gehirn nicht richtig zu funktionieren schien.

Er versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, doch es ließ sich nicht leugnen, dass ihr Anblick eine direkte Wirkung auf seine Libido hatte. Sein Puls beschleunigte sich, er spürte kleine Schweißperlen auf der Oberlippe. Noch während er sie weiterhin fasziniert betrachtete, lachte sie erneut, tief und heiser.

Er hatte keine Ahnung, was sie so amüsierte. Das war aber auch egal, denn das Geräusch war ausgesprochen ansteckend. Unwillkürlich hoben sich seine Mundwinkel.

Er lächelte immer noch, als sie sich eine Locke ihres welligen goldbraunen Haars aus dem Gesicht strich und sich aufrichtete. Danilo war fasziniert von der Geschmeidigkeit ihrer Bewegung. Er studierte ihre Züge, bis sein Blick an ihrem Mund hängenblieb.

Plötzlich fühlte er sich überhaupt nicht mehr müde. Das hing bestimmt mit der Form ihrer Lippen zusammen, mit den hohen Wangenknochen, dem energischen Kinn und den dichten Augenbrauen über den bernsteinfarbenen Augen. Sie neigte den Kopf ein wenig, und er konnte ihre Augen noch besser sehen – bernsteinfarben, mit einem dunklen Ring um die Iris.

Plötzlich erinnerte er sich an etwas … hatte er sie nicht schon einmal irgendwo gesehen? Aber das war ja kaum möglich, denn eine solche Frau hätte er nie im Leben vergessen können.

Wie sinnlich sie ist, dachte er und sah, wie sich ihre Augen bei seinem Anblick weiteten. Weil sie ihn wiedererkannt hatte? Danilo versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, doch ihm rauschte das Blut unkontrolliert in den Adern. Adrenalin strömte durch seinen ganzen Körper. Ja, hier war es wieder, etwas, was er seit Langem nicht mehr gespürt hatte: pure sexuelle Anziehung.

Doch noch bevor er länger darüber nachdenken konnte, wurde er plötzlich von einer Hundeschnauze angestupst, und der Bann war gebrochen.

Er senkte den Kopf und betrachtete den Labrador, der mit treuen Hundeaugen zu ihm aufsah, wobei sein Schwanz auf den Boden schlug.

„Danilo!“ Sie hatten sich nicht im Guten getrennt, aber seine Schwester schien sich zu freuen, ihn zu sehen.

„Gutes Mädchen“, erwiderte er, beugte sich zu der Hündin und streichelte sie. Dann ging er zu Nat herüber und umarmte sie. Die ganze Zeit über war er sich der Gegenwart von Francos Freundin sehr bewusst, vermied es aber, sie anzuschauen.

Von seiner Position auf dem Fußboden rief Franco: „Ich möchte betonen, dass ich diesen Film nicht ausgesucht habe.“ Dann sprang er auf und streckte der jungen Frau im Sessel seine Hand entgegen.

Aber sie brauchte seine Hilfe nicht.

Sie erhob sich langsam und tat es auf eine so anmutige Weise, dass Danilo sofort an das Bild von Degas mit den Tänzerinnen denken musste.

Irgendetwas an ihr erinnerte ihn … er erstarrte, konnte es kaum glauben. Es war unmöglich, und er weigerte sich, es zu akzeptieren. Doch dann drang die Wahrheit zu ihm durch. Er hatte keine andere Wahl. Der Beweis lag in ihren großen bernsteinfarbenen Augen, die ihn leicht spöttisch anschauten.

Die barfüßige junge Frau neben seinem Cousin, mit der Masse von Locken um ihr strahlendes Gesicht, die seinen Blick erwiderte, ohne mit der Wimper zu zucken, war niemand anderes als die bedürftige Gestalt mit der roten Nase, die ihn vor einer Woche zu einer ritterlichen Geste bewogen hatte.

4. KAPITEL

Das Bild einer verlorenen, verletzlichen Kreatur tauchte vor Danilos geistigem Auge auf und schien ihn zu verspotten, bevor es sich auflöste. Stattdessen stand jetzt eine Frau vor ihm, die die sexuelle Fantasie eines jeden Mannes entfacht hätte. Oder war nur er es, der so auf sie reagierte?

Als er keine Anstalten machte, sie zu begrüßen, kniete sie sich auf den Boden und kraulte die Hündin hinter den Ohren, bis diese ihr mit ihrer feuchten Schnauze einen Kuss auf die Nase gab.

„Goldie!“, sagte Danilo scharf.

Tess erhob sich wieder mit der Anmut einer Tänzerin und wischte ihre Hände an ihrer Jeans ab. Dann richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf, die er auf etwa einen Meter und sechzig schätzte. Das war das Einzige, was sich an ihr nicht verändert hatte.

Ja, sie war es, und doch konnte er es immer noch nicht glauben.

Während die Hündin von Tess abließ und langsam auf ihn zuging, konnte Danilo spüren, wie sich sein anfängliches Erstaunen in Ärger verwandelte.

Schließlich hatte er sich den ganzen Tag über schuldig gefühlt, weil er sie den weiten Weg aus England hierher gelockt hatte. Dabei hätte er vor einer Woche besser mit ihr zur Polizei gehen oder den Vorfall selbst melden sollen, anstatt die kleine, unscheinbare Maus an einen Ort zu entführen, an dem sie sich bestimmt unwohl fühlen würde.

Doch jetzt war Tess hier, in seinem Haus, und es wirkte ganz so, als würde sie hierher gehören. Die Rollen waren plötzlich vertauscht, und er war derjenige, der sich wie ein Eindringling fühlte.

„Guten Abend, Mr. Raphael!“ Sie lächelte ihn an und schob sich erneut eine Locke aus dem Gesicht. Nichts in ihrer Haltung deutete darauf hin, dass sie Schutz brauchte. Eigentlich hätte er darüber erleichtert sein müssen. Doch obwohl er wusste, wie irrational das war, fühlte er sich in Wahrheit von ihr betrogen.

„Guten Abend! Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug, Miss Jones?“

Das klingt wie aus einem Roman, dachte Tess bei sich. Sie hatte natürlich gemerkt, wie schockiert er bei ihrem veränderten Anblick gewesen war. Doch leider hatte sie seine Reaktion nicht genießen können. Daher entschied sie sich dazu, mit dem Small Talk fortzufahren.

„Abgesehen vom Abheben und der Landung war er perfekt. Danke, Mr. Raphael.“

Er nickte und wirkte weiterhin wie der grüblerische Romanheld.

Seine Schwester setzte ihren Rollstuhl in Bewegung und kam auf ihn zu. Nichts an ihr erinnerte mehr an die mürrische junge Frau, von der er sich heute Morgen verabschiedet hatte. Danilo wusste nicht, woher diese Veränderung in so kurzer Zeit kam. Er wünschte sich nur, selbst dafür verantwortlich zu sein.

„Komm schon“, sagte Nat. „Setz dich zu uns. Wir könnten uns noch einen Film anschauen.“

„Es ist aber schon nach zwölf“, erwiderte er und sah, wie ihr Lächeln verschwand und einer feindseligen Miene Platz machte. Dafür hätte er sich selbst ohrfeigen können.

„Ich bin kein Kind mehr. Du kannst mir keine Sperrstunde verordnen.“

In diesem Moment gähnte Tess laut und vernehmlich und sah die anderen entschuldigend an. „Tut mir leid, aber es war ein langer Tag. Wenn ihr nichts dagegen habt, würde ich jetzt gern ins Bett gehen.“

„Wissen Sie noch den Weg, oder soll ich Sie zu Ihrem Zimmer führen?“, fragte Franco.

„Ich bin mir sicher, dass Miss Jones dazu keine Hilfe benötigt“, sagte Danilo scharf. „Aber zuerst würde ich gern noch kurz mit Ihnen sprechen, Miss Jones.“ Er richtete seinen Blick auf ihr Gesicht, fand sich aber unwiderstehlich zu ihren Lippen hingezogen.

Seine Unfähigkeit, sich von dem verführerischen Anblick zu lösen, bewirkte, dass er sich immer mehr wie das Opfer eines Riesenbetrugs vorkam. Er fühlte sich wie jemand, der eigentlich ein solides Familienauto hatte erstehen wollen und stattdessen das Geschäft mit einer Harley Davidson verließ. Diese Frau war nicht das, was er hatte haben wollen.

Seine Schwester, die mit ihrem Rollstuhl bereits an der Tür war, wandte sich noch einmal um. „Du kannst Tess doch nicht Miss Jones nennen. Das ist so überkorrekt!“

Tess hingegen hätte gar nichts dagegen gehabt, wenn die Beziehung zwischen Danilo und ihr überkorrekt geblieben wäre. Es wäre weniger verwirrend gewesen.

Fünf Minuten nach ihrer Ankunft war ihr bereits aufgefallen, dass es zwischen Nat und ihrem Bruder zu Unstimmigkeiten gekommen sein musste. Trotzdem war klar, dass sie ihn abgöttisch liebte. Man musste keine Psychologin sein, um zu erkennen, dass im Haushalt Spannungen existierten. Ein weiterer Beweis dafür war sein Erscheinen, das der guten Stimmung einen Dämpfer versetzt hatte.

„Ihr Bruder ist mein Boss, Nat.“ Wie lange wohl, dachte Tess skeptisch. Denn sie hatte sehr wohl das Misstrauen in seinen Augen gesehen, noch bevor sie überhaupt den Mund geöffnet hatte.

Aus zusammengekniffenen Augen betrachtete sie die hochgewachsene männliche Gestalt. Plötzlich bekam sie Bauchschmerzen. Sie spürte die Wellen der Abneigung, die ihr von ihm entgegenschlugen, und fröstelte leicht.

Noch bevor sie den Kopf gewandt hatte, hatte sie gewusst, dass er da war. Sie hatte seinen Blick geradezu körperlich spüren können.

Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um den elektrischen Schock zu analysieren, der ihr bei seinem Anblick durch und durch gegangen war.

Warum hatte sie sich so erschreckt? Denn eigentlich hatte sie seit über zwei Stunden mit seinem Erscheinen gerechnet.

Wenn überhaupt jemand schockiert sein sollte, dann war es doch wohl er.

Tess wusste genau, dass er sie bei ihrem ersten Treffen kaum als Frau wahrgenommen hatte. Schon gar nicht als attraktive Frau.

Doch dann hatten sich ihre Blicke getroffen, und im selben Moment hatte sie weiche Knie bekommen. Es schien ihr, als könnte er mit seinen dunklen Augen bis auf den Grund ihrer Seele schauen. Er berührte sie an einer Stelle, deren Existenz sie nicht einmal geahnt hatte. Das war überwältigend, und es war keine rein erfreuliche Erfahrung.

Bis jetzt hatte sie immer geglaubt, dass ihr die Situation bei ihrem ersten Treffen so komisch vorgekommen war, weil sie Grippe gehabt hatte und voller Angst gewesen war. Doch jetzt, bei ihrer zweiten Begegnung, erkannte sie, dass sie sich geirrt hatte. Wenn überhaupt, wirkte Danilo Raphael jetzt noch stärker auf sie. Er kam ihr größer, dunkler und vor allem noch sehr viel attraktiver vor. Und er strahlte eine Sinnlichkeit aus, die ihr den Atem raubte.

„Nein, er schreibt nur die Schecks aus“, hörte sie Nat erwidern. Tess wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der hübschen jungen Frau im Rollstuhl zu. „Du arbeitest für mich, und ich habe mich längst für dich entschieden.“ Sie warf ihrem Bruder einen halb scherzhaften, halb herausfordernden Blick zu.

„Der Trick ist“, sagte Tess zu ihr, „dass man den Mann in dem Glauben lässt, es sei seine Idee gewesen.“

Aber es war meine Idee, dachte Danilo grimmig. Ich habe diese Frau hierhergebracht. Und schon macht sie Ärger!

„Wir können die Diskussion auch auf morgen früh verschieben, wenn Ihnen das lieber ist, Miss … Tess?“ Da ihm klar wurde, wie kalt seine Worte geklungen hatten, setzte er schnell hinzu: „Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug, und Franco …“

„Der Flug war wunderbar“, unterbrach sie ihn. „Ich bin sehr herzlich von jedem hier aufgenommen worden. Doch wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich lieber jetzt mit Ihnen sprechen. Dann haben wir es hinter uns.“ Sie errötete, denn so hatte sie es eigentlich nicht gemeint. Schnell wandte sie sich an die beiden anderen. „Also dann bis morgen. Gute Nacht, Franco. Der Film hat dir doch gefallen, oder?“

Er lächelte sie an. „Ja, auch wenn das meinen Ruf ruiniert. Buona notte, Tess. Es war ein toller Abend!“ Er umarmte sie, nickte dann seinem Cousin zu, verließ gemeinsam mit Nat den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Das Geräusch erhöhte die Nervosität noch, die Tess verspürte, seit Danilo das Zimmer betreten hatte. Sie hatte das Gefühl, als würde die Luft vor Spannung vibrieren. Eigenartig, dass ihr das bei ihrem ersten Treffen nicht aufgefallen war. Und noch eigenartiger, dass sie sich damals durch seine Präsenz sicher und beschützt gefühlt hatte.

„Endlich allein.“ Sie zuckte zusammen, als sie merkte, wie flapsig diese Bemerkung klang.

Er reagierte nicht. „Bitte, setzen Sie sich, Miss Jones.“

Ihre Augen weiteten sich bestürzt. „Warum? Wird es lange dauern, Mr. Raph… danke, aber ich würde lieber stehen bleiben. Schließlich habe ich schon den ganzen Tag gesessen.“

„Also, wie lange werden wir das Vergnügen Ihrer Anwesenheit haben?“

Sein Ton war zwar ausnehmend höflich, trotzdem vermittelte er den Eindruck, dass selbst fünf Minuten schon zu lang wären. Tess bekämpfte den Drang, ihn zu fragen, was sie falsch gemacht hatte und erwiderte: „Ihre Assistentin meinte, ich sollte bis zur Woche vor dem Beginn des nächsten Schuljahrs bleiben. Passt Ihnen das?“

Danilo stutzte, dachte dann aber an das unerwartet fröhliche Gesicht seiner Schwester und nickte. „Sie scheinen sich ja bereits gut mit Natalia zu verstehen.“

Tess ignorierte die Tatsache, dass es mehr wie eine Anklage klang und nicht wie ein Kompliment. Ungerührt erwiderte sie: „Das ist ja auch nicht schwierig. Nat ist ein großartiges Mädchen. Sie müssen sehr stolz auf sie sein.“

„Leider ermüdet sie sehr schnell.“

Sie nickte. „Helena hat mich mit der Krankengeschichte vertraut gemacht.“

Sein Blick war unwillkürlich auf ihre Figur gefallen, doch als sie jetzt seine Assistentin erwähnte, sah er ihr wieder ins Gesicht. „Was hat sie Ihnen denn erzählt?“

„Nicht viel. Sie hat den Unfall erwähnt, bei dem ja auch Ihre Eltern ums Leben gekommen sind.“ Konnte es sein, dass seine Reaktion damit zusammenhing? Fühlte er sich etwa schuldig, weil er als Einziger überlebt hatte? Plötzlich verspürte sie so etwas wie Empathie für ihn. „Waren Sie auch mit im Auto?“ Dann biss sie sich auf die Lippen. „Entschuldigung, das geht mich nichts an.“

„Sehr richtig“, erwiderte er grimmig. „Ich gehe Sie nichts an.“

Damit hatte er die Fronten abgesteckt. Tess nickte zerknirscht.

„Nein, ich war nicht im Auto, sondern außer Landes.“ Seine Stimme klang flach.

Zu flach, dachte Tess und fragte sich, welchen wunden Punkt sie mit ihrer Bemerkung berührt haben mochte.

„Wenn Sie befürchten, dass ich zu alt für Ihre Schwester bin, kann ich Sie beruhigen. Ich weiß noch sehr genau, wie es ist, neunzehn zu sein.“

„Aber bestimmt wissen Sie nicht, wie es ist im Rollstuhl zu sitzen, oder?“, gab er mit blitzenden Augen zurück.

„Nein, natürlich nicht.“

„Und wie unglaublich frustrierend es ist, wenn einem das Leben, die Zukunft, die man für sich selbst entworfen hat, plötzlich gestohlen wird.“

Es lagen so gewaltige Emotionen in diesen Worten, dass sie automatisch einen Schritt zurückwich.

Vielleicht bezweifelte er, dass sie Nats Gefühle nachvollziehen konnte. Seine hingegen lagen offen zutage. Tess fühlte sich plötzlich schuldig, weil sie ihn für einen emotionslosen Kontrollfreak gehalten hatte.

„Vielleicht kann keiner von uns das wirklich nachempfinden. Aber wir können es wenigstens versuchen.“

Er sah sie starr an. „Wenn es möglich wäre, würde ich auf der Stelle den Platz mit ihr tauschen.“

Das hatte er schon hundertmal gedacht, bisher aber nie ausgesprochen. Warum also jetzt? Er versuchte, seine Fassung zurückzugewinnen.

„Bestimmt würde Nat dasselbe empfinden, wenn Sie an Ihrer Stelle wäre.“

Am liebsten hätte er darauf eine heftige Antwort gegeben.

„Aber das ist sie nicht“, erwiderte er stattdessen.

Warum hatte er ausgerechnet vor dieser Frau, die voller Verständnis zu sein schien, die Fassung verloren? Das passierte ihm doch sonst nie. Er hatte Mauern um sich errichtet, hinter die niemand schauen konnte. Dass Tess seinen Schutzwall durchbrochen hatte, würde er ihr nie verzeihen.

„Ihre Pflichten bestehen im …“

„Pflichten? Oh, ja natürlich. Als ich noch im College war, habe ich für eine Agentur für Haushaltshilfen gearbeitet und …“

„Warum, glauben Sie, sollte mich das interessieren?“, unterbrach er sie.

„Naja, wenn Sie möchten, dass ich mich zusätzlich noch um das Haus oder den Garten kümmere …“

Er sah sie an, als würde sie eine fremde Sprache sprechen. Natürlich tat sie das auch, obwohl man es schnell vergessen konnte, weil alle hier des Englischen mächtig waren.

Als ihm die Bedeutung ihrer Worte klar wurde, lächelte er dünn. „Ich erwarte von Ihnen nicht, dass Sie die Böden schrubben. Dafür haben wir Personal. Ich spreche über Ihre Pflichten in Bezug auf meine Schwester. Also über das, was ich in dieser Hinsicht von Ihnen erwarte.“

Tess errötete und biss sich auf die Unterlippe.

„Tut mir leid, das habe ich falsch verstanden. Verzeihung, aber ich habe mich noch nicht so richtig auf Ihren Palast eingestellt.“

„Nun, dann kann ich nur hoffen, dass es keine weiteren Missverständnisse gibt.“

Bildete sie sich das nur ein, oder war das eine Warnung? Vielleicht nicht. Sie hatte nicht den Eindruck, dass Danilo Raphael ein Mann war, der sich lange mit Warnungen aufhalten würde. Er schritt gleich zur Exekution.

Unwillkürlich legte sie sich die Hand auf den Hals. Aber der Schauer, der sie durchströmte, hatte nichts mit Angst zu tun.

„Meine Schwester hatte vor Kurzem eine …“ Er brach ab, und Tess hatte den Eindruck, dass es ihm nicht leichtfiel weiterzusprechen. „Sie hat sich gerade von ihrem Freund getrennt.“

„Oh, verstehe. Und … ging das von ihr aus?“

„Nein, es ging von mir aus. Der Junge hat ihre Verletzlichkeit ausgenutzt und wollte …“ Sein Zorn kehrte zurück. „Er hatte ein Strafregister. Ich war bereit, ihm eine Chance zu geben, aber er hat mein Vertrauen missbraucht.“

„Arbeitet er hier?“

„Er hat hier gearbeitet“, korrigierte Danilo sie grimmig. „Ich hoffe, dass Nat irgendwann erkennen wird, dass ich nur zu Ihrem Besten gehandelt habe. Bis dahin wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich wissen lassen würden, falls er versucht, sich meiner Schwester noch einmal zu nähern und …“

Sie hob die Hand und unterbrach ihn mitten im Satz. „Wollen Sie, dass ich Ihrer Schwester nachspioniere?“

Er sah sie stirnrunzelnd an. „So würde ich es nicht nennen.“

„Ich schon“, gab sie aufgebracht zurück. „Mit dieser Idee kann ich mich aber nicht anfreunden.“

Er sah sie erstaunt an. „Sie weigern sich also?“ Diese Möglichkeit wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Wenn er einer Angestellten eine Anweisung gab, ging Danilo davon aus, dass sie ausgeführt wurde.

Doch Tess sah ihn an und entgegnete ohne mit der Wimper zu zucken: „Das ist korrekt.“

„Aber der Junge hat mein Vertrauen missbraucht.“

„Und ich würde Nats Vertrauen missbrauchen, wenn ich tun würde, was Sie von mir verlangen.“ Sie sah ihn herausfordernd an. „An Ihrer Stelle würde ich keinen Druck auf sie ausüben.“

Das wurde ja immer besser! Jetzt gab sie ihm auch noch Ratschläge? „Was meinen Sie mit … keinen Druck ausüben?“

Tess wusste, dass sie zu weit gegangen war, aber sie konnte sich nicht mehr zurückhalten. „Was ich damit sagen möchte, ist … wissen Sie, es gibt nicht mehr viele Mädchen in Natalias Alter, die akzeptieren würden, dass ihr Bruder für sie die Entscheidungen trifft. Ich würde das jedenfalls nicht tun.“

„Wenn Sie einen Bruder hätten, der auf Sie aufpasst, müssten wildfremde Männer Sie vielleicht auch nicht beschützen, nur weil Sie sich den Falschen ausgesucht haben.“

Er wusste, wie verletzend seine Worte waren. Als er sah, dass sie ihre Wirkung nicht verfehlten, fühlte er sich plötzlich wie ein richtiger Mistkerl. Wahrscheinlich hatte Tess auch gar nicht das Gefühl, sich ihm als ihrem Boss gegenüber unangemessen verhalten zu haben. Sie war einfach nur ehrlich. Doch genau das war für Danilo schon immer ein rotes Tuch gewesen.

Er starrte auf ihre zitternden Lippen und fragte sich, wie es möglich war, dass man im einen Moment einer Frau an die Gurgel gehen und sie im nächsten trösten wollte.

„Ich habe ihn mir nicht ausgesucht“, erwiderte sie schließlich. „Und bevor Sie es erwähnen: Ich weiß selbst, dass Weglaufen keine Lösung ist. Aber wenigstens gibt es mir etwas Luft, um durchzuatmen.“

„Ich hatte nicht vor, das zu erwähnen. Und wenn ich mich in Ihnen geirrt haben sollte, möchte ich mich bei Ihnen entschuldigen. Wenn es irgendetwas gibt, das ich für Sie tun kann, um Ihr Problem zu Hause zu lösen …“

Mit einer Entschuldigung hatte sie nicht gerechnet. Doch sie wusste, sie musste Danilo gegenüber ihren Standpunkt ganz klar machen und durfte es nicht zulassen, von ihm drangsaliert zu werden. „Danke, aber ich ziehe es vor, meine Probleme selbst zu lösen.“

„Dagegen ist nichts einzuwenden.“

Doch in Wirklichkeit hatte er eine Menge einzuwenden gehabt. Jetzt hielt sie es nicht mehr aus, sie musste ihm einfach sagen, was ihr schon die ganze Zeit durch den Kopf ging.

„Seitdem Sie angekommen sind, habe ich den Eindruck … Ich meine, habe ich etwas falsch gemacht? Irgendwelche Regeln verletzt? Zugelassen, dass Nat zu lange aufbleibt? Wir haben jeder nur ein Bier getrunken, und sie ist schließlich volljährig. Die ganze Zeit über haben Sie mich angeschaut, als wäre ich eine Betrügerin. Mir ist klar, dass ich vielleicht nicht die bin, die Sie erwartet haben.“

„Ich halte Sie nicht für eine Betrügerin.“ Das eigentliche Problem war, dass er sie begehrte, aber das konnte er ihr natürlich nicht sagen. Danilo konnte nicht auf ihren Mund blicken, ohne sich zu wünschen, ihn zu schmecken. Und die ganze Zeit über stellte er sich vor, wie es wäre, sie unter sich zu spüren …

„Wenn Sie mich feuern wollen, tun Sie es bitte lieber gleich. Sie müssen mich nicht aus Mitleid hierbehalten.“

„Wollen Sie denn wieder gehen?“ Und was wollte er? Dass sie ging oder blieb? Unschlüssig wartete er auf ihre Antwort.

„Ich mag Natalia sehr. Und ich glaube, ich kann ihr helfen.“

Erleichtert nahm er ihre Entscheidung zur Kenntnis und nickte. „Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen eine Woche Probezeit gebe?“

Ihre Miene entspannte sich, ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. Offensichtlich war sie einverstanden.

„Gut. Danach werde ich Sie wissen lassen, ob Sie die Probe bestanden haben.“

Erst als sie hinausgegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, erlaubte er sich ein Lächeln.

5. KAPITEL

„Franco will uns auf einen Drink einladen.“

„Das ist aber nett von ihm.“ In Nats Ton hatte etwas Beiläufiges gelegen, doch Tess hatte nach einer Woche bereits gelernt, die Zeichen zu deuten. Neugierig sah sie Natalia an. „Weiß er schon davon?“

Nat lachte vergnügt und bestätigte ihr damit, dass sie den richtigen Instinkt gehabt hatte. „Nein, noch nicht. Aber inzwischen bist du schon eine Woche hier, und es wird Zeit, dass wir dir zeigen, was in Castelnuovo di Val di Cecina so alles passiert.“

„Wieso? Ich war doch schon da“, erwiderte sie. Die kleine mittelalterliche Stadt in der Nähe des Anwesens, die südlich von Florenz und Pisa lag, hatte es ihr sofort angetan. Am liebsten wäre sie stundenlang durch die kleinen Gassen mit dem Kopfsteinpflaster geschlendert, hatte bisher aber noch nicht die Zeit dazu gefunden.

„Nachts wird es zu einem ganz anderen Ort“, erwiderte Nat und lachte. „Na gut, vielleicht nicht wirklich. Aber es gibt dort eine sehr gute Bar. Danilo führt mich dorthin manchmal zum Dinner aus.“

„Was machen wir, wenn Franco andere Pläne hat?“

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Er wird überglücklich sein, wenn er dich ausführen kann, selbst wenn es bedeutet, dass ich mitkomme. Hast du noch nicht gemerkt, dass er sich in dich verknallt hat?“

Natürlich hatte Tess es gemerkt, doch sie hielt es für harmlos. Andererseits, was sollte sie tun, wenn Danilo den Eindruck gewann, dass sie seinen Cousin an der Nase herumführte? Vielleicht gar noch, um ihn eifersüchtig zu machen?

Das war ein gefährlicher Gedanke. Denn trotz seiner Arroganz konnte auch er sehr charmant sein. Sein Lächeln warf sie um, und sein Charisma war unvergleichlich.

„Glaubst du, ich muss mich umziehen?“, fragte sie Nat und schaute an sich herunter. Sechs Tage hatte sie jetzt schon im Palazzo verbracht, und noch immer konnte sie sich nicht daran gewöhnen, dass man sich zum Abendessen umzog. Eigentlich war sie davon ausgegangen, dass sie mit den anderen Hausangestellten in der Küche essen würde, doch davon hatte Nat nichts hören wollen.

Der erste Abend mit Franco und Nat war ja noch ziemlich locker gewesen. Aber am Abend darauf war auch Danilo zugegen gewesen. Und sein Blick, der immer wieder auf Tess’ nackten Beinen geruht hatte, hatte ihr verraten, dass sie schon wieder einen Fehler gemacht hatte.

Um ihn zu ärgern, war ihr Rock am dritten Abend noch kürzer gewesen. Doch sie hätte sich die Mühe sparen können, denn er erschien nicht zum Dinner, auch an keinem der darauffolgenden Tage.

Deshalb hatte sie nur noch angezogen, was ihr gefiel. Heute trug sie ein schlichtes, fließendes Sommerkleid.

„Du siehst toll aus.“

„Und wenn ich das sagen darf, du auch.“ Nat trug ein dunkelblaues, eng anliegendes Seidenkleid, das ihre Augen betonte und die Kurven zeigte, um die Tess sie so glühend beneidete.

Eigentlich gab es genug Platz, aber Alexandra saß so dicht neben Danilo, dass ihre Oberschenkel sich berührten. Die meisten Männer hätten wohl nichts dagegen gehabt. Die Designerin, die gerade mit einem Preis für die Innenausstattung der Raphael Cruise Line ausgezeichnet worden war, sah nicht nur aus wie ein ehemaliges Model, sie war eines – groß, schlank und mit endlos langen Beinen. An ihren Handgelenken baumelten zahlreiche Armbänder, und wenn sie sich vorbeugte, um ihr Glas aufzufüllen, gewährte sie ihm stets einen Einblick in ihr aufsehenerregendes Dekolleté. Zuerst hatte es Danilo amüsiert, dann nur noch gelangweilt. Was auch immer Alex vorhatte, es funktionierte nicht.

Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sie hier in Castelnuovo di Val di Cecina zu treffen. Nachdenklich blickte er auf sein Glas Wein. Seit wann brauchte er Alkohol, um die Zeit mit einer ausnehmend attraktiven Frau zu genießen?

„Wie oft musst du dich am Tag rasieren?“, fragte sie ihn in diesem Moment und strich ihm leicht über seinen Dreitagebart. „Nicht, dass ich mich beschwere. Ich mag es, wenn ein Mann wie ein Mann aussieht.“

Alexandra war ohne Zweifel eine wunderschöne Frau. Das hatte er jedenfalls immer gedacht, von ihrem ersten Treffen an, als sie ihm unmissverständlich gezeigt hatte, dass er sie haben könnte. Sie hatte den ersten Schritt auf ihn zu gemacht und wartete jetzt darauf, dass er den zweiten tat.

Er bemerkte, dass sie ihn erwartungsvoll ansah, doch erst als er ihre Hand nahm und wieder auf den Tisch legte, realisierte er, dass sie etwas gesagt hatte.

„Entschuldige?“

„Ich habe dich gefragt, ob wir gehen können. Du solltest nicht zu lange aufbleiben.“

Sie war hinreißend und er brauchte Sex. Warum beeilte er sich dann also nicht, die Rechnung zu zahlen?

Autor

Marion Lennox
Marion wuchs in einer ländlichen Gemeinde in einer Gegend Australiens auf, wo es das ganze Jahr über keine Dürre gibt. Da es auf der abgelegenen Farm kaum Abwechslung gab, war es kein Wunder, dass sie sich die Zeit mit lesen und schreiben vertrieb. Statt ihren Wunschberuf Liebesromanautorin zu ergreifen, entschied...
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