Julia Gold Band 79

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VERLOCKUNG IM PALAST DES SCHEICHS von FIELDING, LIZ
Seit Scheich Hanif die süße Lucy aus der Wüste gerettet hat, fühlt er sich magisch von ihr angezogen! Doch Lucy ist verheiratet - mit einem Betrüger. Erst wenn ihr Mann sie freigibt, scheint eine gemeinsame Zukunft möglich. Aber ihr frisch Angetrauter ist verschwunden …

MEIN GELIEBTER WÜSTENPRINZ von RADLEY, TESSA
Nur einmal noch soll die zauberhafte Jayne ihm einen Wunsch erfüllen, dann wird Scheich Tariq bin Rashid sie schweren Herzens ziehen lassen: Könnte sie nicht vorübergehend in die Rolle der Prinzessin von Zayed schlüpfen? Nur zum Schein. Vielleicht aber auch für immer!

IM PALAST DER LEIDENSCHAFT von KENDRICK, SHARON
Wie kann Jenna Scheich Rashid überzeugen, dass sie nicht seine Frau werden kann? Sie will aus Liebe heiraten - nicht, weil sie ihm einst versprochen wurde. Bis sie ihn erstmals nach Jahren wiedersieht. Ihr Herz rast wie verrückt. Ist er wirklich der Falsche für sie?


  • Erscheinungstag 16.03.2018
  • Bandnummer 0079
  • ISBN / Artikelnummer 9783733711054
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Liz Fielding, Tessa Radley, Sharon Kendrick

JULIA GOLD BAND 79

1. KAPITEL

Lucy Forrester wusste sofort, was sie vor sich hatte. Der dunstartige grüne Schimmer war eine Fata Morgana.

Lucy hatte alles über die Wüste gelesen, bevor sie nach Ramal Hamrah geflogen war. Eine Fata Morgana, so hatte sie erfahren, war keine Wahnvorstellung eines Halbverdursteten, sondern entstand, wenn das Licht sich an unterschiedlich warmen Luftschichten brach und Bilder von fernen Objekten – Öltankern, Städten, Bäumen – reflektierte. Diese Luftspiegelungen waren meist nur von kurzer Dauer. Wenn sich der Winkel änderte, in dem die Sonnenstrahlen auf die Erde trafen, verschwanden die geisterhaften Erscheinungen wieder.

Genau das geschah auch jetzt, die grüne Fläche löste sich vor Lucys Augen in Luft auf. Doch selbst der kurze Augenblick hatte ausgereicht, um Lucy zum ersten Mal seit dem Beginn ihrer überstürzten Reise von dem einen Gedanken abzulenken, der sich in ihrem Kopf festgesetzt hatte: Sie musste den Mann zur Rede stellen, der sie betrogen hatte.

Sie überprüfte noch einmal das Navigationssystem und korrigierte ihre Position leicht. Dann sah sie sich um und versuchte, sich in ihrer Umgebung zu orientieren.

Gar nicht so einfach, schließlich waren am Horizont weit und breit nur Berge zu sehen. Ihre Umrisse waren schärfer geworden, seitdem Lucy sich auf einer höheren Ebene befand und weiter von der Küste entfernt hatte. Hier gab es kein Grün mehr, lediglich vereinzelte dürre Sträucher inmitten einer ausgetrockneten und öden Landschaft.

Lucys Augen schmerzten von der brennenden Sonne, gegen die ihre leicht getönte Sonnenbrille nichts auszurichten vermochte. Seit einiger Zeit plagten sie Hunger und Durst. Sie hätte wissen müssen, dass allein ihre schäumende Wut nicht ausreichen würde, um sie in der Wüste bei Kräften zu halten, und die mitgebrachte Wasserflasche war schon lange leer. Hinzu kam, dass die unsanfte Fahrt über das zerklüftete Gelände sie derart durchgeschüttelt hatte, dass sie glaubte, am ganzen Körper blaue Flecken zu haben.

Sie verstand es einfach nicht. Der Karte zufolge waren es nicht mehr als hundert Kilometer bis zu Steves Zeltplatz. Drei Stunden Fahrt, höchstens vier. Sie hätte schon längst da sein sollen.

Lucy schloss kurz die Augen, um ihnen wenigstens für eine Sekunde Linderung zu verschaffen. Ein folgenschwerer Fehler. Ohne Vorwarnung kippte der Jeep nach vorn, sodass Lucy in den Sicherheitsgurt gepresst wurde. Das Steuer wurde ihr aus den Händen gerissen, und bevor sie die Kontrolle über das Fahrzeug zurückerlangen konnte, stieß eines der Vorderräder gegen etwas Hartes. Der Bug des Wagens hob sich und verharrte einen scheinbar endlosen Moment lang in der Luft, bevor das Hinterrad auf dasselbe unsichtbare Hindernis traf und ebenfalls den Boden verließ.

Die Welt wurde aus ihren Angeln gehoben. Nur der Gurt verhinderte, dass Lucy durch die Luft geschleudert wurde, während das Fahrzeug sich wieder und wieder überschlug.

Ihre Arme wirbelten unkontrolliert umher und stießen gegen das Lenkrad, das Dach der Fahrerkabine, den Schaltknüppel. Ihre Beine wurden gegen die harten Kanten des Armaturenbretts geschleudert. Alle möglichen Gegenstände flogen durch die Luft und trafen Lucy am Hinterkopf und an den Schultern.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Jeep zum Stillstand kam.

Fürs Erste war das genug.

Nachdem es Lucy gelungen war, ihren verschwommenen Blick auf ihre Umgebung zu richten, hatte sie zwar den Eindruck, dass die Welt sich immer noch in einem merkwürdigen Winkel befand, aber die Stille war so beruhigend, dass Lucy, die froh war, sich in der Sicherheit ihres Gurts ausruhen zu können, keinerlei Drang verspürte, sich zu bewegen.

Sogar das Grün war wieder zurückgekehrt. Durch die milchige Scheibe des Sicherheitsglases hindurch versuchte Lucy, sich einen Reim auf die grünen Umrisse zu machen.

Bäume, entschied sie nach einer Weile. Lediglich die Tatsache, dass sie auf dem Kopf standen, verwirrte sie, dass sie unter- und nicht oberhalb einer hohen Mauer hervorschauten.

Vielleicht bin ich tot, dachte Lucy ganz nüchtern.

Im Himmel war es bestimmt grün. Und ruhig. Obwohl das mächtige Tor, das in die Mauer eingelassen war, nicht wie die weiß glänzenden Himmelspforten in den frommen Büchern aussah, die ihre Großmutter ihr gegeben hatte. Vielmehr war es aus dunklem Holz.

Die Mauer hatte die gleiche Farbe wie der hellbraune Wüstensand. Von Weitem war sie wahrscheinlich kaum zu sehen. Wenn nicht die Schatten der tief stehenden Sonne gewesen wären, hätte Lucy sie wohl auch jetzt kaum bemerkt.

Nach und nach drangen verschiedene Geräusche in ihr Bewusstsein. Das Knacken des abkühlenden Motors. Papierrascheln. Sie sah ihr Tagebuch, das inmitten der anderen Gegenstände lag, die aus ihrer Tasche gefallen waren. Die Seiten flatterten im Wind. Lucy schloss die Augen.

Minuten oder vielleicht auch Stunden später schlug sie sie wieder auf. Ein stampfendes Geräusch war zu hören, das Lucy zwar irgendwie bekannt vorkam, das sie im Augenblick aber nicht einordnen konnte. Dann vernahm sie noch etwas: ein stetiges Tropfen.

Kühlwasser oder Bremsflüssigkeit, entschied sie.

Langsam erwachte sie aus ihrer Starre und beugte sich vor, um den Sicherheitsgurt zu lösen, doch ein jäher Schmerz am Kopf ließ sie in der Bewegung innehalten. Verwirrt versuchte sie, sich nicht zu bewegen und ein paar Mal ruhig durchzuatmen, um ihre Kräfte zu sammeln.

Dann stieg ihr ein vertrauter Geruch in die Nase, und auf einmal wusste sie, um welche Flüssigkeit es sich handelte.

Benzin.

Nun war sie schlagartig wach. Eiskalte Angst überkam sie, und Lucy versuchte verzweifelt, sich so weit vorzubeugen, dass sie die Sicherung des Gurts erreichen konnte.

Ihre zitternden Finger glitten an der Oberfläche des Schalters ab, während der Benzingeruch immer stärker wurde. In Panik warf sie sich hin und her, zerrte an ihrem Gurt …

„Halten Sie still, ich mache Sie los!“

Sie konnte die Stimme zwar hören, aber die Worte drangen nicht bis in ihr Bewusstsein. Mit unverminderter Verzweiflung versuchte sie, sich zu befreien.

„Stillhalten!“

Es waren weder der scharfe Befehlston noch die düstere Miene des Mannes, die sie lautlos erstarren ließen. Es war der Anblick der aufblitzenden Messerklinge, die so nah vor ihrem Gesicht erschien, dass Lucy das Gefühl hatte, das Metall riechen zu können.

Dann wurde ihr schwarz vor Augen.

Hanif al-Khatib fluchte, als die Frau in Ohnmacht fiel, dann zerschnitt er ihren Gurt und fing den leblosen Körper auf, der ihm in die Arme glitt. Vorsichtig hob er die Unbekannte durch das offene Fenster des Jeeps und trug sie zu seinem Pferd. Der Geruch von Benzin lag in der Luft, es blieb also keine Zeit, sie sanft nach oben zu heben. Hastig beförderte er sie in den Sattel, schwang sich hinter sie, legte einen Arm um sie und drückte sie an sich, während er dem Tier die Sporen gab.

Als das Fahrzeug explodierte, war er immer noch nah genug, um die Hitze der aufschlagenden Flammen in der ohnehin glühenden Luft zu spüren.

Lucy hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Sie hörte Stimmen, konnte jedoch nicht verstehen, was sie sagten. Den einzigen Trost fand sie in dem rauen Stoff, den sie unter ihrem Gesicht spürte, in dem gleichmäßigen Klopfen eines Herzens und in den beruhigenden Worten, die an ihr Ohr drangen. Irgendjemand hielt sie im Arm und drückte sie behutsam an sich. Der Teil ihres Gehirns, der noch arbeitete, sagte ihr, dass sie in Sicherheit war, solange dieser Mensch sie nicht losließ.

Nichts außer einem Notfall hätte Hanif al-Khatib dazu gebracht, seinen Fuß in ein Krankenhaus zu setzen. Er hasste Krankenhäuser – ihren Geruch, die gedämpften Stimmen des Personals, die elektronischen Geräusche der Maschinen, mit denen Patienten überwacht oder am Leben gehalten wurden. Das schrille Piepen, das den Tod eines Menschen ankündigte.

Das überwältigende Schuldgefühl …

Zahir hatte versucht, ihn aus der Notaufnahme fernzuhalten, und ihm versichert, dass er, Zahir, alles im Griff habe.

Daran hatte Hanif keinen Zweifel. Zahir, sein Cousin und persönlicher Assistent, war ein sehr fähiger Mann. Doch Hanif musste sich selbst davon überzeugen, dass alles Notwendige für die Frau getan wurde. Zumal die Tatsache, dass die Ausländerin mutterseelenallein durch die Wüste gefahren war, in ihm den Verdacht geweckt hatte, dass es sich um keinen gewöhnlichen Unfall handelte.

Da er immer noch die Kleidung trug, die er auf der heutigen Jagd angehabt hatte, und die Kufiya um sein Gesicht geschlungen hatte, hatte niemand im Krankenhaus ihn erkannt, und das war Hanif mehr als recht. Das Letzte, was er wollte, war die Aufmerksamkeit der lokalen Medien zu erregen. Seine Privatsphäre war ihm wichtig, und die junge Frau, die er gerettet hatte, würde mit Sicherheit auch keinen Wert auf die Aufregung legen, die durch die Nachricht ausgelöst werden würde, dass der Sohn des Emirs eine Unbekannte in die Notaufnahme eingeliefert hatte.

Er hatte den direkten Kontakt mit dem Krankenhauspersonal Zahir überlassen und sich eher im Hintergrund gehalten. Dennoch musste die Landung eines Hubschraubers mit den Insignien des Emirs aufgefallen sein, und Hanif wollte so schnell wie möglich wieder verschwinden. Sobald er sich überzeugt hatte, dass die Frau nicht schwer verletzt war und dass man sich gut um sie kümmerte.

Hanif wandte sich vom Fenster ab und erblickte Zahir, der das Wartezimmer betrat und auf ihn zukam. „Wie geht es ihr?“

„Sie hat Glück gehabt. Die Ärzte haben einen Ultraschall gemacht, und es scheint keine inneren Verletzungen zu geben. Auch die Kopfverletzungen sind nur äußerlich. Sie hat höchstens eine leichte Gehirnerschütterung.“

„Sonst nichts?“ Hanif hatte Schlimmeres erwartet. „Sie hat das Bewusstsein verloren, und im Hubschrauber schien sie starke Schmerzen zu haben.“

„Sie hat sich einen Bänderriss an der Ferse zugezogen, so etwas ist äußerst schmerzhaft. Außerdem ist sie ganz schön durchgeschüttelt worden, als das Fahrzeug sich überschlug.“ Zahir betrachtete seinen Cousin mit ernster Miene. „Wenn du nicht gewesen wärst, wäre sie nicht so glimpflich davongekommen.“

Hanif winkte ab. „Ich war einfach als Erster am Unfallort, das ist alles.“

Zahir schüttelte den Kopf. „Niemand sonst hätte es gewagt, den steilen Berg hinunterzureiten, noch dazu mit einer Bewusstlosen im Arm.“

Der junge Mann schien hinzufügen zu wollen, dass niemand sonst so sorglos mit dem eigenen Leben umgehen würde, besann sich aber eines Besseren. „Diese Frau verdankt dir ihr Leben“, stellte er lediglich fest.

Hanif machte eine wegwerfende Bewegung. „Wird sie auf eine Station verlegt?“

„Das wird nicht notwendig sein. Sie muss sich einfach nur ein paar Tage ausruhen.“ Nach einer kurzen Pause fügte Zahir hinzu: „Ich habe dem Piloten gesagt, dass wir zum Abflug bereit sind.“

Hanif hatte seine Pflicht getan, und jetzt, da er wusste, dass die Frau sich wieder vollständig erholen würde, gab es eigentlich keinen Grund mehr für ihn, noch länger zu bleiben. Doch sie hatte so verletzlich ausgesehen, als sie versucht hatte, sich aus ihrem Gurt zu befreien.

„Hast du mit jemandem bei Bouheira Tours gesprochen?“, fragte er und schob die Erinnerung beiseite. „Hat man ihre Familie kontaktiert? Kümmert man sich darum, dass sie hier abgeholt und nach Hause gebracht wird?“

Zahir räusperte sich. „Darum musst du dir jetzt keine Gedanken machen. Komm, wir müssen jetzt wirklich los. Die ersten Gerüchte machen schon die Runde.“

Hanif fragte nicht, was für Gerüchte. Eine Ausländerin war von einem Sohn des Emirs ins Krankenhaus gebracht worden. Was sie nicht wussten, würden die Reporter sich einfach ausdenken.

„Sorg dafür, dass die Gerüchte verstummen, Zahir. Die junge Frau wurde von einer Jagdgesellschaft gefunden und von meinen Angestellten hierher gebracht. Ich selbst hatte nichts damit zu tun.“

„Ich werde sehen, was ich tun kann.“

„Und?“, bohrte Hanif weiter. „Wer ist sie? Arbeitet sie für diesen Reiseveranstalter? Oder ist sie nur eine Abenteuerlustige, die sich in der Wüste verirrt hat?“

„Das ist durchaus möglich. Die Tourismusbranche hat sich zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor entwickelt.“

„Aber wenn sie nur Urlaub hier macht“, fuhr Hanif fort, der sich von Zahirs Ablenkungsversuch nicht beirren ließ, „warum ist sie dann ganz allein mitten in die Wildnis gefahren? Egal, wohin sie wollte, sie war auf jeden Fall in die falsche Richtung unterwegs.“

Sein jüngerer Cousin zögerte einen Moment zu lange. Hanif ging auf einen der zahlreichen Stühle zu und ließ sich würdevoll darauf nieder. Danach bedeutete er Zahir mit einer winzigen Geste, die keinen Widerspruch duldete, nicht einmal den eines Lieblingscousins, sich zu setzen.

„Weißt du …“ Zahir schluckte und begriff dann, dass es keinen Sinn hatte, etwas zu verschweigen. „Bei Bouheira Tours hat man angeblich keine Ahnung, wer die Frau ist. Sie ist keine Angestellte, und man war sich dort auch ganz sicher, dass sie keine Kundin ist. Angeblich steht diese Woche keine einzige Frau auf der Buchungsliste.“

„Und dennoch hat sie einen ihrer Jeeps gefahren“, gab Hanif zurück. „Das Logo war auf der Fahrertür abgebildet.“

„Das habe ich auch gesagt.“

„Mit wem hast du gesprochen?“

„Mit der Büroleiterin. Eine Frau namens Sanderson. Der Mann, dem die Firma gehört, Steve Mason, befindet sich zurzeit auf einer Expedition im Osten des Landes. Er führt eine Gruppe von Archäologen herum, die sich für antike Bewässerungssysteme interessieren.“

„Sie befand sich zu weit südlich, als dass sie sich der Expedition hätte anschließen wollen.“

„Vielleicht hat sie sich verirrt.“

„Ich nehme doch an, dass die Fahrzeuge des Unternehmens alle mit Navigationssystemen ausgestattet sind.“ Zahir schwieg. „Welche Erklärung hatte diese Sanderson also für die Tatsache, dass eine ihr unbekannte Frau eines ihrer Fahrzeuge fuhr?“

„Das konnte sie sich auch nicht erklären. Sie sagte, wir müssten uns geirrt haben. Angeblich fehlt keiner ihrer Jeeps. Sie wies mich darauf hin, dass es noch andere Firmen gibt, die solche Reisen anbieten. Möglicherweise hätten wir uns geirrt, da das Fahrzeug ja stark beschädigt war.“

„Du warst dabei, als wir den Wagen gefunden haben. Glaubst du, dass wir uns geirrt haben?“

Zahir schluckte. „Nein, das glaube ich nicht.“

„Ich auch nicht. Aber lass uns zunächst über unser Unfallopfer sprechen. Als du mir gesagt hast, dass man sich um die Frau kümmern wird, was genau hast du damit gemeint? Dass das Krankenhaus die Botschaft ihres Heimatlandes kontaktieren wird, wo irgendein Beamter ihr ein Dokument zur Unterschrift aushändigen wird, in dem sie sich verpflichtet, sämtliche Kosten für ihren Krankenhausaufenthalt zurückzuzahlen?“

„Ich bin davon ausgegangen, dass du die Rechnung für ihre medizinische Versorgung übernehmen willst. Davon abgesehen …“

„Wahrscheinlich wird die Botschaft ihr auch nur helfen, wenn sie ihre Identität nachweisen kann“, überlegte Hanif laut weiter. „Und das wird nicht so einfach sein, schließlich ist alles, was sie bei sich hatte, verbrannt. Wer wird sich in der Zwischenzeit um sie kümmern?“

„Du hast ihr das Leben gerettet, Han. Mehr kann man nicht von dir erwarten.“

„Ganz im Gegenteil, Zahir. Weil ich ihr das Leben gerettet habe, trage ich jetzt Verantwortung für sie. Wer ist sie? Wie ist ihr Name?“

„Lucy Forrester.“

„Hat sie gesagt, wohin sie wollte?“

„Nein. Sie schien völlig verwirrt, deshalb haben die Ärzte auch befürchtet, dass sie einen Gehirnschaden davongetragen haben könnte.“

„Und trotzdem haben die Ärzte gesagt, dass sie entlassen werden kann?“, fragte Hanif und sprang auf. Noch bevor Zahir etwas sagen konnte, war sein Cousin bereits zur Tür geeilt. „Ich werde am besten selbst mit ihnen sprechen.“

„Warte!“ Der jüngere Mann lief hinter ihm her. „Du hast schon genug für sie getan. Die Frau ist zweifellos Britin. Ihre Botschaft wird sich schon um sie kümmern.“

„Ich entscheide selbst, wann ich genug getan habe“, erklärte Hanif. „Wo ist er? Der Arzt?“

„Er wurde zu einem anderen Notfall gerufen. Ich werde veranlassen, dass man ihn anpiept.“

„Lass nur.“ Es war nicht der Arzt, der ihn interessierte, sondern dessen Patientin. „Wo ist sie?“

Zahir zögerte und fügte sich dann offensichtlich in sein Schicksal. „Sie ist in einem der Behandlungsräume. Die letzte Tür links.“

Lucy Forrester sah nicht besser, sondern schlechter aus als zu dem Zeitpunkt, als Hanif sie in die Notaufnahme des Krankenhauses getragen hatte.

Vor seinem inneren Auge sah er sie vor sich, kurz bevor sie das Bewusstsein verloren hatte. Ihr langes blondes Haar hatte ihr Gesicht teilweise verdeckt, aber dennoch waren ihm ihre helle Haut und die großen grauen Augen aufgefallen. Seitdem waren ihre Prellungen sichtbar geworden wie bei einem Foto im Entwicklungsbad. Ihre Arme waren voller dunkler Blutergüsse, Schürf- und Schnittwunden, die genäht worden waren, in ihrem Haar klebte überall getrocknetes Blut.

Die Ärzte hatten die Verletzungen versorgt und ihr rechtes Bein unterhalb des Knies mit einer Schiene aus Plastik versehen, doch für mehr als die notwendigen medizinischen Maßnahmen war offensichtlich keine Zeit gewesen. Man hatte ihre Wunden gesäubert, aber sonst nichts. Vermutlich war das die Aufgabe der Schwestern auf der Krankenstation.

Nun lag Lucy einsam und verlassen auf einer Liege und wartete darauf, dass man entschied, was mit ihr geschehen sollte. Sie sah vollkommen erschöpft aus.

In der Sekunde, bevor sie in Ohnmacht gefallen war, hatte blankes Entsetzen in ihren Augen gestanden. Jetzt, als sie Hanif erblickte, war ihr Blick wieder voller Angst. Sie zuckte zusammen, als sei sie aus einem Albtraum erwacht. Instinktiv ergriff Hanif ihre Hand.

„Es ist alles in Ordnung, Lucy“, beruhigte er sie. „Sie sind hier sicher.“

Die Furcht in ihrer Miene schwand und machte einem anderen Gefühl Platz, das Hanif nicht genau einordnen konnte, aber das irgendetwas in seinem Inneren berührte.

„Sie haben mich gerettet“, sagte sie. Ihre Worte waren kaum zu verstehen, so geschwollen waren ihre Lippen.

„Legen Sie sich wieder hin. Sie dürfen sich nicht überanstrengen.“

„Ich dachte … ich dachte …“

Es war nur zu offensichtlich, was sie gedacht hatte, aber er nahm es ihr nicht übel. Sie war vollkommen hysterisch gewesen, und er hatte keine Zeit für Erklärungen gehabt.

Hanif ließ ihre Hand los, machte eine leichte Verbeugung, eine Geste, die normalerweise nur seiner Mutter und Großmutter vorbehalten war. „Mein Name ist Hanif al-Khatib. Haben Sie Freunde in Ramal Hamrah?“ Es war der einzige Grund, aus dem eine Frau allein durch die Wüste fahren würde. „Gibt es jemanden, den ich anrufen soll?“

„Ich …“ Sie zögerte. „Nein. Es gibt niemanden.“ Das war gelogen, dachte er. Oder zumindest nicht die ganze Wahrheit. Aber das spielte im Augenblick keine Rolle.

„Dann steht Ihnen mein Haus zur Verfügung, bis Sie sich so weit erholt haben, dass Sie Ihre Reise fortsetzen können.“

Eines ihrer Augen war zugeschwollen, sodass sie es nicht öffnen konnte. Das andere sah ihn fragend an. „Aber warum …“

„Ein Besucher unseres Landes, der in Schwierigkeiten gerät, kann immer auf Hilfe und eine Zuflucht vertrauen“, antwortete Hanif, der sich selbst nicht sicher war, warum er sich so um das Wohl dieser unbekannten Frau sorgte. Aber schließlich hatte er sie nicht gerettet, um sie jetzt im Stich zu lassen. Bei ihm zu Hause würde sie alles haben, was sie brauchte, und sie würde sich in Sicherheit befinden. Er wandte sich zu Zahir um. „Das wäre also geklärt. Geh und bereite alles für Ms. Forresters Entlassung vor.“

„Aber …“

Hanif brachte seinen Cousin mit einem Blick zum Schweigen. „Und besorge außerdem etwas Warmes, das Ms. Forrester während der Reise tragen kann. Und schick eine Krankenschwester, um ihr das Blut abzuwischen. Wie konnte man sie nur so zurücklassen?“

„Das könnte eine Weile dauern“, gab Zahir zu bedenken, „in der Notaufnahme herrscht gerade Hochbetrieb.“

Lucy beobachtete, wie ihr Retter den jüngeren Mann mit einer Handbewegung fortschickte und dann ungeduldig begann, die Schränke im Behandlungsraum zu durchsuchen, bis er schließlich eine Metallschale und eine Packung mit Watte gefunden hatte. Er ließ warmes Wasser in die Schale laufen und tränkte einen Wattebausch damit.

„Ich bin kein Krankenpfleger“, erklärte er, „aber ich werde mich bemühen, es Ihnen so angenehm wie möglich zu machen.“

Sie wich leicht zurück. „Das ist wirklich nicht notwendig.“

„Oh doch“, widersprach er. „Außerdem wird es eine Weile dauern, bis Zahir den ganzen Papierkram erledigt hat.“ Er lächelte nicht, doch als er nach ihrer Hand griff und sie behutsam anhob, war er die Sanftheit in Person.

Lucy zuckte dennoch leicht zusammen.

„Tut das weh?“, erkundigte er sich.

„Nein“, brachte sie mühsam hervor.

Er nickte und begann dann, ihre Hände vorsichtig mit der feuchten Watte zu säubern.

Es sind nur meine Hände, sagte Lucy sich. Sie hätte nichts dagegen gehabt, wenn ein Krankenpfleger sie gereinigt hätte. Doch die Berührung dieses Mannes übte eine sehr beunruhigende Wirkung auf ihren Körper aus. Ein leises Seufzen entfuhr ihrer Kehle.

Hanif sah sie fragend an, und sie flüsterte: „Alles in Ordnung.“

Behutsam fuhr er daraufhin mit dem Wattebausch über ihre Handfläche, den Handrücken und Unterarm und entfernte Schmutz und getrocknetes Blut. Mit der gleichen Sorgfalt reinigte er anschließend die andere Hand und den Arm. Dann stand er auf und wechselte das Wasser. „Und jetzt Ihr Gesicht.“

Lucy schluckte. Ihr Gesicht? Sie hatte sich schon unbehaglich genug gefühlt, als er ihre Arme berührt hatte.

„Ist das zu heiß?“, erkundigte er sich, als sie zusammenzuckte, nachdem er einen feuchten Wattebausch an ihre Wange geführt hatte.

„Nein.“ Sie hatte einen Kloß im Hals und musste sich räuspern. „Es ist nur …“ Es war nur, dass die Worte ihrer Großmutter sich tief in Lucys Gedächtnis eingebrannt hatten. Anständige Mädchen ließen sich nicht von Männern anfassen. Insgeheim wusste sie, dass das nicht stimmte, dass es etwas anderes war, wenn zwei Menschen sich liebten. Doch sogar bei Steve war es ihr schwergefallen, sich auf so etwas wie Zärtlichkeiten einzulassen. Nicht dass er sie gedrängt hätte.

Er hatte ihr versichert, dass er ihre Unschuld bezaubernd fand. Dass es ihm nichts ausmachte, zu warten, bis sie bereit war.

Unschuld war schon der richtige Ausdruck. Nur die sprichwörtliche Unschuld vom Lande konnte auf einen solchen Spruch hereinfallen.

Und obwohl Lucy wusste, dass das, was Hanif mit seinem Wattebausch tat, nichts mit dem zu tun hatte, wovor ihre Großmutter sie gewarnt hatte, fiel es ihr schwer, seinem Blick zu begegnen. „Alles in Ordnung“, brachte sie schließlich mühsam hervor, verzweifelt bemüht, nicht in Tränen auszubrechen. Tränen der Wut, des Bedauerns, der Hilflosigkeit – eine ganze Schar quälender Erinnerungen türmte sich schneller auf, als Lucy den auf sie einströmenden Gefühlen Einhalt gebieten konnte.

Nachdem Hanif sie eine Weile abwartend angesehen hatte, versicherte sie ihm: „Wirklich.“

„Sie müssen mir sagen, wenn es zu sehr wehtut“, sagte er sanft und schob vorsichtig ihr Haar aus der Stirn. Dann fuhr er mit dem Wattebausch über ihre geschundene Haut, die Wange und den Hals. Als er den Nacken erreichte, entfuhr Lucy erneut ein Seufzer.

Wenn ich mir nur die Haare waschen könnte, dachte sie, dann würde es mir gleich viel besser gehen.

„Morgen wasche ich Ihnen die Haare“, kündigte Hanif in diesem Augenblick an, so als habe er ihre Gedanken gelesen.

Bevor sie darauf antworten konnte, klopfte es an die Tür.

Er rief etwas auf Arabisch, das nur eines bedeuten konnte: Warte! Dann half er ihr, sich an das aufgerichtete Kopfende der Liege zurückzulehnen.

„Shukran“, sagte sie. Danke.

Sie hatte sich vor ihrer Abreise aus England einen Arabischkurs gekauft, um wenigstens ein paar Worte zu beherrschen. Lucy hatte keine Geschäftspartnerin sein wollen, die sich mit niemandem verständigen konnte. Sie hatte sich nützlich machen wollen. Im Nachhinein war die grausame Ironie nur allzu offensichtlich. Sie war nur so lange nützlich gewesen, bis sie die Papiere unterschrieben hatte, die Steve ihr vorgelegt hatte.

Hanif al-Khatib lächelte sie an – es war das erste Mal, dass er das tat. Der Mann ist so ernst, dachte Lucy.

Dann sagte er: „Afwan.“ Gern geschehen. Und sie spürte, dass er es wirklich ernst meinte.

In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie jemand mit solchem Respekt, solcher Fürsorge behandelt wie dieser Fremde. Auf einmal fiel es ihr immer schwerer, die Tränen, die langsam ihre Augen nässten, zurückzuhalten.

Das musste an dem Unfall liegen. Sie hatte einen Schock erlitten. Außerdem war sie völlig erschöpft …

Lucy atmete tief ein und schluckte. Es gelang ihr, nicht zu weinen. Schmerzen, Ungerechtigkeiten, Demütigungen, all das hatte sie ohne Tränen überstanden. Sie hatte schon als Kind gelernt, dass Tränen zwecklos waren. Aber Hanifs Freundlichkeit hatte den Schutzpanzer durchbrochen. Beschämt blinzelte Lucy mit den Augen.

„Haben Sie Schmerzen, Lucy?“

„Nein.“

Er wischte eine Träne weg, die ihr über die Wange lief. „Ich kann Ihnen ein Schmerzmittel bringen lassen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Danke, aber ich habe vorhin schon eine Spritze bekommen. Ich bin nur müde.“

„Dann schlafen Sie. Dadurch wird die Reise vielleicht ein wenig angenehmer.“ Er wandte sich zur Tür. „Ich bin gleich wieder da.“

Lucy nickte, dann hatte sie das Gefühl, auf einer Wolke von Beruhigungsmitteln davonzuschweben. Als Hanif wieder zurückkam, fuhr sie erschrocken hoch.

„Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, das hier zu tragen“, sagte er und zog ihr vorsichtig etwas Warmes und Weiches über den Kopf, half ihr anschließend in die Ärmel.

Lucy war mit allem einverstanden, was der Mann tat, aber ihr fehlte die Kraft, ihm zu antworten.

„Wie geht es ihr?“

Hanif hatte Zahir gebeten, in Rumaillah zu bleiben und Erkundigungen über seinen Gast einzuholen, und nun erhob er sich, um seinen Cousin zu empfangen und ihn in den Raum neben dem Gästezimmer zu geleiten.

„Ms. Forrester schläft tief und fest.“

„Das wird ihr guttun.“

„Hoffentlich.“ Sie hatte sich im Schlaf gewälzt und laut gestöhnt. Vielleicht ein Albtraum. Hanif vermutete, dass nur das Beruhigungsmittel sie schlafen ließ. „Was hast du herausgefunden? Hast du mit der Botschaft gesprochen?“

„Ich hielt es für besser, zuerst meine eigenen Nachforschungen anzustellen, bevor ich mich an die Botschaft wende. Wenn du mich fragst, stimmt in dieser ganzen Angelegenheit etwas nicht.“

„Was zweifellos der Grund ist, weshalb du mich davon abhalten wolltest, Ms. Forrester hierher zu bringen“, stellte Hanif ungerührt fest.

„Es ist meine Aufgabe …“

„Es ist deine Aufgabe“, fiel Hanif seinem Cousin ins Wort, „mich vom Grübeln abzuhalten. Mich zum Jagen und zu anderen Aktivitäten anzuregen. Und meinem Vater Mitteilung zu machen, wann ich wohl wieder bereit bin, mein früheres Leben aufzunehmen.“

„Er macht sich Sorgen um dich.“

„Ich weiß, und das ist der einzige Grund, weshalb ich deine Anwesenheit dulde. Und nun sag mir, was du über Lucy Forrester herausgefunden hast.“

„Sie ist gestern Morgen mit dem ersten Flug aus London angekommen. Der Zollbeamte konnte sich lebhaft an sie erinnern. Ihr Haar hat offensichtlich für einiges Aufsehen gesorgt.“

Das konnte Hanif sich nur zu gut vorstellen. Lucys hüftlanges blondes Haar hätte überall auf der Welt Aufmerksamkeit erregt, aber im Orient stellte es eine kleine Sensation dar.

„Sie hat bei der Einreise eine Adresse in England angegeben“, fuhr Zahir fort, „und ich habe bei der Telefonnummer angerufen. Keine Antwort. Als ihre Adresse hier in Ramal Hamrah hat sie das Gedimah Hotel angegeben, und obwohl sie dort tatsächlich ein Zimmer reserviert hat, ist sie niemals dort aufgetaucht.“

„Hat sie jemand vom Flughafen abgeholt, oder hat sie ein Taxi genommen?“

„Ich warte noch auf einen Rückruf von der Sicherheitsabteilung des Flughafens.“

„Und was ist mit dem Jeep, in dem sie gefahren ist?“, fragte Hanif. „Hast du in dem Wrack noch irgendetwas gefunden, was uns einen Hinweis geben könnte?“

Zahir schüttelte den Kopf. „Ich habe von Rumaillah aus einen Suchtrupp zum Unfallort geschickt, aber als meine Leute dort eintrafen, war das Fahrzeug verschwunden.“

„Verschwunden?“

„Spurlos.“

„Es kann sich nicht in Luft aufgelöst haben, Zahir.“

„Nein.“

Hanif runzelte die Stirn. „Niemand außer uns wusste von dem Unfall. Und die Frau von Bouheira Tours. Was genau hast du ihr erzählt?“

„Nur dass eines ihrer Fahrzeuge verunglückt ist und ausgebrannt in der Wüste liegt. Die Frau schien erschrocken zu sein und hat mich gebeten, ihr die genaue Position des Wagens zu nennen. Nachdem ich das getan hatte, meinte sie, ich müsste mich irren. Dass der Jeep nicht von ihnen sei. Dann habe ich gefragt, ob Ms. Forrester eine ihrer Angestellten oder eine Touristin sei, die bei ihnen eine Reise gebucht hätte, und sie sagte, dass sie den Namen noch nie gehört hätte.“

„Sie wollte nicht erst ihre Unterlagen prüfen?“

„Nein, sie schien sich ganz sicher zu sein.“

„Hast du ihr gesagt, dass Ms. Forrester verletzt ist?“, wollte Hanif wissen.

„Sie hat nicht gefragt, was mit ihr geschehen ist, und ich habe ihr auch von mir aus nichts gesagt.“

„Das war gut, Zahir. Versuch bitte, mehr über dieses Unternehmen und seine Angestellten herauszufinden. Und zwar möglichst unauffällig.“

2. KAPITEL

Der Raum war kühl und ruhig. Gedämpftes Licht fiel durch die tiefblau und smaragdgrün getönten Glasscheiben, die durchzogen waren von kleinen leuchtend roten Stücken. Lucy hatte das Gefühl, in einer unterirdischen Grotte zu liegen. In einer Grotte mit einem großen weichen Bett.

Sie musste träumen. Mit diesem Gedanken entglitt sie wieder in tiefen Schlaf.

Das nächste Mal, als sie aufwachte, war das Licht heller geworden. Obwohl es ihr schwerfiel, die Augen zu öffnen, versuchte sie doch, sich aufzusetzen und einen Blick auf ihre unbekannte Umgebung zu werfen.

Der heftige Schmerz, der ihren ganzen Körper durchzuckte, überzeugte sie schnell davon, dass sie nicht träumte. Dann erklang dieselbe beruhigende Stimme, die sie schon gehört hatte, als sie im Krankenhaus zu sich gekommen war. „Alles in Ordnung, Lucy. Sie sind hier in Sicherheit.“

In Sicherheit? Was war passiert? Wo war sie? Lucy hob leicht den Kopf, um die hochgewachsene Gestalt vor ihrem Bett in Augenschein zu nehmen. Eine Halskrause erschwerte die Bewegung, und ein Auge war so zugeschwollen, dass sie es nur einen Spaltbreit öffnen konnte. Trotzdem erkannte sie den Mann sofort.

Das erste Mal, als sie ihn gesehen hatte, hatte er ein Messer in der Hand gehalten. Sie schluckte. Ihr Mund war furchtbar trocken.

„Erinnern Sie sich?“, fragte er. „An den Unfall?“

„Ich erinnere mich an Sie“, antwortete sie mühsam. Er hatte das Tuch abgelegt, das er zuvor um den Kopf getragen hatte, und sie konnte sehen, dass sein Haar lang und dicht war und im Nacken von einem dunklen Band zusammengehalten wurde. Seine Stimme war sanft, doch die durchdringenden dunklen Augen und die leichte Adlernase strahlten etwas Wildes, Gefährliches aus.

„Sie sind Hanif al-Khatib“, sagte sie. „Sie haben mir das Leben gerettet und mich aus dem Krankenhaus zu sich genommen.“

„Gut. Sie erinnern sich also. Haben Sie sich etwas ausgeruht?“

„Wo bin ich?“ Ihre Stimme war schwach und heiser. Sogleich goss Hanif ein Glas Wasser ein und half Lucy, sich aufzurichten. Dann hielt er ihr das Glas an die Lippen, die auf ihre doppelte Größe angeschwollen zu sein schienen. Ein Teil des Wassers erreichte dabei tatsächlich ihre Kehle, der Rest lief ihr das Kinn hinunter und in die Halskrause hinein.

Er öffnete den Verschluss und entfernte die Halskrause, dann trocknete er mit einem Tuch vorsichtig die Haut darunter.

„Dürfen Sie die einfach so abnehmen?“, erkundigte sie sich nervös und befühlte ihren Hals.

„Meiner Erfahrung nach taugen solche Halskrausen nicht viel, aber der Arzt meinte, sie sollten sie lieber anbehalten, bis sie wieder bei Bewusstsein sind.“

„Ihrer Erfahrung nach? Haben Sie denn schon so häufig einen Autounfall gehabt?“

„Nicht mit Autos, sondern mit Pferden.“ Er zuckte mit den Schultern. „Beim Polo kommt es häufiger zu Zusammenstößen zwischen Pferd und Reiter.“

„Wo bin ich?“, wollte sie wissen. „Und wer sind Sie?“ Sein Name war ihr nicht genug, sie wollte mehr über den Mann wissen, der sie bei sich aufgenommen hatte.

„Als ich in England lebte, haben meine Freunde mich Han genannt.“

Das erklärte zumindest sein perfektes Englisch und die vollendeten Umgangsformen.

„Und wie nennen Ihre Feinde Sie?“ Die Frage war ihr herausgerutscht.

Mit ausdrucksloser Miene antwortete er: „Mein voller Name lautet Hanif bin Jamal bin Khatib al-Khatib, und meine Feinde wissen, dass sie das niemals vergessen sollten.“

Sie versuchte, sich anders hinzusetzen, und verzog vor Schmerz das Gesicht.

Sofort war Hanif wieder ganz der fürsorgliche Krankenpfleger. „Der Arzt hat Ihnen ein Schmerzmittel verschrieben. Soll ich Ihnen eine Tablette geben?“

„Nein danke, nicht nötig.“ Es fiel ihr so schon schwer genug zu denken, und sie hatte das Gefühl, dass sie alle ihre Sinne benötigen würde, um die notwendigen Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. „Sie haben mir Ihren Namen schon vorhin genannt.“ Nur dass er diesmal viel länger war. Steve hatte ihr erklärt, wie sich arabische Namen zusammensetzten, und sie wusste, dass sie den Namen ihres Gastgebers entziffern musste, um mehr über ihn zu erfahren. „Bin bedeutet ‚Sohn von‘, nicht wahr?“

Er nickte leicht mit dem Kopf.

„Das bedeutet, Sie sind Hanif, Sohn von Jamal, Sohn von …“

„Khatib.“

„Sohn von Khatib aus dem Hause Khatib.“ Der Name kam ihr bekannt vor. Hatte Steve ihn irgendwann erwähnt? „Und das hier ist Ihr Haus?“

Dumme Frage. Nicht einmal die besten Zimmer in den exklusivsten Privatkliniken konnten so edel aussehen. Kunstvolle Schnitzereien an den Wänden, mit Blumen verzierte Fensterrahmen, bei denen jedes einzelne Blütenblatt aus polierten Halbedelsteinen bestand, kostbare Möbel, die eines Palastes würdig gewesen wären …

„So ist es. Sie werden es hier bequemer haben als im Krankenhaus. Es sei denn, Sie haben Freunde in Ramal Hamrah, bei denen Sie lieber wohnen würden. Gibt es irgendjemanden, den ich anrufen soll? Wir haben es bereits unter Ihrer Telefonnummer in England versucht, aber dort hat niemand geantwortet.“ Er wies auf ein Telefon auf dem Nachttisch. „Sie können es gerne noch einmal selbst probieren.“

„Nein, dort ist niemand.“ Und auch sonst gab es niemanden, der sich für ihren Zustand interessieren könnte. „Ich lebe allein. Es tut mir leid, dass ich Ihnen solche Umstände bereite.“ Lucys Blick fiel auf ihre Arme, und ihre Augen weiteten sich. Die Schnitte waren genäht worden und die Schürfwunden gereinigt. Trotzdem war es kein schöner Anblick.

„Machen Sie sich keine Sorgen“, beruhigte Hanif sie. „Solche Verletzungen verheilen recht schnell. Ein oder zwei Wochen, dann wird man kaum noch etwas sehen.“ Er lächelte. „Haben Sie Hunger?“

„Danke, ich möchte Ihnen nicht noch länger zur Last fallen. Wenn Sie mir bitte ein Taxi rufen würden?“

„Ein Taxi?“ Er runzelte die Stirn. „Wozu brauchen Sie ein Taxi?“

„Um zum Flughafen zu fahren.“

„Davon würde ich Ihnen dringend abraten. Sie sollten sich zumindest ein oder zwei Tage erholen.“

„Ich kann aber nicht hierbleiben“, beharrte Lucy.

„Es wird ohnehin einige Zeit dauern, bis Ihr Pass ersetzt ist. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass alles, was Sie im Jeep bei sich hatten, verbrannt ist.“

„Verbrannt?“ Bei dem Gedanken, wie knapp sie dem Tod entronnen war, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. „Ich muss mich sofort um neue Papiere kümmern.“ Sie richtete sich so schnell auf, dass ihr ganz schwindelig wurde.

„Überlassen Sie das ruhig meinem Assistenten. Er wird sich um alles kümmern“, versicherte Hanif ihr. „Ihre Papiere werden fertig sein, sobald Sie wieder in der Lage sind zu reisen.“

„Warum tun Sie das?“, wollte sie wissen. „Warum sind Sie so freundlich zu mir?“

Er schien überrascht. „Sie sind fremd in diesem Land. Sie brauchen Hilfe. Es ist meine Pflicht, Ihnen zur Seite zu stehen.“

„Sie haben mich aus dem Auto gezogen, bevor es in Flammen aufgegangen ist. Ich weiß, dass ich Ihnen mein Leben verdanke.“

Er verbeugte sich leicht. „Mash’Allah. Ihr Leben ist in guten Händen.“

„Mein Leben ist einzig und allein in meinen Händen“, gab sie etwas ungehalten zurück. Sie war diesem Mann vielleicht zu Dank verpflichtet, aber das hieß noch lange nicht, dass sie ihm trauen konnte. Schon zu oft in ihrem Leben hatte sie auf schmerzhafte Weise erfahren, dass man niemandem vertrauen durfte, dass man immer auf sich selbst gestellt war.

„Wir sind alle in Gottes Hand“, antwortete er ruhig. Er schien in keiner Weise verärgert, vermutlich hielt er ihr zugute, dass sie sowohl unter Schock als auch unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln stand. Solche Medikamente ließen die Menschen zuweilen ihre Zurückhaltung und ihre Umgangsformen vergessen. Ihre Großmutter war kurz vor ihrem Tod auch auf Schmerzmittel angewiesen gewesen. Die ganze Enttäuschung und die Wut, die sich ein Leben lang angestaut hatten, hatten sich in diesen letzten Wochen Luft gemacht …

„Es tut mir leid“, sagte Lucy. „Sie sind so gut zu mir, und ich bin auch noch undankbar.“

„Niemand ist in Bestform, wenn er einen schweren Unfall hinter sich hat“, antwortete er ernst.

Lucy bemühte sich zu lächeln, hatte allerdings keine Ahnung, ob ihr geschwollenes Gesicht die Botschaft übermitteln würde.

„Sie müssen etwas essen, um wieder zu Kräften zu kommen. Was darf ich Ihnen bringen lassen?“

Am liebsten hätte sie einfach noch etwas getrunken, aber sie schwieg aus Angst, dass ihr wieder die Hälfte des Wassers das Kinn hinunterlaufen könnte. Doch Hanif schien ihre Gedanken zu lesen, oder vielleicht hatte sie auch nur allzu sehnsüchtig auf das leere Glas geschaut. Er stand auf, füllte es und trat neben ihr Bett.

„Lassen Sie sich Zeit.“ Damit hielt er ihr das Glas an die Lippen und wartete geduldig, bis Lucy den Arm ausgestreckt hatte, um das Glas zu stützen. Dabei vermied sie es, ihn anzusehen. So eine körperliche Nähe zu einem Mann war sie nicht gewöhnt. „Genug?“, fragte er, nachdem sie schließlich in kleinen Schlucken das ganze Glas geleert hatte.

Sie setzte an, um zu nicken, doch erinnerte sich gerade noch rechtzeitig, wie schmerzhaft jede einzelne Kopfbewegung war. Stattdessen sah sie zu ihm auf. Ihre Blicke trafen sich, und für einen kurzen Augenblick hatte Lucy das Gefühl, als könne Hanif bin Jamal bin Khatib al-Khatib bis auf den Grund ihrer Seele schauen.

Kein sehr hübscher Anblick.

Hanif stellte das Glas zur Seite und half Lucy, sich zurückzulehnen. Dann stand er auf und trat einen Schritt zurück.

Ihr Körper hatte sich federleicht angefühlt, als er ihn aus dem Wagen gehoben und in seinen Armen gehalten hatte, und doch hatte das Erlebnis eine Reihe von Erinnerungen heraufbeschworen, die er tief in seinem Inneren begraben hatte. Erinnerungen an eine andere Frau, die er auf genau dieselbe Weise getragen hatte. An dunkle Augen, die ihn anflehten, sie gehen zu lassen.

Von dem Augenblick an, als er sich über die bewusstlose Lucy Forrester gebeugt und ihren Gurt aufgeschnitten hatte, hatte ihr Geruch ihn nicht mehr losgelassen, hatte die Mauer Risse bekommen, die er zwischen sich und seinem Gedächtnis errichtet hatte. Er hatte versucht, diesen Duft zu ignorieren, während er mit ihr auf seinem Pferd geritten war oder sie im Hubschrauber in seinen Armen gehalten hatte. Doch nun, da sie in Sicherheit war, konnte er die Erinnerungen nicht länger unterdrücken.

Sie ist nicht wie Noor, sagte er sich. Das war auch gar nicht zu übersehen. Noor mit ihren dunklen Augen und der goldenen Hautfarbe war so sanft und gütig gewesen. Der unnachgiebige starre Kern, der sich unter dieser weichen Schale verborgen hatte, war eine Überraschung gewesen.

Lucy Forrester hatte nichts mit Noor gemeinsam.

Ihre unterschiedlichen Augen- und Haarfarben waren dabei noch der geringste Unterschied. Seine Frau war stark gewesen, ein Fels in der Brandung. Diese Frau jedoch war nervös und ängstlich, und sie schien ihn auf eine Weise zu brauchen, auf die Noor ihn nie gebraucht hatte.

„Möchten Sie vielleicht einen Tee?“, zwang Hanif sich zu fragen. „Oder eine leichte Mahlzeit?“

„Wenn ich ehrlich bin, möchte ich mich im Augenblick vor allem duschen und mir die Haare waschen.“ Damit versuchte Lucy, sich auf ihre geschundenen Ellbogen zu stützen.

Er wusste, was sie durchmachte. In seiner Jugend, als er noch geglaubt hatte, unverletzlich zu sein, hatte er des Öfteren mit einem Knochenbruch im Bett liegen müssen und es kaum erwarten können, wieder aufzustehen.

„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist“, wandte er ein. „Was halten Sie davon, wenn ich eine Schale Wasser bringe …“

„Ich bin doch kein Pflegefall. Ich habe nur ein paar Kratzer“, widersprach sie und heulte dann vor Schmerz laut auf.

„Haben Sie sich wehgetan?“, fragte er mit einem leicht bissigen Unterton. Warum war sie nur so störrisch?

„Nein“, gab sie spitz zurück, „ich schreie immer, wenn ich mich bewege.“ Dann fügte sie etwas versöhnlicher hinzu: „Ich weiß ja, dass Sie mir nur helfen wollen, aber wenn Sie mir einfach zeigen, wo das Badezimmer ist, komme ich schon allein zurecht.“

„Es tut mir leid, dass es in meinem Haus keine weiblichen Angestellten gibt, die Ihnen helfen könnten. Sind Sie sicher, dass Sie …“

„Ich schaffe das schon. Sie würden bestimmt auch nicht wollen, dass Ihre Frau sich von einem fremden Mann helfen lässt, oder?“

Hanif kannte eine Menge Männer, die es nicht einmal erlaubten, dass ihre Frauen sich von einem männlichen Arzt untersuchen ließen. Über solche Torheit konnte er selbst nur staunen.

„Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn ein Außerirdischer meiner Frau behilflich gewesen wäre, wenn ihr dadurch Erleichterung hätte verschafft werden können.“

Hätte? Warum sprach er in der Vergangenheit? Lucy zwang sich, den Gedanken nicht weiterzuverfolgen. „Wenn ich einmal auf den Beinen bin, komme ich schon klar.“

Er sah nicht überzeugt aus.

„Wirklich“, versicherte sie. „Außerdem muss ich auch noch aus einem anderen Grund ins Badezimmer. Und ich werde auf keinen Fall eine Bettpfanne oder so etwas benutzen, den Gedanken können Sie sich gleich aus dem Kopf schlagen!“

„Sie sind eine sehr willensstarke Frau, Lucy Forrester“, stellte er lächelnd fest. „Aber wenn Sie stürzen, müssen Sie vielleicht wieder ins Krankenhaus.“

„Wenn das passiert, dürfen Sie mir gerne vorhalten, dass Sie mich schließlich gewarnt hätten.“

„Nun gut.“ Er sah sich im Zimmer um, als suche er nach etwas, und wandte sich dann zur Tür. „Ich bin gleich wieder da.“

Doch Lucy beschloss, nicht auf ihn zu warten, sondern so schnell wie möglich aus dem Bett zu steigen und dafür zu sorgen, dass Hanif ihren hinten offenen Patientenkittel nicht zu Gesicht bekam.

Also beugte sie sich vor und schlug die Decke so weit zurück, wie sie konnte. Danach musste sie erst einmal wieder verschnaufen. Sie hätte es wohl doch besser langsam angehen sollen.

Es war schon eine Ironie des Schicksals. Ihr ganzes Leben lang war sie ruhig und zurückhaltend gewesen und immer darauf bedacht, kein Aufsehen zu erregen, doch in dem Moment, wo sie sich selbst überlassen gewesen war, hatte sie genau das getan, wovor ihre Großmutter sie immer gewarnt hatte: Sie hatte sich in ihre Mutter verwandelt.

Impulsiv, ungestüm und immer in Schwierigkeiten.

Wenn Hanif nicht gewesen wäre, wäre sie jetzt sogar tot, und das war es wirklich nicht wert.

Schließlich ging es doch nur um Geld.

Ihr ganzes Leben lang war sie arm gewesen, und als sie auf einmal über Geld verfügte, hatte sie nicht gewusst, was sie damit anfangen sollte. Wenigstens hatte Steve ihr für ein paar Wochen das Gefühl gegeben, geliebt und begehrt zu werden.

Er mochte vielleicht ein Lügner und Betrüger sein, aber er hatte seine Sache gut gemacht, das musste man ihm lassen. Unglücklicherweise konnte Lucy die letzten Wochen aber nicht einfach als unerfreuliche Erfahrung verbuchen. Und deshalb musste sie so schnell wie möglich aus diesem Bett aufstehen.

Alles ging gut bis zu dem Moment, wo sie ihre Beine über die Bettkante geschoben hatte und versuchte, zu stehen. Der Schmerz übertraf alles, was sie zuvor gekannt hatte.

Sie schrie nicht, während sie auf dem Boden zusammenbrach. Sie hätte geschrien, wenn sie genug Luft zum Atmen gehabt hätte. Doch so blieb sie regungslos liegen, bis Hanif ins Zimmer geeilt kam und ihr aufhalf.

„Konnten Sie denn keine zwei Minuten warten, bis ich wieder zurück bin?“, fragte er mit einem leichten Tadel in der Stimme, nachdem er ihr geholfen hatte, sich wieder auf das Bett zu setzen.

„Ich dachte, ich schaffe es allein. Warum tut meine Ferse so weh?“

„Sie haben einen Bänderriss, das ist alles.“

„Das ist alles?“ Sie sah ihn erstaunt an.

„Ich weiß, so etwas ist äußerst schmerzhaft“, beeilte er sich zu sagen. Dann griff er nach einem feuchten Tuch und wischte ihr damit sanft über die Stirn.

„Sie machen das sehr gut“, sagte sie verlegen. „Sind Sie sicher, dass Sie kein Krankenpfleger sind?“

„Ganz sicher. Aber ich habe mich um meine Frau gekümmert, als sie im Sterben lag.“

Sein Gesichtsausdruck und seine Stimme gaben keinerlei Empfindungen preis. Doch davon ließ Lucy sich nicht täuschen. Sie war selbst ziemlich gut darin, ihre Gefühle zu verbergen, zumindest bis Steve aufgetaucht war. Und wenn man wusste, wie es geht, konnte man es auch bei anderen Menschen beobachten.

„Das tut mir leid, Han.“

Er nahm ihre Worte mit einem kaum merklichen Nicken zur Kenntnis und wechselte dann das Thema: „Hat man Ihnen im Krankenhaus nicht erklärt, welche Verletzungen Sie erlitten haben?“

„Die Ärzte haben es versucht, aber ich habe nur die Hälfte von dem verstanden, was sie gesagt haben. Ich war so durcheinander …“

„Sie haben einen Ultraschall bei Ihnen gemacht“, erklärte er. „Sie haben weder innere noch Hirnverletzungen.“

„Nur meine Ferse? Sonst nichts?“

„Na ja, einige Prellungen und Schürfwunden. Aber das wissen Sie ja selbst.“

„Und wie sieht meine Prognose aus?“, wollte sie wissen.

„Die Wunden werden schnell verheilen und die Schwellungen zurückgehen. Außerdem sollen Sie diese Schiene ein paar Wochen tragen und Krücken benutzen. Ich bin nur kurz aus dem Zimmer gegangen, um sie Ihnen zu holen.“

„Oh. Das wusste ich nicht.“

„Das konnten Sie ja auch nicht wissen. Ich hätte es Ihnen erklären sollen. Aber ich schätze, ich bin es einfach gewohnt, dass man meinen Anweisungen Folge leistet.“ Sein Lächeln war zaghaft, so als ob er es lange nicht benutzt hätte.

Auch Lucy grinste. „Tatsächlich? Dann muss ich Ihnen leider mitteilen, dass europäische Frauen sich nicht so herumkommandieren lassen.“

„Möchten Sie jetzt duschen?“

„Oh ja, das wäre wundervoll.“

„Dann müssen Sie genau das tun, was ich sage.“

Sie wollte zuerst protestieren, doch bemerkte dann das leichte Zucken seiner Mundwinkel und musste lachen. „Jawohl, Sir!“

Er beugte sich vor, um ihr die Plastikschiene anzulegen, und war froh, dass Lucy nicht sehen konnte, wie sehr ihr Lachen ihm zusetzte.

Dann reichte er ihr die Krücken und half ihr, sich aus dem Bett auf den Boden gleiten zu lassen. Er stützte sie ab, während sie vorsichtig ihr Gewicht auf den unverletzten Fuß verlagerte.

„Sie können mich jetzt loslassen“, versicherte sie ihm.

Doch er konnte nicht. Es war, als würde er alles noch einmal durchmachen müssen. Er hielt ihre Schulter fest, überzeugt, dass sie fallen würde, sobald er sie losließ, und dass er sie dann verlieren würde. So wie er Noor verloren hatte.

Idiotisch.

Er kannte sie doch gar nicht. Sie bedeutete ihm nichts.

Wie könnte sie auch? Schon seit Jahren hatte er nichts mehr empfunden. Er war ein Mann ohne Gefühle.

Und dennoch hatte er von dem Augenblick an, als er gesehen hatte, wie Lucy Forresters Jeep sich überschlug, ein wahres Wechselbad der Gefühle durchgemacht. Sorge, Wut, Ärger, Erleichterung …

Er sagte sich, dass das natürliche Reflexe waren, die nichts mit wahren, tiefer gehenden Empfindungen zu tun hatten.

„Wir machen es auf meine Weise“, brummte er, „oder gar nicht.“

„Sie sind es wirklich gewohnt, dass man Ihnen widerstandslos gehorcht.“ Sie blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Dann schob sie eine Krücke ein Stück nach vorne und verlagerte ihr Gewicht darauf. Hanifs gesamter Körper stützte sie ab. Er hielt sie mit beiden Armen umfangen, sodass ihre Stirn auf seiner Wange lag und ihr Oberkörper auf dem seinen. An ihren Beinen, die unter dem dünnen Kittel hervorschauten, konnte sie den festen Stoff seines Gewandes fühlen. Und während Hanif sie festhielt, verspürte sie für einen kurzen Augenblick keinen Schmerz.

„Das ist schwieriger, als ich dachte“, gab sie zu.

„Ich sage doch, Sie sind noch nicht so weit“, antwortete er und strich die Haarsträhne, die ihr wieder ins Gesicht gefallen war, erneut zurück.

„Danke. Normalerweise trage ich immer einen Zopf. Ich muss mir die Haare wirklich schneiden lassen, wenn ich wieder zu Hause bin.“

„Warum?“, fragte er entsetzt. „Ihre Haare sind wunderschön.“

„Sie sind vor allem lästig. Ich wollte sie eigentlich schon schneiden lassen, bevor ich …“

„Bevor Sie was?“

„Bevor ich nach Ramal Hamrah gekommen bin.“ Sie atmete tief durch. „In Ordnung, ich bin jetzt so weit. Sie können mich loslassen.“

Zögernd nahm er die Arme von ihren Schultern und trat einen Schritt zurück. Dann ging er dicht hinter ihr her, während sie sich langsam vorwärtskämpfte. Auf diese Weise erreichten sie nach einer Weile, die Lucy wie eine Ewigkeit erschien, das Badezimmer.

„Die Dusche hat einen Sitz“, erklärte Hanif. „Ich werde Ihnen also das Wasser anstellen und Sie dann allein lassen. Wenn Sie Hilfe brauchen, rufen Sie mich. Einverstanden?“

„Einverstanden.“ Lucy sah ihn verlegen an. „Könnten Sie mir vielleicht einen Gefallen tun und dieses Ding hinten aufknoten?“

„Natürlich.“ Den Blick starr auf ihren Hinterkopf gerichtet, löste Hanif die Bänder an der Rückseite des Patientenkittels. „Sonst noch etwas?“

„Nein danke. Ich komme jetzt allein zurecht.“

Nachdem er Lucy wieder in ihr Bett geholfen, ihr etwas Tee und einen Happen zu essen serviert und sie dann allein gelassen hatte, unternahm Hanif einen Spaziergang durch den prächtigen Garten außerhalb der Gemächer, in denen Lucy untergebracht war.

Eine natürliche Quelle wässerte die zahlreichen Orchideen und anderen kostbaren Pflanzen. Von der ihn umgebenden Wüste und ihren wilden Tieren war der Garten durch eine hohe Steinmauer geschützt, die vor mehreren Jahrhunderten in der Hoffnung errichtet worden war, dahinter eine Oase des Friedens zu schaffen. Hierher hatte Hanif sich vor drei Jahren nach dem Tod seiner Frau zurückgezogen.

Kaum hatte er den Teich in der Mitte des Gartens erreicht, sah er, wie Zahir auf ihn zugelaufen kam. Hanif atmete tief durch. Er wusste jetzt schon, was sein Cousin ihm mitteilen würde.

„Hanif, ich habe eine Nachricht von deinem Vater.“

„Wir bekommen Besuch“, vermutete Hanif. „Wer ist es?“

„Ameerah.“

Also nicht der Mann, zu dem Lucy Forrester gewollt hatte, als sie allein durch die Wüste gefahren war. Sie hatte zwar nichts gesagt, aber Hanif war sich sicher, dass es sich um einen Mann handelte. „Ich bekomme also eine Anstandsdame“, bemerkte er trocken. Er verstand die Nachricht nur allzu gut: Wenn er eine junge Engländerin in seinem Haus aufnehmen konnte, konnte er auch seine eigene Tochter bei sich beherbergen.

„Dein Vater macht sich Sorgen um dich“, gab Zahir zu bedenken. „Er braucht dich.“

„Er hat noch zwei andere Söhne. Einen, der seine Nachfolge antreten wird, und einen, mit dem er auf die Jagd gehen kann.“

„Aber du, Han …“

„Auf mich kann er verzichten.“ Hanif wandte sich ab. „Bitte triff alle Vorbereitungen für Ameerahs Aufenthalt.“

„Schon geschehen.“ Zahir musste lauter sprechen, denn in diesem Augenblick erschien über ihren Köpfen ein Hubschrauber. „Wirst du die Prinzessin empfangen?“

„Nein, heute nicht. Sie wird müde sein und sich von der Reise erholen wollen. Vielleicht morgen.“

Drei Jahre lang hatte er immer alles auf morgen verschoben. Ein weiterer Tag machte da keinen Unterschied.

3. KAPITEL

Lucy hatte die Schmerztabletten abgelehnt, die Hanif ihr angeboten hatte, aber er hatte für den Fall, dass sie ihre Meinung änderte, zwei Kapseln und ein Glas Wasser auf ihrem Nachttisch hinterlassen. Außerdem hatte er ihr dort eine kleine Glocke hingestellt, mit der sie läuten sollte, wenn sie irgendetwas brauchte.

Lucy fühlte sich vollkommen erschöpft, aber das lag nicht nur an den Folgen des Unfalls. Sie hatte nicht mehr richtig geschlafen, seitdem die zweite Kreditkartenabrechnung bei ihr eingetroffen war. Die erste hatte sie für einen Irrtum gehalten, hatte Steve eine E-Mail geschrieben, der daraufhin erklärt hatte, er werde sich der Angelegenheit annehmen. Als dann ein paar Tage später der zweite Brief gekommen war, hatte sie erkannt, dass sie es war, der ein Irrtum unterlaufen war.

Jetzt spürte sie die Schmerzen, die seit dem Ausflug ins Badezimmer wieder stärker geworden waren, aber sie war dennoch fest entschlossen, keine Tablette zu schlucken. Es war wichtig, dass sie einen klaren Kopf behielt, um sich in Ruhe zu überlegen, was sie Hanif al-Khatib erzählen sollte. Und wie viel sie ihm sagen durfte. Sie wollte ihn nicht in Schwierigkeiten bringen, aber ebenso wenig wollte sie, dass er sie den Behörden auslieferte, und das war seine Pflicht, wenn er die Wahrheit erfuhr.

Vor der Reise hatte sie sich im Internet über Ramal Hamrah informiert. Es handelte sich um einen modernen Staat, in dem die Menschenrechte allgemein anerkannt wurden. Allerdings hatte Lucy keine Ahnung, was das in Bezug auf das Strafmaß für Autodiebstahl bedeutete.

Das Einzige, was sie wusste, war, dass sie sich idiotisch verhalten hatte. Wenn sie sich an die Polizei gewendet hätte, anstatt sich wie eine Furie an Steves Fersen zu heften, säße sie jetzt nicht in der Klemme.

Ein guter Anwalt könnte sie vielleicht mit der Begründung verteidigen, dass sie vorübergehend unzurechnungsfähig gewesen sei, nachdem sie von Steves Machenschaften erfahren hatte. Aber wozu sollte das gut sein? Selbst wenn sie in der Lage gewesen wäre, sich einen Anwalt zu leisten, wie sollte Steve ihr das Geld zurückzahlen, wenn er im Gefängnis saß?

Dabei ging es gar nicht nur um das Geld. Das war ja das Schlimme. Als sie sich in den Jeep gesetzt hatte und davongebraust war, hatte sie insgeheim immer noch gehofft, dass Steve ihr alles würde erklären können, dass alles wieder gut werden würde.

Von wegen.

Lucy beschloss, dass ein klarer Kopf in ihrer momentanen Verfassung doch nicht das Richtige war, und streckte die Hand nach den Schmerztabletten aus. In diesem Augenblick bemerkte sie, dass sie nicht allein war.

„Hallo.“ Lucy bemühte sich, mit ihrem geschwollenen Gesicht zu lächeln. Das kleine Mädchen, das in ein buntes Seidengewand gehüllt war und sich halb hinter der geöffneten Tür versteckt hielt, blieb stumm, rührte sich aber auch nicht von der Stelle. Lucy versuchte es erneut: „Ma ismika?“ Wie heißt du? Zumindest hoffte sie, dass es das bedeutete, denn das kleine Mädchen drehte sich auf dem Absatz um und lief davon.

Kurz darauf erschien an der Stelle, wo das Kind gestanden hatte, die Gestalt einer älteren Frau, die ein leichtes schwarzes Kopftuch trug und offensichtlich außer Atem war. Die Fremde starrte Lucy erschrocken an, murmelte „Entschuldigung“ und verschwand dann ebenso schnell wie das kleine Mädchen vor ihr.

Sah sie so furchterregend aus?

Lucy überlegte, dass es im Badezimmer einen Spiegel gegeben haben musste, obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte, einen gesehen zu haben. Aber in jedem Badezimmer gab es einen Spiegel über dem Waschbecken, sogar im Haus ihrer Großmutter, die Eitelkeit für eine schwere Sünde gehalten hatte.

Vielleicht hatte ein innerer Schutzmechanismus sie davon abgehalten, das Ausmaß ihrer Verletzungen genauer in Augenschein zu nehmen, doch mittlerweile fragte sie sich schon, wie abschreckend sie wohl aussah. Ob sie dauerhafte Narben zurückbehalten würde?

Sie befühlte vorsichtig die Oberfläche ihres Gesichts. Alles war geschwollen, nichts fühlte sich vertraut an.

Han hatte die Krücken und die Schiene an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers abgestellt. Doch Lucy beschloss, sich dadurch nicht entmutigen zu lassen. Sie musste einfach wissen, wie es um sie stand.

Sie rutschte an die Bettkante und ließ ihren gesunden Fuß auf den Boden gleiten. Dann stand sie langsam auf, wobei sie sich auf den Nachttisch stützte und hoffte, dass dieser nicht umfiel. Er fiel nicht um, aber schwankte so stark, dass nacheinander die Tabletten, das Glas Wasser, das Telefon und das Glöckchen auf dem Boden landeten.

Lucy hüpfte auf ihrem gesunden Fuß in Richtung Badezimmer, wobei sie sich an jede verfügbare Türklinke oder Tischkante klammerte, um einen Augenblick zu verschnaufen. Nachdem sie das Bad erreicht hatte, gab es jedoch keine Möglichkeit mehr, sich an irgendetwas festzuhalten. Mit letzter Kraft machte Lucy ein paar Sätze nach vorne und wappnete sich innerlich für den Anblick, der sich ihr nun bieten würde.

Schlagartig wurde ihr bewusst, dass ihre ganze Mühe vergeblich gewesen war. Es hatte einmal einen Spiegel über dem Waschbecken gegeben – die Halterung war noch zu sehen –, aber er war verschwunden.

Sah sie so schlimm aus?

Ohne Vorwarnung gaben ihre Beine nach, und sie sank auf dem Boden zusammen. Dort saß sie eine Weile und atmete tief durch. Als sie anschließend versuchte, sich am Waschbecken nach oben zu ziehen, musste sie erkennen, dass ihr die Kraft dazu fehlte. Es blieben ihr also nur zwei Möglichkeiten. Sie konnte um Hilfe rufen oder auf allen vieren kriechen.

Sie war immer noch damit beschäftigt, sich so umzudrehen, dass sie sich hinknien konnte, als Hanif hinter ihr erschien.

„Lucy Forrester, kann ich Sie nicht einmal für eine Minute allein lassen?“

Sie zuckte die Achseln und lächelte verlegen – wahrscheinlich sah es eher nach einer Grimasse aus.

„Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass Sie die Glocke benutzen, wenn Sie etwas brauchen.“

„Haben wir das?“ Jahrelang war Lucy von der Glocke ihrer Großmutter tyrannisiert worden und reagierte daher etwas allergisch auf das Geräusch. „Ich wollte mir mein Gesicht ansehen. Ich habe vorhin ein kleines Mädchen erschreckt. Sie lief davon, als ich sie angesprochen habe. Deshalb wollte ich wissen, wie furchterregend ich aussehe.“

„Ameerah? Sie war hier?“

„Heißt sie so? Das arme Kind. Die Kleine sah ganz verschreckt aus.“

Hanif schüttelte den Kopf. „Von wegen armes Kind. Sie ist weggelaufen, weil sie erwischt worden ist, wo sie nichts zu suchen hat.“ Er reichte ihr die Hand. „Kommen Sie, ich bringe Sie wieder zurück ins Bett.“

Lucy machte keine Anstalten, die ihr dargebotene Hand zu ergreifen. „Ich möchte immer noch wissen, wie ich aussehe. Wenn es so schlimm ist, dass Sie extra den Spiegel entfernt haben …“

„Nein.“ Er schien nicht zu wissen, wie er es ihr erklären sollte. „Das hat nichts mit Ihnen zu tun. Der Spiegel ist zerbrochen, vor langer Zeit schon, und ich habe ihn nie ersetzen lassen. Sie sehen …“ Er brach ab.

„So schlimm?“

Er schüttelte den Kopf. „Sie haben ein paar Schwellungen. Es sieht schlimmer aus, als es ist.“

„Habe ich ein blaues Auge?“

Er zögerte. „So ähnlich.“

„Was soll das heißen?“

„Genau genommen haben Sie zwei blaue Augen“, erklärte er mit einem leichten Grinsen. „Eigentlich sind sie auch gar nicht blau. Eher lila mit einigen Gelbschattierungen.“

„Wie apart“, gab sie trocken zurück. „Und sonst?“

„Ein paar kleine Schnittwunden, nichts, was eine Narbe hinterlassen würde. Außerdem ist Ihre Unterlippe geschwollen, und Sie haben einen Bluterguss auf der rechten Wange.“ Er lächelte aufmunternd. „Natürlich werde ich unverzüglich einen neuen Spiegel anbringen lassen.“

„Lassen Sie sich Zeit“, gab sie zurück und ergriff nun doch seine Hand. „Jetzt, wo ich weiß, wie ich aussehe, habe ich es nicht allzu eilig, mich selbst von der Wirklichkeit zu überzeugen.“

Während sie mit seiner Hilfe wieder ins Schlafzimmer humpelte, fiel ihr auf, dass jemand in ihrer Abwesenheit die Tabletten aufgehoben und das zerbrochene Glas weggeräumt hatte. Auch Telefon und Glocke befanden sich wieder an ihrem Platz.

„Han …“ Sie musste ihm von dem Jeep erzählen. Er sollte wissen, dass er eine Kriminelle unter seinem Dach beherbergte. „Es gibt da etwas, was ich Ihnen sagen muss.“

Doch er ließ sie nicht ausreden. „Nehmen Sie die Schmerztabletten, Lucy“, bat er, während er sie vorsichtig auf dem Bett absetzte. Einen Augenblick verharrte sie bewegungslos in ihrer Position, den Arm um seinen Hals gelegt. Seine Wange war so nah an ihrem Gesicht, dass sie die Wärme spüren konnte, die von seinem Körper ausging. Dann löste er sich abrupt von ihr und hob ihre Beine, sodass sie sich besser hinlegen konnte. Schließlich deckte er sie behutsam zu. „Sie müssen sich ausruhen, Lucy. Es gibt nichts, was Sie mir nicht auch morgen noch erzählen könnten.“

Vermutlich hatte er recht. Lucy nahm die Tabletten entgegen, die Hanif ihr reichte, und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter.

„Wenn Sie etwas brauchen, läuten Sie einfach. Es ist immer jemand in der Nähe.“

Das Medikament, das die Ärzte ihr verschrieben hatten, schien nicht nur ein Schmerz-, sondern auch ein Beruhigungsmittel zu sein, denn schon nach wenigen Minuten fielen Lucy die Augen zu.

Bevor sie jedoch in einen tiefen Schlaf versank, kehrten ihre Gedanken zu der einen Frage zurück, die sie vergessen hatte, Hanif zu stellen.

Wer war das kleine Mädchen?

Han beobachtete, wie Lucy einschlief. Dann verließ er leise den Raum, sagte dem Diener, der die ganze Zeit über im Nebenzimmer Posten bezogen hatte, er könne gehen, und trat nach draußen auf den Balkon. Die warme Abendluft war geschwängert von Jasminduft. Hanif setzte sich auf einen Sessel und beobachtete, wie der Himmel sich verdunkelte und die Sterne zum Vorschein kamen.

Ein schwach leuchtender Mond ging auf und verblasste dann wieder, während das Firmament sich zuerst grau, dann lila und schließlich rosa färbte.

Hanif wurde von Lucys Stimme geweckt, die aus dem angrenzenden Schlafzimmer rief.

„Hallo! Ist da jemand?“

Er stand auf und streckte sich. Seine Glieder waren trotz der milden Nacht kalt und steif. Dann öffnete er die Balkontür. „Was ist los? Funktioniert die Glocke nicht?“

Lucy warf einen missbilligenden Blick auf die Glocke. „Wenn ich damit läuten würde, käme ich mir wie eine Prinzessin vor.“

„Und wäre das so schlimm?“

Sie antwortete nicht.

„Wie fühlen Sie sich?“, fragte er.

„Besser, danke.“ Ihr Blick fiel auf die getönten Glasscheiben, durch die nur schwaches Licht ins Innere drang. „Ich dachte, ich hätte länger geschlafen.“

„Sie haben mehr als zwölf Stunden geschlafen“, informierte er sie. „Das ist nicht die Abend-, sondern die Morgendämmerung.“

Der Schlaf hatte ihr gutgetan. Obwohl es noch ein paar Tage dauern würde, bis die Schwellungen zurückgegangen und die Blutergüsse verblasst sein würden, sah Lucy doch deutlich besser aus, und auch das Bewegen schien ihr leichter zu fallen.

„Möchten Sie mir beim Frühstück auf dem Balkon Gesellschaft leisten?“ Die Frage war ihm herausgerutscht, ohne dass er zuvor darüber nachgedacht hätte. Die Mahlzeiten, die er mit Noor dort eingenommen hatte, als ihre gemeinsame Zeit allmählich ablief, stellten eine kostbare Erinnerung dar. Seitdem hatte Essen jeglichen Reiz für ihn verloren. Aber obwohl er seine Einladung sogleich wieder bereute, zurückziehen konnte er sie nun nicht mehr.

Außerdem würde die frische Luft Lucy guttun, und sie würde die Gelegenheit haben, ihm zu sagen, was sie gestern Abend so dringend hatte loswerden wollen.

„Ich bringe Ihnen die Krücken“, sagte er, ohne auf eine Antwort zu warten.

„In Ordnung.“ Das Lächeln schien ihr immer noch Schmerzen zu bereiten, aber sie gab sich große Mühe. „Ich nehme an, Sie erwarten unbedingten Gehorsam.“

Hanif hätte ihr Lächeln erwidern und damit dafür sorgen sollen, dass sie sich entspannte. Er hatte die Kunst des unverbindlichen Lächelns von seinem Vater gelernt, als er noch ein kleiner Junge gewesen war, und sie als Diplomat in den besten Kreisen angewendet. Aber wann hatte er das letzte Mal gelächelt und es auch wirklich gemeint? Wann war es keine einstudierte Bewegung seiner Gesichtsmuskeln gewesen, sondern ein Ausdruck aufrichtiger Freude?

Es fiel ihm nicht schwer, den genauen Zeitpunkt zu bestimmen.

Also versuchte er erst gar nicht, Lucy Forrester mit seinem Diplomatenlächeln abzuspeisen. Das hatte sie nicht verdient.

„Im Gegenteil“, versicherte er ihr mit unbewegter Miene. „Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.“

Er griff nach dem Telefon auf ihrem Nachttisch und drückte eine Taste. „Was möchten Sie essen?“ Als er sah, wie sie zögerte, bat er: „Sagen Sie einfach, wonach Ihnen der Sinn steht.“

„Orangensaft?“

„Orangensaft“, wiederholte er. „Und Tee? Oder Kaffee?“

„Tee, vielen Dank.“

„Und was möchten Sie essen?“

„Oh, das ist mir ganz gleich.“

Er gab es auf, sie weiter zu drängen, und bestellte einfach eine Auswahl.

„Es wird ein paar Minuten dauern“, sagte er, nachdem er aufgelegt hatte. Er hielt ihr den Morgenmantel hin, den er gestern für sie im Badezimmer hinterlegt hatte, und half ihr hinein. „Bis dahin können Sie unter Beweis stellen, wie gut Sie mittlerweile mit den Krücken laufen können.“

Nachdem Lucy geduscht hatte, hatte Hanif ihr ein langes cremefarbenes Nachthemd aus Seide gegeben und einen dazu passenden Morgenmantel. Beide Kleidungsstücke erinnerten sie an die glamouröse Garderobe weiblicher Filmstars. Hanif hatte sich dafür entschuldigt, dass die Sachen nicht neu waren. Offensichtlich hatten sie seiner Frau gehört.

Nun betrat Lucy in diesen Gewändern den Balkon, der sich über die gesamte Länge des Gebäudes zog. Darunter befand sich ein großer Garten, der von zahlreichen kleinen Bächen durchzogen war, die hier und da in einen mit Seerosen bedeckten Teich mündeten. Daneben standen blühende Mandelbäume und hohe Zypressen, so weit das Auge reichte. Als Lucy ihren Blick zum Horizont richtete, konnte sie hinter den Bäumen die Ausläufer eines Gebirges sehen, dessen Gipfel von der aufgehenden Sonne in ein goldenes Licht getaucht wurden.

„Wie schön!“, rief Lucy, während Hanif ihr beim Setzen behilflich war und ihr die Krücken abnahm. „Was ist das für ein Ort?“

„Früher nannten die Perser einen solchen Garten pairidaeza.“

„Das klingt wie Paradies“, sagte Lucy. „Und so sieht es tatsächlich aus.“

„Daher kommt das Wort Paradies auch“, erklärte Hanif. „Ursprünglich wurde damit jedoch ein Garten bezeichnet, der von Mauern umgeben ist. Dieser hier heißt Rawdah al-’Arusah. Der Garten der Braut.“ Er reichte ihr ein Glas mit Orangensaft. „Er wurde von einem meiner Vorfahren für seine persische Braut angelegt, die Heimweh nach ihrem Garten hatte.“

Lucy ließ ihren Blick erneut über die prachtvolle Anlage schweifen. „Er muss sie sehr geliebt haben.“ Nachdenklich nahm sie einen Schluck Orangensaft. Bis vor ein paar Wochen hatte die Liebe in Lucys Leben keinerlei Rolle gespielt. Dann hatte sich innerhalb kürzester Zeit alles geändert.

Sie stellte das Glas ab und bewegte die Finger ihrer linken Hand, an der sie bis vorgestern einen einfachen Goldring getragen hatte. Anfangs hatte es sich ungewohnt und störend angefühlt, doch nun, wo der Ring fort war, vermisste sie die Sicherheit, die er ihr gegeben hatte. Das Gefühl, das die ganze Welt sehen konnte: Hier ist eine Frau, die geliebt wird.

„Sind Sie einmal verheiratet gewesen?“, fragte Hanif. Lucy wunderte sich, warum er die Vergangenheit benutzte, doch dann fiel ihr wieder ein, wie sorgfältig er nach ihrem Unfall ihre Hände gewaschen hatte. Das Fehlen eines Eherings war ihm dabei mit Sicherheit aufgefallen.

„Ich bin verheiratet“, sagte sie zögernd. „Seit sechs Wochen.“

„Sechs Wochen?“, fragte er erstaunt. „Ihr Ehemann lässt sie nach sechs Wochen Ehe schon aus den Augen?“

Lucy erinnerte sich daran, wie sie ihren Ehering nach ihrer Ankunft in Ramal Hamrah in den Müll geworfen hatte. Sie nahm ihren ganzen Stolz zusammen und sagte: „Mein Mann muss sich um dringende Geschäfte kümmern.“ Das hatte Steve ihr vor seiner Abreise erklärt, es war vermutlich das einzige Mal, dass er die Wahrheit gesagt hatte.

„So dringend, dass Sie beschlossen haben, ihn nicht mit der Nachricht von Ihrem Unfall zu belästigen?“

Zu spät wurde Lucy bewusst, wie das Ganze auf Hanif wirken musste. Hatte sie ihn kompromittiert, indem sie sich als verheiratete Frau in seine Obhut begeben hatte?

„Es tut mir leid“, sagte sie, „ich hätte Ihnen das von Anfang an sagen müssen. Ich kann gut verstehen, wenn Sie möchten, dass ich jetzt gehe …“

Autor

Tessa Radley

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