Julia Ärzte zum Verlieben Band 107

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DER UNWIDERSTEHLICHE DR. NORTH von LOWE, FIONA
Eine Fortbildung in London: Für die junge Ärztin Claire geht ein Traum in Erfüllung! Aber ihr neuer Boss, der renommierte Neurochirurg Alistair North, ist eine echte Herausforderung. Statt ihr etwas beizubringen, wagt der umschwärmte Playboy-Doc, sie heiß zu küssen …

PERFEKTE BRAUT - VERZWEIFELT GESUCHT! von HEATON, LOUISA
Eigentlich ist Dr. Oliver James auf der Suche nach der perfekten Frau. Und die unkonventionelle Lula Chance, die sein Vater für die Familienpraxis einstellt, ist das bestimmt nicht! Aber die Verletzlichkeit in Lulas schönen Augen fasziniert ihn mehr als jede Perfektion …

ZU HAUSE IST, WO DIE LIEBE WOHNT von MACKAY, SUE
Der kleine Mickey ist die Hauptperson in Karinas Leben. Doch leider teilt sie sich das Sorgerecht mit dem attraktiven Dr. Pascale - der das Haus, in dem sie leben, verkaufen will! Kann sie ihn überzeugen, dass unter diesem Dach das große Glück zu dritt wohnen könnte?


  • Erscheinungstag 15.12.2017
  • Bandnummer 0107
  • ISBN / Artikelnummer 9783733711658
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Fiona Lowe, Louisa Heaton, Sue MacKay

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 107

FIONA LOWE

Der unwiderstehliche Dr. North

Sie ist eine begabte Ärztin, aber ansonsten ist Claire Mitchell entschieden zu ernsthaft, findet der bekannte Chirurg Alistair North. Alles setzt er daran, seine hübsche Kollegin zum Lachen zu bringen. Viel zu spät erkennt er seinen Fehler: Denn Claires Lachen bringt sein Herz in Gefahr, dabei geht er Beziehungen doch grundsätzlich aus dem Weg …

LOUISA HEATON

Perfekte Braut – verzweifelt gesucht!

Lebt hier die Frau, die mich einfach weggab? Dr. Lula Chance vermutet ihre leibliche Mutter in dem Dorf Atlee Wold. Lula möchte sie finden und zur Rede stellen; dann will sie wieder weg. Doch bis dahin arbeitet sie in der Familienpraxis der Familie James. Und der attraktive Dr. Oliver James ändert mit einem heißen Kuss alles – vielleicht sogar ihr Leben?

SUE MACKAY

Zu Hause ist, wo die Liebe wohnt

Auf alles ist Dr. Logan Pascale vorbereitet, als er von Afrika nach Australien fliegt. Aber nicht auf Liebe auf den ersten Blick mit Karina Brown, die seinen kleinen Neffen betreut! Eigentlich wollte er sein Haus verkaufen und schnellstmöglich nach Afrika zurückkehren. Doch plötzlich würde er viel lieber mit Karina und Mickey eine Familie werden …

1. KAPITEL

Claire Mitchell war zwar schon seit mehreren Wochen in London, aber noch immer musste sie sich kneifen, um es zu glauben, wenn sie auf die Straßen von Paddington hinausging. Ihr als Australierin kam das alles leicht unwirklich vor, als würde sie durch die Kulissen von Mary Poppins oder Das Haus am Eaton Place streifen: viktorianische Reihenhäuser mit Balkons und Säulen vor dem Eingang und in der Mitte winzige, säuberlich gepflegte Gärten.

Als sie durch den kleinen Park mit seinen zwei schmiedeeisernen Toren ging, fehlte zum Glück der typische Londoner Nieselregen. Morgenlicht drang durch das zarte, leuchtend grüne Frühjahrslaub der uralten Eichen und Ulmen. Der Park ihrer Kindheit war staubig und trocken gewesen, und nur die Menschen neben ihr hatten auf dem Spielplatz von Gundiwindi etwas Schatten geworfen.

Schnell ging sie an einer Straße vorbei, auf der in einer Stunde der Verkehr toben würde. Jetzt waren nur Straßenkehrer, Bäcker, Zeitschriftenhändler, Baristas und weitere Frühaufsteher aktiv. Durch das Verkaufsfenster ihrer italienischen Lieblingstrattoria begrüßte Tony sie mit einem fröhlichen „Buongiorno“ und überreichte ihr auf einem Papptablett sechs caffè latte. „Mit Sie geht die Sonne auf, bella.

Claire lächelte und verspürte eine unbändige Freude. Der redselige Barista flirtete zwar mit sämtlichen weiblichen Wesen zwischen zwei und zweiundneunzig, aber da nur wenige Männer sie überhaupt wahrnahmen, war sein Kompliment für sie ein wunderschöner Start in den Tag.

Sie kaufte sich ein Schokocroissant, balancierte die Tüte auf dem Kaffee und ging zum Paddington Children’s Hospital. Als ein leuchtend roter Doppeldeckerbus an ihr vorbeifuhr, machte sie ein Foto mit ihrem Handy und schickte es ihrem Bruder. Er war stolzer Besitzer der Autowerkstatt von Gundiwindi und liebte einfach alles, was einen Motor hatte. Claire fotografierte oft etwas für ihn und bekam dafür von ihm Bilder von ihren Nichten und Neffen oder von ihren Eltern.

Im Gegensatz zu ihr lebte David gern in der kleinen Stadt im Outback, in der sie aufgewachsen waren. Weil er gut Fußball und Cricket spielte, hatte er sich immer zugehörig gefühlt und konnte sich nicht vorstellen, irgendwo anders zu wohnen. Claire dagegen wollte weg, seit sie zehn gewesen war – weg aus der engstirnigen Kleinstadt am Rande der Wüste, in der sie so oft schikaniert worden war.

Sie näherte sich den verzierten Toren des Kinderkrankenhauses, eines roten Backsteinbaus, dessen Türme in den Himmel ragten. Davor trotzten wie jeden Morgen einige Demonstranten mit Handschuhen der Kälte und hielten Schilder mit der Aufschrift „Rettet unser Kinderkrankenhaus“ hoch. Viele davon waren Eltern gegenwärtiger Patienten, aber es kamen auch Teilnehmer, die vor Jahren selbst im Krankenhaus behandelt worden waren. Gemeinsam hielten sie die Hoffnung am Leben, dass das Krankenhaus doch noch vor der Schließung bewahrt werden konnte.

„Hier kommt heißer Kaffee!“, rief Claire wie fast jeden Morgen. Sie arbeitete zwar erst seit ein paar Wochen im castle, wie das Krankenhaus bei den Einheimischen hieß. Aber die Vorstellung, dass London eine so wichtige Einrichtung verlieren könnte, war beängstigend. Ohne das Krankenhaus hätte es beim Brand in der Grundschule Westbourne mehrere Tote gegeben. Einige davon waren noch nicht über den Berg, zum Beispiel der kleine Ryan Walker.

Die tapferen Demonstranten jubelten über den Kaffee. „Guten Morgen, Liebes“, sagte einer. „So früh schon hier? Sind Sie noch in einer australischen Zeitzone?“, fragte ein anderer.

Claire lachte. „Nein. Dann wäre mein Arbeitstag nämlich zu Ende, und ich würde nach Hause gehen.“

Sie überreichte den Kaffee, ging durchs Tor und dann durch den Torbogen. Hinter der malerischen viktorianischen Fassade verbarg sich ein Krankenhaus mit hochmoderner Ausstattung sowie erfahrenen, engagierten Mitarbeitern. Es hatte eine hundertfünfzig Jahre alte Geschichte, und Claire war stolz, Teil davon zu sein. Als man ihr angeboten hatte, unter Anleitung des weltberühmten Neurochirurgen Alistair North zu arbeiten und sich von ihm ausbilden zu lassen, hatte sie vor Freude laut gequietscht.

„Aber, aber, Miss Mitchell“, hatte am anderen Ende der Leitung die Sekretärin des Vorsitzenden vom Royal College of Surgeons etwas missbilligend gesagt. Dann hatte sie ihr die Bedingungen der Facharztausbildung erläutert. Claire war überglücklich gewesen, denn ihre Arbeit war ihr Leben, die Weiterbildung in London eine einmalige Chance. Vor lauter Freude war sie durch die Flure des Flinders Medical Centre getanzt und hatte jedem erzählt, dass sie nach London ziehen würde.

Als sie nun die fünf Treppen hinaufeilte, dachte sie: Hätte ich damals gewusst, was mich hier erwartet, wäre ich nicht ganz so begeistert gewesen. Beim Anblick des großen Koalas musste sie wie immer lächeln. Alle anderen Stationen waren nach Vögeln und anderen Tieren der nördlichen Halbkugel benannt. Dass die Tür zur neurologischen Abteilung ausgerechnet ein australisches Beuteltier zierte, war mysteriös, aber es gefiel Claire. So fühlte sie sich in diesem Land, das sich als unerwartet fremd entpuppte, etwas weniger als Außenseiterin.

Claires Muttersprache war Englisch, und sie war in einem Land aufgewachsen, dessen Flagge noch immer den Union Jack zeigte. Aber die Menschen in London waren einfach anders. Auch der großartige Alistair North, wenn auch nicht auf die typische zurückhaltend-höfliche Art der Briten. Claire hatte in Australien schon mit mehreren begabten Neurochirurgen zusammengearbeitet und wusste, dass großes Talent oft mit merkwürdigen Eigenarten einherging. Diese waren bei Mr. North allerdings besonders ausgeprägt, und manchmal war sie nicht sicher, ob ihre Entscheidung richtig gewesen war, ihre fachärztliche Weiterbildung hier zu absolvieren.

Sie betrat die helle Abteilung und stellte erstaunt fest, dass niemand auf der Schwesternstation war. Erschrocken blickte Claire zu der rot-gelben Uhr mit den blauen Zahlen. Zu ihrer Erleichterung hatte sie sich nicht verspätet. Natürlich nicht, das passierte ihr doch nie. Im Gegenteil: Heute war Claire noch früher dran als sonst. Aufmerksamkeit und sorgfältige Vorbereitung waren ihr zur zweiten Natur geworden – seit jenem schicksalhaften Tag in der fünften Klasse, der die ganze kleine Welt ihrer Kindheit verändert hatte.

Claire setzte sich an einen Computer und loggte sich ein, denn sie las sich vor der Visite immer die nächtlichen Berichte über ihre Patienten durch. Dafür nahm sie sich zusätzlich Zeit, um genau Bescheid zu wissen. Allein die Vorstellung, vor den kritischen Blicken der Medizinstudenten in Verlegenheit zu geraten, machte sie nervös.

Auf dieser Station wurden Kinder mit unterschiedlichsten neurologischen und kraniofazialen Erkrankungen sowie Störungen des zentralen Nervensystems behandelt, auch solchen, bei denen eine Operation nötig war. Genau aus diesem Grund hatte Claire unbedingt herkommen wollen. Und wie ihr Bruder immer lakonisch zu sagen pflegte, nachdem alles schiefgegangen war: „Damals schien das eine gute Idee zu sein.“ Und jetzt bezweifelte Claire, dass ihre Entscheidung tatsächlich so gut gewesen war.

Langsam trudelten die Tagesschwestern ein, kurz darauf die Medizinstudenten. Schließlich hastete der notorische Zuspätkommer Andrew Bailey herein, der ihr unterstellte Assistenzarzt. Verblüfft blickte er sich um. „Ist er noch später dran als ich?“

Claire, die gerade den Bericht über den kleinen Ryan Walker gelesen hatte – „keine Veränderung“ – stand seufzend auf. „Ja, ist er.“

Andrew lächelte jungenhaft. „Ich muss meinem Vater unbedingt sagen, dass ich zum Neurochirurgen prädestiniert bin – wegen meiner Unpünktlichkeit!“

„Vielleicht liegt da mein Problem …“ Claire sah nach, ob der hochbegabte Chirurg und Oberarzt, dem der Zeitbegriff ebenso fehlte wie ein Gespür für rücksichtsvolles Verhalten bei der Arbeit, ihr eine Nachricht geschickt hatte, aber das war nicht der Fall.

„Ich habe gehört, dass er drüben im Frog and Peach Hof gehalten hat, während wir hier geschuftet haben“, sagte Andrew in verschwörerischem Ton.

„Das muss ja noch nicht heißen, dass er lange gefeiert hat.“

Andrew zog die dunklen Augenbrauen hoch. „Ich bin gerade der entzückenden Islay Kennedy begegnet, die noch das Outfit von gestern anhatte. Sie erzählte etwas von auf den Tischen tanzen, gefolgt von einer illegalen Bootsfahrt und dann Eiern und Speck im Worker’s Café, um von dort aus den Sonnenaufgang über der Themse zu bewundern. Wenn er auftaucht, werde ich mich vor ihm verneigen.“

Heiße Wut erfasste Claire. Am liebsten hätte sie Alistair North erwürgt! Die Chirurgie war wirklich ein Männerverein, und in der Neurochirurgie war es noch schlimmer. Seit Jahren kämpfte sie gegen den herrschenden Sexismus, denn Talent allein genügte nicht. Und jetzt nun musste sie sich auch noch mit Männern auseinandersetzen, die sich aufführten wie kleine Jungen.

Claire war so aufgebracht, dass sie etwas ganz Untypisches tat: Sie ließ ihren Ärger am Überbringer der Nachricht aus.

„So ein Verhalten ist nichts Verdienstvolles, sondern pubertär und verantwortungslos. Sollten Sie jemals so etwas bringen, dann glauben Sie ja nicht, dass ich bei einer OP mit Ihnen zusammenarbeiten werde.“

Bevor der verblüffte junge Arzt antworten konnte, ertönte das ohrenbetäubende Geräusch von Luftrüsseltröten. Ein großer Mann mit dichtem, verwuscheltem dunkelblondem Haar und einer Faschings-Hornbrille – mit unechter Knollennase und Schnurrbart – marschierte den Flur entlang. Ein kleines Mädchen klammerte sich wie ein Affe an seinem Rücken fest. Ihnen folgten Kinder im Alter von zwei bis zwölf Jahren. Einige gingen, andere wurden von Krankenschwestern im Rollstuhl geschoben, und viele hatten einen Verband um den Kopf. Aber alle pusteten begeistert in ihre Tröten.

„Wink Dr. Mitchell zu“, sagte der Mann zu dem kleinen Mädchen. „Wusstest du, dass sie in Wirklichkeit ein Känguru ist?“

Er sprach eindeutig mit der tiefen, klangvollen Stimme von Alistair North.

Claires Körper spannte sich an, wie immer, wenn er mit ihr sprach – oder wenn sie an ihn dachte. Es war eine fast ungezügelte Abneigung, doch in ihrem Innern vibrierte noch etwas anderes. Ganz sicher fühlte sie sich nicht zu ihm hingezogen. Der gesamte weibliche Teil der Belegschaft hielt Alistair North für unwiderstehlich, aber sie gehörte nicht dazu!

Doch als der einen Meter achtzig große Mann mit den breiten Schultern das erste Mal auf sie zugekommen war, hatte seine selbstbewusste Ausstrahlung auch sie beeindruckt. Im Gegensatz zu ihr schien Alistair North keinerlei Selbstzweifel zu kennen. Seine perfekt geschnittenen Outfits trug er mit lässiger Eleganz. Und trotz seines vornehmen Akzents hatte er ein sehr ansprechendes, äußerst unbritisches freches Lächeln, das so gar nicht zu einem Oberarzt zu passen schien.

Wenn es sich auf seinen markanten Zügen ausbreitete, schien der renommierte Chirurg sich in einen kleinen Jungen zu verwandeln. Aber nicht sein Lächeln ging ihr so unter die Haut, sondern das Funkeln seiner schiefergrauen Augen. Wenn er seine Aufmerksamkeit auf jemanden richtete, kam der sich vor, als wäre er der einzige Mensch auf der Welt.

„Herzlich willkommen im Paddington“, hatte er am ersten Tag zu ihr gesagt.

Sie hatte ihm die Hand gegeben, den festen Druck seiner Finger um ihre gespürt – und entsetzt festgestellt, dass ihr der Atem stockte. Plötzlich hatte sie ihre sorgsam vorbereiteten Worte vergessen und erwiderte mit breitem australischem Akzent: „Danke. Ich freue mich, hier zu sein.“

Schon nach einer knappen Woche wusste Claire: Alistair Norths freches Lächeln bedeutete fast immer, dass er drauf und dran war, gegen die Vorschriften zu verstoßen. Und mit dem eindringlichen Blick seiner faszinierenden Augen, der einem das Gefühl gab, unsagbar wichtig zu sein, lockte er oft und gerne Frauen zu sich ins Bett.

Zum Glück war Claire jetzt, nachdem sie ein paar Wochen mit ihm zusammenarbeitete, immun dagegen. Zehn Jahre lang schuftete sie schon, um in ihrer Karriere vorwärtszukommen, und das würde sie nicht aufs Spiel setzen, indem sie mit ihrem Chef im Bett landete. Außerdem mochte sie Alistair North gar nicht und würde sich nicht einmal dann mit ihm abgeben, wenn er der einzige Mann auf der Welt wäre.

Doch offenbar stand sie mit dieser Meinung ziemlich alleine. In den letzten Wochen hatten unzählige Kolleginnen versucht, von ihr Informationen über Alistair North und seine Vorlieben zu bekommen. Oder sie hatte als Vermittlerin für aufgebrachte Frauen fungieren sollen, mit denen er ausgegangen war und die er dann nicht einmal angerufen hatte. Dieses rücksichtslose Verhalten in Kombination mit seinem lässigen Umgang mit den Vorschriften machte Claire klar, dass jede persönliche Beziehung zwischen ihnen beiden ausgeschlossen war.

Die Geschichten über Alistair North, die im Krankenhaus kursierten, waren schier unglaublich. Doch weil Claire mit ihm zusammenarbeitete, wusste sie, dass sie stimmen mussten. Ständig hörte sie von seinen Heldentaten, ob nun im OP oder anderswo, und Gerüchte, mit welcher Frau er zuletzt gesehen worden war und welche er gerade fallen gelassen hatte. Am meisten regte sie auf, wie beeindruckt die jungen Assistenzärzte von ihm waren, während sie immer wieder den Schaden begrenzen musste, den er anrichtete.

Das, was sie in seiner Gegenwart empfand, war also reine Feindseligkeit. Alistair North war zwar ein brillanter Chirurg, aber außerhalb des OPs verhielt er sich absolut unprofessionell. Mit seinen neununddreißig Jahren benahm er sich, als wäre er in der Pubertät. Die meisten waren in seinem Alter verheiratet, aber die Frau, die ihn heiratete, musste schon sehr mutig sein. Doch trotz allem musste Claire zugeben, dass er der beste Neurochirurg im Land war.

Das kleine Mädchen, das er auf dem Rücken trug, winkte ihr nun eifrig zu. Claire blinzelte hinter ihrer Brille. Es war Lacey, die in einer Stunde operiert werden sollte. Warum lag sie nicht im Bett?

„Winken Sie schon zurück, Känga.“ Sein glasklares Oxford-Englisch schien sie zu necken. „Davon bricht man sich nicht den Arm.“

Wieder wurde Claire wütend. Ob er wusste, dass Kängurus boxten? Am liebsten hätte sie ihm auf die unechte Nase geschlagen. Als sie den erwartungsvollen Blick der anderen Mitarbeiter spürte, fühlte sie sich wieder wie in Gundiwindi, als sie vor der versammelten Klasse stand. Sie sah den roten Staub im unbarmherzigen Licht der Sonne und ihren Lehrer, dessen angespanntes Lächeln verschwand, als er den Mund missmutig zu einem schmalen Strich zusammenpresste. Sie hörte das Husten ihrer Mitschüler, die den bösartigen Bemerkungen immer vorangingen, bevor Mr. Phillips die Klasse wieder in den Griff bekam.

Die ist so blöde. So was von dämlich.

Hör auf, verdrängte Claire diese Erinnerungen. Schließlich bewies sie seit zwei Jahrzehnten, dass sie alles andere als blöd war. Sie war eine Frau, die auf einem schwierigen, von Männern dominierten Gebiet arbeitete und in elf Monaten ihre Abschlussprüfung in Neurochirurgie ablegen würde. Um so weit zu kommen, hatte sie sich gegen eine Menge Sexismus durchsetzen müssen. Auf keinen Fall würde sie jemandem erlauben, ihr Minderwertigkeitsgefühle einzureden. Und erst recht würde sie sich nicht von einem Mann zum Winken auffordern lassen, der endlich erwachsen werden sollte. Stattdessen würde sie wie immer die Ordnung wiederherstellen.

Mit ihren hohen Absätzen war Claire fast so groß wie Alistair North. Obwohl sie am liebsten flache Ballerinas trug, hatte sie sich Ende der ersten gemeinsamen Woche High Heels zugelegt. Die zusätzlichen Zentimeter warnten ihn davor, sich mit ihr anzulegen.

Claire stellte sich neben ihn, sodass sie Lacey zugewandt war. Sie ignorierte Alistair North, einschließlich seines Duftes nach frisch gewaschener Baumwolle und einem Hauch von Sonnenschein, bei dem sie plötzlich Heimweh bekam.

Mit ausgebreiteten Armen fragte sie das Mädchen: „Möchtest du mal mit Känga hüpfen?“

„Oh ja!“ Lacey schmiegte sich an sie und rief: „Boing, boing, boing!“

Claire stülpte ihren weißen Kittel über das Mädchen, um den Beutel eines Kängurus anzudeuten. Sie eilte durch die Station und brachte die aufgekratzte Lacey wieder ins Bett. Als sie das Mädchen ablegte und zuzudecken versuchte, hüpfte es auf und ab.

Na, vielen Dank, Alistair, dachte Claire. Nun würden die Routineuntersuchungen, die vor der OP anstanden, doppelt so lange dauern. Ein weiterer Tag fing wegen des Chefchirurgen mit Verspätung an.

2. KAPITEL

Hinter seinem Mundschutz bewegte Alistair North den Kiefer hin und her und dachte über die unfassbar perfektionistische, nervige Assistenzärztin nach, die er ausbildete. Sie hatte äußerst sachkundig eine Hauttasche für den Vagusnerv-Stimulator geformt, den sie Lacey Clarke einsetzte. Nun wickelte sie vorsichtig den Draht um den linken Vagusnerv, der hoffentlich Laceys Anfälle vermindern würde. Das war mit Medikamenten bislang leider nicht gelungen.

Ein bisschen Strom konnte tödlich sein, aber auch Leben retten. Das wusste Alistair nur zu gut. Was er nicht wusste: Warum war Claire Mitchell ständig so angespannt, dass man durch Zupfen ihrer Sehnen eine Melodie hätte spielen können?

Aufgrund ihrer Fähigkeiten und der ausgezeichneten Referenzen vom Royal Prince Alfred Hospital in Sydney und vom Flinders Medical Centre in Adelaide hatte sie sich gegen fünfundzwanzig andere Bewerber aus dem Commonwealth durchgesetzt. Mit ihren geschickten kleinen Händen und ihren sicheren Bewegungen war sie die Begabteste von allen. Das musste ihr doch klar sein, oder?

In seinem Fachgebiet traf Alistair ständig auf Menschen mit überdimensioniertem Ego. Und auch Claire wusste, was sie konnte. Er hatte selbst miterlebt, wie absolut mitleidslos sie gegenüber den Medizinstudenten und dem ihr unterstellten Assistenzarzt gewesen war, als diese sich nicht gut genug vorbereitet hatten, um ihre Fragen zu beantworten. Aber die meisten seiner Ärzte in der Facharztausbildung hielten sich für die Größten und stolzierten selbstverliebt umher.

Claire Mitchell stolzierte nicht, dabei hatte sie die tollsten Beine, die er seit Langem gesehen hatte. Und ihre Schuhe … Du meine Güte! Der absolute Kontrast zu ihrer unterkühlten, strengen Art. Durch die Schuhe hielt sie sich sehr aufrecht, ihre Brüste richteten sich auf, und ihre Hüften schwangen, als wollten sie liebkost werden …

Spiegelten Claires Schuhe und ihre Beine ein Verlangen tief in ihrem Innern wider? Wollte sie sich amüsieren, wie er es gerne tat? Würde er sich gerne mit ihr amüsieren? Nein. Mit schönen Beinen konnte man keinen charakterlichen Mangel ausgleichen.

Claire hatte schon so viel erreicht und würde mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit ihre Prüfungen im ersten Anlauf bestehen, was sehr ungewöhnlich war. Eigentlich sollte sie viel mehr Spaß an ihrer hart erarbeiteten Position haben. Aber hatte sie überhaupt an irgendetwas Spaß? Eigentlich wirkte sie nie glücklich.

Als ihr Chef hatte Alistair dafür zu sorgen, dass sie ihr Arbeitspensum bewältigen konnte und ausreichend Zeit für die Vorbereitung auf die Prüfung hatte. Und er hatte zwei Jahre in Australien gelebt, das abgesehen von der Sprache wenig mit England gemeinsam hatte. Es hatte Monate gedauert, bis er im Kinderkrankenhaus Fuß gefasst hatte und sozial eingebunden war. Deshalb hatte er damit gerechnet, dass Claire Mitchell anfangs Schwierigkeiten haben würde. Zehn Tage, nachdem sie bei ihm angefangen hatte, war sie sehr niedergeschlagen gewesen, als hätte sie Heimweh.

„Wie wär’s mit einem Bier im Frog and Peach?“, hatte er spontan vorgeschlagen.

Claire hatte die faszinierenden Augen – Wirbel aus Hell- und Dunkelbraun, die ihn an seinen Lieblings-Schokoriegel erinnerten – zusammengekniffen und in ihrem unverkennbaren Akzent knapp erwidert: „Ich habe Berichte zu schreiben.“

„Es gibt immer Berichte zu schreiben.“ Er schenkte ihr das Lächeln, das auch die Widerspenstigsten erweichte.

„Vor allem, weil Sie das ja kaum jemals tun.“

Alistair wusste nicht, wer verblüffter war: er selbst, denn so sprachen Assistenzärzte eigentlich nicht mit ihrem Chef – oder Claire, weil sie ihre Gedanken laut ausgesprochen hatte.

„Verzeihung, das war unangebracht“, sagte sie schnell, allerdings nicht sehr reumütig.

„Quält der Jetlag Sie noch?“, fragte er versöhnlich, denn immerhin mussten sie ja zusammenarbeiten.

Einen Moment lang wirkte sie verwirrt. „Jetlag ist furchtbar“, erwiderte sie dann.

Allerdings wussten sie beide, dass Claire nicht mehr darunter litt. Sie hatte den Freitagabend mit Berichteschreiben verbracht, während Alistair in den Pub gegangen war, um ihre langen, verführerischen Beine zu vergessen. Zum Glück war er einer hübschen Hebamme mit irischem Tonfall begegnet. Bei Frauen, die mit Akzent sprachen, wurde er einfach schwach.

Nun beendete Claire Mitchell gerade den letzten Stich und bedankte sich bei allen, die an der OP beteiligt gewesen waren.

Nachdem sie nun schon mehrere Wochen zusammenarbeiteten, fiel es Alistair nicht mehr schwer, ihrem Outback-Akzent zu widerstehen. Seit seiner abgelehnten Pub-Einladung hatte er sie nie mehr privat angesprochen. Solange sie ihre Arbeit erledigte, machte er sich keine Gedanken darüber, ob sie vielleicht einsam war. Eher beunruhigte ihn, warum er sich so bemühte, sie aufzumuntern. Es hätte ihn irgendwie erleichtert, wenn sie ausnahmsweise einmal nicht so unglücklich wirken würde, als wäre gerade ihr Hund gestorben.

Nach einem kurzen Plausch mit der OP-Schwester über den Leichtathletikerfolg ihres Sohnes überließ er Lacey der Fürsorge des erfahrenen Kinderanästhesisten Rupert Emmerson und suchte Claire, die im Personalraum am Computer saß.

„Das lief doch gut.“ Er legte einen Pad in die Kaffeemaschine.

Claire schob sich die Schildpattbrille auf der Nase nach oben. „Ja.“

„Sie klingen überrascht.“

Als sie die Lippen aufeinanderpresste, stand die untere leicht vor – weich, prall und verlockend. Warum war ihm noch nie aufgefallen, dass ihr Mund einfach zum Küssen war?

„Ich bin es nicht gewohnt, dass Kinder vor einer OP so aufgekratzt sind“, sagte sie kühl.

Natürlich. Deshalb war ihm ihr Mund nie aufgefallen: weil sie meistens spitze, kritische Bemerkungen von sich gab, die nicht zu den sinnlichen rosa Lippen passten.

Alistair war es nicht gewohnt, von Mitarbeitern infrage gestellt zu werden, schon gar nicht von jemandem, der von ihm lernen sollte. Er hätte Claire problemlos sehr viele Steine in den Weg legen können, aber er hatte gelernt, dass das Leben zu kurz war, um jemandem zu grollen. Außerdem: Was waren schon sechs Monate?

Komisch allerdings, dass Claire nicht schon mit einem anderen Chirurgen aneinandergeraten war. Der wortkarge David Wu hatte richtiggehend von ihr geschwärmt: Sie habe Intuition, Talent und Mut. Aufgrund seiner Empfehlung war die Wahl auf Claire gefallen.

An ihren Fähigkeiten als Chirurgin hatte Alistair absolut nichts auszusetzen, nur an ihrer Persönlichkeit. Heute Morgen zum Beispiel hatten alle Spaß gehabt – außer Claire Mitchell, die mit ihrem zu einem akkuraten Knoten zusammengefassten blonden Haar gewirkt hatte wie eine strenge Lehrerin. Er hatte sie aufgefordert zu winken – und sofort gewusst, dass das ein Fehler war. Claire stand einfach nicht gerne im Mittelpunkt.

Dabei hatte er die kleine Patientin doch nur ein bisschen ablenken wollen, die vor der OP geradezu in Panik gewesen war. Also hatte er sie auf dem Rücken herumgetragen, und die anderen Kinder waren ihnen in einer spontanen Parade gefolgt. Und nun besaß Claire Mitchell die Unverfrorenheit, ihn zu verurteilen?

„‚Aufgekratzt‘?“, wiederholte er. „Ich war froh, dass sie keine Angst mehr hatte. Lacey musste eine Woche lang unzählige Untersuchungen über sich ergehen lassen, eine MRT und eine CT, sie war zwei Tage lang ans EEG angeschlossen, damit epileptische Anfälle aufgezeichnet wurden und wir herausfinden, welche OP angezeigt ist.“

Alistair war für seine stets entspannte Laune bekannt, aber jetzt klang er belehrend. „Finden Sie nicht, dass Lacey da etwas Spaß verdient hatte?“

Claires goldbraune Augen funkelten. „Doch, natürlich. Aber vielleicht zu einem etwas günstigeren Zeitpunkt.“ Sie schien absolut sicher zu sein, dass ihre Sichtweise die einzig richtige war. Auch Alistair hatte früher solche absoluten Sicherheiten gekannt. Und dann hatte das Schicksal ihm gezeigt, wie naiv das war.

Mit mehr Kraft als nötig zog er seinen vollen Becher aus der Maschine, sodass der Kaffee überschwappte. „Etwas Spontaneität kann nicht schaden, Claire.“

Sie machte große Augen, als wäre sie erschüttert darüber, dass er sie mit Vornamen angesprochen hatte. „In dieser Hinsicht sind wir offenbar verschiedener Meinung, Mr. … Alistair.“

Du meine Güte. Schon am ersten Tag hatte er sie gebeten, ihn mit „Alistair“ anzureden, doch sie war stur bei „Mr. North“ geblieben. Alle anderen Australier, mit denen er bisher zu tun gehabt hatte, waren absolut entspannt und umgänglich gewesen. Claire dagegen …

„Möchten Sie den ventrikulo-peritonealen Shunt bei Bodhi Singh legen?“, fragte er, weil er lieber wieder an die Arbeit denken wollte. Die war so viel unkomplizierter als die rätselhafte Claire Mitchell!

„Meinen Sie das ernst?“ Sie schien es nicht ganz zu glauben.

„Natürlich.“

Plötzlich breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, und auf ihrer linken Wange erschien ein Grübchen.

So brachte man sie also zum Lächeln!

„Danke“, sagte Claire begeistert. „Das wäre eine tolle Gelegenheit für mich.“

Sie lächelte so strahlend, dass von der gewohnten Anspannung nichts mehr zu sehen war. Plötzlich wirkte ihr Gesicht sanft, und ihre Augen funkelten. Alistair hatte das Gefühl, plötzlich einen ganz anderen Menschen vor sich zu haben – jemanden, dessen Begeisterung alle ansteckte, sodass sie sich förmlich darum rissen, im selben Team zu sein wie sie.

Hier, nimm mich!

Wie bitte? Das war ja noch schlimmer als seine Gedanken über ihre wunderschönen Beine. Verwirrt wandte Alistair den Blick von ihren rosa angehauchten Wangen und dem Grübchen ab, das sein Herz schneller schlagen ließ. Wochenlang hatte er versucht, sie zum Lächeln zu bringen. Nachdem es ihm endlich gelungen war, musste er der Sache schnell ein Ende setzen. Natürlich wollte er seinen Patienten zuliebe, dass seine Assistenzärztin sich ein wenig entspannte. Aber sich zu ihr hingezogen fühlen? Er mochte sie doch nicht mal!

Nie zuvor hatte er eine Frau attraktiv gefunden, die ihm gar nicht sympathisch war. Und davon abgesehen gab es jede Menge Gründe, warum das nicht infrage kam. Er war ihr Chef, und sie wurde von ihm ausgebildet. Zum Glück wusste Alistair, wie man unliebsame Sehnsüchte und jegliche Versuchung im Keim erstickte.

„Gut.“ Er kippte den Bodensatz seines Kaffees in die Spüle. „Dann kann ich ja mit der neuen, äußerst attraktiven Assistenzärztin für Verbrennungschirurgie mittagessen. Wenn ich den Shunt selbst lege, komme ich nämlich zu spät.“

Sofort war Claire wieder angespannt. „Sie gehen mittagessen, statt zu operieren?“

Alistair zuckte die Schultern. Na und? „Ich habe absolutes Vertrauen in Ihre Fähigkeiten. Aber wenn Sie mich brauchen, können Sie mich jederzeit anpiepsen.“

„Ich würde Sie natürlich um keinen Preis stören“, erwiderte sie kühl und presste die eben noch sinnlichen, vollen Lippen zu einer schmalen Linie zusammen.

Alistair war zutiefst erleichtert. An Claire Mitchell war schließlich rein gar nichts Attraktives, und nun reagierte sein Körper auch wieder angemessen: nämlich überhaupt nicht. „Umso besser“, sagte er. „Das wäre also geklärt.“

Ohne ein weiteres Wort ging er hinaus und zu den Aufzügen. Die Zeit, die er nun unerwartet zur Verfügung hatte, würde er mit den Eltern von Ryan Walker verbringen.

Ein paar Tage später brachte Claire morgens den tapferen Demonstranten Kaffee und kam dabei mit einem netten Mann in den Siebzigern ins Gespräch, der ihr erzählte, er sei ein sogenanntes „Blue Baby“ gewesen, also mit einem angeborenen Herzfehler auf die Welt gekommen.

„Zum Glück gab es damals hier im castle einen Pionier in Herzchirurgie, sonst wäre ich schon ziemlich lange tot.“ Reg wies auf einen älteren Gebäudeteil, das ursprüngliche Krankenhaus. „Der alte Kasten liegt mir also sehr am Herzen. Eins meiner Kinder, das zur früh zur Welt kam, wurde hier geboren. Und bei den anderen haben die Ärzte Knochenbrüche behandelt. Auch alle meine Enkelkinder wurden hier geboren, und zu Guy Fawkes kommt mein erster Urenkel zur Welt.“

„Das castle scheint ja Ihr Familienkrankenhaus zu sein.“

Der Mann nickte. „Allerdings! Deswegen komme ich ja jeden Morgen her – und der Rest der Familie auch. Es wäre eine echte Schande, wenn das Krankenhaus wirklich geschlossen wird!“

Claire wollte gerade zustimmen, als jemand nach ihr rief. Es war Victoria Christie, die zierliche, dunkelhaarige Sanitäterin, die die Rettungskampagne Save Paddington leitete.

Claire verabschiedete sich von Reg, ging vorsichtig über das Kopfsteinpflaster und verfluchte dabei insgeheim ihre hohen Absätze.

„Morgen, Vicki.“

„Hallo Claire, wie läuft’s?“

Eine so allgemeine Frage erforderte keine ehrliche Antwort, aber Claire verspürte den unerwarteten Impuls, Vicki anzuvertrauen, wie schwer ihr das Zusammenarbeiten mit Alistair North fiel. Das beunruhigte sie etwas, denn meist kam sie mit Männern besser zurecht, was natürlich in einem männerdominierten Bereich vorteilhaft war. Leider war der Wettbewerb auch sehr stark.

Claire hatte versucht, außerhalb der Arbeit Freundschaften zu schließen, aber die meisten Leute hatten kein Verständnis für ihre irrwitzigen Arbeitszeiten. Wenn sie ein paar Mal abgesagt hatte, kamen irgendwann keine Einladungen mehr. Auch in Bezug auf eine Partnerschaft war ihr Beruf Gift, zumindest hatte er bei der gescheiterten Beziehung mit Michael eine große Rolle gespielt.

Das hatte aber nicht nur mit deiner Arbeit zu tun!

Schnell verdrängte Claire diese schmerzlichen Gedanken und überlegte stattdessen, warum Frauen immer im Rudel auftreten und Einzelheiten über ihr Privatleben austauschen mussten. Sie hatte zwei enge Freundinnen, und das hatte ihr auch immer gereicht. Aber Emma und Jessica lebten in Australien und waren mit Kleinkindern, Babys, Partnern und einem florierenden Gesundheitszentrum mehr als ausgelastet.

Die beiden fehlten ihr, und die vergangenen Wochen hatten Claire etwas aus der Bahn geworfen. Noch nie hatte sie sich bei der Arbeit so ratlos gefühlt, und sie hatte niemanden, mit dem sie über ihren Chef hätte sprechen können.

Wie konnte ein Mann nur so gegensätzliche Gefühle in ihr hervorrufen? Sie war hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Abneigung. In Australien hatte sie mit verknöcherten alten Neurochirurgen zusammengearbeitet, die sich kaum Claires Namen gemerkt oder dazu herabgelassen hatten, ein Wort mit ihr zu wechseln – außer, um Anweisungen zu blaffen. Angenehm war das nicht immer gewesen, aber zumindest berechenbar. Claire hatte sich einfach den veralteten Gepflogenheiten und Regeln gefügt. Warum fiel ihr das mit Alistair nur so schwer?

Weil er sich eben nicht an die Regeln hält.

Mit seiner lässigen Einstellung außerhalb des OPs brachte er sie an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Sie war nicht nur für ihren eigenen Papierkram zuständig, sondern auch für seinen. Um das alles zu bewältigen, arbeitete sie irrsinnig viel und befürchtete, bald aus Schlafmangel zusammenzubrechen.

Letzte Woche hatte sie mit schweren Schuldgefühlen einen Teil der Arbeit dem ihr unterstellten Assistenzarzt aufgehalst. Andrew hatte sich klaglos gefügt, weil es so nun einmal lief. Claire hätte ihm die Sache gerne erklärt, aber seit ihrer Abreise aus Gundiwindi hütete sie ihr Geheimnis sorgsam, damit niemand es gegen sie verwenden konnte. Sie war schon so weit gekommen, und sobald sie ihre Ausbildung abgeschlossen hätte, würde sie frei sein und konnte nach Hause zurückkehren.

Derzeit kam sie wegen der vielen zusätzlichen Berichte kaum von der Stelle. Dazu noch ihre Erschöpfung und der Vorfall mit den aufgedrehten Kindern auf der Station vor zwei Tagen, bei dem sie die Geduld verloren hatte. Das bereute Claire nun sehr, doch noch mehr beunruhigte sie ihr eigenes merkwürdiges Verhalten. Aus irgendeinem Grund verlor sie in Alistair Norths Gegenwart ihre übliche Zurückhaltung, mit der sie sich sonst schützte.

Nie zuvor hatte sie sich mit ihrem Vorgesetzten angelegt, und jetzt, kurz vor Abschluss ihrer fachärztlichen Ausbildung, war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um damit anzufangen. Doch Claire kam sich jeden Tag ein bisschen mehr vor wie ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch war. Um sich selbst im Zaum zu halten, ballte sie die Hände zu Fäusten, wann immer die Frustration zu stark wurde. Es hatten sich schon kleine Dellen von ihren Fingernägeln gebildet, aber zumindest hielt der Schmerz sie davon ab, etwas zu sagen, das sie bereuen würde. Leider funktionierte das nicht immer: Sie hatte Alistairs Verhalten in Bezug auf Lacey kritisiert. Doch statt Claire zu maßregeln, hatte er sie belohnt, indem er sie operieren ließ.

Dieses völlig unerwartete Angebot hatte sie erfreut und verwirrt. Zuerst hatte Claire gehofft, es würde bedeuten, dass er sie nun nicht mehr mit Papierkram überhäufte – und dass er ihre Fähigkeiten als Chirurgin anerkannte. Doch Alistair hatte ihr das Angebot aus reinem Eigennutz gemacht: Der ewige Casanova wollte sein mittägliches Date nicht ausfallen lassen. Da hatte Claire zum ersten Mal an seiner Professionalität gezweifelt. Andererseits wusste Alistair sicher, dass sie in Australien bereits mehrfach Shunts gelegt hatte. Indem er sie mit der OP beauftragte, ließ er also nicht seinen Patienten im Stich. Und dennoch: wegen einer Verabredung zum Mittagessen …!

Wirfst du ihm vor, dass er ehrlich war?

Claire verdrängte ihre widersprüchlichen Gedanken. „Heute ist ein neuer Tag“, sagte sie zu Vicki, „an dem ich wieder Neues lernen kann.“

„Alistair ist ein freigiebiger Lehrer.“

„Freigiebig ist er auf jeden Fall“, sagte sie missbilligend.

Als Vicki lachte, glitt ihr der kastanienbraune Pferdeschwanz über die Schulter. „Ja, unser Alistair liebt die Frauen. Und genau darüber möchte ich mit dir reden.“

Claire blinzelte. Was, du auch? Laut Krankenhaustratsch waren doch Vicki und Dominic MacBride ein Paar!

Die Sanitäterin strahlte vor Begeisterung. „Hast du vom Krankenhaus-Ball gehört?“

Natürlich. Schließlich hingen überall Plakate, die The Spring Fling ankündigten, und es waren Einladungen an frühere und aktuelle Mitarbeiter versandt worden. Über den Ball wurde sogar noch mehr geredet als darüber, welche Fußballmannschaften ins Finale des FA Cup kommen würden.

„Ja, ich habe gehört, dass jemand ihn erwähnt hat“, erwiderte Claire. Vicki, die ihre Ironie nicht bemerkte, fuhr fort: „Der Ball ist unsere bisher größte Veranstaltung, und wir hoffen, dass wir damit 50.000 Pfund einnehmen. Voraussetzung ist aber, dass Alistair auch kommt – sonst werden wir wesentlich weniger Eintrittskarten verkaufen.“

Claire lachte – und verstummte abrupt, als sie den Gesichtsausdruck der anderen Frau bemerkte. „Meinst du das ernst?“

„Absolut. Wie er Dominic erzählt hat, ist es gerade ‚kompliziert‘. Mit anderen Worten, er hat mal wieder einer armen jungen Frau das Herz gebrochen.“ Vicki seufzte. „Glauben die wirklich, er würde sich fest binden? Alistair ist schlimmer als Peter Pan! Wie dem auch sei: Wir brauchen ihn beim Ball, denn wir wollen seine Tanzkarte und den Sitzplatz neben ihm versteigern. Deshalb musst du dafür sorgen, dass er auch wirklich kommt.“

„Ich bezweifle, dass ich Alistair North zu etwas bewegen kann, das er nicht tun will.“

Vicki lächelte verständnisvoll. „Alistair hat eine gute Erziehung genossen und war auf den richtigen Schulen. Deshalb hält er sich an einen bestimmten Verhaltenskodex. Und er wird zu dem Ball gehen, wenn er dein Begleiter ist.“

Claire musste heftig husten. „Ich kann doch nicht meinen Chef um ein Date bitten!“, sagte sie entgeistert.

Doch Vicki zuckte nur die Schultern. „Warum denn nicht? Wir hier im castle müssen alle einen gewissen Beitrag leisten. Wichtig ist doch nur, wie du es ausdrückst. Am besten machst du ihm Schuldgefühle. Zum Beispiel könntest du sagen, dass unbedingt jemand von der Koala-Station zum Ball gehen muss. Er ist schließlich der Leiter der Abteilung.“

Allein bei der Vorstellung fing Claire fast an zu hyperventilieren. „Ich glaube wirklich nicht …“

„Für die Menschen hier wäre es ein unfassbarer Verlust, wenn das Krankenhaus verkauft wird.“ Vicki stützte die Hände in die Taille. „Dir, den Mitarbeitern und den Patienten zuliebe müssen wir dafür sorgen, dass es nicht geschlossen wird. Wir glauben, dass wir mit der Versteigerung seiner Tanzkarte mindestens tausend Pfund einnehmen – und für den Sitzplatz neben ihm noch mehr!“

Am liebsten wäre Claire sofort zum Geldautomaten gerannt und hätte das Geld abgehoben, aber dann hätte sie sich im nächsten Monat nichts zu essen kaufen können. „Ich kann nicht versprechen …“

„Oh doch“, unterbrach Vicki sie in dem Ton, den sie sonst gegenüber widerspenstigen Patienten anwandte. Sanft drückte sie Claires Arm. „Die Kinder und Familien des ganzen Stadtteils werden dir dankbar sein!“

„Das ist Erpressung“, protestierte Claire schwach.

Die zierliche Brünette lächelte. „Nein, es ist nur ein Weg, etwas Schlimmes zu verhindern. Wir packen alle mit an, um dieses großartige Krankenhaus für kommende Generationen zu bewahren, und das ist dein kleiner Beitrag.“

Klein? Claire wollte lieber nicht wissen, was dann ein großer Beitrag gewesen wäre. Natürlich wollte sie sich beteiligen, aber was ihr Vicki da gerade aufgehalst hatte, war einfach eine Katastrophe.

3. KAPITEL

Claire stand am Fußende von Ryan Walkers Bett und biss sich auf die Lippen. Sie hatte eigentlich erwartet, dass der Kleine sich viel schneller erholen würde. Er war kaum bei Bewusstsein gewesen, als man ihn in die Notaufnahme gebracht hatte. Beim Brand der Grundschule in Westbourne hatte ihn ein herabfallender Balken am Kopf getroffen. Dominic MacBride, der Unfallchirurg des castle, hatte sie und Alistair sofort hinzugerufen. Die CT hatte gezeigt, dass Ryan einen Schädelbruch hatte. Zum Glück hatten sich keine Knochen verschoben, aber er hatte ein kleines subdurales Hämatom.

Claire war mit Alistairs Therapieplan sehr einverstanden gewesen. Der Anästhesist Rupert Emmerson hatte Ryan sediert und beatmet, Alistair hatte einen Hirndruckmonitor eingesetzt und sie einen Zentralvenenkatheter, über den eine Mannitol-Infusion zur Minderung von Hirnschwellungen verabreicht wurde. Das Hämatom war nicht kleiner geworden, aber auch nicht größer. Also wurde Ryan weiter beatmet. Sein Zustand war noch immer nicht stabil.

Gestern Morgen hatte Claire Alistair bei der Visite mit Medizinstudenten frustriert gefragt, ob sie etwas übersehen hatte. Als er sie mit seinen zinngrauen Augen ansah, war es, als wären sie beide allein im Zimmer.

„Wenn Sie etwas übersehen haben, Mitchell, dann habe ich das auch.“

„Sollen wir noch ein Kernspintomogramm machen?“

„Das haben wir vor zwei Tagen doch schon gemacht. Man muss sich immer fragen, warum man eine bestimmte Untersuchung durchführt.“

Weil ich einfach etwas tun muss.

„Was tun wir stattdessen?“, fragte sie.

Einen Moment lang schien sein Gesicht Mitgefühl auszudrücken. „Wir warten ab.“

Claire war entgeistert. „Und wenn sich sein Zustand nicht verbessert?“

Alistair hob die Schultern. „Dieser Fall könnte durchaus eintreten.“

„Das gefällt mir aber nicht!“

Er hatte nur traurig gelächelt und sich dann den Studenten zugewandt.

„Ich bin absolut sicher, dass er vorhin meine Hand gedrückt hat“, riss Ryans Mutter Louise sie aus ihren Gedanken. Die zwei sorgenvollen Wochen seit dem Brand hatten Spuren auf ihrem Gesicht hinterlassen. „Das ist doch ein gutes Zeichen?“

Es war nicht als Frage gemeint – Louise musste sich selbst versichern, dass es bei ihrem kleinen Sohn Anzeichen einer Besserung gab. Dabei war das nicht der Fall, aber die Unsicherheit war kaum zu ertragen.

Claire wollte die Frau nicht noch mehr beunruhigen, wusste jedoch, dass es vermutlich nur ein Muskelkrampf gewesen war. „Er ist stark sediert, Louise.“

Wie jeden Tag überprüfte sie die Vitalparameter: keine Veränderung. Dann sah sie Louise an. Diese hatte tiefe Schatten unter den Augen, und Claire hatte einen Blick dafür, wenn Angehörige am Ende ihrer Kräfte waren.

„Wie gut können Sie schlafen?“

Louise wies müde mit dem Kopf auf das Beistellbett. „Na ja, man spürt die Sprungfedern an unerwarteten Stellen.“

„Vielleicht können wir Ihnen ein anderes besorgen.“ Doch da der Verkauf des Grundstücks drohte, auf dem das Krankenhaus stand, war es unwahrscheinlich, dass man Geld dafür ausgeben würde. Im Notfall kaufe ich das Bett selbst, dachte Claire kämpferisch. Das war immer noch besser als dieses ewige Abwarten!

Louise seufzte. „Ehrlich gesagt, ich werde sowieso ständig wach, wenn die Schwestern stündlich nach ihm sehen.“

„Möchten Sie vielleicht mal eine Nacht zu Hause schlafen?“, fragte Claire behutsam. „Sie können sich auch ein Schlafmittel verschreiben lassen. Acht Stunden Schlaf im eigenen Bett wirken manchmal Wunder.“

Doch Louise schüttelte den Kopf. „Ich will hier sein, wenn er aufwacht.“

„Das kann ich gut verstehen.“ Claire setzte sich neben sie. „Aber vielleicht könnte einer Ihrer Angehörigen bei Ryan bleiben, damit Sie und Colin mal eine Nacht durchschlafen.“

Louise blickte zwischen Claire und ihrem kleinen rothaarigen Sohn hin und her, dessen Sommersprossen sich stark von seinem blassen Gesicht abhoben. Eine Träne lief ihr über die Wange. „Ich war noch nie in meinem Leben so erschöpft. Am liebsten würde ich mich im Bett verkriechen und eine Woche durchschlafen – den Brand vergessen, der mein ganzes Leben so durcheinandergeworfen hat. Aber Ryan kann das auch nicht einfach. Lasse ich ihn denn nicht im Stich, wenn ich nach Hause gehe?“

Claire kannte diese Gedanken von anderen leidenden Eltern. „Sie müssen für sich sorgen, Louise. Sonst werden Sie krank, und dann müssen Sie ihn noch viel länger allein lassen.“

Louise sackte förmlich in sich zusammen. Dann sah sie Claire mit ihren moosgrünen Augen eindringlich an. „Wenn er aufwacht, während ich nicht da bin, müssen Sie mich anrufen!“

„Natürlich“, versprach Claire.

„Danke.“ Die andere Frau war sichtlich erleichtert.

„Ich könnte bei Ihrem Arzt wegen der Schlaftabletten nachfragen“, schlug Claire vor. „Und dann lasse ich Ihnen ein Taxi rufen.“

„Vielen Dank, das wäre toll.“ Louise strich Ryan das Haar aus der Stirn und gab ihm einen Kuss. „Bis bald, mein Kleiner.“

Alistair und Tristan Lewis-Smith klatschten sich ab. „Super, Tris!“

Der Junge hatte ihn gerade beim Computer-Tennisspiel besiegt, aber das war Alistair egal: Er freute sich darüber, dass der Zehnjährige schon seit einer Woche keinen Anfall mehr gehabt hatte, denn das war seit zwei Jahren nicht mehr vorgekommen. In solchen Momenten wurde Alistair wieder bewusst, wie wichtig seine Arbeit war – und dass man das Leben jeden Tag in vollen Zügen genießen sollte.

Um ein Haar hätte er für immer die Gelegenheit dazu verpasst. Und als er dann auf der herzchirurgischen Station aufgewacht war, hatte er sich geschworen, nie wieder zu vergessen, dass das Leben sich von einem Moment auf den nächsten ändern konnte. Alistair war dem Tod sehr nahe gekommen und wollte sein Leben nie wieder als selbstverständlich betrachten. Umso mehr freute es ihn, Tristan eine zweite Chance auf ein normales Leben schenken zu können.

Er schlug die Decke zurück und klopfte auf das Bett. „Und jetzt leg dich hin und tu so, als würdest du lesen – sonst macht mir die Nachtschwester die Hölle heiß!“

Übermütig ließ der Junge sich aufs Bett plumpsen. „Sie haben ja bloß Angst, dass ich noch mal gewinne!“

„Kann schon sein.“ Alistair lächelte. „Aber jetzt schnell, ich muss los.“

Tristan kroch unter die Decke. „Die Schwester sagt, Sie hätten ein heißes Date!“

„Ach ja?“ Lindsay schien ja mehr darüber zu wissen als er. Alistair deckte den Jungen zu und wurde von einer merkwürdigen Leere erfüllt.

Energisch verdrängte er das Gefühl. Warum sollte er sich leer oder einsam fühlen? Sein Leben war doch toll! Er hatte einen Beruf, den er liebte, und ein helles, großes Apartment nahe der Portobello Road, voller Souvenirs von seinen Reisen. Vor drei Jahren hatte er sich eine weitere Immobilie gekauft: ein hübsches kleines Cottage in der Provence, inmitten von Lavendelfeldern. Dort genoss er die Sonne, die mediterrane Küche und den tollen Wein. Mindestens einmal im Monat war er dort, entweder alleine oder in Begleitung – je nachdem, ob die Frau, mit der er gerade zusammen war, noch zufrieden damit war, einfach Spaß zu haben. Sobald eine Frau „die Beziehung vertiefen“ wollte, war sie dort nicht mehr willkommen – und auch nicht in Notting Hill.

Alistair liebte Frauen, aber das Vertiefen von Beziehungen kam für ihn nicht infrage. Es war besser, Herzen im frühen Stadium zu brechen, bevor es ernster wurde und man ein oder mehrere Leben zerstörte. Seine Kindheit war das beste Beispiel dafür. Und man wusste nie, wie lange die zweite Chance dauerte.

Alistair war überrascht von seinen dunklen Gedanken. Als er aus Tristans Zimmer ging, war es noch vor acht. Es war Donnerstag, also würden sicher zahlreiche Krankenhausmitarbeiter im Frog and Peach sein, wo er mit offenen Armen empfangen werden würde. Doch aus irgendeinem Grund lockte ihn das nicht. Er hatte den starken Drang, etwas ganz anderes zu machen: etwas Waghalsiges, bei dem er sich lebendig fühlen würde.

Vielleicht Parkour am Wochenende? Bei diesem Trendsport, bei dem man mit der eigenen Körperkraft Hindernisse überwand, könnte er das. Er zog sein Handy heraus und wollte gerade recherchieren, als er jemanden sagen hörte: „Hallo, Alistair.“

Erstaunt drehte er sich um. Claire Mitchell hatte ihn noch nie so informell begrüßt. Sie wollte höflich sein, auch wenn ihr das bei ihm schwerfiel. Und insgeheim hatte Alistair Spaß daran zu beobachten, wie sie sich zu beherrschen versuchte.

Nun stand sie vor ihm, die Hände tief in die Taschen ihres gestärkten Arztkittels geschoben, der nach dem langen Tag nun nicht mehr ganz taufrisch war. Das Haar hatte sie sich zu einem praktischen Pferdeschwanz gebunden, und um den Hals trug sie ein knallrosa Stethoskop. Ihre zweckmäßige weiße Bluse und der mittellange schwarze Rock waren unscheinbar, doch darunter waren ihre wohlgeformten langen Beine zu sehen.

Claire trug leuchtend rote Schuhe mit einem breiten Riemen. Alistair betrachtete sie und verstand plötzlich, warum viktorianische Gentlemen so geschwärmt hatten, wann immer sie einen Blick auf einen hübschen Knöchel erhaschten.

„Ebenfalls hallo“, imitierte er recht gekonnt ihren australischen Akzent.

Er sah, wie sich in ihren Augen hinter der sexy Bibliothekarinnenbrille wieder dieser Wirbel aus Milch- und Zartbitterschokoladenbraun bildete. Gleichzeitig errötete sie.

„Haben Sie kurz Zeit?“ Sie schob sich die Brille auf der Nase nach oben, während sie weiter zu den Aufzügen gingen.

„Aber immer. Gibt es Probleme?“

„Also, ähm …“ Verstohlen blickte sie den Gang entlang zur Schwesternstation, wo zahlreiche Mitarbeiter waren. Dann bog sie plötzlich nach links in den Behandlungsraum ab.

Alistair fand ihr ungewöhnliches Verhalten faszinierend. „Soll ich die Tür zumachen?“

Claire zerrte an ein paar losen Haarsträhnen und schob sie sich hinters Ohr. „Ja, bitte.“

Er tat es und schloss die Jalousien an der Tür. Claire, deren sinnliche Lippen verführerisch rot waren, stand einen guten Meter von ihm entfernt. Alistairs Blick glitt zu einer Stelle an ihrer Kehle, wo das Pochen ihres Pulses zu sehen war. Verdammt. Sie hatte wirklich einen wunderschönen, zarten, schlanken Hals, der geradezu darum zu betteln schien, liebkost zu werden.

Das mag ja sein, aber vergiss nicht, wie nervig sie ist. Außerdem ist sie bei dir in der Ausbildung!

„Alistair“, begann sie in entschlossenem Tonfall und verstummte dann wieder.

„Claire.“ Er konnte nicht anders, als sie zu necken. Es war einfach zu unterhaltsam, sie so verwirrt zu erleben.

Als sie tief einatmete, hoben sich ihre Brüste. Ob sie wohl einen schlichten BH trug oder einen aus Spitze? Dann ließ sie die Zungenspitze nervös über den Mund gleiten, und ihm wurde heiß.

Claire räusperte sich. „Ich hoffe, Sie verstehen das jetzt nicht falsch, aber …“

Alistair gab sich ungerührt und zog eine Augenbraue hoch. „Sie haben sich doch nie aus Rücksicht auf mein Zartgefühl davon abhalten lassen, Ihre Meinung zu äußern.“

Sie errötete noch heftiger, doch es gelang ihr, ihre Verlegenheit würdevoll unter Kontrolle zu bringen. „Stimmt, aber da ging es um die Arbeit. Hierbei nicht. Obwohl man streng genommen …“

„Kommen Sie doch einfach zur Sache“, versuchte Alistair ihr zu helfen.

Abrupt hob sie den Kopf und sah ihn dabei so scharf an, dass er sich sofort unwohl zu fühlen begann. Konnte sie etwa durch die Fassade blicken, die er der Welt präsentierte, und das Chaos in seinem Innern sehen?

„Ich halte es für äußerst wichtig, dass Sie als Leiter der Abteilung für Neurochirurgie mit gutem Beispiel vorangehen und am Spring Fling teilnehmen.“

Er musste sich verhört haben. „Sie laden mich zum Ball ein?“

„Nein!“ Ihre Augen funkelten empört. Dann zuckte sie seufzend die Schultern. „Na ja, vielleicht doch. Also, ja, man könnte es wohl so sagen.“

„Schön, dass Sie so fest entschlossen sind.“

Sie hob das Kinn. „Sie können sich ruhig über mich lustig machen, Mr. … Alistair. Aber Sie wissen so gut wie ich, dass beim Ball ein Tisch mit Mitarbeitern der Neurochirurgie besetzt sein sollte.“

Verdammt. Damit hatte sie natürlich vollkommen recht, aber woher wusste sie, dass er entschlossen war, nicht hinzugehen? Das hatte er schließlich niemandem erzählt. Vor einigen Monaten war er, kurz bevor Claire im Krankenhaus angefangen hatte, nach einem besonders schweren Tag am Ende seiner Kräfte gewesen: Er hatte einen Patienten verloren – einen erst zwei Jahre alten Jungen mit Hirnstammgliom – und die mitfühlenden Blicke seiner Mitarbeiter im Frog und Peach eine Weile gemieden. Stattdessen war er in eine schicke Bar in Soho gegangen und hatte zu viel Whisky getrunken.

Der Alkohol hatte seinen Detektor für verrückte Frauen außer Kraft gesetzt: Alistair hatte sich von der amazonenhaften Lela verführen lassen, einer dreißigjährigen Fitnesstrainerin, die auch als Bodyguard arbeitete. Sie hatten viel Spaß zusammen gehabt – doch dann hatte er feststellen müssen, dass sich ihr besitzergreifendes Wesen nicht auf Sex beschränkte.

Wie Alistair wusste, wollte der Planungsausschuss des Balls die Sitzplätze neben begehrten Junggesellen versteigern. Das war an sich ja eine gute Idee, nur befürchtete er, dass Lela auftauchen und eine unangenehme Szene machen oder den Platz ersteigern könnte. Um sich und dem Krankenhaus das zu ersparen, wollte er eigentlich dem Ball fernbleiben und stattdessen eine stattliche Summe spenden. Das hatte er nur Dominic anvertraut, doch der hatte es offenbar nicht für sich behalten.

Und jetzt stellte ihn Claire Mitchell wegen eines vermeintlichen Mangels an Engagement zur Rede.

Frustriert strich Alistair sich durchs Haar. Ihm waren von klein auf Etikette, Höflichkeit und gute Manieren eingebläut worden. Dass ihn ausgerechnet eine Australierin an seine gesellschaftlichen Pflichten erinnerte, war schon absurd. Aber vielleicht konnte er dieses ganze Chaos mit Lela und dem Ball zu seinem Vorteil nutzen …

Lächelnd sagte er: „Verstehe ich das richtig? Sie erklären sich bereit, einen Abend mit mir zu verbringen, nur damit ich meine Pflicht tue?“

Diesmal zog Claire eine Augenbraue hoch. „Als Ihre Stellvertreterin kann ich wohl kaum erwarten, dass Sie zum Ball gehen, wenn ich dazu nicht auch bereit bin.“

„Ach ja, immer dieses verdammte Pflichtgefühl!“

Sie scheinen dagegen ja ziemlich immun zu sein.“

Autsch. Ihre Worte trafen ihn, aber Alistair brauchte sich ihr gegenüber nicht zu rechtfertigen. Seine Pflichten waren ihm durchaus bewusst – vor allem seit jenem Moment, als er beschlossen hatte, jeden neuen Tag nach Kräften auszukosten. Dieser Gegensatz machte sein Leben aus.

„Dagegen ist niemand immun, Claire. Ich versuche nur, zusätzlich ein bisschen Spaß zu haben.“

Sie kniff die Augen zusammen. „Soll das heißen, ich habe keinen Spaß?“

Genau. „Hatten Sie denn Spaß, seit Sie nach London gezogen sind?“

Einen Moment lang wirkte sie überrumpelt. „Ich … ja, natürlich!“, behauptete sie dann.

Du lügst doch. Alistair beschloss, Spaß mit Claire zu haben und zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. „Sehr schön. Beim Ball werden Sie auch Spaß haben, versprochen. Vor allem, da Sie sich so ins Zeug gelegt und sich den Platz neben mir gesichert haben.“

„Was?“ Sie wurde blass. „Dafür verdiene ich gar nicht genug!“

„Also, das ist wirklich brutal.“ Mit übertriebener Geste schlug Alistair sich auf die Brust, wobei seine langen Finger auf der Höhe seines Herzschrittmachers lagen. „Ich dachte, Sie möchten, dass ich Sie begleite! Wissen Sie was? Ich werde die Eintrittskarten für uns beide bezahlen.“

„Das ist wirklich nicht nö…“, wollte Claire protestieren, doch er unterbrach sie.

„Aber bitte, das ist doch das Mindeste. Habe ich recht mit meiner Vermutung, dass Victoria Sie auf mich angesetzt hat?“

Sie schnitt ein Gesicht. „Ja.“

Er machte ein missbilligendes Geräusch, das mehr dem abwesenden Dominic galt. „Na ja, immerhin werden Sie mich davor bewahren, den ganzen Abend nett sein zu müssen.“

„Wirklich treffend ausgedrückt. Ich kann es kaum erwarten.“

Ihr trockener Sarkasmus war so unerwartet und erfrischend, dass Alistair lachen musste. Er war es nicht gewohnt, dass Frauen einen gemeinsamen Abend mit ihm als Zumutung empfanden. Normalerweise legten sie sich sehr ins Zeug, um ihm zu gefallen. Nicht so Claire Mitchell.

Plötzlich verspürte Alistair so etwas wie Vorfreude auf diese Herausforderung. Er war nicht überzeugt, dass Claire überhaupt in der Lage war, Spaß zu haben, und nun wollte er unbedingt herausfinden, wie sie so war, wenn sie sich amüsierte.

Als du sie allein hast operieren lassen, hat sie gelächelt. Weißt du noch, wie sich das angefühlt hat?

Alistair ignorierte die innere Stimme, die ihn davor warnte, sich allzu sehr auf den Ball zu freuen.

„Also, holen Sie mich dann …“ In diesem Moment ertönte der Klingelton der Intensivstation, und Claires Pager piepste.

„Intensivstation?“, fragte sie lautlos.

Alistair nahm den Anruf entgegen, lauschte der Schwester am anderen Ende, nickte Claire zu und öffnete die Tür des Behandlungszimmers. Als sie an ihm vorbeieilte, atmete er ihren Meeresduft ein und war plötzlich in Gedanken wieder am Bondi Beach, wo sein Leben so viel unkomplizierter gewesen war.

„Wir sind unterwegs“, berichtete er der besorgten Schwester, trat auf den Flur und folgte Claire auf schnellstem Wege.

4. KAPITEL

Auf dem Weg aus dem OP zog Claire sich den Mundschutz vom Gesicht. Ihre Hand zitterte so sehr, dass sie mehrere Versuche benötigte, um ihn in den Mülleimer zu werfen.

Reiß dich zusammen!

„Alles in Ordnung, Dr. Mitchell?“, fragte Cyril. Er arbeitete schon seit vierzig Jahren im castle und hielt nicht nur die OP-Räume sauber, sondern kümmerte sich auch väterlich um die jüngeren Mitarbeiter.

„Ja, ich brauche nur einen Tee, dann geht es mir wieder gut“, schwindelte Claire. Sie konnte es sich nicht leisten zusammenzubrechen, bevor ihre Arbeit erledigt war.

Der Aufenthaltsraum der Ärzte war um zehn Uhr abends leer – zum Glück, denn sie brauchte etwas Privatsphäre für ihren geplanten Anruf. Erst beim zweiten Versuch wählte sie die Nummer korrekt, denn immer wieder dachte sie darüber nach, was sie sagen sollte. Ihr Herz schlug wie wild, und sie versuchte, ihren Atem zu beruhigen.

„Hallo?“, meldete sich eine schlaftrunkene Stimme.

„Hallo, Louise“, begann Claire nervös. Dann gab sie sich einen Ruck und versuchte, sicherer zu klingen. „Hier ist Claire Mitchell aus dem Krankenhaus.“

Sofort war Ryans Mutter hellwach. „Claire! Ryan ist wieder bei Bewusstsein, stimmt’s? Colin, wach auf!“

Claire spürte, wie sich ihr der Magen zusammenzog. „Nein, Louise“, sagte sie eindringlich. „Ryan ist nicht bei Bewusstsein.“

„Was?“, fragte die andere Frau verwirrt und fügte gereizt hinzu: „Warum rufen Sie mich dann an?“

„Weil sein Zustand sich verschlechtert hat.“

„Nein!“

Das kurze Wort drückte so viel Schmerz aus, dass Claire zusammenzuckte.

„Es tut mir leid, aber bei Ryan ist eine neue Blutung aufgetreten. Wir haben ihn sofort in den OP gebracht und gerade operiert.“

„Das ist sicher nur ein kleiner Rückschritt, oder? Er wird trotzdem wieder gesund?“

Claire biss sich so fest auf die Lippen, dass sie Blut schmecken konnte. „Leider handelt es sich um eine starke Blutung. Dadurch ist sein Gehirn angeschwollen, sodass wir eine Kraniotomie vornehmen mussten: Wir haben einen kleinen Teil des Schädeldachs entfernt, um den Druck zu mindern.“

„Heißt das, er hat ein Loch im Kopf?“ Louise klang fassungslos.

„Der entnommene Knochendeckel wird tiefgefroren aufbewahrt, bis die Schwellung zurückgegangen ist, und dann wieder eingesetzt. Vorerst trägt er einen speziellen Schutzhelm.“

Louise schwieg eine Weile, dann atmete sie hörbar ein. „Er wird doch keinen Hirnschaden haben?“

Claire hatte schon befürchtet, dass sie diese Frage stellen würde. „Genaueres über seinen Zustand werden wir erst wissen, wenn die Schwellung abgeklungen ist. Leider kann man nicht sagen, wie lange das dauern wird.“

„Warum haben Sie das nicht kommen sehen? Warum haben Sie es nicht verhindert?“

Die Worte der verzweifelten Mutter trafen Claire sehr. Schließlich hatte sie sich ja immer wieder gefragt, ob sie vielleicht etwas übersehen hatte. „Ich weiß, dass das alles sehr schwer für Sie ist …“

„Schwer?“, fuhr Louise sie heftig an. „Haben Sie Kinder, Claire?“

Lass dich nicht darauf ein. Selbst wenn sie mit Louise befreundet gewesen wäre, hätte Claire ihr nicht das Einzige anvertraut, was sie bereute. Um sich, Gundiwindi und dem Rest der Welt zu beweisen, dass sie talentiert und intelligent war, hatte sie sich auf das schwierigste medizinische Fachgebiet überhaupt spezialisiert. Und plötzlich war sie vierunddreißig und alleinstehend gewesen, während die Chancen, Mutter zu werden, dahinschwanden.

Alistair kam herein und sah sie fragend an, während er Teebeutel in zwei Becher warf.

Claire wandte sich weg von seinem durchdringenden Blick. Immer wieder hinderte er sie daran, sich zu konzentrieren. Dabei war sie bekannt dafür gewesen, stets absolut fokussiert und immun gegen jegliche Ablenkung zu sein. Man hatte ihr sogar gesagt, dass sie aufgrund ihrer ausgeprägten Konzentration geradezu prädestiniert für die Arbeit als Neurochirurgin war.

Keiner außerhalb ihrer Familie wusste, dass dieses Talent nicht angeboren, sondern aus der Notwendigkeit heraus entstanden war, mit absoluter Willenskraft und Entschlossenheit. Sogar während ihrer „rauschhaften Tage“ mit Michael, als sie geglaubt hatte, sie würde ihn lieben, war sie immer hochkonzentriert gewesen. Doch unter dem Blick aus Alistair Norths eisenerzgrauen Augen wollte ihr das einfach nicht gelingen.

„Louise“, sagte sie. „Ryan liegt jetzt wieder auf der Intensivstation. Wenn Sie und Ihr Mann ins Krankenhaus kommen, werden Mr. North und ich Ihnen alle Fragen beantworten.“

Sie beendete das Gespräch und legte langsam den Hörer auf.

„Kein leichter Anruf“, sagte Alistair, während er den Kühlschrank aufmachte. „Trinken Sie Ihren Tee mit Milch und Zucker?“

Erschöpft ließ Claire den Kopf an die Lehne der Couch sinken. „Nur mit Milch.“

„Sie sehen aber so aus, als könnten Sie etwas Zucker gut gebrauchen.“

Und tatsächlich hatte sie plötzlich Heißhunger nach etwas Süßem. „Haben Sie zufällig Schokolade da?“

„Nach sechs Wochen hier müssen Sie doch wissen, dass jegliche Schokolade, die in diesen Raum gebracht wird, innerhalb von fünf Minuten verschwindet.“ Er suchte im Schrank herum und förderte triumphierend eine rot-schwarze Schachtel zutage. „Wie wäre es mit Chili-Schokoladen-Shortbread?“

Seine Hilfsbereitschaft brachte Claire fast zum Weinen. „Fantastisch.“

Er trug Tee und Keksschachtel zu ihr hinüber. „Bitte schön.“

In diesem Moment war er weder arrogant noch ein Playboy, und diese Veränderung verwirrte Claire. Deshalb hielt sie sich an das, womit sie sich am besten auskannte: ihre Arbeit. „Wir hätten doch eine MRT machen sollen“, sagte sie voller Schuldgefühle. „Wir hätten mehr tun müssen! Wir haben das verursacht!“

Plötzlich wirkten seine grauen Augen streng. „Nein. Wir haben das nicht verursacht. Wir haben Ryan zusammen operiert und genau dieselben Beobachtungen gemacht. Die Blutung war durch das ursprüngliche Hämatom verdeckt und deshalb bei den Scans nicht zu sehen. Wäre er irgendwo anders gewesen als auf der Intensivstation, wäre er jetzt wahrscheinlich tot.“

Das konnte Claires schlechtes Gewissen nicht beruhigen. „Soll mich das etwa trösten? Ohne den Brand wäre er gar nicht im Krankenhaus gewesen. Und jetzt geht es Ryan noch schlechter als bei seiner Einlieferung!“

„Nicht unbedingt.“ Alistairs ruhige, rationale Worte frustrierten sie. „Die Kraniotomie könnte für ihn die Chance zur Genesung sein. Wir haben alles getan, um ihm den bestmöglichen Ausgang zu ermöglichen.“ Seine Züge wurden sanft. „Ich weiß, was für ein unglaublicher Mist das Ganze ist, nur passieren solche scheußlichen Dinge leider manchmal.“

„Das kann ich aber nicht hinnehmen!“ Claire machte eine energische Handbewegung, sodass heißer Tee aus ihrem Becher und auf ihre Haut spritzte. „Aua!“

Sofort nahm er ihr den Becher ab. „Ich hole Ihnen Eis. Aber erstmal Mund auf.“ Er hielt ihr ein Stück Shortbread vor den Mund.

Aus ihr unerfindlichen Gründen tat sie, was er verlangte, und biss in das buttrige, schokoladige Shortbread. Die Schärfe des Chili war wie ein leichter Schock für ihre Sinne, den sie gut gebrauchen konnte. Claire wischte sich die Hand an ihrem OP-Kittel ab und betrachtete die große rote Brandblase, die sich an ihrem Daumen bildete. Die OP-Handschuhe würden ihr ein paar Tage lang ziemlich wehtun.

Alistair brachte ihr eine Kühlkompresse, die er in ein rot-weiß kariertes Geschirrtuch gewickelt hatte. Als er sie ihr mit seinen großen Händen umlegte, nahm Claire die Kälte ebenso intensiv war wie die Berührung seiner Finger. „Halten Sie die Kompresse zehn Minuten lang so fest.“

„Danke.“ Ihr stiegen Tränen in die Augen, als er die Hand zurückzog und sie dabei einen schmerzlichen Verlust empfand. Was war bloß mit ihr los?

„Wirkt der Zucker vom Shortbread schon?“, fragte Alistair ein wenig besorgt.

Eher nicht. In ihrem Kopf drehte sich alles, sie fühlte sich hilflos und völlig erschöpft. Claire hatte schon immer besonders hart gearbeitet und verbissen gekämpft, um zu beweisen, dass sie genauso fähig war wie ihre Kollegen – oder sogar noch fähiger. Dass sich jemand um sie kümmerte, war sie nicht gewohnt. Und warum war Alistair plötzlich so mitfühlend?

Claire fühlte, wie sie in sich zusammensackte. Es kostete sie unendlich viel Kraft, sich aufrecht zu halten. Am liebsten hätte sie den Kopf an seine Schulter geschmiegt und eine Woche lang geschlafen.

Bist du verrückt geworden? Du bist bei der Arbeit, und außerdem ist er dein Chef. Kapiert?

Claire erschrak und versuchte mit aller Macht, sich wieder professionell zu verhalten. Sie hatte noch nie bei der Arbeit die Beherrschung verloren und würde ganz sicher nicht heute damit anfangen – vor allem nicht in Gegenwart von Alistair North. Sobald die zehn Minuten vorbei wären, würde sie die Kühlkompresse zurücklegen, sich mit knappen Worten verabschieden und nach Hause fahren. Nach einer erholsamen Nacht wäre dann hoffentlich wieder alles beim Alten.

Verdutzt rieb Alistair sich den Nacken. So hatte er Claire Mitchell, die neben ihm auf dem Sofa saß, noch nie erlebt. Ihre Reaktion auf die Kraniotomie, einen Routineeingriff, war absolut untypisch. Er hatte sie von Anfang an als gewissenhaft, ehrgeizig und absolut kompromisslos in Bezug auf ihre Arbeit erlebt. Sie war zwar durchaus mitfühlend, aber das Medizinische kam für sie immer an erster Stelle. Als Ryan Walkers Zustand sich nun unerwartet verschlechtert hatte, war das sicher nicht das erste Mal gewesen, dass sie vor einem medizinischen Rätsel stand.

Doch Claire wirkte zutiefst erschüttert. Als ihr Chef war es seine Aufgabe, sie zu unterstützen. Aber wie? Alistair überlegte, und dann fiel ihm etwas ein.

„Wie wäre es, wenn wir Ryans Fall mit den Kollegen besprechen? Ich bezweifle zwar, dass die an unserem Behandlungsplan etwas auszusetzen haben. Aber vielleicht sind Sie dann beruhigt, dass wir alles getan haben, was wir konnten.“

„Die Kollegen müssen sich nicht mit Ryans Eltern auseinandersetzen“, erwiderte Claire stockend. „Louise Walker hasst mich.“

Aha. Unter der Oberfläche der akribischen, effizient arbeitenden Ärztin verbarg sich also ein ganz normaler Mensch. Und Ryans Fall war Claire aus irgendeinem Grund unter die Haut gegangen. Das kannte Alistair: Jeder Arzt hatte irgendwann einen Patienten, der ihn stärker berührte als alle anderen. „Louise Walker ist eine Mutter, die schreckliche Angst hat“, sagte er.

„Ich weiß.“ Ihre Augen wirkten riesig und hatten die warme Farbe von flüssigem Karamell, in das Alistair sich am liebsten gestürzt hätte. Dabei mochte er Claire doch nicht einmal! Verwirrt blinzelte er. Als er wieder klarer sah, bemerkte er ihren flehentlichen Blick.

„Ich habe darauf bestanden, dass Louise nach Hause geht.“

Alistair beruhigte sie – auch, um seinen eigenen verwirrenden Gedanken zu beruhigen. „Zu Recht. Sie war ja am Ende ihrer Kräfte.“

„Ich habe ihr versprochen, sie anzurufen, falls Ryan aufwachen sollte“, fuhr Claire fort.

Nun verstand er plötzlich, worum es ging, und wurde von Mitgefühl erfasst. „Und als Sie sie vorhin angerufen haben, da dachte Louise …“

„… dass ich endlich gute Neuigkeiten für sie hätte.“ Sie biss sich auf die Lippe und blinzelte, konnte jedoch nicht verhindern, dass ihr eine Träne übers Gesicht rann.

Verdammt. Anders als andere Männer, die angesichts einer verzweifelten Frau wie erstarrt waren, verspürte Alistair immer den Drang zu helfen. Einen Tee hatte er ihr schon gekocht. Aber der Anblick der sonst immer absolut beherrschten Claire Mitchell, die vor seinen Augen nun fast zusammenbrach, tat ihm richtig weh. „Warum haben Sie denn nicht mich gebeten, Louise anzurufen?“

Sie ballte eine Hand zur Faust. „Weil Sie mir sehr deutlich zu verstehen gegeben haben, dass das meine Aufgabe ist.“

„Verdammt noch mal, Claire“, sagte Alistair leise und kam sich plötzlich vor wie der mieseste Chef der Welt. „Ich begreife das nicht. Sie haben in den letzten Wochen ständig mein Verhalten infrage gestellt und meine Ansichten hinterfragt – warum dann diesen Anruf ausgerechnet nicht?“

Ohne darauf einzugehen, sagte Claire leise: „Ich habe Louise Walkers Leid noch viel schlimmer gemacht.“

Als sie den Kopf hob und ihn ansah, traf ihn ihr schmerzlicher Ausdruck zutiefst. Ohne zu überlegen, legte er ihr die Hand auf die Schulter. „Das stimmt nicht“, widersprach Alistair sanft. Ihr Kopf sank ihm auf die Schulter, und er klopfte ihr leicht auf den Rücken. „Und das wissen Sie doch eigentlich auch.“

Claire gab einen Laut von sich, der nach Protest und nach Schluckauf klang. Alistair musste lächeln, denn bisher hatte er gedacht, dass sie Arbeit und Gefühle säuberlich voneinander trennte. Plötzlich stellte er fest, dass er ihr übers Haar strich, das sich seidenweich anfühlte. Er sog ihren Duft nach Zimt und Äpfeln ein.

Plötzlich wurden Erinnerungen in ihm wach: eine gemütliche warme Küche, das zufriedene, runde Gesicht der Köchin und der Duft nach braunem Zucker und Butter. Alles, was er mit der Geborgenheit seiner Kindheit verband, drehte sich um diese Küche. Er war überzeugt gewesen, dass er immer vom Internat aus dorthin zurückkehren könnte. Jetzt, sechsundzwanzig Jahre später, vermisste er sie noch immer.

Claire hob den Kopf. Mit geröteten Augen sah sie den Tränenfleck auf seinem Hemd an. „Oh nein, das tut mir leid!“

Als sie daran rieb, fühlte er durch die feine Baumwolle ihre warmen Finger. „Das macht doch nichts“, wollte er sie beruhigen, aber seine Stimme klang heiser.

„So etwas ist mir noch nie bei der Arbeit passiert“, sagte sie erschüttert. „Sie halten mich bestimmt für völlig verrückt.“

„Nein.“ Alistair wusste, dass er noch mehr sagen sollte. Aber die Wärme, die ihr Körper ausstrahlte, brachte ihn so durcheinander, dass er sich kaum an seinen eigenen Namen erinnern konnte. Er nahm ihre Hand in seine.

Einen Moment lang betrachtete Claire seine weiße Hand und ihre sonnengebräunte. Dann wandte sie ihm ganz langsam das Gesicht zu. Ihre Augen drückten Verlegenheit, Verwirrung und Leid aus. Wieder hatte er den Drang, sie zu trösten.

„Morgen ist wieder ein neuer Tag“, wollte er gerade sagen, als er in dem Gefühlswirrwarr in ihren Augen etwas anderes entdeckte. Etwas sehr Altes, Unauslöschliches. Angst? Minderwertigkeitsgefühle? Ganz bestimmt nicht. Doch es traf Alistair heftig und hielt ihn fest wie ein Lasso. Was es auch ist, es sollte sie nicht quälen!

Der Drang, ihren Schmerz zu beenden, wurde so stark, dass Alistair den Kopf neigte. Als er sie tröstend auf die Wange küsste, schmeckte er ihre salzigen Tränen. Er wollte den Kopf wieder heben, doch da wandte sie sich plötzlich zu ihm um, sodass sein Mund ihre prallen, roten Lippen berührte. Sie fühlten sich weich und kühl von ihren Tränen an, und er schmeckte ein betörendes Bergamotte-Aroma.

Halt!

Er wollte sich zwingen, den Kopf zurückzuziehen, als sich ihre Lippen fast unmerklich öffneten und ihn ganz unerwartet scharfes Chili-Aroma traf. Vor ihm saß unverkennbar eine erregte Frau. Ihm stockte der Atem, und einen Moment lang konnte er weder denken noch sich rühren. Alistair spürte ihre Zungenspitze so zart an seinen Lippen, dass er nicht wusste, ob er es sich vielleicht nur eingebildet hatte. Sein Körper dagegen wusste es genau: Alistair legte Claire die Arme um die Taille, zog sie an sich und öffnete den Mund.

Sie war sofort bei ihm, ohne eine Sekunde zu zögern. Mit der Zunge erkundete sie das Innere seines Mundes, ihre Wärme und ihr Geschmack durchdrangen ihn, bis er nur noch aus Pulsieren zu bestehen schien. Sie schob ihm eine Hand ins Haar und umfasste seinen Hinterkopf, als müsste sie sich an etwas festhalten.

Alistair begriff das nur zu gut, denn als er Claire küsste, hatte er das Gefühl, in freiem Fall zu sein. Er erwiderte ihren Kuss tief und leidenschaftlich, bis er sie leise stöhnen hörte. Normalerweise wusste er in diesem Moment, dass er die Dinge absolut in der Hand hatte. Aber diesmal war alles anders.

Die Gelassenheit, die er sonst gegenüber Frauen empfand, löste sich schneller auf als ein Wollknäuel, mit dem eine Katze spielte. Alistair hatte das Gefühl, dass Claire den Spieß umgedreht hatte. Eigentlich hatte er ihr nur einen kurzen, tröstenden Kuss geben wollen – und jetzt streifte sie ihm sämtliche Schutzschichten ab, die er sich über fünf Jahre hinweg zugelegt hatte.

Lös dich von ihr, und zwar sofort! befahl ihm eine innere Stimme, doch sein Körper wollte ihm einfach nicht gehorchen. Seine Sehnsucht nach Claire war zu stark. Alistair löste ihren Pferdeschwanz, und als ihr das blonde Haar auf die Schultern fiel, stieg wieder der Duft nach Gewürzen und Äpfeln auf. Goldene Strähnen umrahmten ihr Gesicht.

Er atmete tief ein. Claire saß mittlerweile mit ihrem entzückenden Po auf seinem Schoß. Alistair hatte keine Ahnung, wie sie dorthin gelangt war, und es war ihm auch egal. Nun zählte nur der Moment – und sie.

Er spürte ihre Hand auf seinem Nacken und schob ihr die Finger unter den OP-Kittel. Als er ihre warme, glatte Haut berührte, prickelte seine Handfläche. Alistair ließ ihr die Finger langsam an der Wirbelsäule entlanggleiten, bis zu ihrem BH.

Gerade wollte er ihn öffnen, als Claire heftig ihre Hand aus seiner zurückzog und den Mund von seinem löste. Der plötzliche Verlust ihrer betörenden Wärme ließ Alistair zittern.

Ihre vom Küssen leicht geschwollenen Lippen verliehen ihr eine ungewohnt sinnliche Ausstrahlung. Doch noch sinnlicher fand er das leicht zerzauste, seidenweiche Haar, das ihr Gesicht einrahmte und sie sehr jung wirken ließ. Claire sah verletzlich aus – als würde sie damit rechnen, dass die Welt jeden Moment unterging.

Alistair wusste genau, was in ihr vorging: Er war ihr Chef und sie bei ihm in der Ausbildung. Und im Krankenhaus galten bestimmte Vorschriften. Unbeabsichtigt hatten sie beide die Grenze überschritten, aber keiner von beiden hatte ein Machtspiel im Sinn gehabt. Claire wirkte genauso überrascht über den Kuss wie er selbst.

„Es ist alles in Ordnung, Claire“, versuchte er sie zu beruhigen, aber seine Stimme klang rau.

„In Ordnung?“, wiederholte sie fassungslos. In ihren wunderschönen Augen spiegelte sich das Chaos in ihrem Innern. Hastig glitt sie von seinem Schoß, als könnte sie sich an ihm verbrennen. Dabei hielt sie einen Arm vor sich, als hätte sie Angst, Alistair würde sie berühren.

„Ich … Das hier …“ Einen Moment lang presste sie sich die Hand auf den Mund. „Nichts ist in Ordnung!“

Alistair war noch immer ganz benommen von ihren Küssen und außerdem so heftig erregt, dass er praktisch auf grundlegende Funktionen seines Reptiliengehirns beschränkt war. Noch einmal versuchte er, sie zu beruhigen. „Wir sind doch beide erwachsen, und so etwas passiert nun einmal.“

Claire schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr das Haar wie eine goldene Welle um den Kopf peitschte. „Es ist nichts passiert. Nichts!“, sagte sie mit bebender Stimme.

In diesem Moment piepsten sein und ihr Pager. Claire, die schon zur Tür geeilt war, hielt inne. „Oh Nein. Die Walkers sind hier.“

„Alles klar.“ Alistair hörte seine eigene Stimme wie aus weiter Ferne. Sein Körper schaltete von Lust zurück auf Logik, und er war wieder in erster Linie Arzt und nicht Mann. „Wir treffen uns in fünf Minuten auf der Intensivstation.“

Claire wirkte verlegen und erleichtert zugleich. „Ja. Ist gut. Bis gleich.“ Sie ging hinaus.

Na, das lief ja super, Alistair. Er atmete langsam aus, rieb sich das Gesicht und versuchte zu verstehen, wie etwas so Tolles so ein Ende hatte nehmen können.

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