Julia Ärzte zum Verlieben Band 116

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KÜSS MICH, GELIEBTE LÜGNERIN! von MARINELLI, CAROL
Bei Scarlets sexy Anblick muss Dr. Luke Edwards sogleich an heiße Küsse denken. Dabei hat ihn das berühmte Partygirl nach einem One-Night-Stand schamlos hintergangen! Doch als er sie jetzt vor den Paparazzi versteckt, droht er ihren Reizen trotz allem zu erliegen …

NEUES GLÜCK FÜR HEBAMME ELLIE? von MCARTHUR, FIONA
Ein neuer Mann? Nichts für Hebamme Ellie! Nach ihrer schmerzlichen Scheidung hat sie der Liebe abgeschworen und widmet sich mit ganzem Herzen ihrem Job auf der Entbindungsstation. Bis der attraktive Vertretungsarzt Sam Southwell unwiderstehliches Verlangen in ihr weckt …

HEIMLICH VERLIEBT IN DR. PLAYBOY von HARDY, KATE
Auf mehr als Freundschaft lässt Schwester Isla sich mit Dr. Harry Gardiner nicht ein! Er gilt als Herzensbrecher, und sie hat nicht vor, verletzt zu werden. Da braucht er eine Scheinverlobte für eine Familienfeier. Soll Isla ihn begleiten, obwohl sie ihn heimlich begehrt?


  • Erscheinungstag 24.08.2018
  • Bandnummer 0116
  • ISBN / Artikelnummer 9783733711481
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Carol Marinelli, Fiona McArthur, Kate Hardy

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 116

CAROL MARINELLI

Küss mich, geliebte Lügnerin!

Vergebens versucht Scarlet, das erregende Prickeln zu ignorie-ren, das Lukes Nähe in ihr auslöst. Sie will den attraktiven Arzt immer noch so sehr; solch drängende Gefühle hat sie noch nie erlebt. Doch was empfindet er für sie? Verzweifelt fragt sie sich: Wird er ihr jemals verzeihen können, was sie nach ihrer einzigen, unvergesslichen Liebesnacht tun musste?

FIONA MCARTHUR

Neues Glück für Hebamme Ellie?

Seit dem Tod seiner Frau kennt Dr. Sam Southwell nur noch seine Karriere. Bis er bei einem Vertretungsjob die hübsche Hebamme Ellie trifft. Ohne es zu wollen, gerät er vom ersten Moment an in ihren sinnlichen Bann. Immer mehr verzehrt er sich nach ihr. Aber kaum hat er sie zu einem leidenschaftlichen Wochenende zu zweit verführt, weist sie ihn jäh zurück …

KATE HARDY

Heimlich verliebt in Dr. Playboy

Schwester Isla ist die Richtige für ihn, findet Dr. Harry Gardiner. Natürlich nur, um ihn als angebliche Verlobte auf die Hochzeits-feier seines Vaters zu begleiten. Seine gute Freundin will genauso wenig wie er eine Beziehung – und wird sich keine falschen Hoffnungen machen! Dumm bloß, dass er sich insgeheim plötzlich so zu ihr hingezogen fühlt …

1. KAPITEL

Neuigkeiten einfach zu ignorieren, war auch keine Lösung.

Daher schaltete Luke Edwards, nachdem er sich ein Glas Grapefruitsaft eingeschenkt hatte, den Fernseher ein und hörte die Nachrichten, während er sich für die Arbeit fertigmachte.

Es war kurz nach fünf Uhr morgens an einem Montag.

Nach den üblichen düsteren Meldungen aus der ganzen Welt ging es ohne Überleitung weiter mit der Nachricht, dass Anyas Konzert am Samstagabend, das letzte ihrer ausverkauften Welttournee, ein voller Erfolg gewesen war und sie heute zurück in die Staaten fliegen würde. Dann fuhr der Sprecher mit weiterem Promiklatsch fort.

Luke schaltete den Fernseher aus. Obwohl er noch eine halbe Stunde Zeit hatte, war er ruhelos und beschloss, direkt zur Arbeit zu fahren. Er ging nach oben, suchte eine Krawatte aus und steckte sie sich in die Jackentasche. Auf dem Weg nach draußen schnappte er sich seine Schlüssel, sah sich im Spiegel an und fragte sich, ob er sich noch rasieren sollte.

Nein.

Sein glattes dunkles Haar hatte einen Friseurbesuch nötig, aber das konnte bis nächste Woche warten.

Es war noch dunkel draußen, als sich das Garagentor öffnete und Luke in einen nasskalten Novembermorgen entließ. Er fuhr durch das verschlafene, menschenleere Dorf in Richtung einer der Zufahrtsstraßen nach London. Im Londoner Stadtzentrum war er als Facharzt in der immer gut besuchten Notaufnahme eines großen Lehrkrankenhauses tätig.

Viele verstanden nicht, warum er so weit draußen wohnte, aber für den Fall, dass er Bereitschaft hatte oder erst spät von der Arbeit kam, stand ihm ein Apartment im Krankenhaus zur Verfügung.

Luke wohnte gern in dem Dorf zwischen Oxford, wo seine Familie lebte, und London, wo er arbeitete. Die scharfe Trennung zwischen Arbeit und Privatleben kam ihm sehr entgegen. Die Leute im Dorf waren freundlich, aber nicht aufdringlich. Er lebte jetzt seit fast einem Jahr dort und lernte die Einheimischen nach und nach in seinem eigenen Tempo kennen. Luke wusste, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Oder auch nicht.

Alles hing davon ab, was heute geschehen würde.

Es war eine lange Fahrt, und es ging wegen des Verkehrs nur schleppend voran, aber daran war er schon gewöhnt. Oft hörte er Musik oder ein Hörbuch, aber an diesem Morgen schaltete er das Radio ein. Er musste wissen, ob es etwas Neues gab.

Die ganzen letzten vier Tage war Luke unruhig und nervös gewesen, hatte aber alles darangesetzt, es sich nicht anmerken zu lassen.

Auf der M25 gab es ein riesiges Verkehrschaos, hörte er. Und er stand mittendrin.

Kurz vor sieben Uhr ging endlich die Sonne auf, das Krankenhaus kam in Sicht, und ein neuer Tag war angebrochen. Er fuhr zur Einfahrt der Tiefgarage, wo er einen reservierten Parkplatz hatte, und wollte gerade das Radio ausschalten, weil der Empfang schlecht wurde, als das laufende Lied unterbrochen wurde.

„Unbestätigten Berichten zufolge wurde Anya …“, begann der Sprecher.

Luke bremste, hielt den gesamten Verkehr auf und hörte sich den kurzen Bericht an, bevor er in die Garage einbog. Er fuhr auf seinen Parkplatz, blieb aber noch kurz im Auto sitzen, um sich zu sammeln.

Er hatte den richtigen Riecher gehabt. Heute war tatsächlich der Tag, allerdings nicht aus dem Grund, den er sich erhofft hatte.

Luke stieg aus und fuhr mit dem Aufzug ins Krankenhaus hoch.

Die Sicherheitsleute rannten schon zur Notaufnahme, aber Luke weigerte sich, besonders schnell zu laufen. Nur die Krawatte band er sich noch unterwegs um.

„Morgen“, sagte Luke zu Geoff, einem der Sicherheitsmänner, als dieser an ihm vorbeihastete. Er sagte nicht „Guten Morgen“, denn gut war schon lange nichts mehr.

„Hast du gehört, wer reinkommt?“, fragte Geoff, statt den Gruß zu erwidern. Er verlangsamte seinen Schritt und lief neben Luke her.

„Habe ich.“ Luke nickte. „Kam gerade im Radio. Kannst du Verstärkung anfordern und den Sichtschutz aufstellen? Wie lange haben wir noch, bis sie ankommt?“

„Zehn Minuten.“

Luke nickte dankend und ging in die Notaufnahme.

„Gott sei Dank bist du früher hier.“ Paul, sein Assistenzarzt, kam direkt auf ihn zu.

Paul war sichtlich froh, dass sein Chef da war. Luke Edwards verkörperte die Gelassenheit, die die Abteilung heute brauchen würde. Er ließ sich nie aus der Ruhe bringen.

„Anya ist auf dem Weg“, erklärte Paul. „Kreislaufstillstand. Hier wird gleich die Hölle los sein.“

Luke sah das anders. Ja, es würde gleich dramatisch werden, aber solange er das Sagen hatte, würde trotzdem alles in geordneten Bahnen verlaufen. „Was wissen wir?“, fragte er, als sie den Schockraum betraten, wo sich das Pflegepersonal bereits vorbereitete.

„Nichts weiter“, antwortete Paul.

„Hast du einen Anästhesisten gerufen?“

„Der diensthabende ist im OP. David ist noch da, aber der ist gerade auf der Kinderintensivstation beschäftigt. Er kommt, so bald er kann“, antwortete Paul. Luke begann, die Medikamente zu prüfen, die Barbara, eine erfahrene Krankenschwester, bereitlegte. „Ich wollte gerade mal schauen, ob die Zentrale herumtelefonieren könnte …“

„Nicht nötig.“ Luke schüttelte den Kopf. „Wir kommen klar, bis David hier ist.“

„Weißt du überhaupt, wer Anya ist?“, fragte Paul, da Luke sich offenbar gar nicht davon irritieren ließ, wer da auf dem Weg in ihre Notaufnahme war und dass kein Anästhesist zur Stelle war.

„Ja.“

Oh ja, Luke kannte sie. Besser als die meisten.

Anya war seit vierzig Jahren, seit sie zehn Jahre alt war, weltberühmt, und nach dem heutigen Tag würde sie sogar noch berühmter sein. Besonders, wenn sie sterben würde.

„Am besten, du sagst der Pflegedirektorin Bescheid“, meinte Luke.

Paul nickte besorgt. „Habe ich schon.“

„Gut. Ich schaue mal nach, ob die Sichtschutzwände stehen.“ Luke war kaum draußen, da kam Heather, die Pflegedirektorin, auf ihn zugerannt.

„Wissen wir, was sie genommen hat?“, war ihre erste Frage.

„Wir wissen nicht, ob sie überhaupt etwas genommen hat“, antwortete Luke scharf, und Heather errötete. „Erst einmal sollten wir uns darum kümmern, dass der Sichtschutz steht, damit die Kameras keine Chance haben.“

Die Reporter waren schon auf dem Weg. Er konnte einen Hubschrauber über dem Krankenhaus kreisen hören, doch die Ambulanzeinfahrt war zum Glück überdacht.

Jetzt ging es darum, Anyas Privatsphäre zu schützen. Ob sie das wollte oder nicht.

Paul kam heraus und hatte neue Informationen für sie. „Die Leitstelle hat gerade angerufen. Eine nicht näher bezeichnete Überdosis …“

„Na, wer hätte das gedacht.“ Heathers Ton klang sarkastisch.

„Wenn Sie helfen wollen …“ Luke hatte genug Spekulationen gehört, noch bevor die Patientin überhaupt eingetroffen war. Er drehte sich um und sagte Heather seine Meinung ins Gesicht: „… dann lassen Sie Ihre Vorurteile draußen. Wenn Sie das nicht können, gehen Sie bitte.“ Das meinte er ernst.

Luke hatte schon vor langer Zeit gelernt, nicht zu urteilen und seine Gefühle für sich zu behalten. Heute würde ihm das allerdings viel abverlangen.

„Ich wollte nur …“, setzte Heather an.

„Lassen sie es einfach“, unterbrach Luke sie.

Heather schaute zu Paul, und die beiden tauschten einen Blick aus. Luke arbeitete jetzt seit etwas mehr als zwei Jahren im Royal. Er war nie der Fröhlichste, aber er raunzte nur selten jemanden an. Heute schien seine Stimmung besonders schlecht zu sein.

Der Krankenwagen traf ein. Luke öffnete die Hintertüren und sah, dass ein Notfallsanitäter bei Anya eine Herzdruckmassage durchführte, während ein sonnengebräunter Mann in einem starken kalifornischen Akzent Kommandos brüllte. Erst auf Nachfrage informiert er Luke, dass er Vince hieße und Anyas Leibarzt sei.

Das wusste Luke bereits.

Und er hasste diesen Mann mehr als alles andere auf der Welt.

„Was ist passiert?“, fragte Luke ihn, während er einen Kittel und Handschuhe anzog und die Notfallsanitäter die bewusstlose Frau in die Notaufnahme fuhren.

„Sie muss ein paar Schlaftabletten genommen haben“, sagte Vince.

Die Antwort war sehr vage, aber da sie keine Zeit verlieren durften, ignorierte Luke ihn vorerst. Stattdessen hörte er Albert zu, einem der Notfallsanitäter, der wesentlich mehr Informationen mitzuteilen hatte.

„Ihre Tochter hat sie um sechs Uhr morgens bewusstlos aufgefunden“, berichtete Albert, während sie Anya auf ein Bett legten.

„Halb bewusstlos“, korrigierte Vince.

„Die Tochter, Scarlet, ist völlig aufgelöst“, fuhr Albert fort. „Es war schwer, irgendwelche Informationen aus ihr herauszubekommen. Offenbar hatte Anya ein Opioid-Antidot bekommen, sich dann aber erbrochen, woraufhin Atemstillstand und anschließend Kreislaufstillstand eintraten.“

„Was hat sie genommen?“, fragte Luke Vince, aber der schien weiterhin nicht gewillt, klare Aussagen zu treffen.

„Wir wissen es nicht genau.“

Albert warf Luke einen Blick zu, der ihm verriet, dass es die Notfallsanitäter genauso schwer gehabt hatten, Genaueres aus Vince herauszubekommen.

Paul übernahm die Herzdruckmassage, während Albert die restlichen Informationen weitergab. „Es waren keine Medikamente oder Spritzen zu sehen, und sie war vor ihrer Ankunft intubiert worden.“

Alles klar, Vince hat also aufgeräumt, dachte Luke. Er sah zu Vince hinüber, während er Anyas Brustkorb abhörte. „Welche Medikamente nimmt sie?“, fragte er.

Vince nannte eine Reihe von Beruhigungsmitteln und leichten Schlaftabletten.

„Warum wurden dann keine Verpackungen gefunden?“, hakte Luke nach.

„Ich gebe Anya alle ihre Medikamente persönlich“, antwortete Vince kühl. „Außerdem habe ich ihr eine Reihe von Nahrungsergänzungsmitteln verschrieben …“

„Zu denen kommen wir später“, blaffte Luke, während er begann, Medikamente zu verabreichen, die die Wirkung dessen, was Anya genommen hatte, aufheben könnten. „Irgendwelche Opiate?“

„Nur wenn ihre Rückenschmerzen schlimm werden.“

„Fordere bitte einen Tox-Screen an“, sagte Luke zu Barbara, die Blut entnahm, während er Anya abhörte. „Ihr Brustkorb klingt schlimm.“ Luke fürchtete, dass der Beatmungstubus blockiert sein könnte. „Ich werde neu intubieren.“ Er war nicht überzeugt, dass ein Tubus der richtigen Größe eingesetzt worden war, auch nicht, dass der Schlauch frei war, schließlich hatte Anya sich erbrochen.

„Passen Sie auf die Stimmbänder auf“, warnte Vince.

Die milliardenschweren Stimmbänder!

Luke blickte nicht auf, aber ihm war deutlich anzusehen, was er von diesem unnötigen Hinweis hielt. Er machte unbeirrt weiter und quittierte die Bemerkung des ungebetenen Gastes in seinem Schockraum mit einem einzigen Wort: „Raus!“

Doch der Promiarzt blieb.

Luke wiederholte seine Anweisung, dieses Mal ausgeschmückt mit ein paar Kraftausdrücken, und alle zuckten zusammen, denn Luke zeigte nur selten Gefühle. Er fluchte nie, wurde nicht einmal laut. Das hatte er nicht nötig. Doch jetzt entschied er sich bewusst dazu. Keiner der Anwesenden konnte ahnen, wie sehr er diesen Mann verabscheute.

Luke hörte Anya noch einmal ab, um sich zu vergewissern, dass der Tubus richtig saß und dass die Luft besser fließen konnte. Dann nahm er sein Stethoskop wieder weg und bat Vince, zu wiederholen, was er gerade vor sich hin gemurmelt hatte.

„Ich werde Anya nicht allein lassen“, sagte der Mann.

„Oh doch, das werden Sie“, antwortete Luke. „Wenn Sie mir nicht sofort sagen, was genau Anya genommen hat und warum Sie sie erst jetzt ins Krankenhaus gebracht haben, verlassen Sie meinen Raum auf der Stelle.“

Leichtsinnigerweise tat Vince das nicht.

In diesem Moment kam David, der Anästhesist, und übernahm die Kontrolle von Anyas Atemwegen. Luke forderte ein weiteres Opioid-Antidot an, verabreichte es Anya intravenös und wartete darauf, dass es Wirkung zeigen würde.

„Können wir den Sicherheitsdienst rufen?“, fragte Luke.

„Den Sicherheitsdienst?“, fragte Heather nach. „Die haben draußen genug zu tun. Wozu brauchen wir den hier?“

„Ich will ihn hier raus haben“, antwortete Luke und drehte sich kurz zu dem ungebetenen Besucher in seiner Notaufnahme um, der keine Hilfe war und ihn ablenkte, aber sich noch immer weigerte, zu gehen.

Luke trat nach einem Metallwagen. Der krachte gegen eine Wand und vermittelte eine ganz deutliche Botschaft: Er würde dafür sorgen, dass Anyas Leibarzt den Raum verließ, und dabei würde er nicht zimperlich sein.

Paul hatte also doch recht gehabt – es würde die Hölle los sein, nur nicht aus den Gründen, die alle erwartet hatten.

„Sie kotzen mich an!“, schrie Luke, und Vince war endlich schlau genug, zu gehen.

Alle schauten sich an, aber Luke sagte nichts weiter. Er strengte sich an, sich ganz auf Anya zu konzentrieren, die dem Tod näher war als dem Leben.

Die Wiederbelebung dauerte lange. Die Wirkung der Drogen wurde aufgehoben, und ihr Herz begann wieder zu schlagen, aber Erbrochenes war in die Atemwege eingedrungen. Es dauerte über eine Stunde, bis Anya stabil war. Weitere fünfzehn Minuten dauerte es, bevor sie das Bewusstsein wiedererlangte und sich gegen den Tubus wehrte.

„Es ist alles gut, Anya“, sagte Luke und atmete tief aus, denn eine Zeit lang hatte er nicht daran geglaubt. „Sie sind im Krankenhaus.“

Anya wehrte sich und war verwirrt, aber das war gut – sie konnte immerhin alle Gliedmaßen bewegen, und Luke fing kurz ihren erschrockenen Blick ein, bevor David sie in ein künstliches Koma versetzte.

„Sie muss auf die Intensivstation“, sagte David und blickte zu Heather, die gerade von einem längeren Gespräch mit der Verwaltung zurückkam. „Können Sie dort anrufen und fragen, wie lange die brauchen? Der Flur muss dann rechtzeitig frei sein.“

Heather nickte. „Ich kümmere mich sofort darum. Luke, reden Sie mit der Presse?“

Luke ärgerte sich darüber, dass man bei dieser Patientin alle üblichen Regeln über Bord zu werfen schien. Er war sich ziemlich sicher, dass in der Nacht einige Fälle von Überdosis in die Notaufnahme gekommen waren. Dass bei Anya alles anders gehandhabt wurde, nur weil sie berühmt war, war ihm zuwider.

„Ich rede zuerst mit den Angehörigen“, entgegnete Luke auf Heathers Bitte.

Zumindest hatte Heather die Güte, rot anzulaufen. „Ich habe sie alle in den Personalraum gesteckt.“

„Wen?“

„Ihre Managerin, den Gesangslehrer, ihren Arzt, ihre Bodyguards. Scarlet ist auch da.“

„Scarlet ist ihre Tochter“, fügte Paul hinzu, denn wenn es nicht gerade um Rugby oder Medizin ging, kannte sich Luke meistens nicht aus.

„Okay, ich rede gleich mit ihr“, sagte Luke, während er Handschuhe und Kittel auszog und in den Mülleimer warf.

Alle Blicke in der Notaufnahme waren auf ihn gerichtet, als er aus dem Schockraum kam. Jeder wollte wissen, was los war und wie es Anya ging. Doch Luke ging wortlos weiter.

Im Personalraum fand er Anyas gesamtes Gefolge vor. Alle waren mit ihren Handys beschäftigt. Als Luke eintreten wollte, um mit der Tochter zu sprechen, forderte ihn einer von ihnen doch tatsächlich auf, sich auszuweisen.

„Sie müssen sich hier ausweisen“, entgegnete Luke und warnte damit alle Anwesenden, dass mit ihm nicht zu spaßen war.

„Wie geht es ihr?“, fragte eine aufgelöste Frau.

„Wir haben schon seit über einer halben Stunde nichts mehr gehört“, schimpfte jemand anderes.

Luke ignorierte sie einfach und betrat den überfüllten Personalraum. „Ich bin Luke Edwards, ich habe Anya behandelt. Ich möchte mit den engsten Angehörigen sprechen.“

Und dort, inmitten all der anderen, war sie.

Scarlet.

Immer noch wunderschön, dachte Luke.

Da saß sie, mit zitternden Knien, das Gesicht in den Händen vergraben. Selbst ihre schwarze Lockenmähne bebte. Sie schien nichts um sich herum mitzubekommen, doch dann blickte sie plötzlich auf, und ihr ohnehin schon blasses Gesicht wurde noch weißer, als sie ihn sah.

„Luke?“

„Luke Edwards“, sagte er, um nicht alle Anwesenden wissen zu lassen, was hier vor sich ging. „Ich habe Ihre Mutter behandelt. Sind noch andere Angehörige da?“

Scarlet schüttelte den Kopf und brachte mit Mühe zwei Worte heraus. „Nur ich.“

„Dann würde ich gern allein mit Ihnen sprechen.“

„Wir wollen auch wissen, was los ist!“, protestierte eine Frau. „Ich bin Sonia, Anyas Managerin.“

„Jetzt spreche ich erst einmal mit den Angehörigen.“

Luke machte deutlich, dass man mit ihm nicht zu diskutieren brauchte. Er war zwar groß und breitschultrig, doch einige der anwesenden Bodyguards waren deutlich kräftiger. Es waren mehr sein unerbittlicher Gesichtsausdruck und seine kühle Geringschätzung, die bewirkten, dass die Managerin zurücktrat.

Scarlet war völlig aufgelöst. Ihre Knie fühlten sich so weich an, dass sie kaum laufen konnte. Gleich würde sie erfahren, dass ihre Mutter tot war, da war sie sich ganz sicher.

„Hier entlang“, sagte Luke.

Sie gingen einen weiteren Korridor hinunter, und sie hätte seinen Arm gebrauchen können, aber er schritt zügig voran. Luke öffnete die Tür zu seinem Büro, und sie sah seinen düsteren Blick.

Anya war tot, ganz bestimmt.

Aber Luke war hier.

Sie betrat sein Büro. Das Erste, was ihr auffiel, war die Stille. Nach dem Chaos dieses Morgens wirkte sie regelrecht erschlagend. Zum ersten Mal, seit sie ihre Mutter gefunden hatte, war neben ihrer eigenen schnellen Atmung nur der Klang der Stille zu hören.

Den Moment, als sie das Hotelzimmer ihrer Mutter betreten hatte, würde sie nie vergessen.

„Mom?“

Sie hatte sich leise hineingeschlichen und ihre Mutter mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett liegen sehen.

„Mom?“

Scarlet hatte versucht, sie umzudrehen, war aber mit ihrer schmalen Statur nicht kräftig genug gewesen. Sie hatte um Hilfe geschrien, und kurz darauf war der schockierte Butler gekommen.

Seitdem war es ein einziges Chaos gewesen. Immer mehr Hotelmitarbeiter waren hinzugekommen. Vince, der Arzt ihrer Mutter, war in Hemd und Hose eingetroffen, und Scarlet konnte nicht verstehen, warum er sich die Zeit genommen hatte, sich ordentlich anzuziehen.

Sie hatte abseitsgestanden und schluchzend das Durcheinander beobachtet, bevor sie schließlich ihr Handy genommen und die britische Notrufnummer gewählt hatte. Sie hätte nicht anrufen sollen, hatte man ihr danach gesagt, es sei bereits eine Privatambulanz auf dem Weg.

Scarlet öffnete den Mund, um Luke nun die unvermeidliche Frage zu stellen. „Ist sie …“ Doch ihr Hals war trocken und kratzig, und es kam kein Wort heraus.

„Setz dich“, sagte Luke und schaltete die Lampe über seiner Tür ein, was bedeutete, dass er nicht gestört werden durfte.

Scarlet stand immer noch da.

Sie würde in die Hölle kommen für all das, was sie getan hatte. Nein, sie würde sogar zweimal in die Hölle kommen, denn statt zu fragen, wie es ihrer Mutter ging, statt ihn anzuflehen, ihr alles zu sagen, platzte sie mit dem heraus, was ihr gerade auf den Lippen lag. „Es tut mir leid …“

„Setz dich“, wiederholte Luke. Er hob die Hand zu ihrer Schulter, um sie zu seinem Schreibtisch zu führen, doch dann entschied er sich anders.

Stattdessen griff er nach ihrem Arm, drehte sie zu sich herum und zog sie fest an seine Brust. Für einen Moment gab es nur sie beide.

Da waren der Duft, den Scarlet vermisst hatte, der Körper, nach dem sie sich gesehnt hatte, und das Verständnis, das ihr vor Luke so noch niemand entgegengebracht hatte. Sie war sich sicher gewesen, dass sie seine Umarmung nie wieder spüren würde.

„Es tut mir so wahnsinnig leid“, sagte sie mit tränenerstickter Stimme.

„Es ist in Ordnung, Scarlet.“ Diese tiefe, sanfte Stimme beruhigte sie. An Lukes Brust konnte sie sich so wunderbar anlehnen. Sein Atem auf ihrer Wange, seine Hand, die ihr durchs Haar strich – sie hätte nie gedacht, dass sie das noch einmal erleben würde. „Ich denke, sie kommt wieder in Ordnung“, sagte Luke.

Er sprach von ihrer Mutter.

Während sie um sie beide weinte, um ihre wunderschöne, schmerzliche Vergangenheit und all das, was sie verloren hatten.

2. KAPITEL

Besonnen, professionell und distanziert.

So hatte sich Luke gegenüber Scarlet verhalten wollen, als er sie über den Zustand ihrer Mutter in Kenntnis setzte. Den ganzen Weg vom Personalraum zu seinem Büro hatte er sich vorgemacht, dass er absolut in der Lage wäre, diesen Vorsatz einzuhalten.

Luke hatte schon vor langer Zeit gelernt, seine Gefühle beiseitezulassen – bei Patienten und deren Angehörigen und auch bei seinen eigenen Angehörigen.

Nur gegenüber Scarlet war ihm Objektivität nie ganz gelungen.

Besonnen, professionell und distanziert – so eine Haltung war das Letzte, das Scarlet jetzt brauchte, doch abgesehen davon hatte auch der Schock des Wiedersehens dafür gesorgt, dass er ohnehin nichts davon sein konnte.

Als er sie in den Arm nahm, brauchte er das genauso sehr wie Scarlet. In ihnen beiden war so viel Wut und Schmerz. Ihre traumatische Vergangenheit mochte unüberwindbar sein, doch jetzt musste er sich mit der Gegenwart auseinandersetzen.

Sie war hier. Nicht aus dem Grund, den er bevorzugt hätte – er hatte gehofft, sie würde sich vor ihrer Rückreise nach Amerika heute bei ihm melden. Aber sie war da, und Luke hielt sie fest, roch wieder ihr Haar und musste sich zusammenreißen, ihr die salzigen Tränen nicht wegzuküssen.

Er hatte ein paar Monate Zeit gehabt, um sich gedanklich auf ein mögliches Wiedersehen vorzubereiten. Seitdem Anyas Tournee durch Großbritannien Ende letzten Jahres angekündigt worden war, hatte er ständig daran gedacht, dass sich ihre Wege kreuzen könnten. Nachdem Anya mit ihrem Team in England gelandet war, hatte er sich immer wieder gefragt, ob Scarlet ihn anrufen würde, ob ihre gemeinsame Vergangenheit ihr genauso viel bedeutete wie ihm. Und seit sieben Uhr an diesem Morgen, als es hieß, Anya sei in einem Krankenwagen auf dem Weg ins Royal, musste er mit der Gewissheit fertigwerden, dass er Scarlet heute gegenübertreten würde.

Er hatte sich überlegt, wie er auf sie reagieren sollte, doch davon fiel ihm jetzt nichts mehr ein.

Scarlet hatte die Hände unter Lukes Jacke gesteckt, hielt ihn fest umschlungen und atmete tief seinen Duft ein.

Herb und männlich. Nach diesem Duft hatte sie sich gesehnt, sie hatte ihn nie vergessen. Wie konnte es sein, dass er sich noch immer genauso anfühlte? Wie konnten es, nach allem, was geschehen war, Lukes Arme sein, die sie aufrecht hielten?

Sie hatte gehofft, dass sie sich in England sehen würden, aber sie hatte mit harschen, vorwurfsvollen Worten gerechnet. Mit Worten, zu denen er jedes Recht hatte. Doch stattdessen umarmte er sie und ließ sie die grausame Welt für einen Moment vergessen.

Als sie im Personalraum gesessen und auf Neuigkeiten gewartet hatte, hatte sie den Lärm der Menschen um sich herum völlig ausgeblendet. Vince hatte versucht, mit ihr zu reden, ihr einzutrichtern, was sie sagen sollte, sie davon zu überzeugen, dass ihre Version der Ereignisse falsch war. Sonia, die Managerin ihrer Mutter, hatte von ihr wissen wollen, wo sie gestern gewesen war und warum sie sich den Auftritt ihrer Mutter nicht angesehen hatte.

Keiner von ihnen wusste von dem Streit, den sie am frühen Morgen mit ihrer Mutter gehabt hatte. Diesen Streit war sie im Kopf immer wieder durchgegangen, während sie sich bemüht hatte, alles andere auszublenden. Und dann, inmitten des ganzen Irrsinns, hatte sie Lukes tiefe, ruhige Stimme gehört.

Ihr rasendes Herz schien eine Sekunde lang auszusetzen.

Sie hatte zwar gewusst, dass Luke Arzt war, aber nicht, dass er in London arbeitete. Als sie sich kennenlernten, hatte er hier ein Vorstellungsgespräch gehabt, aber noch nicht genau gewusst, ob er die Stelle annehmen würde.

Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass Luke hier im Krankenhaus sein und höchstpersönlich um das Leben ihrer Mutter kämpfen könnte.

Als Scarlet zu ihm aufsah, traf sie der gleiche Blitz wie an jenem Abend, als sie den Klub betreten hatte und ihrer beider Welt sich für immer verändert hatte.

„Erzähl’s mir.“ Scarlet hielt Luke noch fester. Sie war noch nicht bereit, loszulassen. Wenn es schlechte Nachrichten gab, und damit rechnete sie, wollte sie sie in seiner Umarmung hören.

„Es geht ihr besser.“

Scarlet hielt den Atem an.

„Deine Mutter hat kurz die Augen geöffnet“, erklärte Luke. „Und sie hat sich gegen den Atemschlauch gewehrt. Das ist ein gutes Zeichen. Jetzt haben wir sie erst mal in ein künstliches Koma versetzt.“

„Wird sie sterben?“, fragte Scarlet.

„Ich glaube nicht, aber sie war sehr nah dran.“

„Ich weiß“, sagte Scarlet. „Ich habe den Krankenwagen gerufen.“

„Das war gut.“

„Du hast mir damals die Nummer gesagt.“

Sie griff ein Bruchstück ihrer gemeinsamen Zeit auf, und sie beide betrachteten es einen Moment lang. Ein kleiner Gesprächsfetzen, der, wäre er von jemand anderem gekommen, schnell wieder vergessen gewesen wäre, aber nun erinnerten sie sich beide ganz deutlich an diesen kurzen Augenblick.

Scarlet blickte auf, aber sie sah ihm nicht in die Augen.

Nie wieder würde sie Luke in die warmen schokoladenbraunen Augen schauen können. Dafür waren ihre Reue und die Scham zu groß. Stattdessen sah sie seine sexy unrasierte Wange und seine verführerischen Lippen an. Sie hatte seinen Mund auf ihrem gespürt, hatte sich seinen Küssen mit ganzer Seele hingegeben und geglaubt, ein neues Leben beginnen zu können …

Luke konnte ihren Blick fast auf seinen Lippen fühlen. Trotz allem, was passiert war, hätte er am liebsten den Kopf gesenkt und sie geküsst.

Doch diese Zeiten waren vorbei, und er musste sie loslassen. „Nimm Platz“, sagte er in seinem besten ärztlichen Ton.

Besonnen, professionell, distanziert.

Wenn er das hier richtig machen wollte, gab es keine andere Möglichkeit.

Scarlet blieb stehen, während Luke seine Jacke auszog, sie auf einen Stuhl warf und sich dann an seinen Schreibtisch setzte. Erst dann setzte sie sich auch.

„Erzähl mir, was passiert ist“, sagte er.

„Habe ich doch schon“, erwiderte Scarlet. „Ich habe einen Krankenwagen gerufen. Vince hatte Verstärkung angefordert, aber die brauchten ewig, und …“

„Scarlet“, unterbrach Luke sie. „Von Anfang an, bitte. Wo hast du deine Mutter vor heute Morgen zuletzt gesehen?“

„Gestern Abend. Es gab eine Party, um das Ende ihrer Tournee zu feiern, und …“ Scarlet zuckte mit den Schultern und verstummte.

„Und wie ging es ihr?“, fragte Luke.

„Ich war nicht bei der Party“, sagte Scarlet. „Ich habe sie dann später im Hotel gesehen.“

„Wann war das?“

„Etwa um Mitternacht.“

„Wie ging es ihr da?“

„Sie war müde.“

„Wer war der Letzte, der sie gesehen hat?“

„Das war ich“, sagt Scarlet. „Glaube ich.“

„Um Mitternacht etwa?“

„So gegen eins.“

„Du hast sie gefunden?“, versicherte sich Luke noch einmal, und Scarlet nickte angespannt.

„Um welche Uhrzeit war das?“

„Kurz vor sechs.“

„Habt ihr euch ein Zimmer geteilt?“

„Nein.“ Scarlet zog die Stirn in Falten.

„Hattet ihr eine Suite?“

„Nein.“

„Warum warst du dann um sechs Uhr morgens im Zimmer deiner Mutter?“

„Ich wollte nur nach ihr sehen.“

„Warum?“, fragte Luke hartnäckig.

„Weil ich mir Sorgen um sie gemacht habe.“

„Warum?“ Luke ließ nicht locker, aber Scarlet erzählte nichts weiter. „Bitte, Scarlet. Ich kann nicht helfen, wenn du es mir nicht erzählst.“

„Du kannst mir nicht helfen.“

„Ich rede von deiner Mutter!“ Lukes Stimme wurde eine Spur lauter. Das war nötig, wusste er, wenn sie auf Kurs bleiben wollten. Dieser kurze Ausbruch ermahnte nicht nur Scarlet, sondern auch ihn selbst, dass es hier um die Arbeit ging. Er sah, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, doch er musste hart bleiben. Als sie weiterhin schwieg, beschloss er, direkter zu werden.

„War deine Mutter in letzter Zeit depressiv?“

„Nein, nein.“ Scarlet schüttelte den Kopf. „So etwas ist es nicht. Sie hat einfach nur zu viel genommen.“

„Wie das denn, wenn ihr Arzt alle Medikamente verwahrt?“

„Sie hat auch selber welche bei sich“, sagte Scarlet.

Luke konnte wirklich nicht einschätzen, ob Scarlet ihre Mutter deckte oder einfach keine Ahnung hatte, wie ernst das Problem war. „Scarlet.“ Er versuchte, ihren Blick einzufangen. „Warum hast du nach deiner Mum gesehen?“

„Ich habe mir Sorgen gemacht.“

„Mehr als sonst?“, fragte Luke, und sie nickte. „Du musst mir sagen, warum.“

„Wir haben uns gestritten.“

„Worüber?“

Sie hielt den Blick gesenkt und schwieg.

„Okay.“ Luke akzeptierte, dass sie noch nicht darüber sprechen wollte.

„Die anderen wollen meine Mutter in ein anderes Krankenhaus bringen“, sagte Scarlet.

Das hatte Luke sich schon gedacht. „Also, jetzt wird sie erst einmal nur auf die Intensivstation gebracht. Und zwar hier.“

„Sie meinen, dass sie wohin sollte, wo man mehr Erfahrung hat mit …“ Scarlet brachte ihren Satz nicht zu Ende. Sie wusste, Luke hasste das Wort „Promis“.

„Sie ist hier sehr gut aufgehoben und sowieso nicht transportfähig“, sagte Luke. „Du als ihre Tochter hast hier das letzte Wort.“

„Ich glaube nicht.“ Scarlet schüttelte den Kopf.

„Doch, hast du.“

„Aber sie hat Vince. Er kümmert sich immer um solche Sachen.“

„Vince wird in nächster Zeit beschäftigt sein. Wenn wir hier fertig sind, werde ich ihn mir noch mal vornehmen. Vielleicht rede ich auch mit der Polizei. Auf jeden Fall werde ich deine Entscheidung unterstützen, wenn du deine Mutter hierlassen willst.“

„Bitte, Luke, zieh nicht die Polizei mit rein.“ Scarlet begann zu weinen.

Er beobachtete sie ungerührt. Diese Tränen bewegten ihn nicht, und er würde sich in seinen Entscheidungen ganz sicher nicht von irgendeinem Hype oder Promistatus beeinflussen lassen.

Er brauchte einfach mehr Informationen.

Sein Pager piepte, und Luke sah, dass es Heather war. Er rief an und verdrehte die Augen, als sie ihm sagte, die Presse würde immer aufdringlicher werden. „Sagen Sie einfach ‚Kein Kommentar‘“, erwiderte er ungeduldig. „Wie schwer kann das denn sein? Solange sich Anyas Zustand nicht verändert oder ich bei einem anderen Patienten gebraucht werde, will ich nicht mehr gestört werden.“

Er sah über seinen Schreibtisch und stellte fest, dass Scarlet zu weinen aufgehört und ihr Smartphone herausgeholt hatte. Luke beobachtete sie mit zunehmender Irritation.

„Was machst du?“, fragte er.

„Es ist überall!“, sagte Scarlet, und dann begann sie richtig zu weinen. Als sie das Telefon auf dem Schreibtisch ablegte, sah Luke ein Foto, und er nahm sich das Gerät.

Es war ein Foto von Scarlet. Sie trug einen roten Schlafanzug und stand barfüßig auf der Straße neben dem Krankenwagen, in den gerade ihre Mutter geschoben wurde. Zwei Bodyguards hielten sie vom Einsteigen ab. Ihr schwarzes, lockiges Haar stand nach allen Seiten ab, ihre normalerweise blasse Haut war rot vom Weinen, und aus ihrem Gesichtsausdruck sprach schreckliche Angst.

Luke blickte von Scarlets Telefon auf und sah die Frau an, die ihm gegenübersaß – jetzt war sie perfekt als Star in der Krise gestylt. Sie trug enge Lederleggins und ein enges schwarzes Top. Auf dem Stuhl neben ihr lag eine weite Jacke aus silbernem Leder, die so aussah, als ob sie in letzter Minute übergeworfen worden war. Ihre schwarzen Locken sahen gewollt zerzaust aus. Aus sehr persönlicher Erfahrung wusste Luke jedoch, dass das Foto wahrheitsgetreuer wiedergab, wie Scarlet morgens aussah.

Diese Erinnerung schob er wieder weg. Stattdessen sah er sich auf dem Telefon noch einmal das Foto an, das ein Reporter geschossen hatte.

Es zeigte einen seltenen Augenblick der Realität in einer sehr unrealistischen Welt, und dieses Foto würde der dominierende Eindruck bleiben, dessen war sich Luke sicher.

Die unvollkommene Scarlet.

Die Scarlet, die ihm viel lieber war.

„Jetzt wird es noch viel schlimmer …“ Scarlet konnte nicht aufhören zu weinen.

Ja, sie hatte schreckliche Angst um ihre Mutter, aber sie hatte heute so viel vorgehabt. Jetzt würde sie keine Chance bekommen, der Presse zu entkommen, und Scarlet wusste, dass ihre Mutter sie gerade jetzt brauchen würde.

„Die werden mir das Leben zur Hölle machen.“

„Dann gib ihnen nichts“, sagte Luke. „Du bist ihnen keine Antworten schuldig, konzentriere dich einfach nur auf deine Mutter und dich selbst.“

„Was weißt du schon davon?“, spottete Scarlet.

„Oh, ich weiß eine ganze Menge“, antwortete Luke. Es hatte keinen Sinn, so zu tun, als könnte er mit Scarlet jetzt über Anyas Krankengeschichte sprechen und das Persönliche beiseitelassen. „David, der Anästhesist, wird eine ausführlichere Anamnese machen, nachdem deine Mutter auf die Intensivstation verlegt wurde.“ Er gab ihr das Telefon zurück, und als sie es nahm, schaute er ihre schlanken, manikürten Finger an und erinnerte sich, wie zart sich diese Hände angefühlt hatten.

Nein, er war nicht wütend auf ihr Leben im Überfluss. Vielmehr machte es ihn traurig, dass sie ihr heiteres, abenteuerlustiges Wesen so lange nicht hatte ausleben können.

Ja, angeblich stand Scarlet die ganze Welt offen, aber Luke wusste, dass sie seit dem Tag ihrer Geburt ihr gesamtes Leben im Scheinwerferlicht führen musste.

„Du gibst mich ab.“

„Ich gebe die Behandlung deiner Mutter ab“, sagte Luke. „Das ist die normale Vorgehensweise, wenn ein Patient verlegt wird. Ich muss jetzt wieder raus, Scarlet. Meine Patienten warten.“

„Was ist mit mir?“

Typisch, dachte Luke, doch obwohl er versuchte, wütend zu werden, obwohl er sich redlich bemühte, sich an die verwöhnte Prinzessin Scarlet zu erinnern und an die absolute Diva, die sie sein konnte, schaffte er es nicht, böse auf sie zu sein.

„Was ist mit uns?“, fragte Scarlet.

„Es gibt kein Uns“, log Luke.

Die Erinnerung an all das, was sie getan hatte, macht ihn nun doch wütend, aber statt aufzustehen und zu gehen, blieb er sitzen.

Genau wie sie.

Sie saßen in der Stille seines Büros, und während sich draußen die Welt weiterdrehte, kehrten sie beide zu einer Zeit zurück, als alles so anders ausgesehen hatte.

Sie dachten zurück an eine Zeit, als sie beide zu hoffen gewagt hatten.

3. KAPITEL

Zwei Jahre zuvor

„Mein Kopf tut weh.“ Anya schloss die Augen und massierte sich die Schläfen. „Ich muss zurück ins Hotel, ich brauche Vince.“

Scarlet war erleichtert. Sie wollte nichts mehr, als dem Lärm des Klubs zu entkommen, die Augen zu schließen und einzuschlafen. Es war schon nach Mitternacht, und sie war seit morgens um sieben auf den Beinen. Sie hatte Interviews gegeben und ein Fotoshooting auf der London Bridge gehabt, und den Rest des Tages hatte sie damit verbracht, ihre Mutter aufzumuntern und ihr zu versichern, dass sie die Show überstehen würde.

„Wir bringen dich zurück“, sagte Scarlet und nickte dem Bodyguard ihrer Mutter zu.

„Was würde ich nur ohne dich tun?“, fragte Anya, und Scarlet spürte, wie der Knoten, der ihr nun seit mehr als zehn Jahren das Herz zuschnürte, sich noch ein bisschen fester zusammenzog. Und dann, wie es typisch für Anya war, überlegte es sich ihre Mutter anders und wollte doch bleiben, als ein junger Kerl mit einem Drink an ihren Tisch kam und ihr sagte, wie fantastisch ihr Auftritt gewesen war. „Na, für einen Drink bleibe ich noch“, sagte Anya.

Scarlet rutschte beiseite, damit sich der junge Mann neben ihre Mutter setzen konnte, doch dann stand sie auf.

Sie sah die Ausgangstür und ging darauf zu. Sie wollte an die frische Luft. Und was sie noch mehr wollte, war flüchten.

„Hey, Scarlet …“ Eine Hand legte sich auf ihren Arm, und sie drehte sich zu einem der Bodyguards ihrer Mutter um. „Ich schicke Troy mit dir mit.“

Sie wollte nicht mit Troy gehen. Sie wollte mit niemandem gehen, sie wollte nur einmal einen Moment für sich allein haben. Sie wollte nicht hier in diesem Klub sein. Und dann schaute sie auf und sah einen Mann, der so wirkte, als wollte er ebenso wenig hier sein wie sie.

Er war auffällig groß und trug anders als die anderen Männer einen Anzug. Als er sich mit den Fingern durch sein schwarzes Haar fuhr, brachte er es ein wenig durcheinander. Er sah gepflegt, aber auch ein bisschen unordentlich aus, präsent, aber unbeeindruckt, und irgendetwas an ihm faszinierte Scarlet.

„Wir gehen jetzt alle“, informierte Troy sie plötzlich. „Deine Mutter will los.“

„Ich bleibe noch.“

Das kam selten vor. Das kam sogar praktisch nie vor und stieß auch nicht auf Gegenliebe.

„Scarlet, dein Theater kann ich jetzt nicht gebrauchen“, zischte Anya. „Ich habe den ganzen Abend gearbeitet, und mein Kopf explodiert gleich …“

„Darum kümmert sich Vince“, erwiderte Scarlet.

Das hatte dem Gespräch ein Ende gesetzt. Scarlet hatte vorher gewusst, dass es diesen Effekt haben würde. Anya konnte bleiben und zehn Minuten mit ihrer Tochter diskutieren oder zu Vince gehen.

Wie Scarlet diesen Mann hasste!

Also verließ ihre Mutter das Gebäude, und Scarlet blieb.

Natürlich nicht allein. Drei Bodyguards waren noch da, aber zumindest war sie ihre Mutter losgeworden.

Luke hatte schon die Nase voll gehabt, noch bevor sie im Klub angekommen waren.

Es war der einundzwanzigste Geburtstag seines jüngeren Bruders, und Luke wollte eigentlich gar nicht dabei sein, aber bisher hatte er kaum eine andere Wahl gehabt.

Er hatte das Abendessen bezahlt und eine Kneipentour hinter sich gebracht. Hier, so hatte er beschlossen, würde er die erste Runde bezahlen und dann bald verschwinden.

Es war kein normaler Nachtklub. Ein Freund von Marcus kannte jemanden und hatte der Gruppe Zugang zu einem sehr trendigen, exklusiven Klub verschafft.

Mit seinen achtundzwanzig Jahren fühlte sich Luke gerade ziemlich alt. Er war schon immer vernünftiger gewesen als die meisten, verantwortungsvoller, und dieser Ort brachte ihn an seine Grenzen. Alle waren völlig zugedröhnt, und der Lärm machte ihn wahnsinnig. Aber es war der Geburtstag seines Bruders, also hatte Luke mitgemacht. Er war sowieso wegen eines Vorstellungsgesprächs von Oxford nach London gefahren, und mittags hatte er in ein Hotel eingecheckt.

Sein Bewerbungsgespräch war für vier Uhr angesetzt gewesen, und er hätte es locker schaffen sollen, sich danach um sieben Uhr mit seinem Bruder und dessen Freunden zu treffen. Nur war das Gespräch sehr gut gelaufen. So gut, dass er nicht nur ausführlich durch die Abteilung geführt, sondern auch von seinem potenziellen neuen Chef gebeten worden war, noch eine Weile zu warten, damit er ihn einem Kollegen vorstellen könnte, der gerade im OP war. Natürlich hatte Luke zugestimmt. Schließlich ging es um eine Assistenzarztstelle im London Royal mit Aussicht auf eine Facharztstelle.

Er hatte keine Zeit gehabt, noch einmal zurück zum Hotel zu gehen, um sich umzuziehen, war eine halbe Stunde zu spät zu seinem Bruder gestoßen und hatte sich seitdem die ganze Zeit fehl am Platz gefühlt. Besonders hier in diesem Klub. Alle anderen waren viel legerer angezogen, tranken bunte Cocktails und waren bester Stimmung, zweifellos unterstützt durch gewisse Substanzen.

„Na, ist es schön, wieder Single zu sein?“, fragte Marcus, als Luke mit den Getränken ankam.

„Ja, um ehrlich zu sein“, sagte Luke, auch wenn er bei sich dachte, dass es ihm hier und jetzt eigentlich egal war.

Marcus und seine Freunde gingen die Tanzfläche unsicher machen, die praktisch den ganzen Raum einnahm. Luke nahm einen Schluck von seinem Drink, lehnte sich an die Bar und dachte an den Tag zurück. Er wollte die Stelle. Und das könnte problematisch werden.

Es war keine schwierige Trennung gewesen. Ein schmerzloser Eingriff wäre wohl die beste Beschreibung.

Luke und Angie waren ein paar Jahre zusammen gewesen und hatten gerade in eine gemeinsame Wohnung ziehen wollen. Angie arbeitete im Royal und hatte ihm von der ausgeschriebenen Stelle erzählt. Aber nur eine Woche nachdem Luke seine Bewerbung abgeschickt hatte, war ihre Beziehung endgültig am Ende gewesen.

Zwischen ihnen gab es einfach nicht die Leidenschaft, die man bei einem Paar erwarten würde, das kurz davor stand, zusammenzuziehen. Hinzu kam seine Weigerung, Angie an seinen Gefühlen teilhaben zu lassen, wie sie es nannte.

„Ich weiß, dass sie da drin sind“, stichelte sie immer wieder.

„Wer?“

„Gefühle!“, entgegnete sie dann genervt. „Emotionen!“

„Es muss doch nicht jeder gefühlsmäßig auf einer Achterbahn unterwegs sein, Angie. Nur weil ich nicht …“ Luke hatte sich auf die Zunge gebissen, um nicht zuzugeben, dass da durchaus Wunden waren. Angie wäre es lieber gewesen, er hätte den Köder geschluckt, aber Luke hatte sich immer wieder standhaft geweigert, über sein Seelenleben zu sprechen. Er war wahrscheinlich nicht verkorkst genug, um mit einer Psychiaterin zusammen zu sein.

Luke war ein sehr geradliniger Mensch. Mit allem, was das Leben für ihn bereithielt, wurde er ohne großes Getue fertig. Er sah keinen Bedarf an stundenlangen Gesprächen über die Auswirkungen der Vergangenheit auf die Gegenwart. Er hatte keine Lust, nach einer langen, anstrengenden Schicht nach Hause zu kommen und darüber zu reden, wie es sich anfühlte, ein vierjähriges Kind zu verlieren.

Seine Gefühle waren allein sein Problem, das hatte er Angie immer wieder gesagt. Sie waren schließlich übereingekommen, dass sich Gegensätze wohl doch nicht anzogen, und hatten sich einvernehmlich getrennt.

Trotzdem musste Luke zuerst etwas klarstellen, wenn er die Stelle im Royal annehmen wollte – denn er war sich ziemlich sicher, dass er sie bekommen würde. Er musste sich zweifelsfrei versichern, dass Angie nichts dagegen hätte, wenn ihr Ex im gleichen Krankenhaus arbeiten würde.

Luke nahm sein Telefon aus der Tasche und sah eine Nachricht von Angie, die fragte, wie das Vorstellungsgespräch gelaufen war, gesendet vor drei Stunden. Jetzt war es viel zu spät zum Antworten. Schließlich waren sie nicht mehr zusammen.

„Und?“

Eine sanfte Stimme ganz nah an seinem Ohr holte ihn in die Gegenwart zurück, und ihm stieg mitten im Winter ein berauschender Sommerduft in die Nase, als er sich umdrehte und eine junge Frau sah.

Sie hatte langes, schwarzes, lockiges Haar und große dunkelblaue Augen. Ihr Gesicht war unfassbar blass, aber die großen Augen leuchteten. Auf ihren vollen Lippen trug sie dunkelroten Lippenstift, sonst trug sie nicht viel, nur ein winziges, enges rotes Kleid.

„Was, und?“, fragte Luke.

„Willst du mir keinen Drink ausgeben?“

„Nein.“ Luke schüttelte den Kopf und versuchte, ihr Alter einzuschätzen. Das konnte er normalerweise gut, aber bei ihr war es unmöglich. Er hatte noch nie so glatte Haut gesehen, doch aus ihren Augen sprach Klugheit. „Bist du überhaupt alt genug zum Trinken?“, fragte er.

„Natürlich.“ Scarlet runzelte die Stirn. Seltsame Frage. Jeder wusste doch, wie alt sie war. Vor zwei Wochen war sie dreiundzwanzig geworden – vor aller Augen. Anya hatte sie in Paris auf die Bühne geholt und „Happy Birthday“ für sie gesungen.

„Ich bin Lucy“, sagte Scarlet, nur um seine Reaktion zu testen und herauszufinden, ob dieser Mann wirklich nicht wusste, wer sie war.

„Ich bin Luke“, antwortete er. „Aber ich gebe dir trotzdem keinen Drink aus.“ Er hatte bereits beschlossen, zurück ins Hotel zu wollen.

Der Barkeeper kam auf sie zu. „Hey, Scarlet! Kann ich Ihnen was bringen?“

„Scarlet?“ Luke runzelte die Stirn und sah, wie sie langsam rot anlief. „Was ist denn mit Lucy passiert?“

„Das ist mein …“ Scarlet beendete den Satz nicht. Sie wollte ihm nicht von dem Decknamen erzählen, den sie für Hotelbuchungen und dergleichen verwendete. Er hatte wirklich keine Ahnung, wer sie war, und das war irgendwie aufregend.

Und mal etwas ganz Neues.

„Ich nehme ein Glas Champagner“, sagte Scarlet zum Barkeeper, statt auf Lukes Frage zu antworten.

„Setzen Sie’s auf meine Rechnung“, sagte Luke.

„Danke.“

„Kein Problem.“ Luke trank sein Glas aus und wollte die Rechnung bezahlen gehen. „Mach’s gut“, sagte er.

„Du gehst schon?“

„Und ob.“

„Das ist aber nicht sehr höflich! Du kannst mir doch keinen Drink ausgeben und mich dann allein lassen.“

Luke musste lächeln und gab nach. „Dann trink aber schnell aus.“

Sie nahm einen winzigen Schluck.

„Und noch einen“, sagte Luke und fing an zu lachen, als Lucy – oder war es Scarlet? – so tat, als würde sie noch einen winzigen Schluck nehmen.

Wie es schien, würden sie noch eine ganze Weile bleiben.

„Mit wem bist du hier?“, fragte sie.

„Mit meinem Bruder und seinen Freunden“, sagte Luke. „Er feiert heute seinen einundzwanzigsten Geburtstag.“

„Und warum trägst du Anzug?“, fragte Scarlet, bevor sie wieder an ihrem Getränk nippte.

„Damit ich wie ein Idiot aussehe.“

„Also, ich finde, du siehst …“ Sie betrachtete ihn von oben bis unten und wieder zurück, bis sie bei seinem Gesicht anlangte. Er war rasiert, aber ein dunkler Schatten bedeckte Kinn und Wangen, und seine Augen, in die sie nun blickte, waren ganz dunkelbraun. So dunkel, dass sie die Pupillen nicht ausmachen konnte. „Ich finde, du siehst schön aus.“

„Ich glaube, das hat noch niemand zu mir gesagt“, sagte Luke und lächelte wegen ihres kalifornischen Akzents. „Aber du hörst das sicherlich oft.“

Jetzt sah er sie sich richtig an, so wie er es schon die ganze Zeit gewollt hatte, seitdem er ihre Stimme gehört hatte.

Ihr Kleid zeigte viel zu viel blasse Haut, und die roten Stilettos sahen etwas zu groß aus für ihre dünnen Beine. Sein Blick wanderte zu ihrem Gesicht. Sie war sogar noch viel mehr als nur schön. Ihre Lockenmähne passte gar nicht so recht zu ihrer zarten Statur, und ihre Lippen waren perfekt geformt und tiefrot geschminkt.

Er wollte sie küssen.

Das war ein ungewöhnlicher Gedanke für Luke. Zwar dachte er oft genug an Sex, aber eine praktisch Fremde an sich ziehen und küssen, einfach nur küssen zu wollen, das war ihm bisher noch nie passiert.

„Und mit wem bist du hier?“, fragte er.

„Mit ein paar Leuten“, antwortete Scarlet knapp und wurde vor weiteren Fragen gerettet, als einer der Freunde seines Bruders zu ihnen kam.

„Hey, Doc“, sagte er und nahm sein Getränk. Aber dann warf er Luke einen seltsamen Blick mit weit aufgerissenen Augen zu und ging wieder.

„Doc?“, fragte Scarlet.

„Doktor“, sagte Luke und erzählte ihr ein bisschen über sich selbst. „Und deshalb habe ich einen Anzug an. Ich war heute Nachmittag bei einem Vorstellungsgespräch.“

„Doktor?“

Scarlet rümpfte fast unmerklich die Nase, bemerkte Luke, als ob er ihr gerade erzählt hätte, dass er Kanalarbeiter war und direkt von der Arbeit hierhergekommen wäre. „Was machst du denn so?“, fragte er sie.

Scarlet sah zu, wie Bläschen in ihrem immer noch sehr vollen Glas aufstiegen. In ihren Adern musste es gerade ähnlich aussehen, aber vor Aufregung wegen der ungewohnten Situation. Luke wusste wirklich nicht, wer sie war. Also konnte sie sein, wer sie wollte.

Und dann erinnerte sie sich an ihre Zeit in Afrika und einen längst vergangenen Traum, und ganz leicht abgewandelt erweckte sie diesen Traum wieder zum Leben.

„Ich bin Hebamme“, sagte Scarlet.

„Wo?“, fragte Luke und hoffte, es wäre das Royal.

„Zu Hause in Los Angeles.“

Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, wie sehr er das bedauerte, denn in diesem Moment kam sein Bruder auf ihn zu, und Luke hatte nicht vor, sich ein Gespräch mit einem betrunkenen Marcus anzutun. „Ich muss gehen“, sagte Luke, und als er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete, stellte er fest, wie klein sie eigentlich war, denn obwohl sie Stilettos trug, überragte er sie deutlich.

„Und“, fragte sie. „Wo geht’s jetzt weiter?“

„Wo es weitergeht?“, fragte Luke, und dann wurde ihm klar, dass sie wissen wollte, in welchen Klub er nun gehen wollte. „Im Bett.“

„Hm, das klingt gut!“

Sie nahm noch einen Schluck von ihrem Champagner und sah ihm direkt in die Augen. Luke hatte noch nie jemanden wie sie getroffen, und abgesehen von ihrem koketten Angebot wollte er sie tatsächlich gern näher kennenlernen.

„Ich meinte …“, sagte Luke, gab es dann aber auf. „Egal.“ Schließlich war sie sowieso von einem anderen Kontinent, und als Marcus zu ihnen stieß, hatte er es plötzlich sehr eilig, wirklich ins Hotel zurückzugehen.

„Kann ich mal kurz mit dir reden?“, fragte Marcus und gab ihm einen Klaps auf die Schulter.

„Klar“, willigte Luke ein, obwohl er genau wusste, dass Marcus ihn bitten würde, etwas Geld dazulassen. Marcus studierte Medizin und war ständig pleite. Luke ärgerte das. Er selbst hatte während seines ganzen Medizinstudiums gearbeitet, aber heute hatte Marcus Geburtstag, deshalb würde er nichts sagen.

Doch als sie einen Schritt von Scarlet weggingen und Luke nach seinem Portemonnaie griff, stellte sich heraus, dass Marcus etwas anderes wollte.

„Wie hast du es geschafft, an sie ranzukommen?“, fragte Marcus.

„Was?“ Luke zog die Stirn in Falten. „Kennst du sie?“

„Du weißt echt nicht, wer sie ist, oder?“ Marcus grinste. „Nimmst du denn nie dein Stethoskop aus den Ohren? Das ist Scarlet!“

„Ich weiß.“

„Anyas Tochter.“

„Oh!“

Ja, Luke wusste, wer Anya war. Schließlich war sie schon ein Star gewesen, noch bevor er überhaupt auf die Welt gekommen war. Zwar beschäftigte er sich kaum mit solchen Dingen, doch er hatte gesehen, wie Anya und ihre Leute den Klub verlassen hatten. Jetzt, wo er darüber nachdachte, erinnerte er sich, dass Anya eine Tochter hatte, die sie überallhin begleitete.

Er blickte hinüber und sah, dass Scarlet gerade bemüht war, einen lauten, aufdringlichen Typen loszuwerden, der versuchte, sie zur Tanzfläche zur zerren. Zwei kräftige Männer kamen dazu.

Sie war mit ihren Bodyguards hier, nicht mit irgendwelchen Freunden, wurde Luke bewusst. Jetzt verstand er den seltsamen Blick von Marcus’ Freund vorhin.

Scarlet war ein Star.

„Sie wirkt nett.“ Luke zuckte mit den Schultern. Das war nicht gelogen. „Aber ich wollte sowieso gerade gehen. Ich bezahle jetzt die Rechnung und lasse dir noch ein bisschen was da. Hab noch einen schönen Abend.“

Als Luke zur Bar ging, kam Scarlet zu ihm.

„Willst du tanzen?“

„Ich wollte gerade gehen.“

„Nur ein Tanz“, beharrte Scarlet, aber er schüttelte den Kopf.

„Nicht, wenn deine Bodyguards zuschauen.“

„Du weißt jetzt, wer ich bin, oder?“

„Nicht so richtig“, sagte Luke. „Ich kenne zwei Namen von dir, und von deiner Mutter habe ich schon mal gehört. Du bist also keine Hebamme, oder?“ Sie schüttelte den Kopf, und Luke sah auf die Rechnung, die ihm gerade vorgelegt worden war. „Da fehlt der Champagner“, sagte er zum Barkeeper.

„Der geht aufs Haus“, antwortete dieser und lächelte Scarlet an.

Da dämmerte es Luke: Scarlet musste nicht bezahlen. Scarlets Anwesenheit im Klub war mehr als genug Bezahlung.

Die Erkenntnis ärgerte ihn. Nicht, dass Scarlet ihm etwas vorgemacht hatte – jetzt, wo er die Gründe kannte, störte ihn das überhaupt nicht. Aber er hatte ihr wirklich diesen Drink ausgeben wollen. „Setzen Sie ihn noch mit drauf“, sagte Luke und gab die Rechnung zurück.

„Wie Sie wollen.“ Der Barkeeper zuckte mit den Schultern.

Luke drehte sich um. Scarlet war noch da.

„Nimm mich mit“, sagte sie und legte ihm die Arme um den Hals. Luke wollte sie schon sanft wegschieben, als er die Verzweiflung in ihrer Stimme hörte. „Bitte.“

Scarlet schloss die Augen. Sie hatte den Lärm so satt, und im Hotel würde sicherlich jede Menge Drama auf sie warten. Sie sah auf zu Luke. Er wirkte so ruhig, aber auch leicht gelangweilt, genau, wie sie sich fühlte, und sie blickte in seine wunderschönen Augen. „Du wirst es nicht bereuen.“

„Du musst nicht mit mir ins Bett gehen, Scarlet.“

„Ich will etwas Zeit mit dir verbringen.“

„Warum fragst du mich dann nicht, ob ich dich zum Abendessen ausführe?“

„Abendessen?“ Scarlet hob die Augenbrauen.

„Wenn wir etwas finden, wo man um ein Uhr nachts noch was zu essen bekommt.“ Luke lächelte. Er ließ ihre Arme um seinen Hals liegen, und seine Hände wanderten zu ihren Hüften. Sein Verlangen, sie zu küssen, war wieder da.

„Ich habe seit dem Frühstück nichts gegessen“, gab Scarlet zu.

Es ist schon fast wieder Frühstückszeit, dachte sich Luke, doch dann schob er den Gedanken beiseite. Anders als die meisten Männer war er nicht scharf auf One-Night-Stands. Da sich sein Vater nie zusammenreißen konnte, hatte Luke mit den Konsequenzen leben müssen und aus den Fehlern von James Edwards gelernt.

„Du willst mich wirklich zum Essen ausführen?“

„Ja.“

„Es tut mir leid, dass ich dich angelogen habe“, sagte Scarlet. „Ich wollte nur wissen, ob du mich auch mögen würdest, wenn ich normal wäre.“

„Du bist normal.“ Genau wie die Reaktion seines Körpers auf sie.

Er hatte plötzlich das Bedürfnis, sie hier rauszubekommen, einfach nur zu reden, sie etwas besser kennenzulernen und, ja, diesen Mund zu schmecken.

„Kannst du deine Bodyguards loswerden?“, fragte Luke. Die Vorstellung, von ihnen beobachtet zu werden, war ihm zuwider.

„Kann ich nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Du verstehst nicht, wie das ist – ich kann ohne die nirgendwo hingehen.“

Doch Luke war es ernst. „Kannst du deine Bodyguards loswerden?“, fragte er noch einmal.

Scarlet hörte seinen drängenden Tonfall. Wenn sie Nein sagte, würde er gehen. „Die rufen die 911, wenn ich verschwinde“, meinte sie.

„Tja, damit kommen sie hier nicht weit“, erklärte Luke und verriet ihr, dass man in Großbritannien eine andere Notrufnummer als in den USA wählen musste. „Ich passe auf dich auf, aber wenn ich dich zum Essen einlade, will ich kein Publikum.“

„Ich könnte aufs Klo gehen und versuchen …“

„Aus dem Fenster zu klettern?“ Luke schüttelte den Kopf. „Warum sagst du ihnen nicht einfach, dass du dir eine Nacht freinimmst?“ Doch dann hielt er inne, als ihm zum ersten Mal klar wurde, dass das Leben in ihrer Welt so einfach nicht war.

„Bitte geh mit mir essen“, sagte sie.

„Ich geh raus und warte hinten auf dich“, schlug Luke vor. „Wenn du aus dem Toilettenfenster nicht rauskommst, nimmst du den Notausgang. Aber …“, warnte er sie, „… wenn du deinen Bodyguards erzählst, was du vorhast, wenn ich auch nur das kleinste Anzeichen sehe, dass sie in der Nähe sind, dann übergebe ich dich ihnen wieder. Deine Promispielchen spiele ich nicht mit, Scarlet.“

Und das meinte er völlig ernst.

Was um Himmels willen tue ich hier, fragte sich Luke, als er in der dunklen, kalten Gasse neben Mülltonnen stand und zu den winzigen Fenstern hochsah.

Da passt sie niemals durch.

Vielleicht hat sie es sich anders überlegt, dachte er, denn er wartete bestimmt schon zehn Minuten. Er wollte gerade aufgeben, als er einen roten Schuh sich durch einen schmalen Fensterschlitz schieben sah, gefolgt von einem dünnen, blassen Bein und dann noch einem.

„Ich hab dich“, sagte Luke, als er ihre Beine packte und versuchte, nicht zu bemerken, dass ihr Kleid nach oben gerutscht war. Er nahm seine Hände von ihren nackten Beinen und hielt sie an den Hüften fest, um ihr aus der kleinen Öffnung herauszuhelfen. Als sie schließlich sicher stand, drehte er sie zu sich herum. Sie war außer Atem, und Luke sah Freude und Aufregung in ihren Augen.

Ich bin frei, dachte Scarlet.

Ihr Kleid war bei ihrem recht uneleganten Abgang hochgerutscht, und sie konnte immer noch fühlen, wo Luke ihre Oberschenkel berührt hatte. Jetzt stand sie direkt vor ihm, und auch wenn er so tat, als könnte ihn nichts beeindrucken, wusste Scarlet, dass er genauso angetörnt war wie sie.

Sie legte ihm erneut die Arme um den Hals und schmiegte sich an ihn, um sich zu wärmen und sich seiner Erregung zu vergewissern. „Oh“, sagte sie. Sie spürte ihn sehr deutlich. Als er schließlich sprach, klang seine Stimme rau.

„Komm mit.“

Luke verspürte immer noch den Drang, Scarlet zu küssen und auch jede Menge anderer Dinge mit ihr zu tun, aber bestimmt nicht in einer stinkenden dunklen Gasse, und sicher würden ihre Bodyguards auch bald nach ihr suchen. Statt sie zu küssen, griff Luke also ihre Hand, und sie liefen zusammen auf eine schäbige Straße und bogen dann in eine weitere dunkle Straße ein.

Luke winkte ein schwarzes Taxi heran, und sie stiegen etwas atemlos ein. Er nannte dem Fahrer den Namen eines Restaurants, von dem er wusste, dass es noch geöffnet sein würde, weil er dort öfter mit Freunden gewesen war. Es war nett und ungezwungen, und es gab Nischen, in denen sie sich verstecken und besser kennenlernen konnten.

Das wollte er wirklich. Doch als das Taxi losfuhr, schaute der Fahrer in den Rückspiegel und schien zu erkennen, wen er da beförderte.

„Scarlet!“ Der Mann drehte sich um und lächelte.

Luke ärgerte sich, dass Scarlet zurücklächelte und anfing, mit dem Fahrer über Anyas Auftritt zu reden. Konnte sie kein Gespräch führen, in dem es nicht um ihre Mutter ging?

„Lassen Sie uns einfach hier raus“, sagte Luke, als sie eine belebtere Straße erreichten. Sie gingen zu einem anderen Restaurant, als er ursprünglich geplant hatte, aber dort wurde Scarlet sofort erkannt, also gingen sie wieder.

„Ich hab’s dir ja gesagt …“, meinte Scarlet.

Es war unmöglich.

Nein, war es nicht. Luke zog sein Jackett aus und legte es ihr um die Schultern. Dann nahm er eine Serviette aus seiner Tasche und wischte ihr den Lippenstift ab. Gott, wie er diese Lippen wollte.

Luke sah einen Bus und zog Scarlet hinein. Statt sich wie die anderen Nachtschwärmer auf das Oberdeck zu setzen, saßen sie zwei Haltestellen lang unten.

„Mich wird noch jemand erkennen …“, sagte Scarlet.

„Nicht, wenn ich das hier tue …“

Er nahm ihr Gesicht in seine Hände, und der Schauer, der Scarlet über den Rücken lief, hatte nichts damit zu tun, dass es draußen zu regnen begonnen hatte.

Er ließ sie warten. Sie sah, wie er auf ihren Mund schaute und dann wieder in ihre Augen, und dann endlich trafen sich ihre Lippen. Zuerst nur ganz zart, ein winziger Vorbote, ein kleines Schmecken, und dann fand Scarlet heraus, dass er sich bisher tatsächlich die ganze Zeit zurückgehalten hatte, denn dann war von Zögern nichts mehr zu spüren.

Er übernahm die Regie dieses Kusses, eroberte ihren Mund. Seine Zunge war langsam und zärtlich, sein Kinn leicht kratzig. Er hielt ihr Gesicht weiter fest, und sie konnte nicht mehr tun, als ihn küssen, ihn schmecken und spüren.

Sie hatte das Gefühl, noch nie zuvor richtig geküsst worden zu sein.

Sie atmeten zusammen, ihre Zungen umspielten und erforschten sich, und Luke musste seine ganze Beherrschung aufwenden, um sich, als der Bus abbremste, von ihr zu lösen und sich in Erinnerung zu rufen, wo sie waren.

Er sah hinaus auf die dunklen, glänzenden Straßen, nahm ihre Hand, und sie standen auf. „Komm mit …“

Die Türen gingen zischend auf, und sie traten nach draußen in den Regen.

„Wo sind wir?“

Sie waren nur einen kurzen Fußweg von seinem Hotel entfernt. „Wir gehen zu Abend essen, wie ich es versprochen habe!“

„Und?“

„Wir holen den Tanz nach, den du dir gewünscht hast“, sagte Luke.

„Und?“, fragte Scarlet, während sie versuchte, mit seinem Tempo Schritt zu halten, obwohl Luke gar nicht besonders schnell lief. Er blieb stehen und drehte sie zu sich.

„Warten wir mal ab.“

Er mochte One-Night-Stands wirklich nicht. Er hatte immer das Gefühl, die Frau nur zu benutzen, und sie wollte er niemals benutzen.

Luke war sich sicher, dass sie dergleichen in ihrem Leben schon oft genug erlebt hatte. Nicht nur mit Männern. Da waren die kostenlosen Getränke dafür, dass sie Leute anzog, der Zirkus, der ihr Leben war. Und ganz praktisch betrachtet hatte er auch einfach keine Kondome dabei.

Er hatte den Arm um sie gelegt und sie eng an sich gezogen, als sie durch das Foyer seines Hotels gingen, und niemand bemerkte sie. Ohne die nackte Haut und die roten Lippen fiel Scarlet weit weniger auf.

Der Aufzug war leer. Als sie den Kuss fortsetzen wollte, trat Luke einen Schritt zurück.

„Nicht hier“, sagte er.

Er klang sehr selbstsicher und ein bisschen herrisch, und sie war nicht daran gewöhnt, abgewiesen zu werden. „Ich mag dich“, sagte Scarlet und lehnte sich an die Wand des Aufzugs.

„Gut“, antwortete Luke. „Ich mag dich auch.“

Sie fuhren hoch zu seiner Suite, und als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, fühlte sich Scarlet auf einmal wie zu Hause. Auf dem Bett lagen eine Anzughülle und eine offene Reisetasche.

Sie dachte, dass er sie wieder küssen würde, nun, da sie allein waren, doch stattdessen nahm er die Speisekarte zur Hand.

„Es ist nach Mitternacht, deshalb gibt es nur die Nachtkarte …“

„Wir essen?“

„Du hast doch gesagt, dass du Hunger hast.“

„Oh.“ Für Scarlet war es ganz normal, Hunger zu haben. Sie hatte ständig Hunger.

Er gab ihr die Speisekarte, und Scarlet wusste sofort, was sie wollte. Normalerweise versuchte sie, auf Kohlenhydrate zu verzichten, aber das hier war ihre Nacht, und da galten andere Regeln. „Ich will das Klub-Sandwich.“ Dann überlegte sie es sich anders. „Oder vielleicht den Burger.“

Sie konnte sich nicht entscheiden.

„Beides“, sagte Scarlet, und Luke lächelte, nahm das Telefon und bestellte.

„Es dauert etwa zwanzig Minuten.“

„Was fangen wir nur so lange an?“

Scarlet lächelte, und Luke sah, wie sie den Saum ihres Kleids langsam nach oben schob.

„Scarlet …“ Er hielt sie auf. „Ich hoffe doch, dass wir uns mehr als zwanzig Minuten Zeit nehmen werden. Ich will nicht dabei unterbrochen werden.“ Er beobachtete sie dabei, wie sie schmollend zum Bett ging und sich hinlegte. „Der Service meinte gerade, wir sollten jetzt das Frühstück bestellen, wenn wir es morgen früh aufs Zimmer gebracht haben wollen.“ Er nahm die Bestellkarte vom Tisch, die sie außen an die Tür hängen sollten. „Was denn?“, fragte er, als er sah, wie sie ihn anstarrte.

„Ich will einen Kuss.“

„Lass uns das erst fertigmachen. Tomaten-, Ananas- oder Grapefruitsaft?“

„Grapefruit“, sagte Scarlet, und Luke verzog das Gesicht. „Magst du den nicht?“

„Zu bitter“, sagte Luke und kreuzte für sich selbst Ananas an.

„Magst du mich nicht?“

„Warum fragst du das? Wir müssen nicht innerhalb von fünf Minuten zur Sache kommen, damit ich dich mag.“ Er nahm an, dass sie so etwas nicht oft hörte.

Sie griff nach einem Zettelhaufen, der neben seiner Tasche lag. „Was ist das?“

„Nur ein paar Notizen, die ich mir für mein Vorstellungsgespräch gemacht habe.“

„Warst du nervös?“

„Nein.“ Er sah auf und stellte fest, dass sie sich tatsächlich seine Notizen durchlas.

„Wie war es?“

„Wie ein Vorstellungsgespräch.“ Luke zuckte mit den Schultern, doch dann wurde ihm klar, dass Scarlet wahrscheinlich noch nie eins gehabt hatte. „Ich war nicht nervös, weil ich mir ziemlich sicher war, dass ich die Stelle nicht bekommen würde. Jetzt bin ich nervös, weil ich sie will.“

„Denkst du, du bekommst sie?“

„Ich glaube schon.“

„Dann musst du doch nicht nervös sein?“

Solchen Gesprächen ging Luke normalerweise aus dem Weg. Es hatte keinen Sinn, darüber zu sprechen, solange er noch nicht wusste, ob er die Stelle bekommen würde. Aber Scarlet wirkte eher ehrlich interessiert als neugierig, weshalb er einen Moment lang das Frühstück vergaß und ihr zu seiner eigenen Überraschung erzählte, was in ihm vorging.

„Meine Ex arbeitet dort“, sagte Luke. „Wir haben uns erst vor einem Monat getrennt. Ich muss noch mit ihr darüber reden.“

„Warum?“, fragte Scarlet. „Willst du noch etwas von ihr?“

„Nein.“

„Will sie noch etwas von dir?“

„Nein.“ Luke lächelte. „Die Trennung war überfällig.“

„Also gibt es doch kein Problem.“ Dieses Mal zuckte Scarlet mit den Schultern. „Aber ich glaube dir nicht.“

„Bitte?“

„Kann man wirklich aufhören, von jemandem etwas zu wollen?“

„Ja, kann man.“ Doch als er Scarlet ansah, die gerade ihre Schuhe ausgezogen hatte und immer noch seine Notizen las, fragte er sich, ob das stimmte. Sie hatte die Knie angezogen, den Kopf auf das Kissen gelegt und hielt sich das Papier zum Lesen über das Gesicht. Er konnte die Senke ihres Bauchs und ihre Brustwarzen durch das Kleid sehen, und dann nahm sie die Zettel weg, sodass sie ihn ansehen konnte, und lächelte.

Und Luke bezweifelte, dass er jemals aufhören könnte, etwas von ihr zu wollen.

„Frühstück“, sagte Luke, um wieder zu praktischen Überlegungen zurückzukehren.

„Ich esse kein Frühstück“, sagte Scarlet. „Ich trinke nur Kaffee.“

„Du wirst morgen früh einen Riesenhunger haben, Scarlet“, sagte Luke.

Etwas in seiner Stimme ließ sie schlucken, und sie legte die Zettel weg. „Dann lies mir mal besser vor, was es gibt.“

„Cornflakes, Müsli?“

„Müsli.“

„Vollmilch oder …“

„Vollmilch“, unterbrach ihn Scarlet. „Und vielleicht noch Schlagsahne dazu. Die können wir sicher auch anderweitig gebrauchen.“

Mit jedem Kreuzchen lud sich die Atmosphäre mehr auf.

„Toast?“ Er schaute zu Scarlet, und sie schüttelte den Kopf.

„Zu viele Krümel.“

Sie kam zu ihm herüber, und sie lasen die Karte zusammen.

„Oh, Bacon“, sagte Scarlet. „Ganz gefährlich.“

Beeilt euch doch mit dem Abendessen, dachte Luke, denn Scarlet stand nun vor ihm und lehnte sich zurück, sie lehnte sich an seine Brust, sodass er ihren Po an sich spüren konnte und sein Gesicht in ihren Haaren versenken wollte. Er wollte sie herumdrehen und sie direkt hier an der Wand nehmen.

Scarlet bemühte sich, das erregende Prickeln zu ignorieren, das tief in ihrem Innern aufgeflammt war. Sie wollte Luke so sehr; so ein Verlangen hatte sie noch nie erlebt. Er hatte ihr die Hand auf den Bauch gelegt und drückte sie an sich, und jetzt war sein Mund an ihrem Hals, und seine Küsse fühlten sich auf ihrer Haut so sexy und zärtlich an.

„Ich habe dich beobachtet, seit du in den Klub gekommen bist“, sagte Scarlet.

Luke drehte sie herum und sah ihr in die Augen. „Ich wollte dich seit dem Moment, als ich mich an der Bar zu dir umgedreht habe.“

Es klopfte an der Tür. Er war versucht, es zu ignorieren, zu rufen, dass sie das Essen draußen stehen lassen sollten. Aber nein, sie sollten wirklich etwas zu sich nehmen.

Als der Wagen hereingeschoben wurde, schaltete Scarlet den Fernseher ein und fand einen Musiksender. Luke überreichte das Trinkgeld, und sobald sich die Tür geschlossen hatte, standen sie sich gegenüber.

Luke zog sich das Hemd aus. Dann die Schuhe. Und Scarlet sah zu, während er sich entkleidete.

Was für ein Körper, dachte Scarlet. Muskulös, schlank und sehr, sehr männlich. Sie war Männer gewöhnt, die fast noch glattrasierter waren als sie.

„Du hast behaarte Beine.“ Scarlet lächelte.

„Anders würde ich Rugby wohl nicht überleben.“

Scarlet schälte sich in einer flüssigen Bewegung aus ihrem Kleid, und Luke machte keine Anstalten sie aufzuhalten, als sie ihren winzigen Slip auszog und sich an den kleinen Tisch setzte.

Der Burger war fantastisch. Fettig, saftig, und wenn ihr ein Stück Zwiebel auf die Brust fiel, fischte Luke es von ihrer Haut und fütterte sie damit. Sie fütterten sich gegenseitig. Es war das wunderbarste Essen, das sie jemals erlebt hatte.

Seine Rugby-Freunde würden ihn auslachen, wenn sie ihn jetzt sehen könnten. Scarlet fütterte ihn, und Luke leckte ihr nicht nur die Finger ab, sondern küsste auch ausgiebig ihre Handfläche. Als alles aufgegessen war, stand Luke auf.

„Willst du tanzen?“, fragte er.

Nur mit ihren Schuhen bekleidet, stand Scarlet auf. Sie schmiegte sich in seine Arme, und er zog sie an sich.

Scarlet spürte seine nackte Brust an ihrer Wange und schlang die Arme um seine Hüften. Nirgendwo anders hatte sie sich jemals so wohl gefühlt.

Luke spürte, wie sie sich zu wiegen begann, und sog den Duft ihrer Haare ein. Er umfasste ihr Gesicht und suchte wieder ihre Lippen, und dann tanzten sie ohne Hemmungen.

4. KAPITEL

So hatten sie sich vor zwei Jahren kennengelernt.

Und hier saßen sie nun in seinem Büro, gefangen in den Erinnerungen an jene Zeit. Es war zu schmerzhaft, daran zu denken, was am Morgen danach passiert war.

„Ich weiß nicht, was ich tun soll“, sagte Scarlet mehr zu sich selbst als zu Luke.

Sie hatte das Gesicht wieder in den Händen vergraben und weinte. Sie hatte Pläne gehabt. Große Pläne. Sie hatte ihrer Mutter davon erzählt. Und jetzt war das passiert.

Luke sah sich noch einmal das Foto von Scarlet auf dem Smartphone an und unterdrückte die in ihm aufsteigende Wut. Schließlich hatte Scarlet ihre Mutter bewusstlos und dem Tode nah vorgefunden.

Sie mochte noch so reich und berühmt sein – das, was sie jetzt am meisten brauchte, konnte sie nicht kaufen. Mehr als je zuvor brauchte Scarlet nicht nur Ruhe und Frieden, sie verdiente es auch.

„Warum gehst du nicht in ein anderes Hotel und checkst als Lucy ein?“ Sie hatte ihm damals beim Abendessen von ihrem Decknamen und ein bisschen von ihrem Leben erzählt.

Davon, dass der Ruhm ihrer Mutter zwischenzeitlich nachgelassen hatte, aber dann war Scarlet geboren worden, und mit dem niedlichen Baby auf der Hüfte war Anya wieder zum Weltstar aufgestiegen.

Er hatte herausgehört, dass Scarlet ein hübsches Accessoire neben den Designerkleidern ihrer Mutter gewesen war und daher viel zu kostbar, um in die Schule geschickt zu werden.

„Das verschafft mir vielleicht ein paar Stunden, und dann verrät doch jemand etwas“, sagte Scarlet. „Und was ist, wenn ich meine Mom besuchen will? Die Reporter sind überall, sie werden sich auf mich stürzen.“

„Nur, wenn du mit deinen Bodyguards im Schlepptau kommst“, sagte Luke. „Du könntest dir etwas Unauffälliges anziehen und über den Eingang der Entbindungsstation hereinkommen. Dann bekommt es keiner mit. Der Sicherheitsdienst könnte dich direkt auf die Intensivstation bringen, ohne dass jemand etwas bemerkt.“

„Nein, gerade jetzt brauche ich meine Bodyguards. Zurzeit ist die Presse mehr an mir interessiert als …“ Scarlet hielt inne. Sie konnte niemandem von dem Eifersuchtsdrama erzählen, das sich letzte Nacht zwischen ihr und ihrer Mutter abgespielt hatte. „Luke, kannst du mir bitte helfen? Ich muss hier weg, ich brauche Ruhe.“

„Das haben wir schon mal versucht, weißt du noch?“, rief er ihr in Erinnerung. „Und du hast es vermasselt.“

„Das mache ich dieses Mal nicht.“

„Ich glaube dir nicht, Scarlet.“ Luke schüttelte den Kopf. „Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass du dir selbst helfen kannst. Du bist süchtig nach Aufmerksamkeit …“ Luke verstummte. Er wollte es ihr nicht noch schwerer machen, aber zwei Jahre danach war er immer noch verletzt und wütend, und es fiel ihm schwer, sich das nicht anmerken zu lassen.

„Ich weiß, dass es dir Unannehmlichkeiten bereiten würde, wenn ich bei dir zu Hause …“, redete Scarlet auf ihn ein, doch Luke unterbrach sie.

„Eine Freundin zu Besuch zu haben, stört mich nicht. Mich stört nur, wenn diese Freundin ihren ganzen Tross mitbringt …“ Er bemühte sich redlich, ruhig zu bleiben.

„Oder hätte deine Partnerin etwas dagegen?“

Luke antwortete nicht. Er sagte nicht, dass er mit niemandem zusammen war, dass in den letzten zwei Jahren jeder Versuch, eine Beziehung aufzubauen, gescheitert war. Und zwar nicht nur, weil er kalt, arrogant und von seiner Arbeit besessen gewesen war, sondern auch aus einem anderen Grund – wegen seiner Schuldgefühle. Er musste immer noch an ihre eine gemeinsame Nacht denken, und seitdem hatte nichts mehr gestimmt.

Scarlet fasste sein Schweigen anders auf. Sie dachte, dass es ihm anders als ihr gelungen war, die Sache hinter sich zu lassen.

Sie stand auf. „Kann ich zu meiner Mutter?“

Autor

Fiona McArthur

Fiona MacArthur ist Hebamme und Lehrerin. Sie ist Mutter von fünf Söhnen und ist mit ihrem persönlichen Helden, einem pensionierten Rettungssanitäter, verheiratet. Die australische Schriftstellerin schreibt medizinische Liebesromane, meistens über Geburt und Geburtshilfe.

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