ANNIE O’NEIL
Her Hot Highland Doc
Bei ihrem Namen „O’Shea“ hat Brodie natürlich an eine Schottin
gedacht, die ihn in seiner Klinik unterstützt. Stattdessen steht
er einer exotischen Schönheit mit schwarzem Haar und Mandelaugen
gegenüber! Kali O’Shea erinnert den spröden Highland-
Arzt an alles, was er für immer vergessen wollte. Zum Beispiel,
wie es ist, wehrlos vor lauter Liebe zu sein …
LUCY CLARK
Reunited with His Runaway Doc
Sie ist bezaubernd – aber das ist nicht der einzige Grund,
weshalb Arthur seine neue Kollegin Dr. Maybelle Freebourne
interessant findet. Irgendetwas an ihr kommt ihm vage ver -
traut vor. Er ist entschlossen, alles über sie herauszufinden
und sie dann zu erobern! Doch als er sie zum ersten Mal küsst,
weiß er plötzlich wieder, woher er sie kennt …
AMALIE BERLIN
Uncovering Her Secrets
Dr. Preston Monroe hat geahnt, dass die Zusammenarbeit mit
Dasha eine Riesenherausforderung sein wird! Sie waren ein
Paar, bis sie ihn schmählich betrog. Aber jetzt mit der schönen
Chirurgin Tag für Tag Schwerverletzte zu retten weckt in ihm
erneut zärtliche Gefühle. Und dann kommt der Tag, an dem
Preston selbst verzweifelt Dashas Hilfe braucht …
Her Hot Highland Doc
1. KAPITEL
Sintflutartiger Regen peitschte ihm ins Gesicht und konnte sich doch nicht mit dem Sturm messen, der in Brodie McClellan tobte. Heute nicht. Morgen nicht. Bis zum Sankt Nimmerleinstag nicht.
Trotzdem musste Brodie lachen … nicht aus Vergnügen, sondern verzweifelt, um die Trostlosigkeit abzuwehren. In den Monaten, in denen er im Ausland gewesen war, hatte er den Tod fast tagtäglich erlebt. Und dennoch erschütterte ihn dieser Todesfall, an dem Ort, von dem er immer weggewollt hatte, mehr als alles andere. Einen Moment lang fühlte Brodie sich überrumpelt, wie aus der Bahn geworfen, ohne Halt.
„Hey, Dad.“
Er kniete sich auf den Boden, strich unwillkürlich an einer erhabenen Stelle die vollgesogene Erde glatt. Es sah aus, als würde es noch Monate dauern, bis hier endlich Gras wuchs, um das Grab seines Vaters zu bedecken. Brodie wunderte es nicht, dass sein Bruder das Versprechen, Rasen auszusäen, nicht gehalten hatte. Man brauchte sowieso schon viel Überredungskunst, um ihn aus den Bergen hierherzuholen, und dieser Anlass … Lass es gut sein. Callum hat ein weiches Herz, und er trauert genauso.
Brodie grub die Finger wieder in die nasse Erde. Die Zeit deckt alles zu. Eines Tages würde das Grab wie das seiner Mutter links neben ihm aussehen – dessen Anblick er immer noch schwer ertrug. Er tastete danach, spürte Gras unter den Fingern.
Ja, mit der Zeit bekam jede Grabstelle eine dichte Schutzschicht, duckte sich mit all den anderen ins sanfte grüne Gras. Zeit, die er nicht hatte. Zeit, die er Dunregan nicht geben wollte. Nicht nach allem, was die Insel und das Meer ihm genommen hatten.
Der Friedhof mit seinen verwitterten Gedenksteinen wurde allmählich zu einem vertrauten Anblick. In den letzten vierzehn Tagen war Brodie öfter hier gewesen als in der ganzen Zeit seiner Kindheit und Jugend auf Dunregan. Bewegt von Fragen, die er hätte stellen sollen, bevor er die Insel verließ. Jetzt würde er keine Antworten mehr bekommen.
Grau. Alles war grau. Die Grabmäler, der Himmel, die Steine der Mauern. Als hätten sämtliche Farben frustriert die Flucht ergriffen.
Brodie strich über den Grabstein seines Vaters. „Wir machen es dir hier schön, Dad. Pflanzen ein paar Blumen, was meinst du?“
Eine Erinnerung tauchte auf: Callum und er, wie sie als kleine Jungen Schneeglöckchenzwiebeln ausgruben, weil der Vater ihnen für jedes Bündel ein paar Pence spendierte. Brodie wischte sich die Regentropfen vom Gesicht, überrascht, dass er bei dem Gedanken an das armselige Taschengeld lächelte. Was für ein Schatz, was für ein Reichtum waren die Türmchen aus Kupferpennys damals für ihn gewesen!
„Ich besorge dir Schneeglöckchen, okay, Dad? Und später Hasenglöckchen. Für Mum und dich. Sie hat die blauen Blütenteppiche im Frühjahr immer geliebt.“
Er schüttelte den Kopf, als ihm klar wurde, dass er auf eine Antwort wartete.
„Die Praxis ist ein Albtraum, ich musste eine Vertretung besorgen. Das verschafft mir Zeit, bis ich weiß, wie ich den Leuten erkläre, dass alles okay ist. Dass ich okay bin.“
Wieder sah er zum Himmel hinauf. Seine Stimmung passte zum Wetter. Böen zerrten an ihm, bitterkalte Regenschauer entluden sich aus düsteren Wolken. Es war so verdammt kalt hier auf Dunregan!
Die Hände auf die Schenkel gestützt, erhob er sich, sah an sich hinunter und fluchte. Die feuchte Erde hatte auf seiner Hose unübersehbare Spuren hinterlassen.
Auf der kurzen Fahrt nach Hause versuchte Brodie, vom Grund seines Herzens wenigstens ein bisschen gute Laune heraufzubeschwören. Das war nicht er – dieser grüblerische Kerl, dessen mürrische Miene ihm beim gelegentlichen Blick in den Rückspiegel begegnete. Er war liebender Sohn, älterer Bruder eines jungen Mannes, der sich für ein unkonventionelles Leben entschieden hatte. Er war Cousin, Neffe, Freund. Und trotzdem fühlte er sich wie ein Fremder in der vertrauten Umgebung. Beladen mit niederdrückenden emotionalen Lasten.
Er lenkte den Wagen auf die kiesbestreute Zufahrt seines Elternhauses – und trat abrupt auf die Bremse.
„Was zum …?“
Holz. Ein Riesenstapel Bauholz versperrte fast die Zufahrt. Seit er wieder auf Dunregan war, hatte er kaum mit jemandem gesprochen, geschweige denn, einen Haufen Holz bestellt!
Brodie sprang aus seinem Allradjeep und suchte nach einem Lieferschein. Er fand ihn schließlich unter einem Packen Viertelzoll-Sperrholz. Skeptisch überflog er die einzelnen Posten, sah Aufzählungen von Holzarten und Zuschnitten. Wie bei einem Puzzle fielen die einzelnen Teile schließlich an ihren Platz, formten ein Bild.
Das Boot.
Das Boot, das sein Vater und er immer hatten bauen wollen. Das Boot, an das er nicht einmal denken konnte, seit er eines Tages von der Segeltour zurückgekommen war … ohne seine Mutter.
Gefühle schnürten ihm die Kehle zu, scharf und brennend.
Er musste nur diesen Tag überstehen. Und dann den nächsten und den nächsten. Bis der Schmerz nachließ, sich zurückzog wie die Gezeiten an den Ufern dieser Insel, die einmal sein Zuhause gewesen war.
Kali umklammerte die Lenkergriffe fester.
Radfahrer gegen die Elemente. Das Spiel hat begonnen.
Sie hob den Kopf, nur um vom Wind einen heftigen Schlag ins Gesicht zu bekommen. Ihre Augen tränten. Ihr lief die Nase. Und ihr Haar … Vielleicht wäre es doch keine so schlechte Idee gewesen, sich einen Pixie Cut schneiden zu lassen. Modisch, elfenhaft, interessant. Jetzt sah sie wahrscheinlich aus wie eine ertränkte Katze.
Trotzdem konnte sie nicht aufhören zu lächeln!
Ein neuer Anfang – wieder einmal – war nie ein Gipfelsturm, sondern immer ein beschwerlicher Aufstieg. Allerdings hätte sie nicht gedacht, dass ihr der Neubeginn auch körperliche Kräfte abverlangte! Nur noch hundert Meter lagen zwischen den arktischen Windböen von Mutter Natur und einer Tasse Tee. Wer würde gewinnen? Die frisch gebackene Allgemeinärztin oder das stürmische Wetter auf der nördlichsten Insel von Schottland?
Der nächste wütende Windstoß, vermischt mit salzigem Gischtnebel, drückte Kali gefährlich nahe an den Straßengraben. Ein Graben voll mit … Igitt. Ein Blick auf die dunkle, mit schmutziger Eishaut bedeckte Fläche genügte, um vernünftig zu werden. Kali beschloss, zu Fuß weiterzugehen, und glitt von ihrem Vintage-Fahrrad.
Eisiges Wasser schwappte ihr über die Füße und die Beine hoch. Der Kälteschock nahm ihr für einen Moment den Atem. Als sie an sich hinunterblickte, entdeckte sie die riesige Pfütze, in der sie mit ihren Ballerinas gelandet war.
Definitiv das falsche Schuhwerk. Eine Shoppingtour, um sich Stiefel und eine vernünftige Jacke zuzulegen, war angesagt. So viel also zu der romantischen Idee, an Dunregans Küste entlangzuradeln und ihren ersten Arbeitstag mit rosig überhauchten Wangen anzutreten. In London blühten überall Tulpen! Wie lange würde es dauern, bis auf dieser Insel der Frühling einzog?
„Dr. O’Shea?“
Eine Frau in den Fünfzigern tauchte neben ihr auf, dick eingepackt in eine wasserdichte Jacke, Stiefel, Fäustlinge und Wollmütze. Kleidung, die Kali auch gebraucht hätte.
„Ja.“ Sie lächelte und schnitt eine Grimasse, als der Wind ihre Gesichtszüge verzerrte. Wahrscheinlich sah sie aus wie eine wulstlippige Comicfigur!
„Ailsa Dunregan.“ Die Frau sprang von ihrem Rad, um neben ihr herzugehen, und lachte auf, als Kali erstaunt die Augen aufriss. „Ja, ich weiß. Verrückt, was? Ich heiße wie die Insel, auf der ich wohne. Überflüssig zu sagen, dass meine Familie – oder vielmehr die meines Mannes – schon sehr lange hier ist. Meine Familie lebt hier erst seit ein paar Hundert Jahren.“
Ein paar Hundert? „Woher wussten Sie, wer ich bin?“
Ailsa warf den Kopf zurück und lachte herzhaft. Sofort trug der Wind ihr Lachen davon. „Nur jemand, der nicht von hier ist, würde …“
Der Rest ging im Heulen des Sturms unter. „Wie bitte?“ Kali versuchte, ihr Rad näher an die Frau zu schieben, und mit ihrem energischen Schritt mitzuhalten.
„Ich bin die Arzthelferin!“, rief Ailsa. „Wie ein Gastwirt kenne ich alle Neuigkeiten und sämtlichen Klatsch und Tratsch. Und es gibt nicht viele Menschen, die um diese Jahreszeit unsere Insel besuchen.“
Kali nickte nur, weil sie erneut mit dem Wind kämpfte, der ihr das Rad aus den Händen zu reißen drohte. „Sie hat ihre Vorzüge!“, antwortete sie, sobald sie wieder sicher stand.
„Finden Sie?“ Wieder lachte Ailsa auf. „Wenn Sie unwirtliche, trostlose Gegenden mögen, sind Sie bei uns genau richtig.“
Wie in stillschweigender Übereinkunft senkten sie die Köpfe und schoben ihre Räder gefühlt Zentimeter für Zentimeter am Straßenrand entlang. Kali lächelte in die weichen Falten ihres Wollschals, ihr einziges Zugeständnis an die eisigen Temperaturen. Verglichen mit anderen Hindernissen, die sie hatte überwinden müssen, war dieses hier ein Spaziergang. Wenige ungefährliche Meter zwischen ihr und einem neuen Leben.
Sie brauchte sich nicht mehr zu verstecken. Nicht mehr ängstlich über die Schulter zu blicken. Okay, sie hatte einen anderen Namen angenommen und wurde von der Forced Marriage Protection Unit unterstützt, die von Zwangsverheiratung bedrohten Frauen half. Und es gab genug, worum sie sich eines Tages würde kümmern müssen. Aber jetzt, in diesem Moment, während der Wind ihre Sorgen davonpustete wie verstaubte Spinnweben, fühlte sie sich wirklich als Kali O’Shea.
Dr. Kali O’Shea, auf Dunregan hoch im Norden endlich in Sicherheit.
Als wären ihm Finger gewachsen, schnappte sich der kalte Wind plötzlich ihr Fahrrad, Kali stürzte auf den rauen Asphalt, und ihr Drahtesel landete im Straßengraben. Dem tiefen Graben, in den sie gleich klettern musste und sich wahrscheinlich die Beine blutig stoßen würde.
Schon passiert! dachte sie, als sie ihre aufgeschrammten Knie sah, während sie sich mühsam aufrappelte. Glückwunsch, Kali! Hättest dich nicht nach der Göttin der Macht und des Wandels nennen sollen. Die Göttin der Anmut wäre eine bessere Entscheidung gewesen.
„Oh nein! Alles in Ordnung, Liebes?“ Augenblicklich war Ailsa bei ihr.
Kali drängte die Tränen zurück, die hinter ihren Lidern brannten, und presste die Hände auf ihre lädierten Knie. Komm schon, Kali. Du bist eine erwachsene Frau.
Aber wenn …
Nein. Denk positiv. Kein Wenn und Aber mehr.
„Was ist hier los?“ Ein Paar derber Männerstiefel tauchte in ihrem Blickfeld auf, die Stimme hatte einen rauen schottischen Akzent. „Sammelst du jetzt schon Patienten von der Straße auf, Ailsa?“
Kali ließ den Blick höhergleiten, über lange, muskulöse Beine, eine dicke Wachsjacke, bis hin zu … Ooh … Sie hätte nie gedacht, dass sie auf einen bestimmten Typ stand. Aber dieses wandelnde Werbemodel für den nordisch-schottischen Fischertyp mit … oooh … den wundervollsten kornblumenblauen Augen, die sie je gesehen hatte …
Sie schluckte.
Der Mann war atemberaubend. Und nicht nur das, da war etwas an ihm, das sie magisch anzog … Sicherheit, Geborgenheit.
Um die dreißig? Strohblonde Haare, markantes Kinn, unrasiert, wilder als der Designer-Bartschatten, der in der Großstadt als chic galt. Seit wann fand sie bärtige Männer attraktiv? Obwohl, in dieser windumtosten Gegend machte ein Bart durchaus Sinn. Unwillkürlich fragte sich Kali, wie sich die Härchen auf ihrer Haut anfühlen würden … kratzig oder unerwartet weich?
Sie vertrieb den Gedanken, konzentrierte sich.
Er war kein Stadtmensch, ganz bestimmt nicht. Man brauchte nicht viel Fantasie, um ihn sich auf einem schweren Motorrad vorzustellen, wie er allein die menschenleere Küstenstraße entlangbrauste. Und er war groß. Na ja … verglichen mit ihr, war jeder groß, aber er hatte die schlanke, durchtrainierte Statur eines Bergsteigers. Solche Männer liefen einem in London selten über den Weg. Vielleicht versteckten sie sich alle hier, auf Schottlands subarktischen Inseln, um Großstadtmädchen wie sie aus den Klauen der Elemente zu befreien!
„Alles okay, meine Liebe?“ Er legte ihr die Hand auf die Schulter, musterte Kali kurz, nickte dann zufrieden und ging mit langen Schritten zu der steilen Böschung. „Warten Sie, ich hole Ihnen das Rad.“
Auch noch Kavalier!
Merkwürdig, sie kannte ihn überhaupt nicht, und trotzdem vermisste sie seine Berührung. Kalis Hormone übernahmen das Ruder und machten aus ihrem Ritter in Wachsjacke einen Kerl im Wikingerdress. Dann einen im Kilt. Zum Schluss stellte sie sich ihn im Anzug vor. Pure Londoner Eleganz. Ja! Er sah in jedem Outfit umwerfend aus.
Genau wie in der Allwetterkleidung, die er tatsächlich trug. Vielleicht kam er gerade von einem Foto-Shooting für Outdoorklamotten.
„Brodie?“, rief Ailsa ihm zu, während er in Surferhaltung Richtung Graben hinunterrutschte. „Sie ist keine Patientin! Das ist Kali O’Shea. Die neue Ärztin.“
„Aha.“ Brodie bremste ab, wandte sich um, die Hände in die Seiten gestemmt. Leuchtend blaue Augen richteten sich auf Kali, blickten zu Ailsa und wieder zurück zu Kali. Dann machte er einen entschlossenen Schritt böschungaufwärts.
Kali glaubte nicht, was sie sah. Nahm er sein großzügiges Angebot etwa zurück?
Abrupt ging er in die Hocke, griff nach dem Lenker und zog das Rad mühelos aus dem Graben.
„Bitte sehr.“
Mit zwei langen Schritten war er wieder oben auf der Straße, reichte ihr das Fahrrad, war mit zwei weiteren Schritten bei seinem zerbeulten Jeep, den er umstandslos mitten auf der Straße geparkt hatte, riss die Tür auf und schwang sich hinters Steuer.
Bremslichter an. Bremslichter aus. Schottersteinchen knirschten unter den Reifen … und weg war er.
„Oh, also …“ Ailsa warf ihr einen betretenen Blick zu. „Das war un…“ Sie schüttelte den Kopf. „So habe ich ihn noch nie erlebt …“
Vor Verlegenheit brachte die arme Frau keinen zusammenhängenden Satz heraus. Kali schluckte ihr Lachen schnell hinunter. Ihr Wikinger-Fischer-Kalenderboy konnte wirklich Eindruck hinterlassen! Für einen Exzentriker war er ein bisschen jung, aber … nun ja, willkommen auf Dunregan!
Sie lächelte Ailsa an, packte die verdreckten Lenkergriffe und schob das Rad weiter. Schlamm spritzte von den Speichen auf ihre Hose. Das war jetzt auch egal, sie musste sich sowieso umziehen!
„Es tut mir so leid. Sonst ist Brodie nicht so unhöflich.“
„Wer ist er?“
„Wissen Sie das nicht?“ Bestürzt sah Ailsa sie an.
In dem Moment dämmerte es ihr. „Vermute ich richtig, dass wir ihn in der Praxis wiedersehen werden?“ Ein nervöses Flattern taumelte durch ihren Magen.
„Sein Name steht neben dem Praxiseingang, im Wartezimmer und auf der Tür zum Hauptsprechzimmer.“
„Er ist Dr. McClellan?“ Na toll! Kali versuchte, ein unbeteiligtes Gesicht zu machen.
„Die meisten nennen ihn den jungen Dr. McClellan. Sein Vater hat die Praxis geführt, er ist vor Kurzem gestorben.“ Flüchtig presste sie die Lippen zusammen, blickte auf die Straße, als wäre dort zu lesen, was sie noch hinzufügen könnte. Schließlich sah sie mit einem entschuldigenden Lächeln Kali wieder an. „Ich fürchte, Brodie ist nicht der Typ, der den roten Teppich ausrollt.“
Die Untertreibung des Jahrhunderts! „Er ist eher der praktische Typ, was?“, antwortete sie lächelnd. „Was ja nicht schlecht ist.“ Kali war entschlossen, das Gute zu sehen. Genau wie es ihr die Psychologin im Schutzhaus geraten hatte.
Sie hörte die Worte, als würde die Frau wieder neben ihr sitzen. „Es wird schwer werden, ohne jeden Kontakt zu Ihrer Familie weiterzuleben. Das Gute daran ist, dass Sie Ihr Leben leben können, wie Sie wollen!“
Wie eine Leuchtreklame flammten die Worte in ihrem Kopfkino auf. Fast wie ein Nachhall dessen, was ihre Mutter zu ihr gesagt hatte, bevor Kali vor fünf langen Jahren mitten in der Nacht aus ihrem Elternhaus geflohen war. Die Fähigkeit, auf die Sonnenseite zu blicken, hatte sie seitdem durch die dunkelsten Tage getragen. Und heute würde es wieder genauso sein.
„Es ist nicht mehr weit.“ Ailsa deutete mit dem Kopf auf die Dächer, die vor ihnen auftauchten. „Wenn wir erst in der Praxis sind, hole ich Ihnen etwas Trockenes zum Anziehen, und dann gibt’s eine schöne heiße Tasse Tee.“
Tee! Die Sonnenseite lockte.
Brodie war versucht, an der Praxis vorbeizufahren, hinauf in die Berge, um seinen Bruder zu suchen. Oder bei einer Geländetour auf dem Mountainbike Dampf abzulassen wie Callum. Seit Brodie zurück war, hatte er ihn noch nicht gesehen.
Zeit hätte er, zu ihm würden sowieso keine Patienten kommen.
Aber zu ihr. Dem neuen Mädchen.
Mach dir nichts vor.
Der neuen Frau.
Ihrem Äußeren nach zu urteilen, war Dr. O’Shea kein Schottenkind. Ebenholzschwarzes langes Haar. Sehr lang. Brodie zuckten die Finger, als er sich vorstellte, wie er die verlockenden, seidig schimmernden Strähnen berührte. Er ballte die Hand zur Faust, um die Regung abzuschütteln.
Südasien vielleicht, dachte er. Allerdings waren ihre Augen leuchtend grün, und auch der Nachname O’Shea passte nicht zu einer Inderin. Er stieß einen verächtlichen Laut aus. Da war er wütend auf die ganze Welt, weil ihm die Leute hier mit Vorurteilen begegneten, und was machte er? Das Gleiche bei Kali O’Shea.
Als er die E-Mail bekam, die ihm ankündigte, dass Dr. O’Shea auf dem Weg zu ihm sei, hatte er sich einen sommersprossigen Rotschopf vorgestellt. Stattdessen tauchte eine hinreißende Frau auf, zwar ein bisschen windzerzaust, aber schön wie eine kostbare Porzellanpuppe. Und mit einem strahlenden Lächeln, das er nicht so schnell wieder vergessen würde. Einmal abgesehen davon, dass sie sich bei dem Höllenwetter völlig falsch angezogen auf einem albernen Fahrrad abstrampelte, um den Job zu erledigen, den er selbst machen konnte!
Brodie fuhr hinter das Gebäude, ließ seine schlechte Laune am Schalthebel aus, rammte ihn in Parkposition und stieg aus. Als seine Füße festen Boden berührten, hörte er die Stimme seines Vaters.
Du bist einfach weggefahren? Hast das arme Ding sich selbst überlassen, am Straßenrand, schlammbespritzt, ohne ihr zu helfen? Ach, Sohn … So was tun wir hier auf der Insel nicht.
Ha, sein Vater, der Moralapostel von Dunregan! Brodie schlug die Wagentür zu und suchte in seiner Jackentasche nach den Praxisschlüsseln. Es schüttete immer noch vom Himmel. Widerwärtiges Wetter, dem Ailsa und Dr. O’Shea schutzlos ausgesetzt waren.
Okay, Dad, du hast recht. Ich hab mich wie ein Mistkerl benommen.
Er beschloss, Tee zu kochen. Als Friedensangebot an die Ärztin, die ihn ersetzte. Vorübergehend ersetzte … falls er die Inselbewohner davon überzeugen konnte, dass er nicht ansteckend war. Es nie gewesen war!
Die Menschen, die ihn seit seinem ersten Atemzug auf diesem öden Flecken felsbewehrter Erde kannten, glaubten ihm nicht, dass von ihm keine Ansteckungsgefahr ausging. Dabei hatte er das medizinische Okay gerade rechtzeitig bekommen, um ans Sterbebett seines Vaters zu eilen. Wo sie beide ihren Frieden miteinander gemacht hatten.
Aber die anderen hielten Abstand. Brodie fiel es schwer, die Bilder von der Beerdigung vor vierzehn Tagen abzuschütteln.
Sein Bruder, der anders als er auf der Insel geblieben war, wurde innig umarmt. Ihm klopfte man auf die Schulter, mit ihm lachte man und schwelgte in guten Erinnerungen an den Vater. Nur sehr wenige hatten Brodie die Hand geschüttelt. Alle anderen begnügten sich mit einem kurzen Nicken, bevor sie sich rasch abwandten.
Sein Verstand gab der Zeit in Afrika die Schuld, doch sein Herz wusste es besser. Die Zeit heilte nicht alle Wunden. Nichts konnte seine Mutter zurückbringen, von diesem Segeltörn, auf dem er bestanden hatte. Keine noch so harte Strafe würde der Insel ihre schönste Rose wiedergeben.
Brodie hatte überlegt, ob er im Gemeindezentrum einen Vortrag halten sollte – über Afrika, über seine Arbeit bei Ärzte ohne Grenzen, über die Sicherheitsmaßnahmen, die er getroffen hatte. Aber er konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass niemand kommen und er sich wie ein Außenseiter fühlen würde. Er, der hier aufgewachsen war.
Er steckte den altmodischen Schlüssel in die massive Holztür und drückte beim Aufschließen mit dem Fuß gegen die rechte untere Ecke, weil die Tür bei Feuchtigkeit dort immer klemmte.
Die vertraute Geste entlockte ihm ungewollt ein Lächeln. Er kannte dieses Gebäude wie seinen rechten Arm. Hier war er aufgewachsen. Hier hatte er, unter dem aufmerksamen Blick seines Vaters, zum ersten Mal einen Herzschlag abgehorcht.
Und jetzt – wie sein Vater und dessen Vater – übernahm er die Praxis. An einem Ort, den er gut kannte. Zu gut. Brodie zog eine Grimasse, als der Wind der Tür einen letzten Schubs gab, und betrat das Haus.
Ohne sich umzudrehen, wollte er sie wieder ins Schloss drücken, stieß jedoch auf Widerstand. Brodie drückte fester. Die Tür wehrte sich.
„Du hast wirklich eine interessante Art, deine neue Kollegin willkommen zu heißen, Brodie.“
Ailsa stand hinter ihm, versuchte, die Tür offen zu halten, nicht nur für sich, sondern auch für … ja, da war sie, direkt hinter Ailsas Schulter. Dr. O’Shea.
„Hi, ich bin Kali.“ Sie trat vor und streckte ihre zerschrammte Hand aus. Was Brodie daran erinnerte, dass er ihr seine Hilfe hätte anbieten sollen.
Im nächsten Moment zog sie sie wieder zurück und wischte sie an ihrem matschbespritzten Mantel ab. „Entschuldigung. Ich sehe heute Morgen nicht besonders toll aus.“
„Nein. Also …“ Brodie hätte sich treten können. Wo war das Loch im Boden, in dem er versinken konnte?
„Brodie McClellan! Lässt du das arme Mädchen endlich rein, damit sie sich etwas Trockenes anziehen und etwas Heißes trinken kann?“ Ailsa blickte ihn tadelnd an. „Mrs. Glenn hat gestern Nachmittag selbst gebackene Kekse vorbeigebracht. Sieh zu, ob du sie finden kannst, während ich ein Handtuch für Dr. O’Sheas hübsches langes Haar hole. Und sieh mal nach, was wir ihr an Wechselkleidung anbieten können.“
„Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“, rief er ihr nach. Dann fiel ihm ein, dass die andere Frau immer noch wartete. Die, die nicht wie Ailsa den Mut gehabt hatte, sich an ihm vorbeizudrängen. „Kommen Sie herein.“
Kali musterte Brodie wachsam, als er tatsächlich lächelte und sie wie ein freundlicher Butler mit einer einladenden Armbewegung ins Haus bat. Die blauen Augen waren jedoch auf den Parkplatz hinter ihr gerichtet. Bedauerte er, dass der Trick, Kali verschwinden zu lassen, nicht funktioniert hatte?
Während sie an ihm vorbeiging, blickte sie ihn fragend an. Nicht gerade Prince Charming, wie? Aber, oh, er duftet zum Anbeißen! Nach Meer, dunklem Torf und frisch gebackenem Brot. Mit Butter.
Sie unterdrückte ein Lächeln, als ihre Fantasie wieder mit ihr durchging. Kali sah sich an Bord eines Wikingerschiffs, mit Pelzstola auf den Schultern, eine rabenschwarzhaarige Freibeuterin, die ihrer Mannschaft die nahende Insel zeigte. Selbstvergessen formte sie mit den Lippen die Worte Land in Sicht!
Ups. Ihr Blick glitt zu Brodie. Der sah sie immer noch nicht an. Auch gut!
Kali schaute auf die vielen verschlossenen Türen rechts und links des langen Flurs. Sie hatte keine Ahnung, was sich dahinter verbarg. „Wo geht’s hin?“
„Den Flur hinunter und dann links und erste Tür rechts. Da müsste Ailsa sein, im Lagerraum.“
Brodie schloss die Haustür. Er hatte eine angenehme Stimme, tief, mit rollendem R und starkem schottischen Akzent. Sehr männlich. Wenn er nur nicht so mürrisch wäre … Kali betrachtete ihn genauer. Kantige Kinnpartie, ausdrucksstarke blaue Augen, dichtes Haar, in das jede Frau gern ihre Finger schieben würde.
Oh ja, Brodie McClellan hatte etwas. Er mochte ein knurriger Kerl sein, aber er kam ihr nicht vor wie jemand, der Spaß daran hatte, andere zu ärgern. Auf gewisse Weise war er mit seiner rauen Art ehrlich.
Etwas, worum sie ihn beneidete. Er war ein Mann, der aufrichtig rüberkam, ohne Fassade. Selbst wenn diese Ehrlichkeit ihn kratzig wie Sandpapier machte. Kali ließ den Blick über seine Arme zu den Händen gleiten. Schlanke Finger, kein Ring. Ein einsamer Wolf, der nicht die Absicht hatte, sich einem Rudel anzuschließen.
Kali tauchte aus ihren Gedanken auf, als sie feststellte, dass der Wolf mit ihr sprach. Ohne sie anzusehen, den Blick auf seine Armbanduhr gerichtet.
„So … Sie wollen bestimmt loslegen. Ich setze kurz Wasser auf, und wir sehen uns in zwei Minuten, damit wir alles Notwendige besprechen können. Die Praxis macht bald auf.“
Er verschwand in einem Durchgang, und gleich darauf hörte Kali, dass ein Wasserhahn aufgedreht und ein Teekessel gefüllt wurde.
Merk’s dir, dachte sie und verzog die Lippen zu einem ironischen Lächeln. Hier oben herrscht ein anderer Umgangston. Kein Hallo, wie geht es Ihnen? Ich bin Dr. Sowieso, willkommen in unserer Praxis. Hier steht der Tee, dort der Wasserkessel, schreiben Sie Ihren Namen auf Ihr Lunchpaket, wenn Sie mutig genug sind, den Personalkühlschrank zu benutzen, und wir hoffen, dass es Ihnen bei uns gefällt, bla, bla, bla.
Dr. Brodie McClellans rüdes Benehmen hätte sie in einem Großstadtkrankenhaus mit seinem chronisch überarbeiteten Personal erwartet, aber hier im beschaulichen Dunregan, eine komfortable halbe Stunde vor Praxisöffnung?
Geschirrklappern brach die Stille, gefolgt von einem unwirschen Bariton, der etwas vor sich hin murmelte, das Kali nicht verstand.
Na schön, freundliche Begrüßungen schienen nicht Sache ihres neuen Kollegen zu sein. Sie hatte schon höhere Hürden genommen, als sich über jemanden aufzuregen, der den Charme-Kurs geschwänzt hatte!
Kali lehnte sich gegen die Wand, einen Moment nur, um richtig durchzuatmen. Sie schloss die Augen und rief sich den Brief mit der Einladung nach Dunregan in Erinnerung. Wie glücklich sie darüber gewesen war! Weil das Bild nicht auftauchen wollte, zog sie ihr Handy aus der Tasche, um in ihren Mails danach zu suchen.
Das Display war zerschmettert, wie ein Spinnennetz breiteten sich die Risse darauf aus.
Geschieht dir nur recht! fauchte die Stimme in ihrem Kopf. Das ist das Mindeste, was du verdienst nach allem, was du getan hast. Dem Kummer, den du deiner Mutter bereitest! Deiner kleinen Schwester!
Sie presste kurz die Hände auf die Ohren, als könnte sie damit die schrillen Töne zum Verstummen bringen. Seufzend blickte Kali zur Decke. Hinter den Balken, den Dachziegeln und den Sturmwolken wartete ein herrlich blauer Himmel. Und dies, der holprige Start in ein neues Leben, war auch wieder einer der Momente, in denen sie sich sagte, dass es nur besser werden konnte. Sie musste einfach fest daran glauben. Dunregan war ihre Chance auf einen Neuanfang, weit, weit weg vom mörderischen Zorn ihres Vaters.
„Kali, sind Sie …“ Ailsa kam in den Flur gerauscht, blieb abrupt stehen. „Liebes, hat Brodie Sie in dem nassen Zeug einfach hier stehen lassen? Du meine Güte! Man könnte meinen, dass der Mann von Wölfen großgezogen wurde!“
Derbe Kraftausdrücke drangen aus der Küche, während Kali das langärmelige T-Shirt betrachtete, das aus einer Altkleidersammlung zu stammen schien. Das und eine verwaschene Trainingshose waren wohl alles, was Ailsa hatte auftreiben können.
„Die gehört Brodie“, sagte sie.
Spontan hätte Kali beinahe dankend abgelehnt. Aber wenn sie sich keine Lungenentzündung holen wollte …
Kurz darauf stand sie im Bad und streifte die Hose über. Sie hielt inne und atmete unwillkürlich tiefer ein, als ihr aus dem weichen Baumwollstoff ein schwacher Duft nach Waschpulver und Hochmoortorf in die Nase stieg. Rasch schlüpfte sie in das T-Shirt. Beim Blick in den treibholzgerahmten Spiegel erfüllten sie gemischte Gefühle. Übergroß, sah es an ihr sexy und selbstbewusst zugleich aus.
Es ist nur ein T-Shirt! Sie schüttelte den Kopf und stopfte es vorn in den Hosenbund.
„Wann ersetzen wir endlich diesen verdammten Kessel!“
Bildete sie sich etwas ein, oder hatten gerade die Wände gewackelt?
„Komm wieder runter, Brodie. Wasser kochen ist keine Wissenschaft. Du weißt doch, wie man Tee macht, oder?“
Ailsas beschwichtigende Stimme durchdrang das Klirren von Tassen und Löffeln, und Kali konnte sich lebhaft vorstellen, wie der mürrische Doktor in der Küche herumfuhrwerkte.
„Hör auf, mich zu bemuttern“, murrte er.
„Lass mich mal sehen.“ Dann, einen Moment später: „Das muss ich verbinden, Dr. McClellan.“
„Ach, jetzt, wo ich verletzt bin, heißt es auf einmal Dr. McClellan.“
„Brodie. Dr. McClellan. Du bist immer noch der kleine Junge, dem ich die Windeln gewechselt habe und der mir auf den Schoß gekrabbelt ist, damit ich ihm Geschichten von Feen und Cowboys vorlese. Du konntest davon nicht genug bekommen, also sei still.“
Kali lächelte vergnügt, als sie sich eine Schlagzeile vorstellte:
Landarzt verliert Kampf mit widerspenstigem Kessel. Krankenschwester beruhigt ihn mit Gutenachtgeschichten.
Ob die Lokalzeitung solche Geschichten bringen würde? Auf Dunregan lebten nicht mehr als zweitausend Menschen, die Urlauber während der Sommermonate eingerechnet, falls Kali sich recht erinnerte.
„Verflucht, Ailsa! Lass das Getue. Ich brauche keinen Verband! Es ist nicht mal eine richtige Verbrennung.“
„So behandelst du deine leitende Sprechstundenhilfe, eine Krankenschwester mit zwanzig Jahren Erfahrung, Brodie McClellan?“
„Nein, aber mein Tantchen, das mich nicht in Ruhe lässt!“
Erleichtert hörte Kali Ailsa schallend lachen, nur um im nächsten Moment zusammenzuzucken, weil eine Tür zugeknallt wurde. Das war ja wie in einer schottischen Seifenoper! Aber es gefiel ihr, dieses Geplänkel, der offene Schlagabtausch und darunter ein Meer von Liebe.
In ihrer Familie hatte es so etwas nicht gegeben. Stopp, stopp, stopp! Energisch flocht Kali sich das Haar zu einem dicken Zopf und erinnerte sich daran, dass sie keine Familie hatte. Keine, mit der sie streiten, keine, auf die sie sich verlassen konnte. Nicht mehr.
Sieh das Gute, Kali.
Die andere Stimme in ihrem Kopf – die freundliche, die Kali durch ihre dunkelsten Momente geleitet hatte – gewann die Oberhand, übertönte wie eine silberhelle Flöte die bedrückenden Gedanken.
Es gibt immer auch die Sonnenseite. Konzentriere dich darauf. Sieh das Gute. Keine Familie zu haben, bedeutet, frei zu sein! Frei von Erwartungen und Verpflichtungen!
Sie zog das Tunnelzugband der Hose enger – und fuhr erneut zusammen, als wieder eine Tür laut ins Schloss fiel. Schritte waren nicht zu hören, also konnte sie ruhig nachsehen, was draußen los war. Es hatte ja keinen Sinn, sich in der Toilette zu verstecken! In weniger als dreißig Minuten musste sie den ersten Patienten aufrufen, da sollte sie sich vorher mit der Praxis vertraut machen.
Kali steckte den Kopf in den Flur und zog ihn augenblicklich wieder zurück, als Brodie unerwartet an ihr vorbeistürmte. In Reitmantel und Weste wäre er als gut aussehender Held eines klassischen Liebesromans durchgegangen.
Gut aussehend?
Sie musste wirklich die rosarote Brille absetzen. Unhöflich und grantig passte besser zu dem Mann, auch wenn er etwas von einem sexy Wikinger hatte …
Da kam er zum Stehen und drehte sich um, die Hände gefaltet, beide Zeigefinger in einer nachdenklichen Geste an den Lippen. Seinen sinnlichen Lippen.
Schluss damit! Du wirst nicht jedes Mal dahinschmelzen, wenn dein neuer Chef auftaucht. Dein neuer, grummeliger Chef.
Stocksteif stand sie da, während er sie von Kopf bis Fuß musterte. Ein zartes Erschauern, wie nach der Berührung sanfter Fingerspitzen, rieselte ihr über den Rücken. Der Blick fühlte sich überraschend … intim an.
„Was für ein Outfit, Dr. O’Shea!“
Als er sie mit seinen leuchtend blauen Augen ein zweites Mal prüfend betrachtete, wand sie sich insgeheim vor Verlegenheit. Schlagfertige Antworten waren nicht ihr Ding. Nie.
„Mit einem Arztkittel darüber sollte es gehen“, stammelte sie.
Tolle Antwort, Kali.
„Klar.“ Brodie wandte sich ab und marschierte mit langen Schritten Richtung Empfang. „Ich hole nur die Patientenliste.“
Sie lief ihm nach. „Soll ich sie mir einmal ansehen?“
„Dafür sind Patientenlisten gewöhnlich da.“
Kali blieb stehen und atmete langsam aus, den Blick auf seinen breiten Rücken gerichtet, der sich immer weiter entfernte. Mann, was ist denn mit dem los? Sie eilte ihm nach.
„Ich meinte Ihre Hand.“
Brodie wirbelte so plötzlich herum, dass sie an seiner breiten Brust gelandet wäre, hätte sie nicht rechtzeitig abgebremst. Schade eigentlich, es hätte ihr gefallen, ein bisschen an ihm zu schnuppern …
„Ich dachte, Sie hätten Angst.“
„Wie bitte?“ Er hatte so aggressiv geklungen, dass sie instinktiv zurückwich. Aber Angst? Da hatte sie anderes erlebt, Todesangst, Angst um ihr Leben. Und sie hatte überlebt.
Kali straffte die Schultern. Wenn sie in letzter Minute einer arrangierten Ehe entkommen war, einer Flucht, die für sie tödlich hätte enden können, dann wurde sie auch mit einem knurrigen Kollegen fertig, der sich an einem Wasserkessel die Hand verbrannt hatte.
„Mit schwierigen Patienten hatte ich schon öfter zu tun.“
„Auch mit schwierigen Patienten mit Ebola?“
Brodie stieß ihr förmlich die Hand entgegen, und Kali musste sich zusammennehmen, um unbeirrt stehen zu bleiben. Sie hatte keine Ahnung, was er meinte, aber sie würde niemals – auf gar keinen Fall – ihr neues Leben als Angsthase beginnen!
„Wollen Sie sie nicht anfassen?“
Millimeter von ihrem Gesicht entfernt, fuchtelte er mit der Hand vor ihren Augen herum. Was sollte das werden? Ein bizarrer Test für neue Mitarbeiter? Wie auch immer, sie würde sich von Brodie McClellan nicht erschrecken lassen. Oder von sonst wem!
Verblüfft beobachtete Brodie, dass Kali sich von seinem aggressiven Verhalten nicht aus der Ruhe bringen ließ. Sie nahm seine Hand in ihre, hielt sie mit ihrem schlanken Zeigefinger offen, als seine Finger sich schützend über der Wunde zusammenballen wollten. Von medizinischen Untersuchungen abgesehen, berührte ihn jemand zum ersten Mal seit Wochen, wenn nicht sogar Monaten. Das Gefühl war überwältigend.
Fast hätte er bei Kalis sanfter Berührung leise geseufzt. Es kostete ihn viel Willenskraft, sie nicht merken zu lassen, was in ihm vorging. Als er tief ausatmete, wurde ihm bewusst, dass er die Luft angehalten hatte, während Kali seine Wunde inspizierte. Die Verbrennung war nicht schlimm. Sein Stolz hatte mehr abbekommen als seine Handfläche. Und ihre Berührung heilte ihn mehr, als Medikamente es gekonnt hätten.
Das würde er ihr natürlich nicht sagen. Sie würde bald wieder weg sein. Wie alles Gute in seinem Leben. Nur auf der Durchreise, nicht gekommen, um zu bleiben.
Jetzt sah sie ihn an, die langen dunklen Wimpern umrahmten wie Strahlenkränze ihre faszinierenden grünen Augen. „Mehr haben Sie nicht zu bieten?“
„Verzeihung?“ Warum ging sie plötzlich zum Angriff über?
„Ebola?“, sagte sie verächtlich. „Das ist alles, was Ihnen einfällt?“
Brodie konnte sich auf ihre Reaktion keinen Reim machen.
„Ihre kleinen Schikanen sind mir nicht entgangen, Dr. McClellan. Der kühle Empfang, spöttische Bemerkungen über mein Outfit. Aber ernsthaft, etwas Besseres fällt Ihnen nicht ein, damit ich umgehend wieder aufs Festland verschwinde? Ebola?“
2. KAPITEL
Brodie entzog ihr seine Hand, woraufhin Kali ihm einen empörten Blick zuwarf.
„Was? Jetzt trauen Sie mir nicht einmal zu, eine Verbrennung 1. Grades zu behandeln? Falls Ihnen das entgangen sein sollte, ich bin Fachärztin für Allgemeinmedizin!“
Was für ein Temperament! Die Frau ließ sich nicht die Butter vom Brot nehmen, so viel war sicher. Es gefiel ihm.
„Darum geht es nicht.“ Er beschloss, ehrlich zu sein. „Ich könnte mir vorstellen, dass die Jobagentur Ihnen gegenüber nicht ganz aufrichtig war.“
„Wie meinen Sie das? Vier Wochen, mit der Möglichkeit, zu verlängern – was könnte daran unklar sein?“
„Ich …“ Brodie zögerte, riss sich dann zusammen. Es hatte keinen Zweck, um den heißen Brei herumzureden. „Ich habe kürzlich die ärztliche Freigabe erhalten, nachdem ich in Afrika drei Monate in einem Ebola-Krankenhaus gearbeitet hatte.“
Drei Länder. Tausende Tote. Er wollte etwas bewegen, wollte helfen, bevor er hierher zurückkam. Es war ihm gelungen, ein kleiner Beitrag nur, aber immerhin. Im Schutzanzug hatte er Orte betreten, wo es schon den Tod bedeuten konnte, wenn man den Menschen neben einem berührte.
Und jetzt war er wieder hier und blickte praktisch in ein Meer vorwurfsvoller Gesichter.
Hattest du das im Sinn, Dad? Als du mir das Versprechen abnahmst, nach deinem Tod ein Jahr auf der Insel zu arbeiten? Damit mir klar wird, wie sehr ich hier ein Außenseiter bin?
Nein, sein Vater war weder verbittert noch rachsüchtig gewesen. Seine grenzenlose Güte und sein unerschütterliches Verständnis hatten bei Brodie ein schlechtes Gewissen ausgelöst, aus dem mit der Zeit ein nagendes Schuldgefühl geworden war.
„Hmm …“
Kali sah ihn unverwandt an. Ahnte sie etwas von seinem inneren Konflikt? Hin- und hergerissen zu sein zwischen der Loyalität des Sohnes gegenüber dem Vater und dem starken Bedürfnis, sich loszulösen, um seinen eigenen Weg zu gehen?
Ihre Stimme verriet nichts, als Kali schließlich antwortete: „Ja, das Detail haben sie ausgelassen.“ Sie betrachtete ihn. „Aber ich gehe davon aus, dass Sie nicht hier wären, wenn Sie jemanden gefährden könnten. Die große Frage ist also: Was tue ich hier, obwohl Sie für den Job fit sind?“
„Einige … Nun ja, die meisten meiner Patienten trauen sich nicht in meine Nähe.“ Sei ehrlich, Brodie. Keiner traut sich! Weil sie Angst haben, sich beim Sohn vom alten Doc McClellan mit Ebola anzustecken.
„Obwohl Sie von offizieller Seite grünes Licht bekommen haben?“
„Genau. Anscheinend geben die meisten Dunreganer nicht viel auf die Einschätzung des Gesundheitsamts.“ Er schnaubte. „Wenn ich mir vorstelle, wie viele Virusinfektionen ich hier schon behandelt habe!“ Brodie hielt inne, als er hörte, wie verbittert er klang. Okay, er war sauer, sehr sauer. Aber dahinter steckten verletzte Gefühle, sonst nichts. Außerdem erinnerten ihn Momente wie diese daran, wie sehr er sich wünschte, woanders leben zu können. Dort, wo ihn niemand kannte!
„Ich nehme an, dass Sie als jemand, der den Hippokratischen Eid geschworen hat, nur in Ihre Praxis zurückkehren, wenn von Ihnen hundertprozentig keine Gefahr ausgeht.“
Er warf ihr einen grimmigen Blick zu.
„Lassen Sie Ihren Ärger nicht an mir aus, Dr. McClellan. Ich würde keinen guten Job machen, wenn ich mich nicht vergewissern würde, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist.“
„Auch wieder wahr.“ Es war nur nicht besonders angenehm, wieder auf dem Prüfstand zu stehen. Ausgefragt zu werden von jemandem, der nicht wie er durch die Tests und strengen Befragungen gegangen war, denen er sich nach seiner Arbeit in einer Ebola-Region hatte unterziehen müssen.
Kali mochte eine voll ausgebildete Fachärztin sein, aber in ihrem Gesicht waren keine Spuren persönlicher Vergangenheit zu entdecken. Seidig glatte Haut, keine dunklen Schatten unter den Augen, dazu die Begeisterung, auf Dunregan zu arbeiten … Ein Grünschnabel, anders war das nicht zu erklären.
„Wo kommen Sie her? Frisch von der Uni?“
Sie sah ihn an, als wären ihm Hörner gewachsen. „Ich bin alt genug. Abgesehen davon, geht Sie das ja wohl nichts an.“
„Stimmt. Sie sehen nur …“
„Noch grün hinter den Ohren aus?“, stieß sie hervor und verschränkte die Arme vor der Brust.
„So hätte ich es nicht gesagt“, entgegnete Brodie. Atemberaubend schön, kam ihm in den Sinn. Allerdings entdeckte er bei genauerem Hinsehen einen wachsamen Ausdruck in ihren grünen Augen, der auf mehr Lebenserfahrung schließen ließ als ihr jugendliches Aussehen.
„Also …“, begann sie in einem Tonfall, den sie vielleicht auch bei Kleinkindern eingesetzt hätte. „Ich bin erwachsen, genau wie Sie. Machen Sie sich keine Sorgen, Dr. McClellan.“
„Brodie“, antwortete er lächelnd.
Sie gefiel ihm immer besser. Dr. Kali O’Shea hatte etwas, das ihn an ihn selbst erinnerte. Verletzlich, wenn jemand die richtigen Knöpfe drückte. Vertraute nicht so leicht, war aber zu tiefer Freundschaft fähig, falls man je an den Punkt kam.
„Okay, dann haben Sie eben Glück gehabt. Ihre Eltern haben Ihnen gute Gene mitgegeben.“
Plötzlich wirkte sie angespannt. Hatte er ein Minenfeld betreten? Vielleicht war die Beziehung zu ihrer Familie ähnlich toll wie die, die er zu seiner hatte. Ein unberechenbarer Bruder, eine gluckende Tante und eine Nichte, die der Himmel schickte, nachdem die langjährige Praxissekretärin sich aus dem Staub gemacht hatte. Kein schlechtes Team, doch zurzeit war das Gefühl „Ich gegen den Rest der Welt“ stärker, als ihm lieb war.
„Sie haben also in Afrika gearbeitet?“
Geschickt das Thema gewechselt! Ein Punkt für Kali.
„Ja. Um es kurz zu machen: Ich war bei Ärzte ohne Grenzen, die, wie Sie sicher wissen, strenge Sicherheitsmaßnahmen zugrunde legen. Außerdem hatte ich das Glück, in einer der neu aufgebauten Einrichtungen zu arbeiten. Vor fünf Wochen, bei meiner Rückkehr ins Vereinigte Königreich, ging ich zu einer vorab festgelegten Nachbesprechung unter den Argusaugen von Public Health England.“
„PHE, die Behörde des Gesundheitsministeriums für öffentliche Gesundheit? Kenne ich.“ Sie nickte ihm zu, und er wollte schon fortfahren, als Ailsa im Flur auftauchte, die Arme voll mit Patientenakten.
„Oh, Dr. O’Shea! Schön, Sie in trockener Kleidung zu sehen. Wenn Sie Ihre dort hinten in der Teeküche auf die Heizung legen, können Sie sie sicher bald wieder anziehen. Ich suche Ihnen einen Arztkittel heraus – obwohl hier keiner viel Wert auf Formelles legt. Was Sie anhaben, ist völlig in Ordnung.“
Auf dem Weg in ihr Büro zwängte sich Ailsa zwischen ihnen hindurch und bedachte Brodie mit einem vorwurfsvollen Blick. Er grinste breit zurück. Klar, er ging ihr manchmal auf die Nerven, aber dafür waren Neffen doch da, oder?
Ailsa Dunregan war eine hervorragende Krankenschwester. Und eine umsichtige Tante. Er war ihr auf ewig dankbar, dass sie nicht auch das Weite gesucht hatte.
Brodie wandte sich wieder Kali zu. Zierlich und schlank, wie sie war, sah sie in seinen Sachen ziemlich sexy aus. Wer hätte gedacht, dass ein abgetragenes T-Shirt und eine alte Trainingshose ihn reizen würden, ihr beides … vom Leib zu reißen?
Er schlug sich mental auf die Finger. Kali verhielt sich professionell. Das sollte er auch können.
„Okay, gleich fängt die Sprechstunde an. Um es also kurz zu machen – die Inkubationszeit bei Ebola liegt zwischen zwei und einundzwanzig Tagen. Ich habe mich in einer von der PHE genehmigten Unterkunft einquartiert und Folgendes gemacht: Zwei Mal täglich Fieber messen, Meldungen an meinen ‚Fieber-Bewährungshelfer‘ und eine Malaria-Prophylaxe mit allem Drum und Dran, weil die Symptome von Malaria denen des Ebolafiebers ähnlich sind. Bei dem geringsten Anzeichen von erhöhter Temperatur musste ich mich isolieren und die Paramedics rufen – genau wie jener Arzt in New York. Der übrigens auch ebolanegativ war“, fügte er rasch hinzu.
„Und wo waren Sie?“
„In London, sodass ich gleich die richtige Behandlung bekommen konnte, sollten sich irgendwelche Symptome zeigen. Und ich habe regelmäßig mit dem Krankenhauspersonal gesprochen, um mich doppelt und dreifach abzusichern, dass mein Zustand normal war.“
Kali hob fragend die Brauen.
„Ja, man wird paranoid. Hämorrhagisches Fieber ist nicht nett.“ Brodie mäßigte seinen Ton. Mit keinem Wort hatte sie ihn in irgendeiner Weise be- oder verurteilt. Sie war nicht seine Feindin. Nur eine Ärztin, die ihren Job machte. Seinen Job. Was auch immer …
Etwas ruhiger fuhr er fort: „Drei Monate im Schutzanzug, strenge Desinfektionskontrolle. Mir war vorher nie bewusst gewesen, wie oft die Leute in öffentlichen Verkehrsmitteln niesen.“ Er versuchte ein lässiges Lachen und musste husten. Sehr sexy! Nicht dass er Kali beeindrucken wollte … höchstens als Arzt.
„Verstehe.“ Sie nahm die Zügel der Unterhaltung wieder in die Hand, bevor Brodies Gedanken in die falsche Richtung galoppierten. „Ich nehme an, dass Sie mit jedem gesprochen haben? Hier auf der Insel?“
Er schluckte. Besonders ausführlich eigentlich nicht …
Kali beobachtete, wie sein Adamsapfel sich bewegte. Als sie Brodie ansah, wich er ihrem Blick aus. Aha, so sah seine Kommunikation also aus.
Vorhin hatte sie gehofft, dass er nicht merkte, wie ihre Finger zitterten, als sie seine Handfläche inspiziert hatte. Auch nach zahlreichen Selbstverteidigungskursen war dieses leichte Beben geblieben. Aber als Brodie ihr die Ebola-Granate vor die Füße warf, sorgten Jahre medizinischer Ausbildung und ärztlicher Logik dafür, dass sie ruhig blieb. Instinktiv wusste sie, dass sie einen starken Überlebenswillen besaß. Zwar war es bisher nie dazu gekommen, aber wenn sie um ihr Leben kämpfen müsste, besäße sie die nötigen Fähigkeiten, um alles zu geben.
„Hängt davon ab, was Sie unter ‚mit jedem gesprochen‘ verstehen.“ Brodie blickte sie an, während er mit seinen schlanken Fingern imaginäre Anführungszeichen in die Luft malte.
Als ihre Blicke sich trafen, fragte Kali sich, ob überhaupt jemand an seiner Aufrichtigkeit zweifeln konnte. Einen ehrlicheren Ausdruck wie in seinen klaren blauen Augen hatte sie noch nie gesehen. Unerwartet empfand sie ein Gefühl der Enttäuschung, dass sie nur ein paar Wochen auf Dunregan bleiben würde.
„Das heißt, Sie haben im Gemeindezentrum oder sonst wo keine Informationsveranstaltung angeboten?“
Seine Miene war Antwort genug.
„Was ist mit einem Artikel in der Lokalzeitung? Wie heißt sie noch?“
„Dunregan Chronicle.“
„Ich frage ja nur“, beschwichtigte sie, weil er leicht gereizt geklungen hatte. „Haben Sie etwas veröffentlicht, einen Artikel, ein Interview?“
„Nein, ich war damit beschäftigt, meinen Vater zu beerdigen. Unter anderem!“ Sofort bedauerte Brodie, dass er sie angefahren hatte, und warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. „Ich habe mich auf die Gerüchteküche verlassen, dass sie die Informationen schon unter die Leute bringen wird. Hat sie auch – nur nicht in meinem Sinn.“
„Das mit Ihrem Vater tut mir sehr leid“, begann sie. „Aber wäre es okay, wenn wir ein andermal weiterreden? Wie Sie sagten, geht die Sprechstunde bald los. Und so gern ich mehr darüber hören würde, wie die Leute hier ticken, mache ich mich jetzt lieber an die Arbeit.“ Sie zeigte mit dem Daumen Richtung Praxiseingang. „Vielleicht können wir uns nach Dienstschluss treffen, und Sie erzählen mir mehr über Ihre Arbeit in Afrika. Klingt faszinierend.“
„Es war eine unglaubliche Erfahrung. Das werde ich nie vergessen.“ Wow! Vor ihm stand der erste Mensch, der ernsthaft interessiert schien!
„Also …“ Sie zuckte leicht mit den Schultern.
Schmale Schultern in seinem T-Shirt … die flüchtige Bewegung hatte etwas unbewusst Aufreizendes, und Brodie ertappte sich bei Gedanken, die nicht hierhergehörten.
„Ich an Ihrer Stelle würde auch niemanden hier haben wollen. Es ist Ihre Praxis! Allerdings bin ich nicht hergekommen, um Ihnen das Leben schwer zu machen, sondern um zu helfen.“ Sie streckte die Hand aus. „Einverstanden?“
Brodie ließ sich auf den Handschlag ein. „Ja, Ma’am!“ Er imitierte einen amerikanischen Akzent und salutierte lässig.
Was ihm einen skeptischen Blick eintrug. Okay, darüber kann sie nicht lachen.
Ein zarter Jasminduft stieg ihm in die Nase, als Kali sich an ihm vorbeischob. „Dann will ich mich mal am Empfang vorstellen.“
„Ja, klar, natürlich. Meine Nichte Caitlyn ist die Rezeptionistin und hier in der Praxis genauso neu wie Sie.“
„Ausgezeichnet.“ Kali lächelte höflich. „Da können wir ja gemeinsam unbekanntes Terrain erkunden.“
„Wir haben Sie nicht gerade herzlich willkommen geheißen, oder?“
Kali wippte auf den Fersen, schien nicht sicher zu sein, wie sie reagieren sollte. Erst als Brodie sie breit anlächelte, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen: „Ailsa ist großartig!“ Ein schelmisches Lächeln glitt über ihr Gesicht. „Was den Chef betrifft, müsste ich noch überlegen …“
„Ein übler Kerl.“ Brodie lachte auf. „Aber in seinem Job ist er gut.“
„Das habe ich nicht eine Sekunde bezweifelt. Ach, und wegen Ihrer Hand … Einen Verband brauchen Sie wohl nicht, aber ich würde eine sulfonamidhaltige antibakterielle Salbe auftragen. Allerdings kennen Sie wahrscheinlich auch die neuen Studien, die einen dadurch bedingten längeren Heilungsprozess belegen.“
Brodie grinste, als sie hinzufügte: „Na, Sie wissen schon, was das Beste ist.“
Damit verschwand sie durch die Schwingtür in den Eingangsbereich der Praxis.
Er wollte ihr schon folgen, um Caitlyn und Kali einander vorzustellen, da hörte er ein bedeutungsvolles Räuspern.
Brodie wandte sich um. „Was kann ich an diesem wunderschönen Tag für dich tun, liebste Tante?“
„Du hast doch nicht etwa vor, zum Empfang zu gehen und jede Bewegung von Caitlyn zu überwachen?“
„Nein.“ Ja.
„Gib dem Mädchen eine Chance. Sie ist gerade erst mit der Schule fertig. Das Letzte, was sie gebrauchen kann, ist ein Onkel, der jeden ihrer Schritte mit Argusaugen verfolgt.“
„Wie komme ich dazu? Oder hast du Angst, dass die Patienten mich sehen und gleich wieder kehrtmachen?“
„Brodie McClellan.“ Ailsa drohte ihm mit dem Zeigefinger. „Du solltest es dir zweimal überlegen, wie du deine Unterstützer behandelst. Caitlyn hilft hier aus, bis sie im September zur Uni geht. Aber danach … Dir bleiben also nur ein paar Monate, um mit jedem Frieden zu schließen. Einschließlich Dr. O’Shea“, fügte sie mahnend hinzu. „Oder muss ich dich erst daran erinnern, dass auch sie hier ist, um zu helfen?“
„Helfen bei einem Problem, das eigentlich keins ist?“
„Du weißt, was ich meine, Brodie. Ach, komm.“ Sie tätschelte ihm die Schulter. „Du kannst es den Leuten nicht übel nehmen, dass sie nervös sind. Außerdem bist du gerade erst zurückgekommen. Nimm dir die Zeit, dich richtig einzuleben.“
Er lehnte sich gegen die Wand und zog ein Gesicht, das seiner Tante sagen sollte: Na schön, ich versuch’s. „Und, was glaubst du? Werden die Patienten wieder wie früher Schlange stehen, weil wir jetzt Kali haben?“
„Wahrscheinlich.“
Um deutliche Worte war seine Tante nie verlegen. Er verzog das Gesicht. „Was soll ich machen? Däumchen drehen, während sie meine Patienten behandelt?“
„Ich denke, sie wird Hilfe brauchen. Du könntest dich von deiner netten Seite zeigen, indem du Kali mit den Patientendaten vertraut machst. Unterstütze sie im Hintergrund. Beweise ihr, dass du der liebenswerte Zweiunddreißigjährige bist, den ich seit seiner Geburt kenne – und nicht der mürrische alte Griesgram, der sie heute Morgen empfangen hat! Eins will ich dir sagen, Brodie, diese Seite von dir ist nicht gerade sympathisch.“
„Okay.“ Er stieß sich mit dem Fuß von der Wand ab. „Dann lasse ich euch am besten in Ruhe. Ihr schmeißt den Laden schon, und ich werde … vielleicht endlich mein Boot bauen.“
„Das dein Vater immer mit dir bauen wollte?“, meinte sie, ohne sich von seinem Temperamentsausbruch beeindrucken zu lassen. „Ein Versprechen, das du einlösen könntest. Oder du verwendest all die Energie, die in dir brodelt, darauf, der neuen Ärztin zu helfen, die den ganzen weiten Weg hierher gemacht hat, um deine Praxis am Laufen zu halten. Danach löst du das andere Versprechen ein, das du deinem Vater gegeben hast.“
„Ich bin doch hier, oder?“
„Darum geht es weder mir noch ging es deinem Vater darum. Das weißt du auch, Broderick Andrew McClellan.“
Ein Ton, der keinen Widerspruch duldete. Sie schürzte die Lippen, ein weiteres Zeichen, dass sie nicht bereit war, sich auf sein Selbstmitleid einzulassen. Ehrlich gesagt, hatte er selbst die Nase voll davon. Er war nie der Typ gewesen, der zu jammern anfing, wenn mal etwas nicht glattlief. Geschweige denn einer, der untätig in der Gegend herumstand.
Frustriert versetzte er der Wand einen Tritt.
Ailsa schnalzte missbilligend mit der Zunge und verschwand wieder in ihrem Büro.
„Ich habe ja nicht gerade Urlaub gemacht!“, rief er ihr nach.
Sie steckte den Kopf in den Flur, sagte aber nichts.
„Die Menschen sind gestorben wie die Fliegen!“
„Ja, was du gemacht hast, war unglaublich tapfer und selbstlos von dir, und es ist schade, dass die Leute hier das noch nicht begriffen haben. Aber das ist noch lange kein Grund, ein Gesicht wie dreißig Tage Regenwetter zu machen. Du bist richtig unausstehlich, weißt du das?“
„Unausstehlich? Ich?“, bellte er.
Im selben Moment betrat Kali den Flur, zog sich jedoch sofort wieder in den Empfangsbereich zurück. Ailsa warf Brodie nur einen Blick zu. Siehst du?
Er holte tief Luft, um aufzuzählen, was auf Dunregan und mit den Menschen hier nicht stimmte, doch im selben Augenblick verrauchte sein Zorn. Die Liste all dessen, was er selbst heute Morgen falsch gemacht hatte, war schließlich noch viel länger!
Zuerst war er zu Kali unhöflich gewesen. Unprofessionell. Als Nächstes fing er wegen einer Brandwunde Streit an, für die er selbst verantwortlich war, als er schlecht gelaunt mit dem heißen Wasserkessel hantiert hatte. Und warum? Weil er schon wieder jemandem erklären musste, warum das Gerücht umging, er würde Unglück bringen.
Unglück. Das Wort zog ihm den Magen zusammen.
Er brachte kein Unglück! Er war gesund und würde nie jemanden gefährden!
Doch Brodie wusste, dass noch mehr dahintersteckte. Wie sollte er jemals den Makel des armen Jungen loswerden, der in einer selbst gebauten Jolle mit seiner Mum zum Segeln aufbrach, nur um zwei Stunden später an die Küste geschwemmt zu werden, nachdem das Wetter extrem umgeschlagen war?
Es grenzte an ein Wunder, dass er überlebte. Aber Brodie hätte auf dieses Wunder jederzeit verzichtet, wenn dafür seine Mutter am Leben geblieben wäre.
„Weißt du, Ailsa …“
Seine Tante blickte ihn hoffnungsvoll an, als sie hörte, dass er einen anderen Ton anschlug.
„Ein zweites Paar Hände wäre langfristig hilfreich, oder? Dad hat oft davon gesprochen, wie gut es wäre, wenn wir zusätzlich eine Ärztin hätten. Damit unsere Patienten bei sensiblen Gesprächen die Wahl haben.“
Noch während er das sagte, sprühte er vor Ideen. Mit Kali an Bord müsste er sich nicht ein Bein ausreißen, um Sprechstunden, Notrufe, Hausbesuche und Bergrettungseinsätze zu schaffen, die sich besonders in der Sommersaison häuften.
Nicht dass ihm viel Arbeit etwas ausmachte. Er würde rund um die Uhr arbeiten, wenn er könnte. Sein Großvater und sein Vater waren stolz darauf gewesen, echte Hausärzte zu sein, auf die man sich jederzeit verlassen konnte. Deshalb war es für alle ein Schock, als sein Vater an Krebs erkrankte und viel zu früh starb.
Ailsa betrachtete ihn misstrauisch. „Du sagst das doch nicht nur, um dich vor dem Versprechen deinem Vater gegenüber zu drücken?“
„Nein.“ Er hatte es ihm am Totenbett gegeben …
„Nun, mein lieber Neffe, wenn du willst, dass Dr. O’Shea hierbleibt, musst du ihr die andere Seite von Brodie McClellan zeigen. Die, die wir alle mögen.“ Seine Tante kniff ihn in die Wange.
Er lachte auf und umarmte sie. „Was würde ich ohne mein weises altes Tantchen Ailsa nur machen? Ich war heute Morgen ein richtiges Ekel, was?“
„Ich bin nicht alt, und für dein Verhalten fallen mir noch eine Menge anderer Ausdrücke ein, Brodie – aber belassen wir es bei deinem. So, und jetzt muss ich wirklich an die Arbeit gehen.“
Als sie die Tür zu ihrem Büro hinter sich schloss, lächelte Brodie vor sich hin. Er brauchte Kali O’Shea mehr, als er sich eingestanden hatte. Jetzt musste er sie nur noch davon überzeugen, dass es das Beste wäre, wenn sie sich die Praxisarbeit mit ihm teilte.
Kali gab ein zweites Mal etwas in den PC ein und tippte auf „Aktualisieren“. Und noch einmal.
Komisch.
Laut System schien niemand mehr auf seinen Termin zu warten. Sie sah um die Ecke in das Büro, wo Brodie lauerte. Okay, das war vielleicht der falsche Ausdruck. Ihr Chef hielt sich bereit für den Fall, dass sie seine Hilfe benötigte. Trotzdem fühlte es sich an wie lauern.
„Hakt das Computersystem manchmal?“
„Ständig“, meinte er lächelnd.
Laut und deutlich knurrte ihr Magen, und Kali presste die Hand auf den Bauch. Als wenn das etwas genützt hätte …
„Erst drei Patienten – und schon hungrig?“, neckte Brodie.
„Ich war vor meinem ersten Tag zu aufgeregt, um zu frühstücken.“
„Nur noch fünfzehn Patienten bis zur Mittagspause!“
„Oder …“, begann sie gedehnt und versuchte ihr Glück. „… ich komme auf das Angebot von vorhin zurück: eine Tasse Tee, vielleicht mit einem Keks dazu?“
Nachdenklich biss er sich auf seine volle Unterlippe. Kali war abgelenkt. Sehr abgelenkt.
„Möchten Sie, dass ich mir eine Schürze umbinde und einen Teewagen in Ihr Sprechzimmer schiebe, Dr. O’Shea?“
Vor Verlegenheit wurde sie rot. Er war ein kompetenter Arzt. Ihr Chef. Hatte sie sich zu weit aus dem Fenster gelehnt?
„Sie brauchen nicht nervös zu werden, Dr. O’Shea. Das war ein Scherz.“ Er stand von seinem Schreibtisch auf und drückte ihr die Schulter. „Eine schöne Tasse Tee ist das Mindeste, was ich für Sie tun kann – eine Stunde, nachdem wir sie Ihnen versprochen haben.“
Brodie zwinkerte ihr zu, und ein erregendes Gefühl ging durch ihren Körper.
Oh nein. Das ist nicht gut. Überhaupt nicht.
„Also, okay … Ich frage mal bei Caitlyn nach, wer als Nächster an der Reihe ist.“
„Hat bisher alles gut geklappt?“
„Ja“, antwortete sie lächelnd. Sie mochte ihn. So war er viel netter als der Dr. McGriesgram von heute Morgen. „Eine Schwangerschaftsvorsorge, ein Verdacht auf Grippe, die sich zum Glück als fiese Erkältung entpuppte, und die Nachkontrolle bei einer lebhaften Vierjährigen, die am Haaransatz genäht worden ist. Rosie Bell hieß sie, glaube ich.“
„Das ist die Mutter. Die Tochter heißt Julia.“
„Richtig. Ich meine, natürlich, Sie kennen ja jeden hier.“ Kali unterbrach sich. Du plapperst! „Die Naht war gut verheilt. Das hatten sie auf dem Festland machen lassen, im Krankenhaus, also … schnell erledigt. Überhaupt haben mich die Leute hier alle unglaublich nett willkommen geheißen …“
Du plapperst immer noch!
Flüchtig verdunkelte ein Schatten seine Augen, dann wurden sie wieder ausdruckslos, und Brodie machte sich auf den Weg in den Flur. „Am besten binde ich mir meine Schürze um und überlasse Sie den Patienten, Dr. O’Shea.“
„Danke“, sagte sie zu seinem Rücken und wünschte, der Boden möge sich auftun und sie verschlingen. Hätte sie nicht ihren großen Mund halten können?
Aber was sie gesagt hatte, stimmte. Alle waren so freundlich zu ihr gewesen. In ihrem Erwachsenenleben hatte sie sich noch nie einer Gemeinschaft zugehörig gefühlt, doch hier war auf Anhieb eine wohltuende Vertrautheit da gewesen.
Kali ging zum Praxisbüro. „Wer komm
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