Julia Ärzte zum Verlieben Band 81

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DENN DAS HERZ KENNT DIE WAHRHEIT von ANDREWS, AMY
Dieses Herzklopfen, dieses Kribbeln im Bauch! Vergeblich versucht Olivia, professionelle Distanz gegenüber Ethan Hunter zu wahren. Doch obwohl der attraktive Schönheitschirurg schon einmal ihre Liebe verriet, schmilzt sie unter seinem verlangenden Blick erneut dahin …

SCHNEEFLOCKEN UND HEIßE KÜSSE von CARLISLE, SUSAN
Dr. Kyle Campbell ist arrogant, irritierend - und total faszinierend! Ungewollt fühlt Bailie sich immer mehr zu dem Arzt hingezogen, der sie über Weihnachten bei der Pistenwacht unterstützt. Aber je näher sie ihm kommt, desto stärker spürt sie, dass er etwas verbirgt …

NUR EINE NACHT MIT DR. ROBINSON? von DRAKE, DIANNE
"Mein Leben ist gut so, wie es ist." Ben Robinson hat der Liebe abgeschworen. Daran ändert auch sein Urlaubsflirt mit der schönen Ärztin Shanna nichts! Bis sie ihn überraschend in seiner Klinik in Argentinien besucht und längst verloren geglaubte Gefühle in ihm weckt …


  • Erscheinungstag 11.12.2015
  • Bandnummer 0081
  • ISBN / Artikelnummer 9783733708023
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Amy Andrews, Susan Carlisle, Dianne Drake

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 81

AMY ANDREWS

Denn das Herz kennt die Wahrheit

Mit ihrer fröhlichen Art bringt die hinreißend schöne Olivia seit Jahren erstmals wieder Freude in Ethan Hunters Leben. Aber kaum ist es ihm gelungen, sie zu einem leidenschaftlich heißen Kuss zu verführen, zeigt sie ihm die kalte Schulter. Kann sie ihm denn niemals verzeihen, dass er einst aus jugendlichem Leichtsinn ihr Vertrauen missbraucht hat?

SUSAN CARLISLE

Schneeflocken und heiße Küsse

Dr. Kyle Campbell ist es gewohnt, der Liebling der Frauen zu sein. Dass die hübsche Rettungssanitäterin Baylie ihn vom ersten Moment an demonstrativ links liegen lässt, reizt den gut aussehenden Arzt nur umso mehr. Um Baylies verschlossenes Herz erobern zu können, muss Kyle allerdings erst einmal selbst die Schatten der Vergangenheit besiegen …

DIANNE DRAKE

Nur eine Nacht mit Dr. Robinson?

Nur ein Abenteuer – oder Liebe? Shanna kann ihren Urlaubsflirt mit Dr. Ben Robinson einfach nicht vergessen! Spontan bucht sie einen Flug nach Argentinien und überrascht ihn in seiner Dschungelklinik. Doch während sie sich nach einer zärtlichen Liebesnacht in Bens Armen eingesteht, dass sie unrettbar ihr Herz verloren hat, zieht er sich von ihr zurück …

HUNTER CLINIC

DAS TEAM:

 

Dr. Leo Hunter

Schönheitschirurg, Chef der Hunter Clinic

Dr. Ethan Hunter

Chirurg, Leos Bruder

Lizzie Hunter

Pflegedienstleiterin

Dr. Mitchell Cooper

Chirurg

Dr. Grace Cooper

Chirurgin

Dr. Declan Underwood

Plastischer Chirurg

Dr. Kara Stephens

Plastische Chirurgin

Dr. Iain MacKenzie

Chirurg

Lexi MacKenzie

Leiterin der PR-Abteilung

Dr. Jock McNamara

Anästhesist

Dr. Olivia Fairchild

Plastische Chirurgin

Aidan

Pfleger

Dr. Edward North

Mikrochirurg

Charlotte King North

Krankenschwester

Dr. Rafael de Luca

Chirurg

Dr. Abbie de Luca

Chirurg

 

 

PATIENTEN:

 

Ama

 

Daleel

 

   

UND:

 

James Hunter

Vater der Hunter-Brüder

Francesca Hunter

ihre Mutter

Dali

Dolmetscherin

Ril

Amas Mutter

Dr. Aaliyah Hassan

afghanische Ärztin

Prinz Marco von Sirmontane

 

Becca

seine Frau

Mia

Tochter von Mitch und Grace

Francesca

Lizzies und Leos Tochter

Ella

Rafaels und Abbies Tochter

Stefano

Ellas Bruder

Isaac

Charlottes Sohn

1. KAPITEL

Ethan Hunter brauchte einen Drink.

Und zwar dringend.

Nach fünf Stunden hoch konzentrierter Arbeit am OP-Tisch taten ihm höllisch die Beine weh, und Schmerzmittel kamen für ihn nicht infrage.

„Wir gehen ins Drake’s, Ethan“, sagte jemand mit unverkennbar schottischem Akzent hinter ihm. „Willst du mit?“

Im Umkleideraum herrschte plötzlich Stille, als Ethan sich zu dem Anästhesisten Jock umdrehte. Die anderen vier Männer, die sich bis eben entspannt unterhalten hatten, waren verstummt. Anscheinend war keiner von ihnen besonders scharf darauf, dass er mitkam.

Auch Jock wirkte nicht begeistert.

Ethan konnte es ihnen nicht verdenken. Je länger die Operation gedauert hatte, umso mehr hatten ihn seine Beine gequält. Seine Laune war entsprechend. Als er versehentlich ein Instrument fallen ließ, verlor er die Beherrschung. Wütend trat er gegen die Klemme, sodass sie über den Boden schlitterte und geräuschvoll gegen die metallene Stoßleiste an der gegenüberliegenden Wand prallte. Nicht gerade ein rühmlicher Moment seines Chirurgenalltags.

Er verabscheute Kollegen, die sich wie Primadonnen aufführten, und er konnte sich denken, welchen Eindruck er beim Team hinterlassen hatte. Ein Grund mehr, die pflichtschuldige Einladung abzulehnen.

Außerdem trank er lieber allein.

„Nein danke, Jock, ich muss zurück in die Klinik.“

Was auch stimmte. Auf Leos Schreibtisch lag eine Akte zu einem wichtigen Fall, in den Ethan sich einarbeiten musste. Und in der schweren Kristallkaraffe auf dem Walnussholztischchen wartete ein vorzüglicher alter Whisky auf ihn.

Er blickte in die Runde. „Danke an alle, das war gute Arbeit.“

Allgemeines Gemurmel, man wünschte ihm Gute Nacht, und dann war Ethan allein. Erleichtert sank er auf die Bank, streckte die Beine aus, versuchte, die verkrampften Muskeln zu lockern. Er schloss die Augen und saß einfach nur da.

Aber er konnte hier nicht ewig bleiben. Die Arbeit rief. Widerstrebend öffnete er die Augen und griff nach seiner Kleidung.

Das schwarze Taxi hielt vor dem beeindruckenden Gebäude aus viktorianischer Zeit. Wie so viele andere Privatkliniken und Arztpraxen in der berühmten Harley Street wirkte die Hunter Clinic so exklusiv und elegant, wie man es bei dieser Adresse erwartete.

Ethans Vater, der bekannte plastische Chirurg James Hunter, hatte sie vor über drei Jahrzehnten gegründet. Heute war sie in der ganzen Welt nicht nur für ihre karitative Arbeit an zivilen und militärischen Opfern aus Krisengebieten bekannt, sondern auch für ihre schillernden prominenten Klienten.

Was sie im Wesentlichen Ethans Bruder Leo verdankte.

Vor allem nach dem Skandal, den ihr Vater vor zehn Jahren losgetreten hatte. Als der dann plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben war, hatte Leo die Hunter Clinic vor dem Ruin gerettet.

Ethan verdrängte die Gedanken. Er konnte kaum noch aufrecht stehen, da waren die Erinnerungen an seinen Vater und an die schwierige Beziehung zu seinem Bruder unwillkommen wie nur etwas.

Er bezahlte den Taxifahrer, stieg aus, was ihm nur mit äußerster Willenskraft gelang, und humpelte in die Klinik. Mit schmerzverzerrter Miene suchte er Halt an den Handläufen aus poliertem Edelholz, die an den Wänden der Flure montiert waren. Seine lädierten Oberschenkel schienen ihm jeden Moment den Dienst zu versagen. Seine Muskeln waren gefordert, und unter der Anstrengung brach ihm der Schweiß aus.

Jetzt bereute Ethan, dass er seine Krankengymnastik vernachlässigt und nicht auf Lizzie gehört hatte. Lizzie, die Frau seines Bruders, war früher seine Krankenschwester gewesen. Wie oft hatte sie ihn aufgefordert, eine Gehstütze zu benutzen. Aber er hasste den verdammten Stock und die unvermeidlichen Fragen, die jeder mitfühlend ihm glaubte stellen zu müssen. Außerdem fand er keine Zeit für Physiotherapie. Sein Terminplan war auch so schon voll genug.

Reue half ihm jedoch nicht weiter. Das Einzige, was ihm Linderung verschaffen konnte, wartete hinter Leos Tür. Ethan war noch nie so froh gewesen, das Büro seines Bruders zu betreten. Früher gehörte es seinem Vater. Wie oft hatte der ihn dorthin zitiert, schäumend vor Wut wegen nichtiger Anlässe. Auch das ein Ausdruck der alkoholbedingten Depression, in die James Hunter immer mehr verfallen war.

Zum Glück waren diese Zeiten längst vorbei, aber die Karaffe mit dem teuren schottischen Malt stand dort noch heute – auch wenn sie selten angerührt wurde.

Die letzten zehn Schritte waren eine Tortur, die er nur ertrug, weil die Belohnung nahe war. Ethan goss zwei Finger breit Whisky ins Glas und stürzte ihn in einem Zug hinunter. Rauchig und samtweich wärmte er ihm die Kehle. Gleich ein zweites Glas hinterher, und die Schmerzen ließen ein bisschen nach.

Ethan schenkte sich einen dritten Drink ein, schnappte sich die Karaffe und ließ sich in den bequemen Ledersessel hinter Leos Schreibtisch sinken. Aufstöhnend schloss er die Augen und legte den Kopf zurück, die Flasche und das Glas gegen seine Brust gepresst. Sanft wippte er mit dem Sessel vor und zurück und genoss das wohltuende Brennen, das sich langsam in ihm ausbreitete, zusammen mit der Erleichterung, endlich seine Beine entlasten zu können.

Er war nicht sicher, wie lange er dort so saß, mit Muskeln, die sich wie Pudding anfühlten, jetzt, da sie völlig entspannt waren.

Paradiesisch!

Aber er war nicht nur wegen des Whiskys hier. Ethan gab sich mental einen Ruck. Er konnte es nicht länger vor sich herschieben.

Auf Leos Schreibtisch lag die Patientenakte eines Mädchens, das Ethans Hilfe brauchte.

Der Fall war kompliziert, in mehr als einer Hinsicht. Amas Zustand verlangte mehrere Eingriffe, jeder einzelne schwierig. Was nicht das Problem war. Ethan liebte Herausforderungen.

Wären da nicht gewisse Begleitumstände gewesen. Seine Vergangenheit drohte ihn einzuholen und damit die Erinnerung an Taten, auf die er nicht gerade stolz war. Daran, was er in einem Anfall jugendlicher Selbstsucht getan hatte, nur um seinen Bruder zu treffen.

Olivia Fairchild.

Ihre Hilfsorganisation Fair Go hatte Ama an die Hunter Clinic vermittelt und die Reise des Mädchens samt Mutter und Dolmetscherin von Afrika nach London organisiert.

Olivia würde auch hier sein. Schon morgen.

Olivia, die ihn geliebt hatte. Die er zutiefst verletzte, als er sie dazu benutzte, Leo zu zeigen, dass er sie nicht haben konnte.

Der Ausdruck in ihren Augen ging ihm bis heute nicht aus dem Sinn. Ethan schauderte es, wenn er nur daran dachte – an den fürchterlichen Streit zwischen Leo und ihm und daran, dass Olivia unfreiwillig jedes einzelne hässliche Wort mit angehört hatte. Wie er Leo an den Kopf warf, dass er nur an der sexy Ärztin interessiert war, weil Leo sie wollte.

Es war noch nicht einmal die Wahrheit gewesen. Anfangs vielleicht, doch nicht zu dem Zeitpunkt. Ethan genoss ihre Nähe, zumal er in ihren Armen vieles vergessen konnte: die düsteren Schatten seiner Teenagerjahre, den Kummer nach dem frühen Tod seiner Mutter, das schwer belastete Verhältnis zu seinem Vater. All das verlor an Gewicht, wenn er bei Olivia war.

Trotzdem hatte er sie verraten, sein Verhalten war unverzeihlich. Gestört, ja, so hatte sie die Beziehung zu seinem Bruder beschrieben, bevor Olivia abgereist war, zurück nach Australien. Sie hatte recht gehabt, und die größte Schuld daran trug er.

Damals war er unbeschreiblich wütend gewesen. Auf seine Mutter, die den Skandal mit ihren amourösen Abenteuern ins Rollen gebracht und sich davongemacht hatte. Auf seinen schwachen Vater, der nach ihrem Tod sein Heil im Alkohol suchte, und auf seinen Bruder Leo, der den Beschützer spielte.

Leo schützte James vor sich selbst, statt ihm deutlich vor Augen zu führen, was für ein erbärmlicher Trinker er geworden war. Er schützte Ethan vor den wechselnden Gemütszuständen des Vaters, die von tiefer Depression bis hin zu manischer Wut reichten. Ethan hätte lieber die Konfrontation gesucht und seinem Ärger und seiner Frustration freien Lauf gelassen.

Er wand sich innerlich bei dem Gedanken an jene Zeit. Was für ein Mistkerl war er doch gewesen! Hatte sich genommen, was er wollte, ohne auf Olivias Gefühle Rücksicht zu nehmen. Liebe? Da konnte er nur lachen. Er genoss nur die Genugtuung, die Frau zu haben, die sein Bruder wollte.

Viel später, in einem von Krieg zerrissenen Land, erfuhr er, was Liebe wirklich bedeutete und wie grausam es war, wenn sie einem genommen wurde. Oft genug hatte er sich gefragt, ob das seine Strafe dafür war, wie er Olivia behandelt hatte.

Ethan trank einen großen Schluck, während er die Erinnerungen an Aaliyah zurückdrängte. Diese Schuldgefühle hätte er heute Abend nicht auch noch ertragen.

Es sei denn, er wollte die Whiskykaraffe bis auf den Grund leeren.

Olivia … Ob sie ihm verziehen hatte? Hatte er das überhaupt verdient?

Er hoffte es sehr.

Vielleicht konnten sie wenigstens die Vergangenheit hinter sich lassen. Es wäre wichtig, nicht nur, weil er sie morgen wiedersah, sondern weil sie zusammenarbeiten würden. Olivia hatte sich auf pädiatrische plastische Chirurgie spezialisiert und von Leo das Okay erhalten, nicht nur bei Amas Operationen zu assistieren, sondern auch bei anderen Fällen in der Hunter Clinic.

Die humanitäre Arbeit der Klinik war Ethans Baby, und er arbeitete mit Hilfsorganisationen aus aller Welt zusammen. Seine OP-Listen waren lang, viele Patienten Kinder. Es gab also genug Gelegenheiten für Olivia, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.

Ethan hatte nichts dagegen, ein zweites Paar Hände – erfahrene Hände – zur Verfügung zu haben. Im Gegenteil, auf diese Weise könnte er so viel mehr erreichen.

Er nippte an seinem Whisky, während Fragen über Fragen in seinem Kopf kreisten. Fragen, auf die er keine Antworten hatte. Fragen, die ihn verrückt machten.

Die Karaffe lockte.

Aber er war schon einmal seinem Vater gefährlich nahe gekommen und versucht gewesen, seinen Kummer in Alkohol zu ertränken. Es war keine Lösung.

Seufzend stellte er Glas und Flasche weg, packte die schwere Walnussholzplatte von Leos Schreibtisch und zog sich näher heran, möglichst ohne die Beine zu benutzen. Und da lag sie, Amas Patientenakte.

Ethan schob alle Gedanken an Olivia beiseite, schlug die Mappe auf und begann zu lesen.

Olivia Fairchild war spät dran. Sie bezahlte den Taxifahrer und sah zum x-ten Mal auf ihre Armbanduhr. Kühle Oktoberluft umfing sie, so ungewohnt nach der trockenen Hitze Afrikas. Mit gemischten Gefühlen wandte sich Olivia zu dem vertrauten Gebäude in der Harley Street um.

Trotz der knappen Zeit nahm sie sich einen Moment, um sich zu sammeln. Auf der Fahrt hierher war der Kloß in ihrem Hals immer dicker geworden. Olivia räusperte sich, blinzelte die Tränen weg.

Ama und ihre Mutter bei der Aufnahme im Lighthouse Children’s Hospital zu begleiten, hatte sie stärker mitgenommen als erwartet. Olivia war aufgewühlt statt distanziert professionell, was sie sich gewünscht hätte, jetzt, da sie ihrer Vergangenheit ins Gesicht sehen musste.

Aber das Schicksal der kleinen Ama ging ihr zu Herzen. So war es vom ersten Tag an gewesen. Mit neun Jahren hatte das Mädchen sein Leben lang in einem winzigen Dorf südlich der Sahara verbracht, weggesperrt, nur umgeben von der Familie. Es war nicht zur Schule gegangen und hatte nicht mit anderen Kindern gespielt.

Alles wegen ihrer entstellten Gesichtszüge.

London musste für sie beängstigend sein.

Olivia hatte in den letzten sechs Wochen alles getan, um ihr Vertrauen zu erlangen. Doch als die Mutter aus dem Zimmer ging, um mit der Dolmetscherin im Büro die Aufnahmeformalitäten zu erledigen, konnte Olivia die Kleine nicht trösten. Ama weinte herzzerreißend, bis ihre Mutter zurückkam.

Und wie sie sich an Olivia geklammert hatte! Ihr Herzchen flatterte wie ein gefangener Vogel, während die Tränen ihr über das Gesicht kullerten.

Es erinnerte Olivia an jenen Tag, an dem sie Ama und ihre Mutter gefunden hatte. Auf der Straße, beide klagend und weinend, während zwei Männer hitzig diskutierten und versuchten, Mutter und Tochter voneinander zu trennen.

Ein vorbeifahrender Wagen hupte und holte Olivia damit in die Gegenwart zurück. Sie holte tief Luft, wappnete sich.

Ihr Herz klopfte wie wild, als sie die Stufen hinaufging und die schweren Türen aufstieß. Um diese Zeit wirkte die Klinik still und verlassen, und Olivia blieb kurz stehen. Alles sah hier aus wie früher – exklusiv, luxuriös –, schien vertraut und wiederum doch nicht.

Oder hatte sie sich verändert? Weil sie nicht mehr die naive, unbedarfte Olivia war, die ihr Herz den Hunter-Brüdern anvertraut hatte, nur um erleben zu müssen, dass sie beides, Vertrauen und Herz, bitter enttäuschten?

Sie war älter und klüger geworden.

Stärker.

Die Räume waren beheizt, Olivia öffnete die Verschlüsse ihres Dufflecoats. Langsam ging sie über den glänzenden Marmorfußboden zu Leos Büro. Es schien in einem anderen Leben gewesen zu sein, als sie durch diese Flure geeilt war, um Ethan zu sehen.

Ethan.

Ihr Herz geriet aus dem Takt.

Nein, heute Abend wollte sie nicht an ihn denken. Sie war nicht wegen Ethan hier, sondern um Leo zu treffen.

Das Wiedersehen mit Ethan war erst morgen. Und früh genug!

Vor Leos Tür blieb sie stehen, klopfte und war erstaunt, dass die Tür sanft aufschwang. Dämmerlicht herrschte im Zimmer, nur die Leselampe auf dem Schreibtisch brannte. Der Mann, der konzentriert in einer Patientenakte las, sah aus wie Leo, und Olivia lächelte.

„Leo“, rief sie leise.

Ethan hatte das Klopfen nicht gehört und blickte auf, als der Name seines Bruders aus Olivias Mund kam. Selbst nach zehn Jahren beschwor ihre Stimme schlagartig herauf, wie sich dieser Mund auf seinem angefühlt hatte.

Volle, weiche Lippen, ein sinnlicher Kussmund.

Den er vermisst hatte.

Eine ungewohnte Reaktion für einen Mann, der sich seit letztem Jahr innerlich tot fühlte. Ethan war nicht sicher, ob sie ihm gefiel.

Was zum Teufel machte Olivia hier? Sollte ihre Maschine nicht erst morgen früh landen?

„Hallo, Olivia“, sagte er und beobachtete, wie ihre großen schokoladenbraunen Augen noch größer wurden.

Allein aus Höflichkeit hätte er aufstehen müssen, doch seine Beine fühlten sich an wie gekochte Nudeln. Aber Olivia wirkte wie vom Donner gerührt. Wahrscheinlich merkte sie nicht einmal, dass seine Manieren zu wünschen übrig ließen.

Olivia hatte das Gefühl, als würde dem Raum plötzlich jeder Sauerstoff entzogen. „Oh …“

Es war Ethan. Nicht Leo. Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen.

„Es tut mir leid, ich habe mich verspätet, aber …“ Nervös sah sie auf ihre Uhr. „Ich war hier mit Leo verabredet.“

Ethan war nicht sicher gewesen, wie es sein würde, wenn sie sich gegenüberstanden. Sie hatten zwei Mal miteinander telefoniert, um über die Patientin zu sprechen. Beide Male sachlich und professionell. Vielleicht hatte er deshalb erwartet, dass die alten Wunden sich geschlossen hatten.

Olivias erschrockenem Blick nach zu urteilen, war das nicht der Fall.

Ihre ersten Worte waren auch nicht gerade warmherzig gewesen. Und das Lächeln, das sie ihm noch geschenkt hatte, als sie ihn irrtümlich für Leo gehalten hatte, war schlagartig verschwunden. Seltsamerweise versetzte es ihm einen Stich.

Wachsam, fast misstrauisch musterte sie ihn. Als wären sie niemals ein Liebespaar gewesen, sondern Fremde, die sich zum ersten Mal begegneten, Es reizte ihn, sie an sich zu ziehen, diesen süßen Mund wieder zu küssen. Nur damit sie sich daran erinnerte, wie heiß sie aufeinander gewesen waren.

Doch dazu hätte er aufstehen müssen, was seine Beine im Moment verweigerten.

„Er ist zu Hause“, sagte er knapp, ärgerlich auf sich selbst, weil er solchen Gedanken nachhing.

„Ach so …“ Olivia verstand das nicht. Sie hatte Leo kurz nach der Landung angerufen und sich mit ihm verabredet. Ratlos holte sie ihr Handy aus der Tasche – und hatte des Rätsels Lösung. Zwei verpasste Anrufe und eine SMS, alles von Leo.

Sorry, mir ist etwas dazwischengekommen. Bring Ethan auf den neuesten Stand; wir reden morgen.

„Ihm ist etwas dazwischengekommen.“ Sie schaute vom Display auf, zu Ethan hinüber.

Ein wenig erfreulicher Gedanke beschlich ihn. Während er im OP gewesen war, hatte Leo ihm eine Nachricht geschickt, er möge sich doch heute noch Amas Patientenakte vornehmen. Hatte Leo im Hintergrund die Fäden gezogen, damit Olivia und er bei ihrem ersten Aufeinandertreffen allein waren? Um ihnen die Möglichkeit zu geben, die Luft zu klären?

Ethan hatte noch nie ein so gutes Verhältnis zu seinem Bruder gehabt wie jetzt. Dennoch missfiel es ihm, so manipuliert zu werden.

„Klar doch“, antwortete er.

Olivia schob ihr Smartphone wieder in die Tasche. „Er meint, ich soll mit dir die neuesten Fakten besprechen.“

„Kein Problem.“ Wenn sie schon einmal da war, warum nicht die Zeit nutzen? „Komm rein, setz dich.“ Ethan deutete mit dem Kopf auf einen der Besuchersessel.

Sie war noch genauso schlank wie damals, trug Jeans, die ihre langen Beine betonten, und unter dem offenen dunkelblauen Mantel einen roten Rollkragenpullover.

Olivia war sich Ethans Blick bewusst, als sie auf den Schreibtisch zuging und Platz nahm. Ihr wurde warm, als sie daran dachte, wie er sie damals immer angesehen hatte: intensiv, voller Verlangen.

Bevor er ihr dann das Herz in Stücke gerissen hatte.

Sie ignorierte die verräterischen Reaktionen ihres Körpers, froh über den dicken Pulli, der ihre harten Brustspitzen verbarg. Entscheidend war, dass sie sich einzig und allein auf ihre gemeinsame Patientin konzentrierten. Sobald Ama die notwendige Behandlung bekommen hatte, wollte Olivia schleunigst wieder aus Ethans Nähe verschwinden.

Ihre Blicke trafen sich. Nicht dass sie in seinen Augen etwas gelesen hätte. Ethan wirkte beherrscht, abwartend. Dann griff er zu der Karaffe, die auf dem Schreibtisch stand, und schenkte sich einen Whisky ein. Fragend hob er das Glas, ob sie auch etwas wollte. Olivia schüttelte den Kopf. Sie wunderte sich. Es war ein ungewohntes Bild: Ethan mit einem Drink in der Hand. Schließlich wusste sie, wie sehr er seinen Vater für seine Schwäche verachtet hatte.

„Du hast dich verändert“, hörte sie sich sagen.

Damit meinte sie nicht, dass er trank. Ethans Augen waren tiefbraun, genau wie ihre, aber sie hatten faszinierende goldene Punkte, die manchmal wie Feuer glühten. Wenn er wütend war, wie damals auf seine Familie. Aber auch bei der Arbeit, wenn ihn eine Patientengeschichte besonders berührte, oder im Bett …

Dieser Glanz fehlte. Es kam ihr vor, als wäre dieses besondere Licht erloschen.

Was war passiert? Ethan war immer noch ein gut aussehender Mann, aber sein Gesicht wirkte hager, die feinen Falten um Augen und Mund tiefer. Außerdem müsste er sich dringend rasieren. In den stoppeligen Dreitagebart mischten sich zu viele graue Härchen für einen Mann, der gerade fünfunddreißig war. Litt er unter posttraumatischen Belastungsstörungen? Nach allem, was sie über seinen letzten Einsatz gelesen hatte, musste Ethan durch die Hölle gegangen sein.

„Du nicht.“

„Oh doch“, widersprach sie. Die vergangenen Jahre hatten Spuren hinterlassen, und selbst wenn Olivia daran gewachsen und stärker geworden war, so hatte sie sich doch sehr verändert.

Stimmt, dachte er. Auf den zweiten Blick. Olivia wirkte reserviert, nicht mehr so offen und unbeschwert wie damals. Weil er ihr übel mitgespielt hatte? Oder war sie einfach älter geworden, vom Leben gezeichnet?

„Allerdings muss ich deshalb nicht im Alkohol Zuflucht suchen.“

Der Vorwurf traf ihn wie ein Fausthieb gegen die Brust. Ethan stürzte seinen Whisky hinunter und knallte das leere Glas auf den Schreibtisch. „Es war ein langer Tag, Olivia“, stieß er hervor. „Die OPs sind durch, ich bin außer Dienst. Ein paar Gläser von dem Besten, was Schottland zu bieten hat, schadet niemandem.“

Olivia hatte noch nie um den heißen Brei geredet, und sie würde jetzt nicht damit anfangen. „Ich bin sicher, dass es bei deinem Vater genauso angefangen hat.“

2. KAPITEL

Ethan kochte. Sein Vater war auch heute noch wie ein rotes Tuch für ihn.

Aufgebracht packte er die Schreibtischkante und sprang auf, zu wütend, um zu merken, wie seine überforderten Muskeln reagierten. „Scher dich zum Teufel, Olivia“, herrschte er sie an.

Ihre Worte hatten mitten ins Schwarze getroffen. Als er nach dem Krankenhausaufenthalt in Deutschland nach London zurückgekehrt war, hatte er in der Tat zu viel getrunken. Um mit den Schmerzen fertig zu werden, mit den Albträumen und den Schuldgefühlen.

Leos E-Mail hatte ihn vor dem Abgrund gerettet. Das Angebot, in der Hunter Clinic mitzuarbeiten und sich um karitative Projekte zu kümmern, war genau das Richtige gewesen. Ethan griff danach wie nach dem letzten Strohhalm.

Heute lag er nicht mehr am Boden, war ein anderer geworden. Und es ärgerte ihn maßlos, dass Olivia ihn nur wenige Minuten nach ihrem Wiedersehen in eine bestimmte Schublade steckte.

Sie hat nicht die geringste Ahnung, was ich durchgemacht habe!

Olivia war auch aufgestanden. Auf keinen Fall ließ sie sich durch seine Größe, mit diesen breiten Schultern und der kraftvollen Männlichkeit, die er immer noch ausstrahlte, einschüchtern. Schön, sie hatte einen Nerv getroffen, und das war gut so.

Vielleicht wurde Ethan dann klar, dass man Probleme, welcher Art auch immer, nicht damit löste, dass man abends um neun allein im Büro saß und sich einen Whisky nach dem anderen genehmigte.

„Nach dir, Ethan“, konterte sie ruhig.

Ethan stemmte sich mit den Fäusten auf dem Schreibtisch ab. „Du kannst mich morgen auf den neuesten Stand bringen“, sagte er barsch. Er war einfach zu müde für tiefschürfende Gespräche. „Ich gehe nach Hause.“

Jedenfalls war das der Plan. Doch nach wenigen Schritten war der Adrenalinschub, den sein aufflammender Zorn ausgelöst hatte, verbraucht. Sein nicht mehr von dem Muntermacher umnebeltes Gehirn empfing die Signale geplagter, erschöpfter Muskeln.

Ethans Knie knickten ein.

Alarmiert stürzte Olivia auf ihn zu, als er schwankte und Halt suchend nach der Schreibtischkante griff. Sie packte ihn am Arm und bewahrte ihn davor, wie ein Häuflein Elend auf dem teuren Seidenteppich zu landen.

„Mensch, Ethan!“, fuhr sie ihn an, während er sich auf sie stützte. „Wie viel hast du getrunken?“

Ethan atmete zwischen zusammengepressten Zähnen ein und aus. „Das liegt nicht am Alkohol“, brachte er schließlich hervor und rieb sich die höllisch schmerzenden Oberschenkelmuskeln. „Meine verdammten Beine wollen nicht so wie ich!“

Olivia glaubte ihm. Er war nicht betrunken. Weder lallte er, noch roch er nach Alkohol. Im Gegenteil, da sie mit der Nase so dicht an seinem Hals war, konnte sie nur sagen, dass er so roch wie früher: verlockend männlich. Schon damals hatte sein Duft sie erregt, und auch jetzt überschwemmten betörende Pheromone ihre Sinne. Ihr Körper reagierte.

Zum Glück merkte Ethan nicht, was er bei ihr anrichtete.

„Komm“, sagte sie und schwankte selbst ein bisschen unter seinem Gewicht, als sie den Arm um ihn legte. „Du setzt dich besser.“

Ethan blieb nichts anderes übrig. Seine Oberschenkel zitterten von der Kraftanstrengung, die ihnen allein das Stehen abverlangte. Olivia führte ihn zum Sofa, und er fühlte sich in ungefähr so kraftvoll wie eine nasse Briefmarke.

„Alles okay“, knurrte er, als die Couch in Reichweite kam. „Du kannst loslassen.“

Aufstöhnend ließ er sich auf die wuchtige Chesterfield-Couch sinken, legte den Kopf zurück und schloss die Augen, während er die schmerzenden Schenkelmuskeln massierte.

Olivia ging vor ihm in die Hocke und wartete, dass er sich erholte.

Es dauerte einige Minuten, bis die Anspannung aus seinem hageren Gesicht wich.

„Was ist passiert?“, fragte sie sanft.

Er verharrte eine Sekunde und fuhr dann fort, seine Beine zu kneten.

„Hat es mit deinen Verletzungen bei dem letzten Einsatz zu tun?“, hakte sie nach, als es nicht so aussah, als ob er antworten würde.

Ethan schlug die Augen auf. Der leere, freudlose Blick griff ihr ans Herz. „Woher weißt du davon?“

„Stell dir vor, wir haben Zeitungen in Australien“, meinte sie lächelnd. „Und sogar dieses neuartige System, auch Internet genannt.“ Das Lächeln verging ihr schnell wieder, als er keine Miene verzog. „Du glaubst nicht, was man da alles findet“, murmelte sie.

Ethan hob den Kopf und musterte sie eindringlich. Das wellige honigbraune Haar umrahmte ihr Gesicht, und er erinnerte sich daran, wie sich die seidigen Locken auf seiner nackten Brust angefühlt hatten. „Du hast dich über mich informiert?“

Seine raue Stimme löste ein warmes Prickeln in ihrem Bauch aus. Und bildete sie sich nur etwas ein, oder blitzte in seinen Augen tatsächlich etwas auf? Schwach, aber immerhin ein Abglanz seiner verlangenden Blicke, die sie bis heute nicht vergessen hatte?

„Nein“, antwortete sie spitz. Der Mann war müde und hatte Schmerzen, aber sein Ego hatte anscheinend nicht im Mindesten gelitten. „Ich habe bestimmt nicht die letzten zehn Jahre damit verbracht, jede Zeile über dich zu lesen, Ethan Hunter. Als ich mich im Internet über die Hunter Clinic informierte, stieß ich dabei auf Zeitungsartikel über deinen heldenhaften Einsatz. Da stand, dass du ein ganzes Krankenhaus evakuiert hast, das unter heftigem Beschuss stand.“

Ethan ließ den Kopf wieder auf die lederne Lehne sinken und schloss die Augen. Er hatte öfter daran gedacht, nachzuforschen, was sie so trieb, hatte aber beim Militär kaum eine ruhige Minute gehabt. Und wenn doch, fand er immer einen Grund, es nicht zu tun.

Und dann hatte er Aaliyah kennengelernt.

„Du wurdest verwundet.“ Olivia riss ihn aus seinen Erinnerungen. „Was ist passiert?“

Seufzend richtete er sich auf. „Meine Beine mussten dran glauben. Schrapnellkugeln.“

„Konnte man das nicht operativ beheben?“

„So gut es ging, ja. Aber sie werden nicht wieder wie vorher.“

„Hast du keinen Physiotherapieplan bekommen? Deine Beine wirken nicht besonders kräftig. Brauchst du nicht eine Gehstütze?“ Sie kramte in ihrer Erinnerung an das, was sie gelesen hatte. „Es ist ein knappes Jahr her, stimmt’s?“

„Ja“, antwortete er widerwillig. „Und ja, ich habe einen Physio-Plan.“

Es dauerte einen Moment, bis Olivia klar wurde, dass sie ihre Frage falsch gestellt hatte. „Hältst du dich daran?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Tagtäglich, ohne Ausnahmen?“

Ethan warf ihr einen missmutigen Blick zu. Sie hört sich an wie Lizzie, dachte er ärgerlich. Und wie Leo. Oder wie alle anderen wohlmeinenden Plagegeister, die ja keine Ahnung hatten!

„Das geht dich nichts an.“

„Oh doch, wenn die Gefahr besteht, dass du bei Amas Operation umkippst!“

Damit packte sie ihn bei seiner Berufsehre. Es ärgerte ihn, dass sie annahm, er könnte das Leben von Patienten aufs Spiel setzen. Aber es war besser als das Mitleid, das ihm sonst entgegenschlug. Dieses stumme „Armer Kerl“, das er in den Augen anderer las.

Olivia schien seine Verwundung nur so weit zu interessieren, dass sie die Heilungschancen ihrer kleinen Patientin nicht gefährdete. Klar, sie war Ärztin. Und vor langer Zeit deine Geliebte …

„Das ist Blödsinn!“, verteidigte er sich. „Ich kippe nicht um, bei keiner Operation. Heute habe ich nur länger gestanden als sonst.“

„Was dir nichts ausmachen sollte, wenn du regelmäßig deine Physio machen würdest.“

Olivia kannte Ethan gut genug, um zu wissen, dass er für ihr Mitgefühl nicht empfänglich war. Leos Fürsorge und das Bedürfnis, seinen jüngeren Bruder zu beschützen, hatte damals einen Keil zwischen die Geschwister getrieben. Und Olivia war zwischen die Fronten geraten.

Sie wusste genau, dass Ethan nie zulassen würde, dass sie ihm das Bein massierte. Geschweige denn, mit ihr über jene Ereignisse reden wollte, die zu seiner Verwundung geführt hatten. Da sie selbst in Krisengebieten gearbeitet hatte, verfügte sie über genügend Erfahrung im Umgang mit Soldaten. Eine davon lautete, dass man am meisten erreichte, wenn man sie auf eine Art behandelte: hart, aber herzlich.

„Ich war beschäftigt. Die karitativen Projekte der Klinik bauen sich nicht von allein auf“, erklärte er scharf. „Ich tue, was ich kann.“

Olivia trommelte mit den Fingern auf ihrem Oberarm. „Tja, wie es aussieht, genügt das wohl nicht. Ein Jahr nach der OP müssten deine Beine kräftiger sein.“

Natürlich hatte sie recht. Er brauchte mehr Zeit, um seine Muskeln zu trainieren. Um sich nach mehreren Operationen und einem zweimonatigen Krankenhausaufenthalt nicht zu Hause in Selbstmitleid zu suhlen, hatte er sich mit Feuereifer auf seine neue Aufgabe in der Hunter Clinic gestürzt. Alles andere war auf der Strecke geblieben.

Ethan wirkte immer noch erschöpft. Am liebsten hätte Olivia die Wange an sein Knie geschmiegt und schweigend mit ihm einfach nur dagesessen. Sie wunderte sich, wie viel Zärtlichkeit sie ihm gegenüber noch empfand. Aber war es nicht genauso seltsam, dass sie trotz allem und nach all den Jahren immer noch diese verräterische Wärme im Bauch spürte? Wenn Ethan sie nur ansah oder sie seine Stimme hörte?

Sie tippte auf sein rechtes Knie. „Hast du denn eine Gehhilfe?“

Er fuhr sich mit der flachen Hand übers Gesicht. Gab die Frau nie auf? „Ja“, antwortete er mit einem Seufzer.

„Und warum hast du sie nicht bei dir?“

„Ich hasse das verdammte Ding“, murmelte er.

Das trug ihm einen spöttischen Blick ein. „Weil ein harter Typ wie du damit nicht wie ein harter Typ aussieht? Ich hätte dich nie für eitel gehalten, Ethan.“

Er schnaubte abfällig. Glaubte sie wirklich, dass Eitelkeit dahintersteckte? „Es führt zu Unterhaltungen, die mir gestohlen bleiben können.“

Trotz der flapsigen Worte verriet der raue Unterton eine Not, die sie nur zu gut kannte. Der Druck in ihrem Magen nahm zu. Über manche Erlebnisse redete man nicht gern, vor allem nicht mit wildfremden Menschen.

Wie oft war sie nach der Sache mit ihren Eltern mit Fragen überhäuft worden? Es wurde zum Spießrutenlauf, ihnen aus dem Weg zu gehen.

Ohne nachzudenken, berührte sie sein Knie, spürte den feinen Anzugstoff unter ihren Fingern. „Ethan …“

Er hob den Kopf. Ihre warme Hand löste eine Welle von Gefühlen aus. Gute Gefühle. Ethan betrachtete ihre schlanken Finger, die gepflegten kurzen Fingernägel und erinnerte sich daran, wie diese Finger andere Stellen seines Körpers berührt hatten. Und daran, wie gut Olivia und er zusammen im Bett waren. Wie leidenschaftlich.

Unersättlich.

Seine Beweggründe, warum er sich mit Olivia eingelassen hatte, mochten nicht gerade edelmütiger Natur gewesen sein, aber im Schlafzimmer hatten sie zueinandergepasst. Es war perfekt gewesen.

Der Gedanke machte ihm bewusst, wie lange er nicht mehr mit einer Frau geschlafen hatte. Ein Jahr.

Aaliyah …

Ethan riss den Blick von Olivias Hand los und sah auf. Ihre Blicke verfingen sich. Das Schlimmste an ihrer Berührung war, dass sie sich so vertraut anfühlte. Er las Nachsicht, Mitgefühl und noch etwas anderes in Olivias samtbraunen Augen, das ihn in eine andere Zeit entführte. Als wäre es leicht, die Frau vor ihm in die Arme zu ziehen, sich in ihr zu verlieren, bis er alles vergaß, was ihn quälte.

Aber das wäre nicht fair gewesen. Aaliyah gegenüber. Ethan verachtete sich noch ein bisschen mehr.

„Geh einfach, Olivia.“

Geh, bevor ich dich küsse. Bevor ich dich neben mich auf die Couch ziehe. Bevor ich dich bitte, zu bleiben.

Bevor ich dich wieder benutze.

In ihrem Bauch zog sich etwas zusammen, als in Ethans gleichgültigem Blick plötzlich Hitze aufflammte. Sie kannte diesen Ausdruck, wusste, was er bedeutete. Wusste, was Ethan wollte. Auf einmal fiel ihr das Atmen schwer.

Die Stille dehnte sich. Unter ihren Fingern spürte Olivia seine angespannten Muskeln. Ethan wollte sie. Und sie wollte ihn auch. Verdammt, eine halbe Stunde in seiner Nähe genügte, um die Lust wieder anzufachen.

Und sie wollte ihn ganz. Mitsamt seiner Geschichte, den Schatten, die ihn umgaben, der Verlorenheit, die er ausstrahlte. Für eine schnelle Nummer im Bett war sie nicht zu haben. Sex mit Ethan, das war für sie noch nie oberflächlich gewesen, und diesmal musste sie ihr Herz besser schützen.

Olivia sagte sich, dass sie nur aus einem Grund hier war: wegen Ama. Danach würde sie London wieder verlassen. So war es geplant.

Du wirst nicht mit Ethan Hunter schlafen!

Sie erhob sich auf zitternden Beinen, stand zwischen seinen Knien. Erotische Bilder flimmerten über ihren inneren Bildschirm … wie sie sich rittlings auf Ethan setzte …

Rasch trat sie einen Schritt zurück. „Gehst du …?“ Sie räusperte sich. „Gehst du bald nach Hause?“

Ethan schüttelte den Kopf. „Ich schlafe heute Nacht hier.“

Vielleicht keine schlechte Idee, da er sich kaum auf den Beinen halten konnte. „Kommst du klar?“

„Sicher.“

Olivia ignorierte den sarkastischen Unterton. „Wann treffen wir uns morgen früh?“

„Sei um neun hier.“ Er gönnte ihr nur einen flüchtigen Blick. Verschwinde endlich, verdammt! fluchte er stumm.

Die Botschaft kam an. Insgeheim zuckte Olivia zusammen, ließ sich aber nichts anmerken. So wie es zwischen ihnen knisterte, wollte sie nicht riskieren, dass die schwache Grenze zwischen Zorn und Leidenschaft verschwamm und sie sich beide zu etwas hinreißen ließen, das sie später bereuten.

Sie ging zum Schreibtisch, wo ihre Handtasche gelandet war, als Ethan das Gleichgewicht verloren hatte. Als sie danach griff, fiel ihr Blick auf die Whiskykaraffe. Die kann gern mitkommen, dachte sie und verstaute die Flasche in ihrer geräumigen Tasche.

Aus den Augen, aus dem Sinn.

„Du musst sie nicht einkassieren“, sagte er. „Selbst wenn ich in der Lage wäre, mich von diesem Sofa zu erheben … für heute Abend habe ich genug.“

Olivia wandte sich ihm zu. „Betrachte es als meinen Beitrag, dich von der Versuchung zu befreien.“ Damit eilte sie zur Tür.

Ethan blickte ihr nach, sah, wie sich die Jeans an ihren weiblichen Körper schmiegte, betrachtete die langen schimmernden Haare, die sich bei jedem Schritt sanft bewegten. Faszinierend – und zu betörend für seinen Seelenfrieden.

Lust erwachte in ihm, heiß und drängend.

Er fühlte sich nicht im Mindesten befreit …

Ein kräftiges Rütteln an seiner Schulter weckte Ethan. Wie viele Stunden inzwischen vergangen waren, wusste er nicht. Aber es war hell im Zimmer. Zu hell!

Tageslicht strömte durch die Schlitze der dunklen Holzjalousien zum Fenster herein, unter dem das Chesterfield-Sofa stand. Ethan kniff stöhnend die Augen zu. „Kann mal jemand die Sonne dimmen?“

„Was zum Teufel machst du hier eigentlich?“, fragte Leo und zog mit einem Ruck die Jalousien hoch, ohne sich um die Proteste seines Bruders zu kümmern.

Greller Sonnenschein ergoss sich wie ein Tsunami auf seine geplagten Augen. „Es war spät“, erklärte Ethan. „Ich bin hier versackt.“

„Ich sollte von dir Miete verlangen“, murmelte Leo.

Ethan blinzelte, blickte erst zu seinem Bruder und dann auf seine Armbanduhr. Halb sieben. „Hat Lizzie dich aus dem Bett geworfen?“

Leo grinste gut gelaunt, was Ethans Laune nicht gerade besserte. „Sie schläft zurzeit nicht gut, muss ständig ins Bad. Da versuche ich, ihr so viel Ruhe wie möglich zu gönnen.“

Natürlich freute sich Ethan, dass sein Bruder die große Liebe gefunden hatte. Trotzdem war so viel Glück für ihn schwer zu ertragen – erst recht nicht nach dem weniger beglückenden Wiedersehen mit Olivia. Er richtete sich auf und schwang die Beine über die Sofakante, froh darüber, dass er wieder Kraft in den Muskeln spürte.

„Du siehst zum Fürchten aus“, meinte Leo munter.

„Herzlichen Dank.“ Verglichen mit letzter Nacht fühlte er sich blendend.

„Gehst du nach Hause, oder duschst du hier?“

Ethan fuhr sich durchs Haar. „Ich werde dein Bad benutzen.“ Er hatte immer eine Garnitur sauberer Kleidung im Büro, und ein privates Bad gehörte zu den Annehmlichkeiten eines Klinikdirektors – und mit ihm verwandt zu sein, auch.

Die Hunter Clinic gehörte ihnen zu gleichen Teilen. Doch Ethan hatte Leo gern die Leitung überlassen, als er beschloss, sich von allem zu verabschieden, was mit dem Namen Hunter verbunden war, und seine ärztlichen Fähigkeiten der Armee zur Verfügung zu stellen. Leo war ziemlich wütend gewesen, dass er sich einfach der familiären Verantwortung entzog, zumal die Klinik nach dem Skandal ins Straucheln geriet. Unzählig waren seine Versuche in den folgenden zehn Jahren, seinen Bruder doch noch in den Klinikbetrieb einzubinden.

Aber Ethan hatte nicht die geringste Lust gehabt, verwöhnten Filmstars und Politikergattinnen mit Skalpell und Chemie den Anschein ewiger Jugend zu verschaffen. Er wollte helfen, dort, wo echte Not herrschte.

Bis das Schicksal anderes mit ihm vorhatte und Leo ihm ein Angebot machte, dem er nicht widerstehen konnte – wollte er nicht in einem Morast von Selbstmitleid versinken.

Leo erhob sich von der Armlehne. „Wenn du fertig bist, gebe ich dir ein Frühstück aus.“

Eine knappe Dreiviertelstunde später saßen sie in einem nahe gelegenen Café und ließen sich ein traditionelles englisches Frühstück schmecken.

„Du hast also Olivia gestern Abend wiedergesehen?“

Ethan blickte von seinem Teller auf. „Ja. Geschickt eingefädelt, Bruder.“

„Wie war’s?“ Leo blieb unbeirrt.

„Was glaubst du?“

„Nicht so gut, wie ich gehofft hatte?“

„Sagen wir, ich war nicht gerade in bester Verfassung, als sie kam. Sie warf mir vor, auf dem besten Weg zu sein, wie mein alter Herr zu werden, und dann gab es noch einen Anpfiff, weil ich keine Physio mache.“

Leo lachte schallend. „Immer noch dieselbe Olivia, direkt und unverblümt?“

„Ja und nein.“ Ethan trank einen Schluck Kaffee. „Sie wirkt reservierter, nicht so lebhaft wie früher.“

„Vielleicht hat das mit dir zu tun?“

Schon möglich. „Egal, wir haben uns ziemlich beharkt. Ach, und ehe du ihn vermisst … sie hat deinen Whisky mitgenommen.“

Leo lachte noch lauter. „Habt ihr überhaupt den Fall besprochen?“

Ethan schüttelte den Kopf. „Sie kommt um neun in dein Büro und wird uns beide informieren.“

„Soll ich den Mediator spielen?“

Das klang locker, doch Ethan wusste, wie belastet das Thema Olivia Fairchild war. Abgesehen von einem missglückten Versuch an Leos Hochzeitstag, hatte Ethan sich für sein Verhalten nie richtig bei seinem Bruder entschuldigt. Er hatte nicht nur Olivia verletzt, sondern auch Leo … in voller Absicht.

Er setzte seine Kaffeetasse ab. „Nein, natürlich nicht. Wegen Olivia … wegen dem, was zwischen uns passiert ist …“

„Schnee von gestern“, unterbrach Leo ihn. „Mach dir keine Gedanken.“

„Doch. Ich war unmöglich.“

„Stimmt.“ Leo grinste. „Aber weißt du was? Im Grunde wusste ich, dass sie nichts für mich übrig hatte – nicht so viel wie für dich, jedenfalls. Sie hat mir nie einen Anlass gegeben zu glauben, dass sie mehr als Freundschaft für mich empfand. Doch sie war eine atemberaubende Frau, und mein Ego hat sich etwas eingebildet.“

Atemberaubend. Ja, Leo hatte recht. Olivia sprühte vor Lebensfreude, lachte gern, war geistreich und schlagfertig.

Und hinreißend schön.

„Das entschuldigt nicht mein Verhalten. Ich habe sie benutzt, um dich zu ärgern, und das tut mir leid. Damals hatte ich einen Hang dazu, es mir mit allen zu verderben.“

„Es war nicht einfach für dich, dass Mum nicht mehr da war.“

„Und für dich schon?“

„Ethan, lass die Vergangenheit ruhen. Wir haben beide unsere Fehler gemacht, und ich erwarte nicht von dir, dass du dich ein Leben lang für etwas entschuldigst, das ewig her ist. Vergeben und vergessen.“ Leo bedachte ihn mit einem eindringlichen Blick, dem Klinikdirektorblick, wie Ethan ihn insgeheim nannte. „Außerdem musst du nicht bei mir um Vergebung bitten. Gestern Abend wäre eine gute Gelegenheit gewesen.“

„Klar.“ Er verzog das Gesicht. „Ist aber nicht passiert. Sie hat meine Entschuldigung schon damals nicht angenommen. Wie kommst du darauf, dass sie es jetzt tun würde?“

„Weil seitdem viel Wasser die Themse hinuntergeflossen ist. Ich habe Olivia nie für nachtragend gehalten.“

„Mein Verhalten war unverzeihlich.“

Leo nickte. „Trotzdem solltest du die Dinge wieder ins Lot bringen. Du musst in den nächsten Monaten mit ihr zusammenarbeiten. Dicke Luft kannst du da nicht gebrauchen.“

„Ich weiß.“

Schweigend frühstückten sie zu Ende. Schließlich legte Leo sein Besteck auf den Teller und blickte seinen Bruder an. „Ihr würdet ein gutes Paar abgeben.“

Ethan sah auf. Olivia und er? Er spürte wieder ihre Hand auf seinem Bein, erinnerte sich an die leidenschaftlichen Stunden mit ihr.

Doch dann dachte er an eine andere Frau – eine, die er geliebt und die er hatte sterben lassen. Augenblicklich ertranken die Möglichkeiten, die er mit Olivia haben könnte, in einem Meer von Schuldgefühlen.

Aaliyah …

Er warf seine Serviette auf den Teller. „Gehen wir.“

3. KAPITEL

Lächelnd betrat Olivia Leos Büro. Sie hatte den älteren der Hunter-Brüder schon immer gemocht, und daran hatten die Zeit, räumliche Entfernung und kritische Situationen in der Vergangenheit nichts ändern können. Ja, sie hatte den beiden vorgeworfen, dass ihr Verhältnis zueinander so gestört war, dass sie damit auch andere ins Unglück stürzten. Aber das war im Grunde genommen nicht Leos Schuld gewesen.

Der war zwischen Vater und Bruder buchstäblich zwischen die Fronten geraten und hatte sich fast umgebracht, um für beide das Richtige zu tun.

Ethans Bitterkeit war die wahre zerstörerische Kraft gewesen.

Olivia hielt ihm die Whiskykaraffe hin, die sie im Taxi mit nach Hause genommen hatte. „Hier, darum habe ich Ethan gestern Abend erleichtert.“

„Ja, er hat so etwas erwähnt.“ Leo grinste und stellte die Flasche ab. Dann umarmte er Olivia herzlich.

„Kaum zu glauben, dass wir uns zehn Jahre nicht gesehen haben“, meinte er, als er sie wieder losließ. „Wie ist es dir ergangen?“

„Gut“, erwiderte sie. Ihre Standardantwort. Weil die Wahrheit sich alles andere als gut anhörte und Olivia nicht daran erinnert werden wollte. „Und du? Du hast geheiratet und wirst bald Vater, habe ich gehört. Die Frau muss ich unbedingt kennenlernen!“

Leo ließ sich leicht ablenken und erzählte begeistert von Lizzie, von Babys und Familienleben. Olivia freute sich mit ihm, dass er endlich das Glück gefunden hatte, das er verdiente. Seine Freundschaft hatte ihr schon immer viel bedeutet, und sie war traurig gewesen, als Ethan einen Keil zwischen sie getrieben hatte.

Ihr wäre viel Kummer erspart geblieben, wenn sie sich für den älteren Hunter-Bruder entschieden hätte. Aber das Herz macht, was es will. Als Olivia Ethan zum ersten Mal gesehen hatte, war es um sie geschehen. Andere Männer interessierten sie nicht mehr.

Gut aussehend, charmant und mit scharfem Verstand ausgestattet, faszinierte er sie von Anfang an. Natürlich konnte er wütend und verletzend sein, doch dahinter spürte Olivia eine kraftvolle Energie, mit der er, wenn er sie für andere einsetzte, eines Tages Großes leisten würde.

Und das hatte ihn nahezu unwiderstehlich gemacht.

Leider ahnte sie nicht, dass sie den Graben zwischen den Brüdern nur vertiefen würde. Aufgewachsen in einer Familie, in der alle füreinander da waren, hatte sie in ihrer Naivität geglaubt, die Risse in der Hunter-Familie kitten zu können. Es war ihr nahegegangen, wie Leo und Ethan unter dem Tod ihrer Mutter Francesca litten, unter den skandalösen Enthüllungen, die danach ans Licht kamen, und unter der Alkoholsucht ihres Vaters.

Also wollte sie helfen. Ethan und auch Leo zeigen, wie eine liebevolle, zuwendende Beziehung – ähnlich wie die ihrer Eltern – aussehen könnte. Und sie natürlich miteinander aussöhnen.

Aber Ethan war auf einer anderen Straße unterwegs gewesen, und sie hatte ihn nicht erreichen können.

Leos lockeres Geplauder verstummte, als Ethan ins Zimmer kam. Olivia war froh, zu sehen, dass er heute Morgen in besserer Verfassung zu sein schien. In Anzug und Krawatte sah er umwerfend aus. Zwar hatte Ethan sich nicht rasiert, doch die tiefen Linien um seine Augen waren verschwunden, und sein Gang wirkte sicher, von dem leichten Humpeln abgesehen.

Leo blickte von einem zum anderen, als Ethan und sie sichtlich unbehaglich vor seinem Schreibtisch standen. „Sollen wir gleich anfangen?“, schlug er vor.

„Ja“, sagten sie wie aus einem Mund, und dann blickten sie einander verlegen an, bevor sie gleichzeitig den Blick abwandten.

Leo seufzte. „Setzt euch.“

Für Olivia war klar, dass Ethan dieses Gespräch so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte.

Sollte ihr recht sein. Mehr als recht!

Kurz vorm Mittagessen betrat Ethan das Lighthouse Children’s Hospital. Er war von der Harley Street zu Fuß gegangen. Letzte Nacht wären keine fünf Schritte denkbar gewesen, doch sonst lief er immer zum Lighthouse – oder zum Princess Catherine’s Hospital, kurz Kate’s genannt, sofern die Zeit reichte.

Dem Chirurgenteam der Hunter Clinic standen in beiden Krankenhäusern Belegbetten zur Verfügung. Und obwohl die Gebäude nicht weit auseinander lagen, hatte Ethan diesmal den Gehstock genommen. Olivias Ermahnung klang ihm noch in den Ohren!

Allerdings gedachte er, die Gehhilfe vor der Visite irgendwo abzustellen. Olivia mochte ihn für eitel halten, aber das war wirklich nicht der Grund. Wie sah das aus, ein Chirurg, der am Stock ging, vor allem in der Welt der plastischen Chirurgie? Was sollten die Patienten von ihm halten – einem Operateur, der nicht einmal sich selbst heilen konnte?

Nachdem er den Stock in ein leeres Büro gestellt hatte, machte er seine Runde durch die Krankenzimmer. Da er von außen kam, mussten ihn keine Ober- oder Assistenzärzte begleiten. Allerdings sorgte er dafür, dass immer jemand vom Pflegepersonal dabei war. Nichts regte Krankenschwestern mehr auf als ein Arzt, der kurz hereinschneite, die Therapie abänderte und wieder verschwand, ohne sie zu informieren.

Schon vor langer Zeit hatte Ethan gelernt, das Pflegepersonal nicht gegen sich aufzubringen. Krankenschwestern und Pfleger waren ein wichtiger Teil des Teams, die unentbehrliche Schnittstelle zwischen Arzt und Patient.

Es war ratsam, es sich nicht mit ihnen zu verderben. Da Ethan darauf achtete, konnte er sich auf gute Zusammenarbeit verlassen.

Zu Ama ging er zuletzt. Es gab noch viel zu tun, bevor sie nächste Woche operiert werden konnte, und er wollte Zeit genug für sie haben. Außerdem war Olivia auch da.

Seltsamerweise war er ein bisschen nervös. Vielleicht lag es daran, dass er heute Morgen beim Fallgespräch erkannt hatte, wie sehr ihr die Kleine am Herzen lag. Und Ethan wollte Olivia nicht enttäuschen.

Nicht noch einmal.

Als er sich dem Zimmer näherte, hörte er jemanden lachen. Olivia. Wer ihre schlanke, zierliche Gestalt sah, erwartete ein helles, perlendes Mädchenlachen. Aber wenn Olivia lachte, kam es schallend und aus tiefer Kehle, rau und ansteckend, nicht nur aus vollem Bauch, sondern aus dem Herzen heraus.

Er erinnerte sich an Momente, wo es in seinem Leben turbulent zugegangen war und Olivia ihn mit ihrem Lachen aus der Dunkelheit ins Licht gezogen hatte.

Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, als er die Tür öffnete. Ethan blieb am Türrahmen stehen und betrachtete sie einen Moment. Olivia saß auf dem Bett, ihr gegenüber ein Mädchen im Schneidersitz auf dem Schoß einer Frau.

Ama und ihre Mutter, nahm er an. Die Haut der beiden war dunkel und glatt wie edles Ebenholz. Das Profil der Kleinen war unversehrt, weshalb er vermutete, dass die andere Gesichtshälfte betroffen war. Ama trug ein leuchtend buntes Kopftuch, das die andere Seite völlig verhüllte.

Auf den ersten Blick wirkte Ama völlig gesund. Doch Ethan hatte die Fotos gesehen – Noma, eine bakterielle Erkrankung, hatte ihre rechte Gesichtshälfte befallen und schrecklich entstellt.

Auf der Bettdecke zwischen Olivia und Ama stand ein Dame-Spielbrett. Eine dritte Frau, jünger als Amas Mutter und ebenfalls von dunkler Hautfarbe, saß auf einem Stuhl am Bett und nahm genauso lebhaft am Spiel teil wie die anderen. Sie wechselte zwischen Englisch und einer Ethan unbekannten Sprache und fing an zu lachen, als Ama einen geschickten Spielzug hinlegte.

„Ama, du bist zu gut für mich!“ Wieder lachte Olivia ihr kehliges Lachen.

Die Frau im Stuhl sagte etwas in der fremden Sprache zu dem Mädchen, woraufhin es übermütig kicherte. Die kohlschwarzen Augen funkelten vor Vergnügen.

Ethan war beeindruckt, wie locker und fröhlich die kleine Gruppe wirkte. Alle vier schienen sich ausgesprochen wohl miteinander zu fühlen. Amas Mutter sah Olivia an, als wäre sie eine Heilige, und Ama lächelte Olivia so strahlend an, dass im Zimmer buchstäblich die Sonne aufging.

Olivia reichte Ama einen roten Dame-Stein, und Ama lachte wieder, bevor sie etwas zu der Dolmetscherin sagte.

„Ama glaubt, dass sie gewinnt“, übersetzte diese.

Wieder lachte Olivia, und trotz der Entfernung spürte Ethan es auf der Haut wie die Berührung zarter Fingerspitzen. „Ach, wirklich? Mal sehen, ob sie so leicht gewinnt, wenn ich sie kitzele!“ Sie hob die Hände und startete eine Kitzelattacke auf das kreischende, sich lachend windende Mädchen.

Im Eifer des Gefechts verrutschten die Spielsteine auf dem Brett, doch niemand schien sich daran zu stören. Unglaublich, wie vertraut Olivia und die Frauen miteinander waren. Ethan war sicher, dass sich Olivia dieses Vertrauen hart erarbeitet hatte. Mutter und Kind aus ihrer Heimat zu holen, weit weg von allem, was sie kannten, und in ein fremdes Land mit fremden Menschen und fremden Gebräuchen zu bringen, war bestimmt nicht einfach gewesen.

Am meisten berührte ihn jedoch, dass er Olivia so erlebte, wie sie früher gewesen war. Gestern Abend war sie reserviert und zeitweise sogar angespannt gewesen und heute Morgen höflich und professionell. Verdammt, selbst als sie wütend gewesen war, hatte sie eine Unnahbarkeit ausgestrahlt, die er an ihr nicht kannte.

Doch dies war die vertraute Olivia. Die, die sich zu sehr auf ihre Patienten einließ. Die als Assistenzärztin nach einem langen Dienst mit den Kindern in ihrer Obhut Spiele spielte oder Geschichten vorlas. Manchmal lief sie zum Krankenhauskiosk und besorgte ihnen ihre Lieblingsschokolade oder ein kleines Spielzeug.

Ihre Chefs verfolgten ihr Verhalten mit kritischem Blick, Ethan zog sie deswegen ständig auf. Aber genau dieser Wesenszug machte Olivia zu der guten Ärztin, die sie war. Sie behandelte die Kinder nicht nur, sondern sie war ihnen eine Freundin.

Natürlich flossen oft Tränen. Olivia nahm es sich sehr zu Herzen, wenn ein kleiner Patient starb oder die Therapie nicht anschlug. Sie kämpfte für die ihr anvertrauten Kinder und litt bei jeder Niederlage.

Ethan erinnerte sich gut daran, wie oft sie sich an seiner Schulter ausgeweint hatte.

Deshalb war ihm gestern mulmig zumute gewesen. Olivia war so distanziert und kühl, dass er schon glaubte, ihre herzliche, empathische Art sei für immer dahin. Dass er Olivia so sehr enttäuscht hatte, dass sie am Leben und an den Menschen verzweifelt war.

Jetzt war er unendlich froh, dass das nicht der Fall war.

Vielleicht hatte sie sich eine härtere Schale zugelegt, doch im Kern war sie immer noch die fröhliche, zuwendende Olivia, die ihn damals so fasziniert hatte.

Ethan atmete tief durch und ging ins Zimmer. „Da hat aber jemand Spaß!“, sagte er lächelnd.

Beim Klang seiner Stimme zuckte Olivia zusammen, woraufhin Ama sich erschrocken in die Arme ihrer Mutter schmiegte. Dabei zog sie schnell das Kopftuch dichter um ihre rechte Gesichtshälfte, um sich zu vergewissern, dass sie gut bedeckt war.

„Ethan!“ Olivia rutschte vom Bett herunter. „Ich dachte, du kommst nach dem Mittagessen.“ Sie wandte sich Ama zu und lächelte beruhigend. „Alles in Ordnung“, versicherte sie, und die Dolmetscherin wiederholte die Worte in ihrer Muttersprache. „Dies ist der Arzt, von dem ich dir erzählt habe. Dr. Ethan.“

Er lächelte, als das Mädchen ihn, an der Schulter der Mutter geborgen, schüchtern ansah. „Ich freue mich, dich kennenzulernen, Ama.“

Die Kleine blickte zu Olivia hinüber, die daraufhin näher zu Ethan trat und ihm lächelnd die Hand auf den Arm legte. „Wir sind alte Freunde“, erklärte Olivia, während sie versuchte, den großen, breitschultrigen Männerkörper und das sinnliche Prickeln zu ignorieren, das er auslöste. „Wir haben zusammen an diesem Krankenhaus gelernt.“

Ethan nickte. „Das stimmt. Olivia hat uns Geschichten von ihrem Babykänguru erzählt, das sie in Australien als Haustier gehabt hat.“

Das entlockte Ama ein zaghaftes Lächeln, und Olivia drückte Ethan dankbar den Arm, bevor sie die Hand sinken ließ.

Dann stellte sie ihm die Dolmetscherin Dali und Ril, Amas Mutter, vor. Er zeigte sich von seiner charmantesten Seite, aber Olivia war trotzdem nervös. Würde es ihm gelingen, Ama zu überzeugen, ihm ihr Gesicht zu zeigen?

„Spielst du gern Dame?“, fragte er.

Ama nickte leicht, nachdem Dali übersetzt hatte.

„Kann ich eine Weile zusehen, während du mit Olivia spielst?“

Das Mädchen sah seine Mutter an, während die Dolmetscherin sprach, und schließlich Olivia, die ihr aufmunternd zulächelte. Wieder nickte Ama kaum merklich.

„Wunderbar“, antwortete er und zog sich einen Stuhl ans Bett. Und zwar auf der Seite, von wo aus er die betroffene Gesichtshälfte sehen konnte. Ethan hoffte, dass Ama so sehr ins Spiel vertieft war, dass das Tuch die Stelle freigab. Natürlich musste er sie genauer untersuchen, doch zuerst wollte er das Vertrauen der Kleinen gewinnen.

Zwei Stunden später wusste Ethan sehr viel mehr, als ihm ein Foto verraten könnte. Es hatte keine Viertelstunde gedauert, bis Ama vergaß, das Tuch über ihr Gesicht zu ziehen. Ethan konnte den Defekt genau betrachten.

Das Ausmaß der Schädigung bedeutete eine Herausforderung für den behandelnden Arzt. Die Erkrankung hatte Gesichtsgewebe, einschließlich Teile von Kiefer und Gaumen, zerstört. Es war ein schockierender Anblick. Ama hatte praktisch ein Loch in ihrer rechten Gesichtshälfte, durch das man in ihre Mundhöhle blickte. Noch schockierender war die Tatsache, dass es dazu niemals hätte kommen müssen, wäre die Entzündung frühzeitig erkannt und behandelt worden.

Von Olivia und aus dem Bericht in Amas Patientenakte wusste er, dass Noma bei dem Kind den typischen Verlauf genommen hatte: mit einer kleinen Entzündung im Mund. Durch Mangelernährung und unzureichende Mundhygiene entwickelte sich aus einem winzigen Geschwür die lebensbedrohliche Noma-Erkrankung. Es kam zu Schwellungen, dunklen Flecken auf der Wange, das Gewebe starb ab.

Ama hatte noch Glück gehabt – und überlebt. Achtzig Prozent der Kinder schafften es nicht.

Ethan beobachtete das Mädchen, während es mit Olivia spielte, und ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit überschwemmte ihn. Noma war die hässliche Fratze der Armut in unterentwickelten Ländern. Und gerade Kinder, die nicht genügend Vitamine und Nährstoffe bekamen, waren dafür am anfälligsten.

Er sah Olivia an. Der Blazer, den sie heute Morgen bei der Besprechung getragen hatte, lag achtlos hingeworfen auf einem Stuhl, und ihr Bleistiftrock war leicht hochgeschoben, da sie mit seitlich angewinkelten Beinen auf dem Bett saß. Ihre langärmelige Bluse fiel sanft über ihre Brüste, die Ärmel waren hochgerollt. Die drei oberen Knöpfe – vorhin noch bis zum Kragen geschlossen – standen offen, sodass Ethan einen Blick in ihren Ausschnitt werfen konnte.

Olivia wirkte völlig entspannt. In keiner Sekunde ließ sie sich anmerken, ob Amas Schädigung ihr naheging. Nur Ethan, der ihr weiches Herz kannte, ahnte, dass ihr die ganze Zeit schmerzlich bewusst war, was das kleine Mädchen durchgemacht hatte.

Jetzt blickte sie auf, zu ihm hinüber. Ja, da hatte er seine Antwort. In ihren warmen schokoladenbraunen Augen lag eine flehentliche Bitte: Tu etwas. Mach sie gesund.

In diesem Moment hätte er alles dafür getan, selbst mit bloßen Händen, wäre es in seiner Macht gewesen.

Stattdessen lächelte er sie ermutigend an und nickte.

Ethan stand auf und wandte sich an Ama und ihre Mutter. „Ich werde einige Untersuchungen veranlassen“, sagte er freundlich. „Wir fangen nach dem Mittagessen damit an, und Olivia wird die ganze Zeit dabei sein.“

„Genau.“ Sie glitt vom Bett, schlüpfte in ihre Schuhe und lächelte Ama an. „Ich gehe kurz mit Dr. Ethan nach draußen. Bin gleich wieder da.“ Mit verschmitzter Miene drohte sie ihr mit dem Zeigefinger. „Und wehe, du mogelst.“

Ama grinste.

Olivia war sich Ethans großer athletischer Gestalt deutlich bewusst, als sie nebeneinander hinausgingen. Es erinnerte sie an alte Zeiten, Seite an Seite auf ihren unzähligen Wegen durchs Lighthouse. Auch das Kribbeln war immer noch da, die leichte Atemlosigkeit, das Bedürfnis, die Hand nach ihm auszustrecken …

Vergiss es! ermahnte sie sich. Das ist vorbei.

„Danke“, sagte sie, als sie im Flur standen. „Du warst gut.“

Achselzuckend tat er das Lob ab. „Ich denke, sie wird mit dem Ergebnis zufrieden sein.“

Narben würden bleiben, und wahrscheinlich musste Ama weitere Hauttransplantationen über sich ergehen lassen. Doch Ethan war zuversichtlich, dass es ihnen gelingen würde, das Loch zu schließen. Ama könnte wieder richtig schlucken und essen und ein Leben führen wie andere Mädchen ihres Alters.

Olivia lächelte. „Ja, da bin ich sicher.“

Es war für ihn ihr erstes strahlendes Lächeln seit zehn Jahren, und Ethan hatte fast vergessen, wie sehr es ihn in den Bann ziehen konnte. „Kernspin- und Röntgenaufnahmen lassen wir heute Nachmittag noch machen“, antwortete er knapp, weil ihm der Hals eng wurde. „Und Bluttests, das volle Programm.“

Sie legte ihm die Hand auf den Arm, wie vorhin schon einmal. „Danke. Rufst du kurz durch, wenn du die Ergebnisse hast?“

Dass er sie immer noch nicht um Verzeihung gebeten hatte, lastete schwer auf seinem Gewissen. Vor allem, da sie ihn gerade ansah, als hätte er das Allheilmittel gegen Krebs erfunden. Ein Krankenhausflur war jedoch nicht der geeignete Ort für eine Entschuldigung. Das wurde ihm bewusst, als sie einem Pfleger Platz machen mussten, der einen Rollstuhl schob.

„Was hältst du von einem Abstecher ins Drake’s, und wir besprechen alles Weitere dort? Ich bringe meinen Laptop mit und den USB-Stick mit den Bildern.“

„Das Drake’s gibt es immer noch?“ Damals waren sie oft dort gewesen.

„Der Pub ist eine Institution, seit bestimmt hundert Jahren. Es gäbe einen Aufstand in der Klinik, wenn er dichtgemacht würde.“

Olivia lachte. Ethan hatte nicht unrecht. Das medizinische Personal der Hunter Clinic gab sich im Drake’s die Klinke in die Hand. Dennoch zögerte Olivia. Wollte sie wirklich noch mehr Erinnerungen an früher wecken?

„Komm schon“, drängte er. „Du willst die Aufnahmen sehen, und etwas essen müssen wir so oder so.“

„Stimmt.“

„Bis sechs Uhr habe ich Sprechstunde. Treffen wir uns gegen halb sieben?“

„Okay.“

Ethan winkte Olivia an den Tisch, den er ergattert hatte, als sie zwanzig vor sieben den Pub betrat. Ein rosiger Hauch lag auf ihren Wangen, wahrscheinlich von der kühlen Abendluft. Erdbeeren und Sahne.

Ethan schüttelte den Kopf, als der Gedanke auftauchte. Erdbeeren und Sahne? Verdammt, als Nächstes wurde er noch zum Poeten!

„Entschuldige die Verspätung“, begrüßte sie ihn leicht atemlos, während sie Dufflecoat und Blazer auszog. Unwillkürlich fiel sein Blick auf ihren Ausschnitt. Die drei Knöpfe standen immer noch offen.

„Kein Problem.“ Ethan zwang seinen Blick höher. „Ich war so frei, dir ein Glas Wein zu bestellen. Trinkst du immer noch gern Shiraz, wenn es draußen kalt ist?“ Er deutete auf den Rotwein.

Überrascht, dass er sich daran erinnerte, starrte Olivia auf das Glas. „Oh ja, danke …“ Sie nahm auf der Bank ihm gegenüber Platz und verdrängte die aufwallende Bitterkeit. Hatte sie nicht längst alles überwunden? Ethan – und seine Spielchen?

Olivia trank einen Schluck und zeigte auf den aufgeklappten Laptop. „Sind das die Scans?“

„Genau.“

„Dann zeig her.“

Über den Rand seines Bierglases sah er Olivia an. Sicher wollte sie endlich genau wissen, wie weit die Erkrankung fortgeschritten war. Aber eins nach dem anderen.

Ethan schloss den Laptop und holte tief Luft. „Gleich“, antwortete er. „Zuerst muss ich dir etwas sagen.“

Das klang sehr ernst, und plötzlich hämmerte ihr das Herz gegen die Rippen. Was zum …?

„Ich will mich bei dir entschuldigen.“

Sie wollte etwas sagen, doch er brachte sie mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen.

„Bitte, Olivia, das muss ich loswerden.“

Den ganzen Nachmittag über hatte er die Sätze immer wieder geübt. Ethan war froh, dass Olivia nicht weitersprach.

„Es tut mir sehr leid, was vor zehn Jahren passiert ist. Ich habe mich unmöglich verhalten, ich habe dich benutzt und dir wehgetan, dich in etwas hineingezogen, was ich nie hätte tun dürfen. Auf den Punkt gebracht: Es tut mir leid, dass ich so ein … Mistkerl war. Mein Verhalten war und ist durch nichts gerechtfertigt, und ich erwarte nicht, dass du mir vergibst. Ich könnte sogar verstehen, dass du mich hasst. Also, ich will reinen Tisch machen, damit wir zusammen arbeiten können. Es wird weitere gemeinsame Projekte von Fair Go und der Hunter Clinic geben, sodass wir öfter miteinander zu tun haben werden. Ich möchte nicht, dass es schwierig wird – weil ich mich nicht entschuldigt habe.“

Sein Herz pochte, und er griff nach dem Bier, trank einen großen Schluck, während Olivia wie vom Donner gerührt stumm dasaß.

Das war die umfangreichste Entschuldigung, die Olivia je bekommen hatte. Erinnerungen stürmten auf sie ein, und sie umklammerte den Stiel des Rotweinglases, als sie durch Zeit und Raum in einen Strudel von Gefühlen gezogen wurde. Gefühle wie damals.

Ja, er hatte sich unmöglich verhalten. Ja, er war ein Mistkerl gewesen. Er hatte ihr das Herz gebrochen, war darauf herumgetrampelt.

Nie zuvor hatte sie jemanden so sehr geliebt wie Ethan Hunter.

Danach war sie vorsichtig geworden, hatte sich auf niemanden eingelassen. Nicht mit ihrem Herzen, jedenfalls. Und all das wegen Ethan. Nicht nur, weil er sie misstrauisch gemacht hatte, sondern auch, weil sie, insgeheim, jeden anderen Mann mit ihm verglich.

Keiner konnte ihm das Wasser reichen.

Was für eine Ironie des Schicksals, dass ein Mistkerl wie er zu ihrem Maßstab wurde!

Trotzdem musste sie sich eingestehen, dass sie mit ihm die schönste Zeit ihres Lebens verbracht hatte.

Ethan hielt das Schweigen nicht länger aus. Olivia starrte ihn nur an. Was ging in ihrem Kopf vor?

„Olivia?“

Sie riss sich von der Vergangenheit los und sah Ethan an. Ethan, wie er heute war, mit fünfunddreißig. Dem daran lag, dass sie ihm verzieh. Sehr viel, seinem intensiven Blick nach zu urteilen. Ging es ihm nur um Ama, um die unbeschwerte Zusammenarbeit, oder brauchte er es persönlich?

„Ich hasse dich nicht“, sagte sie und trank einen Schluck.

Auch als es am meisten wehgetan hatte, gehasst hatte sie ihn nie.

„Hass ist ein starkes Gefühl, und die Wahrheit ist, dass ich absolut nichts für dich empfinde, Ethan. Nicht mehr. Es ist zehn Jahre her, wir waren damals anders, seitdem ist viel passiert, und ich bin schon lange über dich hinweg. Aber du hast recht, wir müssen zusammen arbeiten. Deshalb finde ich es gut, dass du reinen Tisch machst, und ich danke dir für deine ausführliche Entschuldigung.“

Ethan war erleichtert. Einerseits. Andererseits nagte es an ihm, dass sie nichts für ihn empfand.

Gar nichts?

Sie wiederzusehen, hatte bei ihm einen Wirbel unterschiedlicher Emotionen ausgelöst: Nostalgie, Besorgnis, Unsicherheit. Auch Hoffnung, Unruhe.

Und vor allem Schuldgefühle.

Als sie ihn gestern Abend berührt hatte, schließlich noch mehr – Verlangen, Lust.

Es war alles andere als „nichts“.

Olivia allerdings schien sich dessen sicher zu sein. So wie sie ihn jetzt ansah, war sie dieselbe Liv, die er kannte, und doch wiederum nicht.

Schön, wenn sie meint, dachte er. Ist ihre Sache. „Danke“, sagte er deshalb nur und legte die Hand auf ihre.

Sie blickte auf die beiden Hände. Früher hatte sie davon geträumt, mit ihm Hand in Hand durchs Leben zu gehen, nicht nur als Paar, sondern als Ärzteteam. So wie ihre Eltern. Leben, lieben, alles miteinander teilen. Zusammen alt werden.

Wie dumm sie gewesen war!

Olivia zog ihre Hand weg. „Lass das.“

Die hastige Geste trug ihr einen verwunderten Blick ein. „Tut mir leid … ich wollte nicht … das sollte kein …“ Ethan suchte sichtlich nach Worten.

„Dass ich deine Entschuldigung annehme, bedeutet nicht, dass wir dort weitermachen, wo wir aufgehört haben, Ethan.“

Holla! Er musterte sie prüfend. „Davon bin ich auch nicht ausgegangen.“

Es war ihr egal, dass sie schnippisch klang. Ethan war immer noch ein atemberaubender Mann, vielleicht sogar attraktiver als damals, nachdem das Leben seinen gutaussehenden Zügen einen rauen männlichen Schliff verpasst hatte.

„Ich kenne dich“, erwiderte sie. „Ich weiß, wie es anfängt.“

Ethan glaubte, sich verhört zu haben. Nahm sie wirklich an, dass er sein reumütiges Bekenntnis nutzen wollte, um sie anzumachen? Klar, er genügte nicht unbedingt ihren hohen moralischen Ansprüchen, aber was sie ihm gerade unterstellt hatte, kam einer Beleidigung gleich.

„Nun ja …“ Er griff nach seinem Bierglas. „Für jemanden, der absolut nichts für mich empfindet, sollte das kein Problem sein.“

Der bittere Unterton überraschte sie. Hatte sie Ethan verärgert?

Natürlich war das mit dem „absolut nichts“ gelogen. Seit gestern befand sie sich im Ausnahmezustand. Olivia wünschte sich sehnlichst, „nichts“ zu empfinden. So wie damals, nachdem ihre Tränen versiegt und ihr Zorn verraucht waren, bis der schmerzliche Verlust nur noch Leere hinterlassen hatte. Olivia lebte wie auf Autopilot, ein Zustand, der besser zu ertragen war als alles andere.

Genauso hatte sie auch die Zeit überstanden, als ihr die Eltern von einem Tag auf den nächsten grausam entrissen wurden. Gefühllosigkeit schützte sie wie ein Kokon – und sie hatte sich viel zu lange darin aufgehalten.

„Ich lege nur die Karten auf den Tisch. Du und ich, das wird nicht wieder passieren. Nie, niemals!“

Fast hätte Ethan laut gelacht bei dieser vehementen Beteuerung. Aber das wäre wahrscheinlich nicht gut angekommen. „Wen versuchst du zu überzeugen, mich oder dich?“

Olivia erschauerte unwillkürlich. Rau und spöttisch klang seine Stimme, strich über ihre Haut wie forschende Finger. Ihre Blicke verfingen sich, und in den wenigen Sekunden flammte in seinen dunklen Augen etwas auf, so als hätte jemand ein Streichholz angerissen.

Hitze sammelte sich in ihrem Bauch, ein erregendes Gefühl, das sie vergeblich zu ignorieren versuchte. „Versprich es mir einfach“, verlangte sie in ihrer Verzweiflung. „Sag es, ich will es von dir hören.“

Ethan wollte über den Tisch greifen und ihren süßen, verlockenden Mund küssen. Okay, sie wollte das gar nicht, und nachdem er sich damals wie ein mieser Hund verhalten hatte, sollte er sich beherrschen.

Aber, verdammt … gerade jetzt konnte er an nichts anderes denken.

Er verachtete sich noch ein bisschen mehr.

„Ich verspreche es.“ Ethan hob sein Glas. „Auf ‚nie, niemals‘.“

Erleichtert stieß sie mit ihm an. „Gut.“ Olivia trank einen Schluck Shiraz. „Und jetzt zeig mir die verdammten Scans.“

Das Essen kam eine halbe Stunde später.

Bis dahin hatten Olivia und Ethan die Aufnahmen studiert und über die einzelnen Stufen der Behandlung gesprochen, Narkose-Optionen geklärt und das Für und Wider verschiedener Formen der Hauttransplantation diskutiert.

Beim Essen steckten sie den Zeitrahmen ab und stellten ihr Team zusammen. Und als sie schließlich das Besteck ablegten und die leeren Teller von sich schoben, hatten sie Amas Fall von vorn bis hinten durchleuchtet, einschließlich langfristiger Heilungschancen und eventueller Nachsorge.

Olivia sah auf ihre Armbanduhr. Gleich acht. Wenn sie sofort aufbrach, konnte sie im Krankenhaus sein, bevor Ama schlafen ging.

„Musst du irgendwohin?“ Ethan leerte sein zweites Bierglas.

„Wie bitte …?“ Geistesabwesend blickte sie auf. „Entschuldige … Es macht dir hoffentlich nichts aus. Ich lese Ama jeden Abend eine Gutenachtgeschichte auf Englisch vor. Keine Ahnung, wie viel sie wirklich versteht, aber es tut gut, sie lachen zu sehen. Kinder wie sie sind selten unbeschwert.“

Ethan nickte. Er war oft genug an Orten gewesen, wo Kinder zu schnell erwachsen werden mussten. Wo es nicht selbstverständlich war, regelmäßig eine Schule zu besuchen oder mit Freunden unbefangen Ball zu spielen. Wo sie unter der harten Wirklichkeit von Krieg und Armut litten. Aaliyah fiel ihm ein. Das Schicksal unschuldiger Kinder hatte ihr am meisten zu schaffen gemacht.

Ähnlich wie Olivia.

„Ja, ich weiß.“ Ethan stand auf und schnappte sich seine Jacke, während er die Gedanken abschüttelte. Er wollte die beiden Frauen nicht vergleichen. „Komm, ich begleite dich.“

„Nicht nötig, es ist nicht weit.“

„Liv, ich lasse dich abends nicht allein durch London laufen – vor allem nicht, wenn das Lighthouse direkt auf meinem Nachhauseweg liegt.“

Olivia hielt unwillkürlich den Atem an. Wusste er noch, wann er angefangen hatte, sie Liv zu nennen? Gleich, nachdem sie sich das erste Mal geliebt hatten …

Oder benutzte er den Namen gedankenlos, ohne es zu merken?

„Ich bin schon oft dort entlanggegangen, auch nach sechs Uhr.“ Während des einen Jahrs in London war sie zu allen möglichen Tag- und Nachtzeiten gelaufen, Bus oder mit der U-Bahn gefahren.

„Nicht, wenn ich da war.“

Das stimmte. Ethan hatte sich immer wie der perfekte Gentleman verhalten. Abgesehen von dem einen Mal, als er sie in eine Seitengasse gezogen und sich mit ihr vergnügt hatte, weil sie beide nicht mehr warten konnten.

Olivia atmete langsam aus, verstimmt, dass ihr Gedächtnis ihr gerade diese Erinnerung präsentierte. „Na schön, gehen wir!“

Autor

Amy Andrews
Amy war ein Kind, das immer eine Geschichte im Kopf hat. Ihr Lieblingsfach war English und sie liebte es Geschichten zu schreiben. Sollte sie einen Aufsatz mit nur 100 Worten schreiben – schrieb Amy 1.000 Worte. Anstatt nur eine Seite bei dem Thema „ Beschreibt auf einer Seite eure Sommerferien“...
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