Julia Ärzte zum Verlieben Band 88

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

DEIN BLICK VERSPRICHT SO VIEL von DARCY, LILIAN
Zwei Wochen mit Nick Devlin im Tropenparadies! Mirandas Herz klopft wild. Doch schon einmal hat der attraktive Doc sie nach nur einer Liebesnacht eiskalt abserviert. Diesmal muss sie ihm widerstehen! Nur wie, wenn plötzlich jeder Blick ein zärtliches Versprechen ist?

EIN KIND FÜR DR. KENDRICK von ROBERTS, ALISON
"Tom?" Abbys Erleichterung, dass nach einem Erdbeben endlich Hilfe kommt, wandelt sich in Entsetzen. Denn Notarzt Tom Kendrick war nicht nur ihre große Liebe. Er ist auch der Mann, der niemals hinter ihr Geheimnis kommen darf. Aber jetzt bleibt ihr leider keine Wahl …

NEUE LIEBE AUF REZEPT von MILBURNE, MELANIE
Die neue Vertretungsärztin Izzy fasziniert Zach mit jedem Tag mehr. Dabei ist er in sein Heimatdorf zurückgekehrt, damit er sich um seinen kranken Vater kümmern kann. Nicht um eine aufregende Affäre mit einer Frau zu beginnen, die eigentlich gar nicht zu ihm passt …


  • Erscheinungstag 01.07.2016
  • Bandnummer 0088
  • ISBN / Artikelnummer 9783733707545
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lilian Darcy, Alison Roberts, Melanie Milburne

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 88

LILIAN DARCY

Dein Blick verspricht so viel

Schicksalhaftes Wiedersehen auf Wallaby Island: Nick Devlin muss die hübsche Kinderärztin Miranda bloß ansehen, und sofort sind die Bilder ihrer einzigen leidenschaftlichen Begegnung vor zehn Jahren wieder da. So aufregend und berührend, als wäre es gestern gewesen. Doch während er sich mehr denn je nach ihr verzehrt, versucht sie ihn auf Abstand zu halten …

ALISON ROBERTS

Ein Kind für Dr. Kendrick

Wie konnte Abby ihm jahrelang sein Kind vorenthalten? Notarzt Tom Kendrick ist schockiert, als er seine ehemalige große Liebe ausgerechnet bei einem Einsatz im Erdbebengebiet wiedersieht. Nicht nur prickelt es gegen jede Vernunft, Abby macht ihm auch ein dramatisches Geständnis: Ihr gemeinsamer Sohn Jack schwebt in Lebensgefahr – und nur Tom kann ihn retten!

MELANIE MILBURNE

Neue Liebe auf Rezept

„Ich bin hier nicht auf Männersuche.“ Ein Job als Vertretungsärztin auf dem Dorf scheint genau das Richtige für Izzy, um über ihre Trennung hinwegzukommen und Ruhe zu finden. Da passt es ihr gar nicht, dass der sexy Cop Zach Fletcher ihre Sinne mehr und mehr in Aufruhr versetzt. Oder ist eine neue Liebe womöglich die beste Medizin für ein gebrochenes Herz?

PROLOG

Die Tür zu Joshs Krankenzimmer stand offen. Als er sah, wer bei seinem Sohn war, wich Nick hastig einen Schritt zurück.

Miranda Carlisle.

Vor acht Jahren hatten sie sich zuletzt gesehen, und nicht nur das gemeinsame Medizinstudium lag eine halbe Ewigkeit zurück, sondern inzwischen war er mit Anna verheiratet.

Aber meine Ehe steht auf der Kippe …

Nick verdrängte den Gedanken. Er hörte Anna reden, die bei Josh am Bett saß. Sie stellte bohrende, besorgte Fragen, und Miranda beantwortete sie freundlich und geduldig. Nick bezweifelte jedoch, dass sie Anna auf Dauer beruhigen konnte.

Halb verborgen hinter der Tür sah er, wie Miranda sich über Joshs Krankenkarte beugte und etwas notierte. Wie damals trug sie das seidige honigbraune Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, was ihren schlanken Hals betonte und ihr eine bezaubernde jugendliche Frische verlieh. Wie bei einer biegsamen Tänzerin.

Sie war jetzt für Josh zuständig, seit ihr Vorgänger Dr. McCubbin in den Ruhestand gegangen war. Anna hatte ihm in ihrer hektischen, überbesorgten und gestressten Art begeistert von der neuen Ärztin erzählt, nachdem Josh gestern mit einem akuten Asthmaanfall in die Klinik eingeliefert werden musste.

Natürlich hatte Nick nicht erwähnt, dass er Miranda näher kannte. „Wir haben zusammen Medizin studiert“, sagte er nur. „Sie hat hart gearbeitet, es wundert mich nicht, dass sie eine gute Ärztin ist.“

Und eine Frau, die ihm immer noch gefährlich werden konnte …

Er brauchte sie nur anzusehen, und sofort waren die Bilder ihrer kurzen, leidenschaftlichen Begegnung wieder da, aufregend und berührend, als wäre es gestern gewesen. Aber es gab gute Gründe, Miranda aus dem Weg zu gehen, allen voran seine zerbrechliche Ehe.

Normalerweise wäre es unmöglich, ein Zusammentreffen zu vermeiden. Josh litt unter beängstigenden Asthmaattacken, und als Vater hätte er selbstverständlich oft Kontakt zu seiner behandelnden Ärztin.

Wenn er allerdings daran dachte, wie Anna sich verhielt, seit die Krankheit diagnostiziert worden war, stellte sich bei ihm die übliche Frustration ein. Seine Frau setzte alles daran, dass er sich heraushielt. Fragen, Gefühle, ein nahezu aufopferndes Bemühen um Joshs Wohl … dafür war in erster Linie sie zuständig.

Jetzt, zum Beispiel, wäre sie bestimmt nicht erfreut, dass er hier auftauchte. Dabei war es alles andere als einfach gewesen, seinen Dienstplan am Royal Victoria Hospital so umzustellen, dass man ihn um diese Tageszeit kurz entbehren konnte.

Er sah, wie Miranda die Krankenkarte wieder in das Plastikfach am Fußende des Betts steckte. Vermutlich würde sie gleich das Zimmer verlassen.

Nick zog sich rasch zurück und verschwand in der nächsten Besuchertoilette.

Sie hatte ihn nicht gesehen. Sehr gut. Er würde ein paar Minuten abwarten und dann zu seiner Frau und seinem Sohn gehen.

Nick irrte sich. Miranda hatte ihn sehr wohl gesehen. Als er auftauchte und sofort wieder zurückwich, hatte sie die Bewegung aus dem Augenwinkel bemerkt. Vielleicht lag es daran, dass sie mit einer Begegnung gerechnet hatte und deshalb besonders aufmerksam gewesen war.

Der Name Nicholas Devlin, der in Joshs Akte auftauchte, hatte ihr keine Ruhe mehr gelassen. Auch weil ihr ehemaliger Kollege James McCubbin erwähnt hatte, dass er einen kleinen Patienten namens Devlin hätte, dessen Vater Chirurg sei. James war inzwischen im Ruhestand, und seine Patienten waren unter den drei Ärzten der Gemeinschaftspraxis aufgeteilt worden.

Sie hatte den Fall geerbt, weil sie zufällig Dienst gehabt hatte, als Josh mit seiner Mutter gestern Nachmittag in die Notaufnahme kam. Miranda brauchte die Familiendaten nur kurz zu überfliegen, um endgültig sicher zu sein – der Vater des Kleinen war ihr Nick, der Nick, der in sechs Jahren Medizinstudium ihr Herz eroberte, ohne dass sie es gemerkt hatte, um es dann nach einer einzigen Nacht in tausend Stücke zu brechen.

Und jetzt war sie die behandelnde Ärztin seines Sohnes. Ob es etwas mit ihr zu tun hatte, dass er von der Tür verschwunden und gar nicht ins Zimmer gekommen war? Oder hatte nur sein Pager geklingelt?

Sollte er allerdings versuchen, ihr aus dem Weg zu gehen, so würde das schwierig werden. Früher oder später mussten sie sich wiederbegegnen.

1. KAPITEL

Unfassbar, aber es dauerte zwei Jahre.

Josh Devlin war drei Jahre alt gewesen, als Miranda seinen Fall übernommen hatte. Seinen Vater sah sie erst wieder, als der kleine Junge fünf war …

„Ich kann nicht mitkommen, Miranda. Ich muss die erste Woche passen. Schlimmstenfalls schaffe ich es überhaupt nicht!“

Anna Devlin war kreideweiß. Ohne sich lange mit einer Begrüßung aufzuhalten, hatte sie Miranda am Arm gepackt und mit kippender Stimme auf sie eingeredet. Dass sich vor den Abfertigungsschaltern des Melbourner Flughafens die Reisenden drängten und Zeugen ihres Gefühlsausbruchs wurden, schien sie gar nicht wahrzunehmen.

„Anna …“

„Meine Mutter hat sich das Bein gebrochen“, fuhr Joshs Mutter hektisch fort. „Heute Morgen. Ausgerutscht auf der Verandatreppe. Ich habe telefoniert, war im Krankenhaus, natürlich bleibt alles an mir hängen. Meine Schwestern haben gesagt, dass sie unmöglich herkommen können. Es tut mir so leid, Miranda. Was für ein Chaos!“

„Schon gut, Anna, beruhigen Sie sich. Wie kommt Josh damit zurecht, dass Sie ihn nicht begleiten können? Wo ist er?“

„Dahinten, passt auf sein Gepäck auf.“ Fahrig strich Anna sich die Haare zurück. „Tue ich auch das Richtige? Aber was bleibt mir anderes übrig? Ich habe solche Panik, ich darf mir nur nichts anmerken zu lassen.“

Womit sie leider grandios scheiterte.

Miranda erlebte sie immer wieder als sehr emotional und hochgradig ängstlich, wenn es um ihr Kind ging. Schon oft hatte sie Anna schonend versucht beizubringen, dass sie Josh damit nichts Gutes tat. Bisher vergeblich.

„Möchten Sie die Reise lieber verschieben?“ Über Annas Schulter sah sie, wie zwei weitere Familien eintrafen. Aber es war noch Zeit. Für den Flug nach Queensland brauchten sie sich erst in einer halben Stunde am Gate einzufinden.

„Nein, nein, Josh wäre so enttäuscht“, antwortete Anna gestikulierend. „Wir reden seit Wochen von nichts anderem. Nein, er fliegt auf jeden Fall mit. Es würde doch Monate dauern, bis ein neuer Termin gefunden ist, oder?“

„Wahrscheinlich“, musste Miranda zugeben.

Die Plätze im Crocodile Creek Kid’s Camp auf Wallaby Island waren sehr begehrt. Miranda freute sich auch schon auf die zwei nächsten Wochen, obwohl sie keinen Urlaub machte, sondern als begleitende Ärztin mitreiste.

Endlich ließ Anna ihren Arm los, und nun entdeckte Miranda den kleinen Josh, der brav auf seinem Koffer in der Nähe des Check-in-Schalters saß. Ein zarter Junge, klein für sein Alter, der doch etwas Verschmitztes hatte mit seinen frechen Zahnlücken. Ein Bengel mit einem natürlichen Sinn für Unfug, ausgebremst durch zu viele Krankenhausaufenthalte wegen seines Asthmas. Anna vergötterte ihr Kind – das einzige, das sie hatte.

Weitere würde es nicht geben. Anna und Nick waren geschieden.

„Es wird schon gut gehen“, versicherte Miranda. „Wir kümmern uns um ihn. In der Gruppe sind noch ein paar andere Kinder, die ohne Eltern ins Camp fahren.“

Sie deutete auf Stella Vavunis, eine scheue, unsichere Dreizehnjährige. Ihr Vater sollte erst ein paar Tage später nachkommen. Als einer der Hauptsponsoren des neuen medizinischen Versorgungszentrums auf Wallaby Island würde er bei der offiziellen Einweihung am Samstag Ehrengast sein. Bis dahin war Stella jedoch auf sich allein gestellt.

Stella hatte Knochenmarkkrebs. Zurzeit war sie in Remission, aber der Kampf gegen die Krankheit hatte sie nicht nur ihre Haare gekostet, die nun nach der Chemotherapie weich wie Babyflaum nachwuchsen. Man hatte ihr einen Unterschenkel abnehmen müssen, und Miranda spürte, wie schwer das Mädchen damit zurechtkam. Um die neue Prothese zu verbergen, trug es eine feste Jeans, die im heißen North Queensland viel zu warm sein würde.

„Er fährt nicht allein“, erklärte Anna, und ihre Stimme klang eigentümlich schrill. Miranda kannte das schon. Es war ein untrügliches Zeichen, dass Joshs Mutter unter starkem Stress stand. Anna war eine exotische Schönheit mit großen dunklen Augen und hohen Wangenknochen. Das und ihr hektisches Auftreten begannen allmählich die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf sich zu ziehen.

„Aber …?“

„Das ist es doch, Miranda!“ Anna packte wieder ihren Arm. „Deshalb bin ich ja so fertig.“ Sie senkte die Stimme zu einem klagenden Flüstern: „Nick kommt mit!“

Ah ja. Nick kommt mit.

Sie hatte wohl nicht verbergen können, wie schockiert sie war, denn Anna fuhr angespannt fort: „Bitte, machen Sie es für mich nicht noch schlimmer, als es schon ist. Und vor allem nicht für Josh.“

„Natürlich nicht.“

„Nick müsste in den nächsten zehn Minuten hier sein. Er hat mir versprochen, dass er es nicht vermasselt.“

„Konnte er so kurzfristig einspringen? Für zwei Wochen?“

Anna verdrehte die Augen. „Ja, ich weiß, es ist ein Wunder. Ein einziges Mal wenigstens bringt er Opfer, um für seinen Sohn da zu sein.“

Miranda hielt es tatsächlich für ein Wunder – ohne den bitteren Sarkasmus, der bei Anna aus jedem Wort triefte –, dass der viel beschäftigte Chirurg nur wenige Stunden vor dem Abflug in die Bresche springen konnte. Sie hatte nur erschrocken reagiert, weil sie nicht damit gerechnet hatte, die nächsten zwei Wochen mit Nick Devlin zusammen auf einer Insel zu verbringen. Doch das war ihr Problem, nicht Annas.

„Ich hoffe, es muss nur für die erste Woche sein“, fuhr Anna fort. „Ich werde einen Weg finden, ihn danach abzulösen, das schwöre ich Ihnen! Zwei Wochen mit Nick – das tut Josh nicht gut.“

Hatte der kleine Junge das gehört? Anna war manchmal nicht besonders taktvoll.

Ob Nick nun eine oder zwei Wochen blieb, in jedem Fall hatte er einige Hebel in Bewegung setzen müssen. Diese Entschlossenheit überraschte sie. Da sie ihn in zwei Jahren als Joshs Ärztin nie zu Gesicht bekommen hatte, war sie irgendwann zu dem Schluss gekommen, dass er im Leben seines Sohnes keine große Rolle spielen wollte.

Anna und Nick waren seit Monaten geschieden, doch auch vorher war sie diejenige gewesen, die das Kind zu den Terminen brachte. Sie telefonierte, sie stellte Fragen, und auf den Krankenhauspapieren war ausschließlich ihre Unterschrift zu finden.

Auf dem Tagesprotokoll stand zwar gelegentlich sein Name – 19.00 Uhr: Dad zu Besuch –, aber gesehen hatte sie Nick nie. Anna beklagte sich oft über ihn. Er ist so kühl, so distanziert, sagte sie. Josh interessiert ihn überhaupt nicht. Josh ist so komisch, wenn sie zusammen sind, so schüchtern und in sich gekehrt.

Miranda fand das sehr seltsam.

Vor Jahren, als sie noch jünger und naiver gewesen war, was Männer im Allgemeinen und Nick Devlin im Besonderen betraf, da hätte sie keinen Zweifel daran gehabt, dass er eines Tages ein großartiger Vater sein würde. In jener einen leidenschaftlichen Nacht glaubte sie, erkannt zu haben, dass seine arrogante, unnahbare Art nur Fassade war und dass sich dahinter ein wunderbarer Mensch verbarg.

Aber das war wohl falsch. Eine Ehefrau, auch wenn sie inzwischen seine Ex war, musste es einfach besser wissen.

Wie wird es sein, wenn ich ihn wiedersehe?

Miranda wappnete ihr Herz. Sie würde es bald erfahren …

Nick bezahlte den Taxifahrer, schnappte sich seine Reisetasche und eilte ins Flughafengebäude. Er hatte Anna versprochen, dass er nicht zu spät kommen würde, und das Versprechen wollte er einhalten.

Aber es wurde knapp.

In einem Anfall von Panik hatte er zu Hause eine geschlagene Viertelstunde damit vertrödelt, dass er sich nicht entscheiden konnte, was er seinem Sohn mitbringen sollte. Ihm war fast schlecht geworden, und die Emotionen, die dabei hochkamen, hatten ihn nahezu gelähmt.

Er hatte ein paar Süßigkeiten und etwas zu trinken für den Flug mit und ein Bilderbuch. Aber müsste er ihm nicht ein richtiges Geschenk mitbringen? Eine Kamera vielleicht oder eine Schnorchelausrüstung? Oder sollte er einfach den Lego-Bausatz, Joshs Weihnachtsgeschenk, das er schon besorgt hatte, mitnehmen? Weihnachten war erst in zwei Monaten, bis dahin konnte er sich etwas anderes überlegen. Oder war das zu übertrieben? Es könnte so aussehen, als wollte er sich mit großen Geschenken die Liebe seines Sohnes erkaufen.

Wie paralysiert wusste er nicht, was er tun sollte.

Das glaubt mir keiner, dachte er sarkastisch. Dr. Nicholas Devlin, hochdotierter Spitzenmediziner in der plastischen und rekonstruktiven Chirurgie an Melbournes renommiertem Royal Victoria Hospital, konnte innerhalb von Sekunden lebensverändernde Entscheidungen treffen, wenn es sein musste. Aber die Frage, ob er seinem kleinen Sohn ein Geschenk mitbringen sollte, überforderte ihn völlig.

Was Anna sagen würde, wusste er schon jetzt: „Oh nein, Nick, was soll das?“

Egal, wofür er sich entschied, in Annas Augen war es immer unmöglich. Unerschütterlich in ihrem Glauben, dass sie als Mutter eines asthmakranken Kindes am besten wusste, was gut für Josh war, machte sie Nick ständig Vorwürfe. Sagte er etwas zu Josh, war es falsch, unternahm er etwas mit ihm, war es falsch, kaufte er ihm etwas, war es falsch. Und so weiter und so fort.

Natürlich hatten sie sich nicht deswegen scheiden lassen, aber ihre ewige Kritik vergiftete die Atmosphäre noch zusätzlich. Geändert hatte sich bis heute nichts.

Okay, da er ihr sowieso nichts recht machen konnte, würde er tun, was er für richtig hielt, und nicht länger überlegen, was sie dazu sagte. Solange sie nicht direkt nachfragte, brauchte er ihr nicht zu erzählen, was er Josh mitgebracht hatte. Nick ließ den Bausatz zu Hause und beschloss, vor Ort einzukaufen, falls Josh Fotos machen oder schnorcheln wollte.

Alles geregelt.

Die Gefühle, die ihm immer wieder ein Bein stellten, waren sorgfältig weggepackt.

Thema erledigt.

Als er dann endlich die Panik abgeschüttelt hatte und sich nicht mehr wie ein hilfloser, frustrierter Vater ohne Sorgerecht, sondern wieder wie ein kühl denkender Chirurg fühlte, wurde ihm klar, dass er noch kein Taxi bestellt hatte. Wichtige fünfzehn Minuten waren verstrichen, er würde zu spät kommen.

Nick entdeckte Anna, als er zu den Check-in-Schaltern marschierte. Blass und mit anklagender Miene hielt sie nach ihm Ausschau.

„Wo bleibst du denn?“, fauchte sie ihn vorwurfsvoll an. Es klang, als müsste er mindestens eine Massenkarambolage auf der Autobahn vorweisen, um seine Verspätung zu entschuldigen.

„Das Taxi kam nicht.“ Nick hatte sich ausführliche Erklärungen abgewöhnt. Es hatte keinen Zweck, an ihren gesunden Menschenverstand zu appellieren oder an ihren Gerechtigkeitssinn. Zu oft schon hatte er es vergeblich versucht. Anna begriff einfach nicht, dass sie ihren Sohn mit ihrer überbehütenden Mütterlichkeit fast erdrückte und seinen Vater mehr und mehr aus seinem Leben ausschloss.

Bevor er um sie herumgehen und Josh begrüßen konnte, überschüttete sie ihn mit hastig hervorgestoßenen Anweisungen und Ermahnungen. „Nick, wenn du Mist baust“, beendete sie ihre Tirade, „wenn du Josh diese Ferien verdirbst, dann bringe ich dich um!“

Nick ignorierte die Drohung, die seine Exfrau fast jedes Mal ausstieß, sobald sie auch nur ein paar Worte mit ihm wechselte. „Wie kommst du darauf, dass ich ihm die Ferien verderben werde?“

„Weil du seine Krankheit nie ernst nimmst. Weil du ihn kaum kennst, er hat kein Vertrauen zu dir.“

„Und das ist mein Fehler?“ Ärger kochte in ihm hoch, den er aber schnell unterdrückte. „Ach, vergiss es.“ Solche Diskussionen hatten sie schon zigmal gehabt. „Mach dir keine Sorgen, Josh und ich kommen bestimmt gut zurecht.“ Er holte tief Luft. „Ich liebe meinen Sohn, Anna, und wage es nicht, das Gegenteil zu behaupten.“

„Liebe ist nicht genug“, murmelte sie und wandte sich ab. „Nicht annähernd.“

Für ihre Verhältnisse war das ziemlich großzügig, also beließ er es dabei und sah zu Josh hinüber. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihm aus. Was würde er im Gesicht seines Sohnes lesen, wenn er zu ihm ging?

Gleichgültigkeit? Abwehr? Furcht?

Natürlich war Anna zuerst bei ihm. Während Nick noch drei Schritte entfernt war, beugte sie sich schon über Josh und drückte ihn fest an sich. Sie zitterte, wie Nick sah, als sie dem Jungen hastig etwas ins Ohr flüsterte. Nick schnappte nur wenige Worte auf. „Ich möchte nicht … große Angst … immer, die ganze Zeit.“

Josh nickte. Sein Atem klang pfeifend. Was zum Teufel erzählte ihm Anna da? Dass sie große Angst um ihn hatte?

„Und du rufst mich sofort an, wenn es irgendwelche Probleme gibt, ja?“ Sie richtete sich auf.

Probleme mit Dad, hörte Nick im Unterton heraus. Wenigstens sprach sie es diesmal nicht laut aus. Er trat vor. „Geh ruhig, Anna“, sagte er gelassener, als ihm zumute war. „Josh und ich schaffen das schon, nicht wahr, kleiner Mann?“

„Nenn ihn nicht so!“, zischte sie und verschwand hinter einer lärmenden Gruppe Touristen, bevor Nick antworten konnte.

Verdammt.

Er hatte es als Kosewort gemeint. Litt Josh darunter, dass er sehr klein für sein Alter war? Und wenn ja, woher sollte er das wissen? Anna sorgte dafür, dass er so wenig Zeit wie möglich mit seinem Sohn verbrachte. Und sie selbst erzählte ihm auch nicht viel von Josh. Also, wessen Schuld war es denn, wenn der Junge ihm gegenüber scheu und zurückhaltend war?

Oder trug er selbst dazu bei? Gefühle zu zeigen, fiel ihm nicht leicht. Und in Situationen, in denen es besonders emotional zuging, flüchtete er sich nicht selten in Sachlichkeit. Was bei anderen als ziemlich zugeknöpft und verschlossen ankommen konnte …

Erstickende Selbstzweifel packten ihn, und Nick trat einen Schritt zurück, anstatt vor Josh in die Hocke zu gehen und ihn auf Augenhöhe anzusprechen, wie er es eigentlich vorgehabt hatte. Er nahm ihm auch nicht den bunten Rucksack ab, in dem das Asthmaspray, die Inhalationshilfen und der Notfallplan steckten, obwohl Nick hörte, wie Josh beim Atmen keuchte. Und er legte dem Kleinen auch nicht den Arm um die Schulter, weil er es nicht ertragen hätte, wenn Josh ihn wegstieß.

Eine solche Unsicherheit hatte er bis zu Joshs Geburt nie erlebt. Nick wusste immer noch nicht, wie er damit umgehen sollte. Er war dazu erzogen worden, wenigstens nach außen stark und unerschütterlich zu wirken, egal, wie es in ihm aussehen mochte. Natürlich zweifelte er manchmal an sich, aber damit wurde er immer schnell fertig.

Das langsame, zermürbende Scheitern seiner Ehe, der tiefe Graben, der sich zwischen Anna und ihm aufgetan hatte, all das warf jedoch ein neues Licht auf das Bild, das er von sich hatte.

In diesem Moment konnte er Anna nur recht geben. Josh und er kannten sich nicht gut genug, um zusammen wegzufahren. Vater und Sohn waren sich fremd, die Vorstellung, dass sie eine tolle Zeit miteinander verbringen würden, war reine Illusion. Annas Schuld, hatte Nick immer gedacht, aber jetzt war er sich dessen nicht mehr so sicher. Plötzlich fühlte er sich der Aufgabe nicht gewachsen. Wahrscheinlich würden sich Annas negative Erwartungen erfüllen, er würde alles vermasseln.

Du wirst Josh wehtun.

Ihm Angst machen.

Das Falsche tun und das Falsche sagen.

Ihn enttäuschen und ihm diese lang ersehnten Ferien verderben.

„Dr. Carlisle?“, sagte Josh leise und sehr ängstlich.

Dr. Carlisle …

„Dr. Carlisle, ich glaube, ich brauche meinen Püster.“

Der Name hatte Nick aus seinen düsteren Gedanken gerissen. War Miranda hier? Kam sie etwa auch mit? Natürlich, die Kinder wurden bestimmt von Medizinern begleitet! Nick hatte nur nicht daran gedacht.

Na dann, heute war also der Tag, den er so lange hinausgezögert hatte.

„Hey, warum keuchst du so?“

Und da war sie, direkt vor ihm, fast genau so, wie Nick sie in Erinnerung hatte: elfenhaft schlank und zierlich, mit ruhiger, melodischer Stimme und einer heiteren Offenheit, die ihm verriet, dass sie immer noch das Herz auf der Zunge trug, jederzeit bereit, die ganze Welt zu umarmen.

„Hallo, Nick“, sagte sie.

Zehn Jahre. Die verpasste Gelegenheit vor zwei Jahren zählte nicht. Selbstverständlich erinnerte er sich an sie, Miranda sah es seinem Gesicht an, als Nick ihr die Hand entgegenstreckte.

„Wir haben … es noch nicht geschafft, uns zu sehen, seit du Josh behandelst.“

Wie damals umgab ihn diese kühle Aura zurückhaltender, fast abweisender Selbstsicherheit, die andere als Arroganz bezeichnen würden. Nur ein einziges Mal hatte er Miranda hinter diese Fassade blicken lassen. Hochgewachsen und breitschultrig wirkte er allein durch seine Statur einschüchternd. Nicht dass es bewusst geschah. Nick beeindruckte auf den ersten Blick, weil er so groß und kraftvoll war.

„Stimmt“, antwortete sie und musste aufpassen, dass sie ihn nicht unverhohlen musterte.

Äußerlich hatte er sich kaum verändert: leichte Sonnenbräune, kantige männliche Züge. Nur die feinen Fältchen an den Augen und am Mund zeigten, dass zehn Jahre vergangen waren, taten aber seiner Attraktivität keinen Abbruch. Durchtrainierter Körper … Miranda stellte sich vor, wie Nick täglich ein paar Kilometer joggte oder morgens um sechs im Fitnessstudio trainierte, bevor seine Sprechstunde oder Visite anfing.

„Anna hat großes Vertrauen in dich“, fügte er hinzu. „Das ist sehr gut.“

„Ich bin froh, dass du so kurzfristig einspringen konntest“, sagte sie. Zehn Jahre waren eine lange Zeit, und dieser Mann war der Vater eines ihrer Patienten, mehr nicht. Das durfte sie nicht vergessen! „Es ist schön für Josh, dass sein Vater bei ihm ist.“

„Meinst du?“

„Ja, natürlich.“

Sah er das etwa anders? Hatte seine Frage zynisch geklungen? Anna war sehr nervös gewesen, was sie eigentlich immer war. Aber vielleicht wollte Nick gar nicht hier sein, und dann hätte Anna recht: Wenn sein Vater Josh bei diesem Campaufenthalt nur lustlos begleitete, konnte das den Heilerfolg gefährden.

Aber Miranda hatte jetzt keine Zeit, sich damit zu befassen. Bei Josh kündigte sich ein ernsthafter Asthmaanfall an, und darum musste sie sich sofort kümmern.

Zu allem Überfluss traf auch noch Familie Allandale mit ihrer dreizehnjährigen Tochter ein – spät dran, beladen mit Koffern, Tüten und Taschen, rauschten sie auf sie zu. Wie immer erwarteten sie, dass Miranda ihnen sofort und uneingeschränkt ihre Aufmerksamkeit schenkte.

Sie tat, als hätte sie sie nicht gesehen, und bückte sich, um das Asthmaspray aus dem bunten Kinderrucksack zu holen. Joshs Atmung hatte sich verschlechtert, und er wurde von Sekunde zu Sekunde unruhiger. Unglücklich fummelte er an dem Rucksack, versuchte, ihn zu öffnen, aber der Reißverschluss klemmte. Auf die Idee, seinen Vater um Hilfe zu bitten, kam der Junge gar nicht.

„Gib mir den Rucksack, mein Schatz“, bat Miranda. „Du musst das nicht selbst machen. Versuch nur, ruhig weiterzuatmen, okay?“

„Dr. Carlisle!“ Rick Allandale baute sich so dicht vor ihr auf, dass sie erst einmal nur seine Knie sah.

Um eine lange Liste von Fragen, Erklärungen oder Beschwerden abzuwehren, die sie gerade jetzt nicht brauchen konnte, sagte sie rasch: „Mr. Allandale, ich trage gleich auf meiner Liste ein, dass Lauren da ist. Wir warten noch, bis alle zusammen sind, bevor wir einchecken.“

„Kennst du seinen Notfallplan auswendig?“, sagte Nick an ihrem Ohr.

Miranda fühlte ihn mehr, als dass sie ihn sah. Er war genau wie sie neben Josh in die Hocke gegangen, und sein muskulöser Oberarm drückte gegen ihre Schulter. Ein schwacher Duft stieg ihr in die Nase, irgendetwas, das verführerisch nach Mann roch, vielleicht Aftershave oder Shampoo oder einfach nur Seife.

Nick wartete ihre Antwort nicht ab. „Ich schon. Du musst dich um die anderen kümmern. Lass mich das hier machen.“

„Sie können warten.“ Ob ihm nicht klar war, dass sich die Situation zuspitzte? Josh war aufgeregt, und vielleicht hatte er auch Angst, weil seine Mutter nicht bei ihm war. Beste Voraussetzungen für eine Asthmaattacke …

Während ihr deutlich bewusst war, dass Nick sich keinen Millimeter vom Fleck gerührt hatte, entfernte sie die Kappe vom Salbutamol-Spray, setzte die Inhalierhilfe auf und half Josh, den Püster an die Lippen zu halten. „Okay, fertig zum Ausatmen? Jetzt …“

Doch Josh wartete nicht lange genug ab und nahm die Inhalierhilfe zu früh weg. Miranda sah das feine Wölkchen vor seinem Mund, als der Großteil des Medikaments in der Luft verpuffte.

Neugierig beobachtete Lauren Allandale, wie Josh zunehmend in Atemnot geriet, sah ihn unbeholfen mit dem Püster hantieren, und sie war nicht die Einzige. Zwei weitere Kinder und ihre Eltern betrachteten die Szene. Miranda spürte die chaotische Atmosphäre fast körperlich. Eine weitere große Gruppe Urlauber schob sich zu den Schaltern, und ihr Fremdenführer rief ihnen laut etwas zu in einer Sprache, die Miranda nicht verstand. Koreanisch, vermutete sie. Und noch mehr Blicke richteten sich auf den kleinen Josh, der pfeifend nach Luft schnappte.

„Bitte, lass mich das machen“, wiederholte Nick und beugte sich noch weiter vor, um seinen Sohn vor dem Trubel zu schützen.

Miranda fühlte die Wärme seines großen, starken Körpers und sah Nick an. Er lächelte nicht, seine Miene war ausdruckslos, aber ein Blick in die braunen Augen genügte, dass Erinnerungen in ihr aufflatterten wie ein Schwarm zitternder Schmetterlinge. Plötzlich geschah das, was sie befürchtet hatte: Zehn Jahre kamen ihr gar nicht mehr so lange vor. Sie schrumpften zusammen, als wäre jene wundervolle, leidenschaftliche Nacht erst gestern gewesen. Ihr Herz fing wild an zu klopfen.

„Du hast anderes zu tun“, holte seine kühle Stimme sie auf die Erde zurück. „Und er ist mein Sohn.“

„Weißt du denn, was du tun musst?“ Schlanke, warme Männerfinger berührten sie flüchtig, als Nick ihr Spray und Inhalierhilfe abnahm. Sollte sie sich die Sachen zurückholen?

„Himmel noch mal, ich bin Arzt!“

„Ich meinte die genaue Dosierung. Den richtigen Zeitabstand.“

„Ja“, erwiderte er knapp und verstaute das Medikament in Joshs Rucksack. „Ich bringe ihn irgendwohin, wo es ruhiger ist.“ Nick wandte sich an seinen Sohn. „Josh, komm mit, wir sehen mal zu, dass du besser atmen kannst, okay?“ Er klang steif, fast förmlich. „Wir wollen doch nicht, dass du ins Bett musst, wenn wir da sind. Wir wollen die Insel erkunden, stimmt’s?“

Josh nickte, aber seine Augen waren immer noch weit aufgerissen. War es die Angst, keine Luft mehr zu bekommen, oder – vor seinem Vater?

„Wann müssen wir spätestens am Check-in sein?“ Nick blickte über die Schulter zu Miranda. „Halb eins? Halte die Gruppe nicht unseretwegen auf, ja?“

„Eure Sachen …“, fiel ihr ein. Es war unmöglich, fremde Koffer einzuchecken. Außerdem reagierte der Sicherheitsdienst sehr empfindlich, wenn herrenloses Gepäck herumstand.

„Ich passe darauf auf“, erklärte Benita Green, die Krankenschwester, die die krebskranken Kinder begleitete.

„Danke“, sagten Miranda und Nick wie aus einem Mund.

Dann schwang Nick seinen Sohn auf den Arm. Von der breiten Männerschulter baumelte der leuchtend bunte Kinderrucksack und wippte munter hin und her, als Nick mit langen Schritten durch die Halle marschierte. Josh hingegen wirkte zerbrechlich in den Armen seines Vaters, sein zarter Körper angespannt, die schmalen Schultern hochgezogen vor Anstrengung, wenn der Junge versuchte, Luft zu bekommen.

Nick folgte dem Hinweisschild und fand den Elternraum sofort.

Wie die meisten solcher Rückzugsräume, in denen Kinder gewickelt und Babys gestillt wurden, war auch dieser klein und schmucklos. Das Beste war jedoch die himmlische Ruhe, die hier herrschte. Joshs Atmung war schlimmer geworden, und Nick musste selbst einen Anflug von Panik unterdrücken.

Was ist, wenn er keine ausreichende Dosis aufnimmt? Was ist, wenn Josh sich nicht entspannen kann, weil ich bei ihm bin? Wie gut ist der Flughafen medizinisch ausgestattet? Wenigstens war das medizinische Zentrum ganz in der Nähe, sie waren gerade daran vorbeigekommen. Hätte ich direkt hingehen sollen? Verschwende ich wertvolle Zeit, weil ich allein damit fertigwerden will?

Genau das hatte Anna ihm ja oft vorgeworfen.

Und wenn diese kostbare Woche mit Josh durch einen erneuten Krankenhausaufenthalt ruiniert wurde?

Ich will, dass es gut geht. Ich will Zeit mit meinem Sohn.

Selbst, wenn er damit sein Selbstvertrauen in praktisch jeder Beziehung herausforderte.

Ich will, dass wir beide dieses Asthma-Monster bekämpfen. Und zwar in den nächsten zehn Minuten, um zu beweisen, dass wir es gemeinsam schaffen können. Ich will, dass er mich liebt und dass er weiß, dass ich ihn liebe.

„Okay, so ist es besser, hm?“, sagte er zu Josh. „Hier sieht keiner zu.“

Er ließ den Rucksack von der Schulter gleiten und schnappte sich Spray und Inhalierhilfe. „So, nun zeig mal, wie du das machst. Zeig mir, wie du richtig gut ausatmest und dann einen Riesenatemzug nimmst, nachdem du gedrückt hast.“

Josh betätigte den Püster, atmete ein und wieder aus, während Nick die Atemzüge zählte und die Inhalierhilfe mit sanftem Griff in Position hielt.

„Gut. Das war klasse.“ Nick versuchte, aufmunternd zu klingen. „Fühlst du dich besser?“

Josh nickte, sagte aber immer noch kein Wort. Nick hatte den Eindruck, dass ihm das Atmen etwas leichter fiel, war sich jedoch nicht sicher. Der panische Ausdruck in den Augen seines Sohnes schien nachgelassen zu haben, was allerdings auch daran liegen mochte, dass sie der Hektik in der Abfertigungshalle entflohen waren.

Unerwartet und überraschend intensiv wünschte sich Nick Miranda herbei. Miranda mit ihrem warmherzigen, klugen Wesen, das ihn in sechs Jahren Studium, bei Vorlesungen, in Seminaren und Laborstunden beeindruckt hatte. Eine einzige berauschende Nacht lang hatte ihr sinnlicher Körper ihm gehört, und Nick wusste noch, als sei es gestern gewesen, wie sie danach stundenlang geredet hatten.

Die wenigen Minuten vorhin in ihrer Nähe, die wenigen Worte, die sie gewechselt hatten, brachten alles zurück. Als wären die letzten zehn Jahre nicht gewesen.

Aber sie war nicht hier. Ihm blieb nichts anderes übrig, als allein mit Josh abzuwarten und dabei Geduld und das nötige Vertrauen aufzubringen.

Und eine zweite Dosis Salbutamol zu geben, entschied er, als der ersehnte Effekt ausblieb. Ihnen lief die Zeit davon, aber wenn er Josh zu früh zum Check-in zurückbrachte …

Der nächste Sprühstoß musste noch ein wenig warten, was sollten sie bis dahin machen? Hier gab es kein Spielzeug, nicht einmal Fenster. Nur ihn und Josh, zum ersten Mal allein miteinander seit … drei Monaten? Mindestens.

Da fiel ihm das Bilderbuch ein. „Soll ich dir eine Geschichte vorlesen?“, fragte er und fand gleich, dass er übertrieben munter geklungen hatte.

Unter großen Mühen und ohne ihn anzusehen, stieß Josh fiepend hervor: „Wir müssen … zurück … zu den anderen … und ins … Flugzeug … gehen.“

Der Blick seines Jungen griff ihm ans Herz. Nick sah auf seine Armbanduhr, aber für die nächste Dosis war es noch zu früh. „Noch nicht, kleiner Mann“, sagte er und fluchte stumm, weil er wieder den Ausdruck benutzt hatte, den Anna nicht mochte.

Aber es ist ein Kosewort, verdammt!

Denk dir ein anderes aus, sagte er sich. Ob sie recht hat oder nicht, bleib auf der sicheren Seite, Josh zuliebe.

2. KAPITEL

„Noch zwanzig Minuten, Miranda“, sagte Benita. „Wo bleiben Josh und sein Dad bloß?“

„Allmählich mache ich mir ernsthaft Sorgen.“ Nick und sein Sohn waren jetzt eine Viertelstunde weg. Hatte das Medikament nicht angeschlagen?

Das kam leider vor. Trotz einer Langzeitbehandlung, um Joshs Lungen zu kräftigen, und zusätzlich zu strengen Vorsichtsmaßnahmen, an die sich Anna mit buchhalterischer Genauigkeit hielt, hatte der Junge allein in diesem Jahr drei lebensbedrohliche Asthmaanfälle erlitten. Jedes Mal musste er ins Krankenhaus und stationär aufgenommen werden, weil nichts anderes half.

Wenn das jetzt wieder passierte …

Josh wäre furchtbar enttäuscht. Er hatte sich so auf diese Reise gefreut. Vielleicht zu sehr. In seiner lebhaften Fantasie schien es auf der ganzen Welt keinen Ort zu geben, der aufregender war als das Crocodile-Creek-Kindercamp und die Insel, auf der es lag.

„Da gibt es Wasserfälle und Paradiesvögel und Krokodile“, hatte er ihr bei der letzten Untersuchung aufgezählt. „Und man kann reiten und surfen lernen, und das Essen ist total lecker. Sie haben tolles Spielzeug, und sie machen Lagerfeuer, und ich kann den ganzen Tag schwimmen – nur nicht, wenn ich die Krokodile füttere. Natürlich gehe ich nicht zu denen ins Wasser! Sie wohnen in einem See. Der wird bestimmt blutrot. Und Feuerwerk, bestimmt haben sie auch Feuerwerk!“

Miranda musste lächeln. „Aha, blutrot, meinst du?“, sagte sie und freute sich über seine Begeisterung.

Aber manche Kinder steigerten sich derart in ihre Begeisterung hinein, dass ihnen vor Aufregung fast schlecht wurde. Und wenn dann etwas schiefging oder nicht so verlief wie erwartet, konnte das Stress auslösen. Wie in diesem Fall, dass Joshs Mutter nicht mitkam und stattdessen sein Vater mit ihm die Reise machen musste.

„Ich gehe sie suchen“, sagte sie zu Benita. „Kannst du hier die Stellung halten? Wenn sie nicht allerspätestens in fünfundzwanzig Minuten hier am Schalter stehen, dann gute Nacht. Wir können nicht riskieren, dass die gesamte Gruppe wegen zweier Leute den Flug verpasst.“

Auch wenn der eine zu ihren Lieblingspatienten gehörte, und der andere …

Nun ja, der andere war Nick Devlin.

Zwei Schiffe, die sich in der Nacht begegneten … ein oft gebrauchtes Bild für einen One-Night-Stand. In ihrem Fall war es ein sehr eindrucksvolles Schiff gewesen, das sie hart Steuerbord erwischt und für lange Zeit vom Kurs abgebracht hatte!

Sie lief durch die Halle zum Elternraum und klopfte an die Tür. „Nick? Josh? Seid ihr da drin?“

Nick öffnete. Er wirkte angespannt. Gewohnt, zu handeln und die Dinge unter Kontrolle zu haben, musste er sich in dieser Situation wie angekettet fühlen. Miranda war überrascht, wie deutlich sie spürte, was in ihm vorging. Als er sie sah, warf er einen skeptischen Blick auf seine Armbanduhr.

Miranda ahnte, was er dachte. Konnten sie es noch schaffen?

Hinter ihm kauerte Josh auf einem Plastikstuhl, immer noch keuchend bei jedem Atemzug. Sein Zustand hatte sich nicht verbessert, aber auch nicht verschlechtert.

Sie wusste nicht, woher sie kam, diese plötzliche Entschlossenheit, aber sie war auf einmal da. „Zeit für eine zweite Dosis“, sagte Miranda bestimmt. „Wir wollen nicht, dass ihr beide den Flug verpasst. Vor morgen Nachmittag gibt es keinen Anschlussflug auf die Insel.“

„Er hat sie gerade bekommen“, murmelte Nick, sein breiter, muskulöser Körper im Türrahmen wie eine starke Wand, sodass Josh das Gespräch nicht mitverfolgen konnte. „Was meinst du? Hat es Sinn, hier noch eine dritte Dosis zu geben, oder soll ich den Flug stornieren? Die ganze Sache aufgeben?“

Ein erstickter Laut entfuhr ihr. Joshs Reise absagen?

„Ich frage dich als seine Ärztin, Miranda“, fügte er ungeduldig hinzu. „Nicht als jemanden, der möchte, dass mein Junge nette Ferien hat. Sollen wir alles versuchen? Oder hat es keinen Zweck, weil er mich nicht dabeiha… Ach, verdammt, ich kann nicht mehr klar denken! Du musst entscheiden.“

Ihre Blicke begegneten sich. Sie las in seinen braunen Augen, wie sehr ihm die Situation zu schaffen machte. Und das bei einem Mann, der freiwillig niemals Schwäche gezeigt hatte.

Ihn so zerrissen zu erleben, berührte ihr Herz. So wie damals, als sie ihn in jener Nacht nur anzusehen brauchte und verloren war. Hatte er gewusst, wie sehr er ihr unter die Haut ging? Nein, sicher nicht. Und wenn doch, so hatte es ihn nicht interessiert.

Jetzt jedoch vertraute er ihr, und der Gedanke tat ihr gut. Doch sie bremste sich, bevor die Gefühle zu stark wurden. Schließlich hatte er sich nie wieder gemeldet nach einer Nacht voller Liebe und Zärtlichkeit, von der sie sich so viel erhofft hatte …

„Hat sich sein Zustand wenigstens etwas verbessert?“, fragte sie rasch.

„Minimal, nach der zweiten Dosis. Ich … ich glaube, er traut mir nicht. Vielleicht kommt der ganze Stress davon, dass ich hier bin und nicht seine Mutter? Passiert das alles, weil er nicht will, dass ich mitkomme?“

Nick achtete sehr darauf, das Josh ihn nicht hören konnte. Miranda musste näher an ihn herantreten und auf seine sich kaum bewegenden Lippen blicken, sonst hätte sie ihn nicht verstanden. Dabei sah sie die feinen Linien um seinen attraktiven Mund, die vor zehn Jahren noch nicht da gewesen waren. Ein unwiderstehliches Bedürfnis, mit den Fingern sanft darüberzustreichen, erfasste sie plötzlich.

„Lass mich ihn mal ansehen, ja?“

„Vermutlich kennt er dich besser als mich.“ Die kaum hörbaren Worte versetzten ihr einen Stich.

Sie betrat den Raum und ging vor Josh in die Hocke. „Kannst du sprechen, Josh?“

„Ein bisschen.“

„Du meintest, die zweite Dosis hätte geholfen“, sagte sie, über die Schulter gewandt, zu Nick, der dicht hinter ihr stand. Wieder spürte sie körperlich die geballte männliche Anspannung.

„Ja.“

„Also warten wir noch, geben dir die dritte Dosis, und dann ist alles wieder im Lot.“ Bewusst ließ sie keinen Zweifel daran, dass es klappen würde, und da, endlich, lächelte Josh.

Hinter ihr seufzte Nick erleichtert auf.

Noch nicht, Nick, dachte sie. Noch ist Josh nicht übern Berg.

Zehn Minuten später halfen sie beim dritten Sprühstoß, und tatsächlich, der Junge atmete freier und konnte wieder sprechen. „Haben wir das Flugzeug verpasst?“, fragte er, während Nick das Medikament wieder in dem bunten Rucksack verstaute.

„Nein, Sweetheart, es ist noch Zeit.“ Allerdings nicht viel.

Nick nahm sie beiseite, beugte sich so weit vor, dass das dunkle Haar, das ihm in die Stirn fiel, fast ihr Gesicht streifte. „Sollen wir es wirklich riskieren? Was ist, wenn es ihn auf dem Flug noch schlimmer erwischt?“

Seine Nähe fühlte sich vertraut an, selbst nach so langer Zeit. Wie schnell waren sie wieder da, diese Gefühle, dieses Kribbeln …

„Sie haben Sauerstoff an Bord“, antwortete sie. „Außerdem hat er gerade recht gut auf das Medikament angesprochen. Bei einem starken Anfall hat sich sein Zustand sonst rapide verschlechtert.“

„Stimmt … und dann mit dem Notarzt ins Krankenhaus, das volle Programm.“

„Er ist unheimlich aufgeregt wegen dieser Reise.“

„Als wenn ich das nicht wüsste!“

„Meinst du, es liegt an der Aufregung?“

„Daran und …“ Er unterbrach sich, bemühte sich um die richtigen Worte. „Anna kann es manchmal nicht … verbergen, wenn sie gestresst ist. Josh merkt das natürlich. Dass sich ihre Mutter ausgerechnet heute das Bein brechen muss, ist für Anna eine Katastrophe. Der Zeitpunkt könnte nicht ungünstiger sein, und wahrscheinlich hat sie recht …“

Dass Annas gefühlsbetontes Verhalten Josh schadete, war auch ihr klar, aber dann fuhr er fort: „Vielleicht tut es ihm wirklich nicht gut, wenn ich an ihrer Stelle dabei bin. Er und ich sehen uns leider nicht so oft, wie ich möchte.“

Er rang sich dieses Eingeständnis förmlich ab, das spürte sie. Wünschte er sich denn eine bessere Beziehung zu seinem Sohn? Anna hatte mehrmals durchblicken lassen, dass Nick sich nicht um Josh kümmerte.

„Nicht so oft, wie du möchtest?“, wiederholte sie.

Es klang sehr erstaunt, fast ungläubig. Warum musste sie ausgerechnet jetzt seine Aufrichtigkeit anzweifeln? Für so etwas hatten sie keine Zeit!

„Wie viel Zeit haben wir noch?“, wollte er wissen. „Das ist jetzt wichtiger.“

„Natürlich, entschuldige. Benita passt auf euer Gepäck auf. Alle anderen warten sicher schon am Flugsteig. Wir müssen zum Schalter, wenn wir den Flieger noch kriegen wollen.“

„Also, los.“ Er schwang Josh auf den Arm und hängte sich den Rucksack auf die Schulter. „Josh, kannst du atmen?“

Keine Antwort.

„Josh? Rede mit mir.“

„Ja, ich kann atmen.“

„Nachher kannst du selbst ins Flugzeug gehen, okay? Aber jetzt trage ich dich, wir müssen uns beeilen.“

„Fliegen wir denn?“, fragte der Junge mit dünner Stimme.

„Möchtest du?“ Nick klang hölzern.

„Ja!“

„Mit mir?“

„J…ja.“ Das kam etwas zaghafter heraus.

„Gut.“ Nick drückte ihn heftig an sich. „Wir werden eine tolle Zeit haben.“ Unterdrückte Gefühle schwangen in seiner Stimme mit, die Miranda plötzlich Tränen in die Augen trieben.

Er liebte seinen Jungen, das war nicht zu bestreiten.

Sie rannten durch die Abflughalle.

Eine freundliche Angestellte, die schon Bescheid wusste, winkte sie an den Erste-Klasse-Schalter und checkte das Gepäck routiniert und schnell ein. Während sie in der Schlange vor der Sicherheitskontrolle warteten, hörten sie aus den Lautsprechern den letzten Aufruf für ihren Flug.

Nick blieb ruhig. „Sie haben unser Gepäck aufgenommen, und wir sind eingecheckt. Sie warten bestimmt ein paar Minuten auf uns. Hoffe ich jedenfalls.“

Ihr Gate schien meilenweit entfernt, fast am Ende des Ganges. Nick lief voran, mühelos, obwohl er Josh auf dem Arm hatte. Miranda bekam Seitenstiche, als sie versuchte, Schritt zu halten. Jetzt rächte sich, dass sie wegen der letzten Reisevorbereitungen heute Nacht wenig geschlafen hatte.

Endlich sah sie den Warteraum und die offene Tür zum Zugangstunnel. Kein einziger Passagier war zu sehen, am Ausgang stand nur jemand vom Bodenpersonal und telefonierte.

„Bordkarte?“, fragte Nick barsch.

„Hier. Hast du deine und Joshs?“

„Ja.“ Zu der Angestellten sagte er: „Nick Devlin, Josh Devlin, Miranda Carlisle.“

„Gut. Auf Sie haben wir gewartet.“

Atemlos folgte Miranda Nick den Tunnel entlang. Ihr dröhnte das Blut in den Ohren, und vor Erleichterung hatte sie weiche Knie. Wir haben es geschafft! Gerade eben. Josh lächelte glücklich. Alles gut …

Im Flugzeug trafen sie auf Benita. „Ich hatte euch schon abgeschrieben!“

„Es war knapp, aber ich konnte sie doch nicht den Flug verpassen lassen.“ Miranda senkte die Stimme. „Nicht diese beiden. Nicht den kleinen Josh.“

„Sei vorsichtig“, warnte Benita.

Immer schön professionell bleiben, hieß das.

„Ja, ich weiß.“ Weiter vorn sah Miranda die Allandales, die den Gang blockierten, während sie ihre zahlreichen Taschen, Tüten und Rucksäcke verstauten. Direkt vor ihr stand Stella Vavunis und übergab ihre Gehhilfen an eine Stewardess. Sie waren zu lang für die Gepäckfächer und mussten woanders untergebracht werden.

Stella ließ verlegen den Kopf hängen. Wie demütigend musste es für sie sein, von allen beobachtet zu ihrem Sitzplatz humpeln zu müssen.

„Sie kommt mit ihrer Prothese noch nicht so gut zurecht, oder?“, flüsterte Miranda der Krankenschwester ins Ohr. „In ihren Unterlagen steht, dass sie vor einer Woche angepasst wurde.“

„Sie versucht es nicht einmal, sagt ihre Krankengymnastin. Sie hasst das Ding und möchte lieber die Krücken benutzen, weil es dann nach einer Beinfraktur aussieht.“

„Ins Ferienlager kommt jeden Tag eine Physiotherapeutin. Ich habe ein paar Mal mit ihr telefoniert. Susie Jackson. Sie klingt nett.“

„Wir sind alle nett, Miranda, aber das ist manchmal nicht genug.“

Wie wahr! Schon oft hatte Miranda sich gefragt, ob sie vielleicht zu nett war. War das das Problem? Hatte sie deshalb noch keinen Mann gefunden, dem sie ihr Herz schenken wollte? Weil nette Frauen auch ziemlich langweilig sein konnten …?

„Stella sieht alles so negativ. Die meiste Zeit ist sie dermaßen zickig, dass ich sie schütteln könnte.“ Ratlos zuckte Benita mit den Schultern. „Sie und ich, wir erwischen uns immer auf dem falschen Fuß, und leider kann ich nicht so viel Geduld aufbringen, wie ich möchte.“

„Das ist schade.“

„Ich gebe es nicht gern zu, aber du kennst das ja. Manche liebst du, manche nicht, und im Grunde weißt du nicht einmal, warum.“

„Stimmt.“ Mirandas Blick glitt zu Nick und Josh. Benita hatte recht. Liebe kam mit vielen Fragezeichen.

„Ehrlich, ich muss so aufpassen, dass ich mir nichts anmerken lasse“, meinte die Krankenschwester betrübt. „Übrigens soll ihr Dad nächste Woche kommen.“

„Ja, habe ich in den Unterlagen gelesen. Er hat für das Kindercamp und das medizinische Zentrum viel Geld gespendet.“

„Ein viel beschäftigter Mann, wie ich gehört habe, und unerhört reich! Es würde mich nicht wundern, wenn er in letzter Minute absagt, weil ihm etwas dazwischenkommt.“ Sie seufzte. „Ich hoffe, Stella findet ein paar neue Freunde. Vielleicht ist sie dann nicht mehr so wütend auf die ganze Welt.“

Nach und nach leerte sich der Gang, die Passagiere hatten ihre Plätze eingenommen. Miranda fand ihre Gruppe im hinteren Teil der Maschine. Drei Sitze waren noch frei, alle in einer Reihe. Vor ihr gingen Nick und Josh.

„Hier ist dein Platz, Kumpel“, sagte er zu seinem Sohn, aber das Kumpel klang etwas gezwungen. „Direkt am Fenster.“ Erwartungsvoll kletterte Josh auf den ersten Sitz und stapfte über die Polster der anderen zum Fensterplatz. „Doch nicht mit den Schuhen, Josh!“

Der Junge zuckte zusammen und blickte seinen Vater verängstigt an.

„Hoffentlich trägt dein Sitznachbar kein weißes Seidenkleid“, meinte Miranda lächelnd, um die Situation zu entspannen.

Aber ihr kleiner Scherz prallte an Nick ab. Ihm tat es sichtlich leid, dass er seinen Sohn angefahren hatte. „Wie es aussieht, bist du mein Sitznachbar“, sagte er schließlich.

„Da hast du aber Glück gehabt“, setzte sie das Geplänkel trotzdem fort. „Ein weißes Seidenkleid besitze ich gar nicht.“

Keine Chance. Nick lächelte auch diesmal nicht. Miranda unterdrückte einen Seufzer und ließ sich neben ihm nieder. Sie spürte die Wärme seines großen Körpers und die Anspannung, die in unsichtbaren Wellen von ihm ausging.

Miranda saß während des Fluges selten an ihrem Platz.

Immer wieder hob sich eine Hand aus den Sitzreihen, und jemand rief ihren Namen. Mal brauchte jemand eine Kopfschmerztablette, einer wollte wissen, wann das Bordessen ausgeteilt würde, und wieder andere hatten einen Haufen Fragen an sie.

Freundlich kümmerte sie sich um jeden Einzelnen, und Nick war hin und her gerissen. Einerseits bedauerte er es, dass sie nicht die geringste Chance auf eine anständige Unterhaltung bekamen. Andererseits war er erleichtert, weil er nicht wusste, worüber sie reden sollten. Die Vergangenheit wog schwer, die Kluft zwischen ihnen war breit.

Sie hatten zusammen Medizin studiert und zur selben Zeit ihr Examen gemacht. Nick hatte hart gearbeitet, wusste er doch, dass nur ein exzellentes Ergebnis seinen Vater zufriedenstellen würde.

Und sein Vater hatte in vielen Dingen recht. Du musst dich anstrengen, wenn du etwas erreichen willst. Du musst deine Ziele verfolgen und besser sein als die anderen. Manchmal gibt es im Leben nur eine Chance. Wenn du dich gehen lässt, ist sie ist für immer weg. Finger weg von Drogen und Alkohol, von Garagen-Rockbands und Flittchen, sonst wird deine Arbeit nie Früchte tragen.

Viele Ratschläge seines Vaters stellte Nick inzwischen infrage, aber einige waren ihm in Fleisch und Blut übergegangen.

Also hatte er gepaukt und sich auf seine beruflichen Ziele konzentriert, nicht geheiratet, sich nicht ernsthaft verliebt oder die Freizügigkeit genutzt, eine Affäre nach der anderen zu genießen, wie es manche seiner Kommilitonen getan hatten. Er hatte Distanz gehalten, zu Miranda wie auch zu den anderen. Seine Studienkollegen waren keine Freunde, sondern zukünftige Rivalen gewesen.

Trotzdem hatte er Miranda in den Vorlesungen und Kursen, die sie zusammen besuchten, intensiv wahrgenommen – mehr, als ihm anfangs bewusst war.

Er bewunderte sie dafür, wie sie die Anerkennung auch anspruchsvoller Professoren gewann, ohne sich bei ihnen einzuschmeicheln. Ihm gefielen ihre klugen, fundierten Kommentare, ob nun in Vorlesungen oder in der Praxis bei der Krankenhausvisite. Und er mochte ihr Lächeln und ihre Art zu tanzen, wenn sie einige wenige Male zusammen mit derselben Gruppe ausgingen.

Dann schließlich, an einem Abend vor zehn Jahren, nachdem sie sich schon sechs Jahre kannten, hatte Nick sich geöffnet. Miranda und er verbrachten ungestört vierzehn Stunden miteinander, zuerst auf einer Party von jemandem, an dessen Namen er sich nicht mehr erinnerte. Aber die Nacht blieb für immer in seinem Gedächtnis.

Noch heute machte es ihm manchmal Angst, wie sehr er sich selbst vergessen hatte.

Die intensive, stürmische Begegnung, die Dinge, die er ihr erzählt hatte, die Verletzlichkeit, die er gezeigt, die Macht, die er Miranda über seine Gefühle gegeben hatte … Es war, als hätte er die solide errichtete Fassade seines gesamten Lebens niedergerissen. Und wenn ein Damm brach, ließ er nicht nur ein paar Wassertropfen durch, nein, er überflutete alles.

Ich liebe dich, Miranda.

Sicher, sie hatten etwas getrunken, aber nicht viel. Am nächsten Tag hatte er keinen Kater gehabt. Wovon auch? Von drei Gläsern Bier, die er, über drei Stunden verteilt, geleert hatte?

Als er die Worte aussprach, fühlte er sich wie bei einem Fallschirmsprung aus viertausend Metern Höhe. Es war eine Mischung aus Furcht und leidenschaftlich empfundener Freiheit, ein berauschender Cocktail. Wie oft hatte er diese Worte in jener Nacht ausgesprochen? Drei Mal? Vier? Fünf? Er wusste es nicht mehr.

Angefangen hatte es in der Küche. Was hatte Miranda zu ihm gesagt? Es war etwas gewesen, das ihn aufgewühlt hatte. Sie weiß, wie ich wirklich bin, hatte er erstaunt gedacht. Sie weiß, was ich fühle. Sie ist unglaublich. Warum ist mir das noch nie aufgefallen?

Innerhalb von zehn Minuten vergaßen sie alles um sich herum – die Musik, das Gelächter, die Partygäste, die auf der Suche nach Eiswürfeln, Chips oder Bier in die Küche kamen und wieder verschwanden.

Nick fühlte sich gefangen und euphorisch zugleich. Er wollte sie küssen, mit ihr ins Bett und sehnte sich gleichzeitig danach, ihr zuzuhören. Es waren nicht nur die Hormone, nicht nur Verlangen und Lust eines heißblütigen jungen Mannes. Nein, Miranda hatte auch sein Herz im Sturm erobert, und Nick hätte nie geglaubt, dass er für einen anderen Menschen so heftige Gefühle empfinden könnte.

Es war ein lauer Sommerabend, die Luft warm und ein wenig salzig vom nahen Ozean.

„Wollen wir nach draußen gehen?“, hatte er Miranda irgendwann gefragt. Sie nickte, und sie setzten sich auf die Backsteinstufen unter einer weiß gestrichenen Pergola. Ihre Körper berührten sich, als sie mit angezogenen Knien dasaßen, und Nick erinnerte sich noch heute an den süßen Duft des Jasmins, der sich um die Holzpfosten schlang.

Hier waren sie ungestört. Nick küsste Miranda, eine verführerische Ewigkeit lang, und als er sich schließlich von ihr löste, lächelte sie, legte eine Hand an seine Wange und sah genauso verwundert aus, wie er sich fühlte. Und unbeschreiblich bezaubernd mit ihren sanft geröteten Wangen und den schimmernden Augen.

„Dad?“ Joshs zaghaftes Stimmchen holte ihn in die Gegenwart zurück.

„Ja, klei…? Ja, Kumpel?“ Fast hätte er wieder kleiner Mann gesagt!

Kumpel gefiel ihm allerdings auch nicht besonders. Es passte nicht. Was gab es noch? Liebling. Mein Schatz. Nein, das war auch nichts. Nick störte es gewaltig, dass sein Sohn fünf Jahre alt war und er noch nicht einmal einen passenden Kosenamen für ihn hatte.

„Kann ich bitte was essen?“

„Klar. Möchtest du einen Müsliriegel oder Käsekräcker?“

„Müsliriegel.“

„Und etwas zu trinken?“

„Wasser, bitte.“

Miranda tauchte neben ihnen auf. „Falls du zur Toilette musst, solltest du jetzt gehen, Joshie. Gleich wird das Essen verteilt, dann ist der Gang blockiert.“

Joshie. Das gefiel Nick. Ja, das konnte er sagen, ohne dass es gekünstelt klang.

Danke, Miranda Carlisle. Wieder einmal …

Sie hatten sich geküsst und geredet, bis zwei oder drei Uhr morgens. Um diese Zeit löste sich die Party langsam auf, die Leute verschwanden zu zweit oder zu dritt, und jemand stellte die wummernde Musik leiser, bevor ein empörter Nachbar die Polizei rief.

„Und wohin jetzt?“, hatte Nick gefragt. „Ich möchte bei dir bleiben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich dich jemals wieder loslasse.“ Er meinte es ernst, so ernst wie nie zuvor etwas in seinem Leben. Noch im Nachhinein versetzte ihn in Panik, wie offen er ihr seine Gefühle gestanden hatte.

„Lass uns zu mir gehen.“ Sie wohnte mit zwei Studentinnen zusammen, aber die waren zur Goldküste geflogen, um dort ihr Examen zu feiern, wie Miranda ihm erzählte.

Sie sagte noch mehr damit: Wir sind allein, wir sind ungestört, nicht nur heute Nacht, sondern auch morgen früh, niemand wird es je erfahren.

Du bist sicher, Nick.

Ihm war schon bewusst, dass er sein Zuhause niemals so bereitwillig angeboten hatte. Er hütete es wie ein dunkles Geheimnis, dabei war es nichts Besonderes, nur ein Studioapartment im Haus seines Vermieters.

Bis zu jener Nacht mit ihr hatte er auch sein Herz behütet.

Doch wenn ein Damm brach …

Sie hatten sich geliebt.

Die Erinnerung daran war unvergessen. Wie Scherben aus farbigem Glas, in denen die Sonne funkelte, waren die Bilder in seinem Gedächtnis geblieben: Mirandas seidiges goldbraunes Haar, das ihm auf die nackte Brust fiel – damals war es länger gewesen. Ihr Lachen, samtig und verführerisch, für ihn ganz allein. Alles, was er zu ihr gesagt hatte, als er sie bis zum Morgen in den Armen hielt. Geschlafen hatten sie keine Sekunde.

Damals hatte er seine Bekenntnisse als befreiend empfunden, so als fiele ihm eine schwere Last von den Schultern. Das Tor zu einer neuen Freiheit schien aufgestoßen. Ich weiß nicht, ob ich das Zeug zu einem guten Arzt habe. Fachlich, das ist kein Problem, aber menschlich, woher weiß ich, dass ich es richtig mache? … Ich glaube, ich liebe meine Eltern nicht so, wie ich sollte. Mein Vater ist so … so verbohrt und streng, und meine Mutter gibt in allem und jedem nach. … Dummheit macht mich wütend. Und Schwäche auch. Dann ziehe ich mich zurück. Zeige ich damit Stärke, oder bin ich auch einfach nur schwach?

Als Miranda zum x-ten Mal von ihrem Sitz aufsprang, fragte sich Nick, ob sie immer noch so vertrauensvoll war, ob sie immer noch bereits in der ersten Nacht Ich liebe dich sagte.

Er nicht.

Nicht mehr seit jener Nacht mit Miranda.

Die Reise in die Vergangenheit bekam ihm nicht. Nick hoffte, dass er nachher nicht wieder neben Miranda sitzen musste, in der Propellermaschine, die sie nach Wallaby Island brachte.

Beim Landeanflug auf Cairns leuchtete das Anschnallzeichen auf, und Miranda musste auf ihrem Platz sitzen bleiben. Überdeutlich nahm sie Nick wahr … sein Schweigen, nur gelegentlich von hölzernen Bemerkungen zu seinem Sohn unterbrochen. Aber auch die breiten Schultern und die Wärme, die von seinem Körper ausging. Bildete sie es sich nur ein, oder waren die Passagiersitze schmaler geworden, seit sie das letzte Mal geflogen war?

Es war verrückt. Die ganze Zeit lag ihr eine einzige Frage auf der Zunge: Warum hast du mich nicht angerufen, obwohl du es versprochen hattest? Aber nach zehn Jahren fragte man so etwas nicht. Weil die Antwort längst klar war.

Im Grunde gab es nur zwei Möglichkeiten.

Entweder wollte er sie bloß ins Bett bekommen und hatte keine Skrupel gehabt, ihr etwas vorzulügen, um sein Ziel zu erreichen. Ich liebe dich, Miranda.

Oder am Morgen danach war sie ihm längst nicht mehr so interessant vorgekommen wie in der Nacht bei Mondschein.

Damals hatte sie ihm geglaubt und sich deshalb nicht einmal seine Telefonnummer geben lassen. Er hatte gesagt, dass er anrufen würde. Er hatte gesagt, dass er sie liebte. Wozu brauchte sie dann seine Nummer?

Doch als ein Tag verstrich, dann ein zweiter, schließlich eine Woche, ohne dass sie etwas von ihm hörte, kamen die Zweifel, bohrende Fragen und ein Schmerz, der monatelang anhielt.

Warum hatte sie ihm so leichtfertig vertraut?

Sie brauchte nicht lange, um eine Erklärung zu finden. Obwohl sie im Studium brillant war, gab es Gebiete, auf denen sie von nichts eine Ahnung hatte. Und eines dieser Gebiete waren – Männer. Natürlich hing beides zusammen.

Um in der Medizin erfolgreich zu sein, musste man hart arbeiten. Für alles andere blieb keine Zeit. Miranda konnte sich nicht mit Männern verabreden und auch nicht endlos mit Freundinnen über Dates schwatzen.

Sie war als geliebtes einziges Kind schon älterer Eltern aufgewachsen. Sehr behütet und sehr vertrauensselig. Sie hatte einfach nicht gewusst, dass es Männer gab, die einer Frau das Herz brachen und ungerührt zur nächsten weiterzogen. Aber da sie sich in ihr Studium vergraben und fast nur gebüffelt hatte, war sie lange unschuldig geblieben. In jeder Beziehung. Vielleicht war sie heute nicht viel anders … naiv und nett. Wie machte man das, dass man abgebrüht wurde? Wollte sie das überhaupt? Ihr war nicht klar gewesen, dass man in Herzensdingen genauso viel lernen musste wie für eine Anatomieprüfung!

Oh, und es gab noch einen Grund, warum sie seinem Ich liebe dich geglaubt hatte!

Weil sie es auch zu ihm gesagt hatte, wieder und wieder, in dieser wundervollen Nacht. Weil sie ihm nicht nur ihren Körper, sondern auch ihr Herz geschenkt hatte.

„Joshie, wir müssen die Autos wegpacken, damit wir deinen Tisch hochklappen können“, hörte sie ihn zu seinem Sohn sagen.

Keine Antwort.

„Hast du gehört, Josh?“

„Da unten, ist das das Ferienlager?“ Der Junge wandte sich um, und es war nicht ganz klar, ob er die Frage an Miranda oder an seinen Vater richtete. „Ich kann Häuser sehen, sie sind winzig.“

Miranda spürte Nicks Anspannung und blieb bewusst stumm, damit er seinem Sohn antworten konnte.

„Nein, das ist Cairns. Wir müssen noch mit einem anderen Flugzeug fliegen, das uns zur Insel bringt.“

„Ich sehe das Meer und Sand … und da ist Land im Wasser …“

„Lass mich mal sehen …“ Nick beugte sich vor. „He, toll!“

Die Maschine schwenkte auf den Landeanflug ein, und Miranda erhaschte einen Blick auf tropisches Gelb und Blau, auf den im Sonnenlicht glitzernden Ozean und üppig grünen Regenwald. Schon spürte sie die Wärme auf der Haut, sah Strand und Meer und zerklüftete Felsen vor sich. Plötzlich hatte sie das sichere Gefühl, dass sie alle zusammen hier eine herrliche Zeit verbringen würden.

Ach, Miranda, dachte sie, du bist vertrauensseliger, als gut für dich ist. Pass auf dein Herz auf. So viel müsstest du inzwischen gelernt haben.

Und wenn nicht … dann war Nick Devlin da, um sie jederzeit daran zu erinnern.

3. KAPITEL

„Schön, dass alles geklappt hat“, sagte Dr. Beth Stuart zu Miranda. „Sie haben Ihre Gruppe untergebracht. Die von Benita braucht noch eine Weile, sagten Sie?“

„Ja, es wird ein bisschen dauern.“

„Gut, dann warten wir nicht auf sie. Ich zeige Ihnen gleich unsere Einrichtung, Sie haben bestimmt einige Fragen.“

Miranda lachte. „Im Moment fällt mir keine einzige ein, ich bin schlicht überwältigt!“

„Kann ich mir vorstellen. Es ist schon beeindruckend, nicht? Charles sagt …“ Beth unterbrach sich. „Charles Wetherby, meine ich, unseren Ärztlichen Direktor. Sie werden ihn bald kennenlernen, spätestens beim Abendessen.“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „In einer Stunde. Die Zeit rennt schon wieder.“

„Wohnt er hier? Ich dachte …“

„Nein, eigentlich in Crocodile Creek, auf dem Festland. Aber dieses Camp ist sein Baby, und verwaltungstechnisch gehört es zum Crocodile Creek Hospital. Er hat es in beeindruckendem Tempo wieder aufbauen lassen, nachdem ein Wirbelsturm hier fast alles verwüstet hatte. Also, Charles sagt, dass wir dieses hochmoderne Gesundheitszentrum dem Zyklon verdanken, der über die Insel hinweggefegt ist. So ist bei der Katastrophe doch noch etwas Gutes herausgekommen. Wir können jetzt Kinder aufnehmen, die wir früher medizinisch gar nicht betreuen konnten.“

„Haben Sie den Sturm miterlebt?“

„Nein, ich arbeite erst seit ein paar Wochen auf Wallaby Island.“

Dafür schien sie bemerkenswert vertraut mit allem – und allen – zu sein, wenn man bedachte, wie leicht ihr das wir über die Lippen gegangen war. Beth Stuart war schlank, um die dreißig und hatte glattes dunkelbraunes Haar, das sie kinnlang trug.

„Ich wohne in einer der wenigen alten Camp-Hütten, die den Zyklon überstanden haben“, fuhr sie fort. „Etwas primitiv, aber mir genügt es. Offiziell soll es nur vorübergehend sein, doch wer weiß? Vielleicht werde ich mich noch mit Händen und Füßen wehren, wenn sie mich in eine bessere Unterkunft umsiedeln wollen. Diese Insel hat was und meine kleine Hütte auch. Gut für die Seele. Außerdem liebe ich die Kinder!“ Sie lächelte breit.

Beth machte einen unkomplizierten Eindruck, wenigstens auf den ersten Blick. Miranda hatte jedoch das Gefühl, dass sich unter der Oberfläche mehr verbarg. Und warum auch nicht? Die meisten Frauen jenseits der dreißig hatten ihr Päckchen zu tragen.

„Früher gab es hier keinen Vollzeitmediziner“, sagte Beth. „Das Versorgungszentrum war bescheiden. Inzwischen ist es von seinen Möglichkeiten her eher eine Klinik, und ich bin die zuständige Ärztin.“

„Aber nicht allein, oder?“

„Nein, auf dem Dienstplan stehen auch Kollegen vom Crocodile Creek. Charles, zum Beispiel. Ihm muss ich offiziell berichten, was anliegt. Dann sind da noch Dr. Jamieson, Dr. Lopez und ein paar andere. Sie werden sie noch kennenlernen. Ach, das muss er sein.“

Miranda hatte nichts gehört. Wie von Zauberhand ging die Tür auf, und erst im nächsten Moment begriff sie, dass das kleine Mädchen, das nun hereinstürmte, sie geöffnet haben musste. Ein Mann im Rollstuhl folgte, begleitet von einem wolligen goldbraunen Hund. Er lächelte sie an – der Mann, nicht der Hund – und stellte sich und das Kind vor.

Nachdem sie sich begrüßt hatten, deutete er auf das Tier. „Und das ist Garf.“

„Garf ist großartig. Welche Rasse?“

„Labradoodle, eine Kreuzung zwischen Labrador und Pudel. Sie haaren nicht und sind deshalb ideal für unsere Asthmakinder. Garf ist sechs Jahre alt.“

Charles selbst mochte Ende vierzig, vielleicht auch schon Mitte fünfzig sein. Sein schwarzes Haar war an den Schläfen leicht ergraut. Feine Fältchen hatten sich an seinem wohlgeformten Mund und den ernsten Augen eingegraben, was ihn jedoch nicht weniger attraktiv machte. Miranda konnte sich gut vorstellen, wie es in den dunklen Augen humorvoll aufblitzte.

Das Mädchen hieß Lily, aber weder Beth noch Charles klärten Miranda darüber auf, zu wem es gehörte.

„Von Dienstag an erwarten wir hohen Besuch – für die offizielle Einweihung“, meinte Charles. „Und ich muss …“ Er schwieg und sah zu Lily hinüber.

Die vertrieb sich die Zeit damit, Büroklammern zu einer langen silbrigen Kette zusammenzufügen. Was sicher spannender war, als den Erwachsenen zuzuhören.

„Kann ich Lily einen Moment bei dir lassen, Beth? Oder …“ Charles blickte Miranda an. „Bald gibt es Abendessen. Dr. Carlisle, vielleicht könnten Sie Lily mitnehmen, und wir treffen uns dann etwas später dort?“

„Selbstverständlich“, entgegnete Miranda höflich. „Aber … würde sie denn …?“

„Mit Ihnen gehen?“, formte er mit den Lippen. Er hatte ihr Zögern richtig gedeutet. „Ja, ohne Weiteres“, murmelte er. „Jill und ich machen uns da schon Sorgen.“ Er wandte sich an das Kind und sagte mit normal lauter Stimme: „Lily, gehst du mit Dr. Carlisle? Dann kannst du die neuen Kinder kennenlernen. Das macht dir bestimmt mehr Spaß, als mit mir ins Hotel zu kommen.“

Lily nickte, ließ die Büroklammern fallen und flitzte zur Tür, um sie für Charles zu öffnen.

„Tu, was Dr. Carlisle dir sagt, ja?“, sagte er noch. „Und sei freundlich zu den Kindern.“

„Kann ich Garf mitnehmen?“

„Nein, der bleibt besser bei mir. Bis später, ja?“

Geräuschlos rollte er zur Tür hinaus, und der Hund trottete hinterher.

Auch Miranda und Lily machten sich auf den Weg. Unbekümmert hüpfte das Mädchen vorweg, während Miranda versuchte, sich die neue Umgebung einzuprägen.

Sie kamen an ein paar alten Unterkünften vorbei, die der Zyklon nicht dem Erdboden gleichgemacht hatte. Aber sie mussten erst wieder instand gesetzt werden. Bei den ersten beiden fehlten die Fensterscheiben, und die Räume wurden wohl vorerst als Töpfer- und Malwerkstatt genutzt. Die dritte Hütte musste die von Beth sein.

Auf der Veranda stand ein durchgesessenes Plüschsofa. Die vielen bunten Kissen luden buchstäblich dazu ein, es sich auf dem alten Möbel gemütlich zu machen. Auf dem Holzgeländer lagen Muscheln und bizarr geformtes Treibholz, Schätze, die ein aufmerksamer Strandspaziergänger aufgelesen haben musste. Von hier aus hatte man einen atemberaubenden Blick auf das Meer.

Weiter hinten, halb verdeckt von tropischem Grün, standen die neuen Ökohütten, dazu ein Gebäude, in dem Küche und Speisesaal untergebracht waren, und Aufenthaltsräume. Lily spitzte die Ohren, als sie die Kinderstimmen hörte, und Miranda sah einige Eltern, die mit elektrischen Golfmobilen zu der luxuriösen Hotelanlage auf der anderen Seite der Insel gebracht wurden. Nicht alle Eltern wollten hier im Ferienlager übernachten.

Nick schon.

Er und Josh wohnten in einer der Zwei-Bett-Hütten. Miranda entdeckte die beiden, als sie auf ihre Veranda traten. Josh beschäftigte sich mit etwas, das er vom Boden aufgelesen hatte. Wahrscheinlich eine Muschel. Er sah Nick nicht an. In der weiten blauen Shorts wirkten seine kleinen Beine erschreckend dünn.

Nick betrachtete ihn unschlüssig. Ein notorischer Herzensbrecher sah anders aus … „Willst du nicht, Josh?“, hörte Miranda ihn sagen. „Es ist noch Zeit genug.“

Keine Antwort.

„Hör mal, du musst schon mit mir reden. Sonst weiß ich nicht, was du möchtest. Also, wollen wir vor dem Essen an den Strand gehen? Oder hierbleiben? Hast du Hunger? Durst?“

Im selben Moment entdeckte Josh sie. Freudestrahlend lief er die Holzstufen hinunter auf Miranda zu, ohne seinen Vater weiter zu beachten. „Können wir zum Strand?“

„Ich glaube, das hat dein Dad gerade vorgeschlagen.“ Sie sah Nick an, der wie angewurzelt auf der Veranda stehen geblieben war. Er sah nicht gerade glücklich aus. Miranda wollte nichts Falsches sagen oder tun. „Wahrscheinlich will er die Zehen in den Sand bohren“, fügte sie bewusst fröhlich hinzu.

„Kommst du mit?“ Josh ließ sie nicht aus den Augen.

Und nun? Charles Wetherby hatte ihr Lily anvertraut, aber nichts davon gesagt, ob das Mädchen an den Strand durfte oder nicht.

Lily nahm ihr die Entscheidung kurzerhand ab. „Klar, wir gehen auch hin. Siehst du, es ist gleich da vorne.“ Sie lief los, ohne weiter auf die Erwachsenen zu achten.

Nick und Miranda sahen sich an. Sichtlich entspannter als gerade eben noch lief Josh der kleinen Lily hinterher. Miranda und Nick fügten sich und folgten den Kindern.

„Sie war nicht in der Gruppe aus Melbourne, oder?“, fragte Nick.

„Nein, sie ist von hier. Ich glaube, sie gehört zu Dr. Wetherby.“

„Gehört?“

„Mir ist noch nicht klar, wie ihre Beziehung zueinander ist.“

„Das Gefühl kenne ich“, murmelte er.

Spontan wollte sie nachfragen, wie er das gemeint hätte, aber sie kam nicht mehr dazu. Nick ging schneller, als wollte er die Kinder einholen, und vergrößerte rasch den Abstand zu ihr. So kam es, dass Miranda den Strand von Wallaby Island allein betrat.

Es war herrlich!

Vor ihren Augen lag ein sanft geschwungener schneeweißer Sandstrand, der sich an das tropische Meer schmiegte wie ein Rand aus feinem Porzellan. Der Ozean schimmerte in fantastischen Blautönen … lichtes Türkis im seichten Wasser, dahinter Aquamarin und Pfauenblau und dann ein sattes, seidiges Nachtblau weiter draußen, wo es tiefer war.

Links und rechts entdeckte Miranda ein paar kleinere Inseln, und in der Nähe einiger Felsen ankerten zwei Boote. Sie dümpelten träge in den blauen Wellen, an Deck waren Leute zu sehen, die sich sonnten oder mit einem kühlen Drink erfrischten. Hinter dem Strand erhob sich die Insel.

Miranda ging weiter zum Ufer hinunter und drehte sich um. Von hier aus wirkte Wallaby Island wild und zerklüftet. Im Innern erhob sich ein von Regenwald bedeckter Gipfel mit verborgenen Schluchten und Berghängen. Wie sie wusste, gab es nur wenige Straßen zwischen der Hotelanlage im Süden und dem Ferienlager im Norden, dafür aber einige Wanderwege, die um die steileren Hänge herum und am Wasser entlangführten.

Die Sonne senkte sich zum Horizont und verzauberte mit sanftem Licht die grandiose Landschaft. In der friedlichen Stille, wie nur paradiesische Natur sie bieten konnte, wünschte sich Miranda plötzlich jemanden, mit dem sie diese wundervolle Stimmung teilen konnte. Doch wie so oft war sie allein.

Nicht, dass der Strand menschenleer gewesen wäre. Ein paar Familien hatten sich auch auf den Weg hierher gemacht, und Miranda sah Benita mit einigen der älteren Kinder, die ohne ihre Eltern ins Camp gekommen waren.

Manche waren schon voll in der Pubertät. Ein Mädchen, aufgedunsen infolge medikamentöser Nebenwirkungen, kämpfte kichernd einen imaginären Schwertkampf mit einem Jungen, den Miranda selbst im Alter von vierzehn Jahren total süß gefunden hätte – der Surfertyp, salzverkrustetes blondes Haar, schlank, braungebrannt, mit männlicher Stimme, dem Stimmbruch gerade erst entronnen. Er war in Remission, eins der krebskranken Kinder, wie sie wusste, und er hatte ein natürliches, gewinnendes Lächeln.

Stella saß im Sand. Ihre Krücken lagen neben ihr, die Prothese war immer noch in Jeans, Socken und Turnschuhen versteckt. Das nach der Chemotherapie fein nachwachsende Haar verbarg sie unter einer Baseballkappe, die sie lässig mit dem Schirm nach hinten aufgesetzt hatte.

Hübsch und zart stand die blonde Lauren Allandale mit ihren Eltern da und musterte Stella abschätzig, die zum Glück nichts davon mitbekam. Lauren litt an Mukoviszidose, einer angeborenen Stoffwechselkrankheit, und aus Sorge um sie hatten die Allandales sie von klein auf verwöhnt. Jetzt starrte sie auf Stella, als wollte sie sagen: Mit der soll ich mich anfreunden?

Die beiden Mädchen waren ungefähr im selben Alter, aber Welten voneinander entfernt. Lauren sah zerbrechlich aus, zu schwach, um einem Windstoß zu widerstehen. Das tragbare Sauerstoffgerät stand griffbereit neben ihr im Sand, und auf dem Holzsteg wartete ein Rollstuhl für den Fall, dass sie müde wurde und sich ausruhen musste. Erst kürzlich war sie auf die Liste für eine Lungentransplantation gesetzt worden, während Stella auf dem besten Weg war, den Krebs für immer zu besiegen.

Doch er hatte ihr einen Schock versetzt, der in einen leidenschaftlichen Hass auf sich und die ganze Welt umgeschlagen war. Lauren hingegen, die ein Leben ohne Krankheit nicht kannte, hatte sich damit eingerichtet. Sie war anspruchsvoll, eine schwierige Patientin, die Miranda oft an die Grenzen ihrer Geduld trieb. Allerdings musste sie dem Mädchen zugutehalten, dass wohl eher die Erziehung der Eltern daran schuld war.

Beide Kinder jedoch hatten Schlimmes durchgemacht, und eigentlich hätten diese Erfahrungen sie schnell zusammenschweißen müssen. Aber im Moment sah es nicht danach aus. Schade, dachte Miranda. Zumal Benita recht hatte – Stella brauchte dringend eine gute Freundin.

Jetzt war jedoch nicht der richtige Zeitpunkt, um Brücken zu schlagen. Miranda wandte sich zu Lily, Josh und Nick um, verlangsamte aber dann ihre Schritte.

Lily hatte Nick mit Beschlag belegt. „Grab mal hier“, forderte sie mit dem Selbstbewusstsein eines weiblichen Wesens, das einen Mann um den kleinen Finger wickeln konnte. „Ganz tief, damit das Wasser reinkommt.“

„Wird gemacht, Chefin“, antwortete Nick lachend. Es war ein tiefes, ansteckendes Lachen, bei dem seine weißen Zähne aufblitzten.

Autor

Lilian Darcy

Die Australierin Lilian Darcy hat einen abwechslungsreichen Weg hinter sich. Sie studierte Russisch, Französisch und Sprachwissenschaften und ging nach ihrem Abschluss als Kindermädchen in die französischen Alpen. Es folgten diverse Engagements am Theater, sowohl auf der Bühne als auch als Drehbuchautorin. Später hat Lilian Darcy als Lehrerin für Französisch und...

Mehr erfahren
Alison Roberts
Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde.
Sie fand eine Stelle...
Mehr erfahren
Alison Roberts
Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde.
Sie fand eine Stelle...
Mehr erfahren
Melanie Milburne

Eigentlich hätte Melanie Milburne ja für ein High-School-Examen lernen müssen, doch dann fiel ihr ihr erster Liebesroman in die Hände. Damals – sie war siebzehn – stand für sie fest: Sie würde weiterhin romantische Romane lesen – und einen Mann heiraten, der ebenso attraktiv war wie die Helden der...

Mehr erfahren