Julia Platin Band 4

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Für die junge Engländerin Tess ist es Liebe. Aber was empfindet Raphael di Castelli? Zwar sucht der attraktive Weingutbesitzer auffallend oft ihre Gesellschaft, doch etwas hält ihn spürbar zurück. Welches dunkle Geheimnis hütet der Italiener?

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  • Erscheinungstag 11.05.2018
  • Bandnummer 0004
  • ISBN / Artikelnummer 9783733711252
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Anne Mather, Lynne Graham, Penny Jordan

JULIA PLATIN BAND 4

1. KAPITEL

Als Tess an der Galerie vorbeifuhr, fiel ihr der Mann auf, der davor stand. Hatte sie sich den feindseligen Blick, den er ihr zugeworfen hatte, nur eingebildet? Ärgerte er sich darüber, dass sie einige Minuten zu spät kam? Ungeduldig verdrängte sie die Gedanken. Sie sah Gespenster. Der Fremde wartete bestimmt nicht auf sie.

Morgens um diese Zeit war der Parkplatz, auf dem sie den Wagen ihrer Schwester Ashley abstellte, noch leer. Die meisten Geschäfte an der Promenade von Porto San Michele öffneten nicht vor zehn Uhr. Die Besitzer der Läden neben der Galerie hielten sich nur selten an die eigenen Öffnungszeiten. Aber sie waren nett und hilfsbereit. Tess war für die Ratschläge dankbar, die sie erhielt, seit sie vor drei Tagen die Vertretung ihrer Schwester übernommen hatte.

Tess ging durch die Hintertür in die Medici Galleria, wie die Galerie hieß. Dann schaltete sie die Alarmanlage im Verkaufsraum aus und stellte fest, dass der Mann immer noch dastand. Vielleicht wollte er zu Ashley und wusste nicht, dass sie weggefahren war. Ich muss mich wohl um ihn kümmern, dachte Tess und ging in das kleine Büro. Ashleys Chef wäre sicher nicht erfreut, wenn Tess einen möglichen Kunden warten ließ. Nachdem sie sich kurz im Spiegel betrachtet hatte, durchquerte sie die Galerie und öffnete das Gitter vor der Tür. Dabei musterte sie den Besucher genauer.

Er war sehr groß und beeindruckend attraktiv. Außerdem wirkte er weltmännisch und so erotisch, dass Tess erbebte.

Ja, der Mann war genau Ashleys Typ. Wahrscheinlich war es eher ein privater als ein geschäftlicher Besuch. Tess machte die Tür auf und hätte sie am liebsten sogleich wieder geschlossen, als der Mann spöttisch eine Augenbraue hochzog.

Sie zauberte jedoch ein Lächeln auf die Lippen. „Guten Morgen. Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie höflich.

Der Fremde verzog die Lippen und schob schweigend die Hände in die Taschen seines Jacketts, ehe er hereinkam. Was will er? Soll ich ihn durch die Galerie führen?, überlegte Tess. Sie war sich sicher, dass er kein Tourist war. Und ein Kunstsammler war er vermutlich auch nicht, denn die Gemälde, die in der Galerie ausgestellt waren, fanden kaum das Interesse von Experten.

In seinem Gesicht mit den markanten, aristokratisch wirkenden Zügen spiegelte sich Verachtung, während er sich umsah. Tess zögerte. Sollte sie ihn sich selbst überlassen oder noch einmal ihre Hilfe anbieten? In dem anthrazitgrauen Designeranzug sah er so elegant und geschäftsmäßig aus, dass sie sich in ihrem Outfit sehr bescheiden vorkam. Sie wünschte, sie hätte an diesem Morgen etwas anderes angezogen als den knöchellangen Baumwollrock, das Top mit den dünnen Trägern und die flachen Sandaletten.

Schließlich blickte der Fremde Tess mit seinen goldbraunen Augen an, und sie wäre am liebsten zurückgewichen. Gleichgültig musterte er ihre schlanke Gestalt. Er war offenbar jünger, als sie zunächst geglaubt hatte.

„Miss Daniels“, sagte er ruhig, „es ist … aufschlussreich, Sie endlich kennenzulernen.“ Er machte eine Pause. „Ich muss zugeben, Sie sind anders, als ich Sie mir vorgestellt habe“, fügte er dann verächtlich hinzu. „Dennoch werden Sie mir jetzt verraten, wo ich meinen Sohn finden kann.“

Tess war verblüfft. Der Mann hielt sie für Ashley. Aber woher sollte Ashley wissen, wo sich sein Sohn befand? Sie war in England, um ihre Mutter zu pflegen.

„Hier liegt wahrscheinlich ein Missverständnis vor“, begann Tess. „Ich …“

Der Mann ließ sie jedoch nicht ausreden. „Nein, Miss Daniels. Sie wissen genau, wo Marco sich aufhält. Der … Privatdetektiv hat gesehen, dass Sie mit meinem Sohn in ein Flugzeug gestiegen sind“, fuhr er sie an.

„Wie bitte? Das ist überhaupt nicht möglich.“

„Warum nicht? Weil Sie jetzt hier sind?“, fragte er ungeduldig. „Sie haben einen Flug nach Mailand gebucht, sind aber offenbar in Genua ausgestiegen. Jedenfalls waren Sie und Marco nicht mehr an Bord, als der Flieger in Malpensa gelandet ist. Deshalb bin ich hier. Seien Sie froh, dass ich Sie gefunden habe.“

„Ich bin nicht Miss Daniels.“ Du liebe Zeit, was rede ich da?, dachte Tess. „Sie verwechseln mich. Ich bin nicht Ashley Daniels, sondern ihre Schwester“, korrigierte sie sich rasch.

Ungläubig sah der Mann sie an. „Eine bessere Ausrede fällt Ihnen wohl nicht ein, oder?“

„Es ist wirklich wahr“, bekräftigte sie empört. „Ich bin Teresa Daniels, werde jedoch von allen Tess genannt.“ Als er ihr immer noch nicht zu glauben schien, hatte sie plötzlich eine Idee. „Ich kann es beweisen, denn ich habe meinen Pass in der Tasche. Genügt Ihnen das als Beweis?“

Er kniff die Augen zusammen. „Zeigen Sie ihn mir“, forderte er sie auf.

Tess war überrascht über seinen scharfen Ton. Aber sie eilte in das kleine Büro, zog ihren Pass aus der Umhängetasche und reichte ihn dem Fremden, der ihr gefolgt war. Als ihr bewusst wurde, dass er ihr den Weg versperrte, geriet sie in Panik. Sie hatte keine Ahnung, wer der Mann war, der etwas über ihre Schwester zu wissen glaubte.

Stimmte es vielleicht, was er behauptet hatte?

„Hören Sie“, begann sie, während er ihren Pass durchblätterte, „ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie wollen. Aber Sie können nicht einfach hier hereinkommen und Ashley beschuldigen …“

„Meinen Sohn entführt zu haben?“, unterbrach er sie ärgerlich und warf den Pass auf den Schreibtisch. Dann fuhr er sich mit der Hand durch das volle dunkle Haar. „Dass Sie die Schwester sind, ändert nichts. Marco ist mit Ihrer Schwester verschwunden. Sie wissen, wo die beiden sind.“

„Nein!“, rief Tess aus. „Das heißt, natürlich weiß ich, wo meine Schwester sich aufhält. Sie ist in England und pflegt ihre kranke Mutter.“

„Und Sie vertreten sie?“

„Ja. Ich bin Lehrerin und habe gerade Ferien.“

„Sie lügen, Miss Daniels. Was Sie da erzählen, kann nicht wahr sein. Warum musste Ihre Schwester extra nach England fliegen, um Ihre Mutter zu pflegen? Das hätten Sie doch auch tun können.“

„Sie ist nicht meine Mutter“, erwiderte Tess hitzig. „Nach dem Tod meiner Mutter hat mein Vater wieder geheiratet. Es tut mir leid, dass Ihr Sohn verschwunden ist. Aber damit habe ich nichts zu tun.“

„Das stimmt nicht“, entgegnete er und trat endlich einige Schritte zurück. Als Tess an ihm vorbei in den Ausstellungsraum ging, folgte der Fremde ihr. „Egal, was Sie behaupten, Miss Daniels, Ihre Schwester ist nicht bei ihrer kranken Mutter“, erklärte er. „Sie und Marco treiben sich irgendwo in Italien herum, denn er hat seinen Pass nicht mitgenommen.“

„Von Entführung zu reden finde ich absurd. Falls Ashley und Ihr Sohn wirklich zusammen weggefahren sind, was ich sehr bezweifle, geht das nur die beiden etwas an.“

„Oh nein“, antwortete er verächtlich. „Mein Sohn ist erst sechzehn, Miss Daniels. Er sollte eigentlich mit jungen Leuten seines Alters zusammen sein und sich nicht mit zehn Jahre älteren Frauen herumtreiben.“

Tess schluckte. Ashley würde sich nicht mit einem Sechzehnjährigen einlassen, sondern eher mit dem Vater des Jungen. Außerdem war Ashley in England. Sie hatte Tess vor einigen Tagen angerufen und gebeten, sie in den Osterferien in der Galerie zu vertreten.

„Wieso sind Sie sich so sicher, dass meine Schwester sich mit Ihrem Sohn herumtreibt, wie Sie es ausgedrückt haben, wenn Sie sie gar nicht persönlich kennen?“, fragte Tess. Hatte der Mann etwa recht? Auszuschließen war es nicht. Ashley war alles zuzutrauen.

Er warf ihr einen ungeduldigen Blick zu. „Wahrscheinlich bin ich ihr einmal kurz begegnet, aber ich kann mich nicht an sie erinnern. Ich war eine Zeit lang geschäftlich im Ausland und habe meine Assistentin gebeten, mit Ihrer Schwester zu reden. Sie hat versprochen, Marco klarzumachen, dass die … Beziehung keine Zukunft hat. Wie alt ist sie eigentlich? Fünfundzwanzig? Jedenfalls viel zu alt für einen Sechzehnjährigen.“

„Sie ist achtundzwanzig“, sagte Tess, obwohl es völlig unwichtig war. Sie wusste nicht mehr, was sie glauben sollte. Hatte Ashley sie etwa belogen?

Als Ashley ihr erzählt hatte, sie müsse ihre kranke Mutter pflegen, war Tess überrascht gewesen. Ihre Schwester hatte sich noch nie gern um ihre wehleidige Mutter gekümmert und war wahrscheinlich deshalb nach Italien gegangen. Doch dass Ashley so weit gehen würde, sich mit einem Sechzehnjährigen einzulassen, konnte Tess sich kaum vorstellen. Es gab nur eine Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden: Tess musste Andrea, ihre Stiefmutter, anrufen.

„Ich weiß nicht, was ich von der ganzen Sache halten soll“, flüsterte sie und fuhr sich mit den Fingern durch das hellblonde Haar. Sie hatte es vor der Reise nach Italien schneiden lassen, war sich jedoch nicht sicher, ob ihr die Kurzhaarfrisur wirklich stand. Sie machte sie eher noch jünger als etwas älter, wie sie gehofft hatte.

„Verraten Sie mir, wo die beiden sich aufhalten“, forderte er sie nun gereizt auf. „Mir ist natürlich klar, dass Sie Ihrer Schwester gegenüber loyal sein wollen. Aber Sie müssen doch selbst zugeben, dass es so nicht weitergehen kann.“

„Ich weiß nicht, wo die beiden sind“, erwiderte Tess. Plötzlich begriff sie, was sie da gesagt hatte. „Angeblich hält Ashley sich in England auf“, korrigierte sie sich rasch.

„Okay, dann rufen Sie sie an“, verlangte er. „Wenn sie bei ihrer Mutter ist, werde ich mich selbstverständlich dafür entschuldigen, dass ich Sie belästigt habe.“

„Und wenn sie nicht da ist?“, fragte Tess beunruhigt.

„Sie sind sich doch ziemlich sicher, dass sie bei ihrer Mutter ist“, erinnerte er sie und kniff die Lippen zusammen.

Mit diesem Mann ist nicht zu spaßen, hoffentlich war Ashley das klar gewesen, als sie sich mit seinem Sohn eingelassen hatte, überlegte Tess. Aber es stand ja noch gar nicht fest, ob es stimmte, was der Fremde behauptete. Sie blickte ihn nachdenklich an.

„Wie soll ich den Anruf denn begründen?“ Ich darf ihn nicht so lange ansehen, sonst glaubt er noch, ich würde mich für ihn interessieren, mahnte sie sich.

Sekundenlang zögerte er. „Sagen Sie ihr, Castelli hätte nach ihr gefragt. Dann weiß sie Bescheid.“

Das bezweifelte Tess nicht. „Gut, ich rufe sie an. Würden Sie mir bitte Ihre Telefonnummer geben, damit ich Sie informieren kann?“

Castelli zog die dunklen Augenbrauen zusammen. „Rufen Sie sie bitte jetzt an, Miss Daniels. Ich warte solange.“

Tess hielt sekundenlang den Atem an. Der Mann war entschlossen, seinen Willen durchzusetzen. Doch Tess wollte sich nicht länger von ihm einschüchtern lassen. „Nein, das mache ich später. Würden Sie mich jetzt bitte entschuldigen? Ich muss arbeiten.“

„Ach ja?“ Er sah sich leicht spöttisch in der Galerie um. „Es wimmelt hier nicht gerade von Kunden, Miss Daniels.“

Sie versteifte sich. „Ich habe Ihnen versprochen, Ashley anzurufen, und ich werde es auch tun. Reicht Ihnen das nicht?“

„Miss Daniels, Sie haben vor irgendetwas Angst“, stellte er ungeduldig fest. „Seien Sie vorsichtig. Ich könnte auf den Gedanken kommen, Sie hätten mich die ganze Zeit belogen.“

„Also bitte“, rief sie ärgerlich aus. „Das muss ich mir nicht mehr anhören. Es ist nicht meine Schuld, dass Ihr Sohn so dumm ist, sich mit einer deutlich älteren Frau einzulassen. Sie sind doch der Vater. Fühlen Sie sich nicht für Ihren Sohn verantwortlich?“

Castelli stand schweigend da und wirkte wie eine Raubkatze, die bereit war, sich jeden Moment auf die Beute zu stürzen. Plötzlich verzog er die Lippen. Sein Lächeln wirkte ausgesprochen verführerisch. So etwas wie Bewunderung spiegelte sich in seinem Gesicht. „Sieh einer an, das Kätzchen hat Krallen.“

Obwohl Tess entschlossen gewesen war, nicht nachzugeben, entschuldigte sie sich. „Die Bemerkung tut mir leid. Es geht mich nichts an.“

„Da haben Sie recht“, stimmte er ihr zu. „Leider war mein Sohn immer schon sehr eigenwillig. Aber ich hätte meinen Ärger nicht an Ihnen auszulassen brauchen.“ Er blickte Tess so freundlich und durchdringend an, dass sie erbebte.

Sie fühlte sich auf einmal sehr verletzlich. Was war los mit ihr? Sie war doch kein Teenager mehr. „Ach, es ist jetzt auch egal“, brachte sie schließlich hervor.

„Nein, das ist es nicht“, widersprach er ihr. „Ich hätte Ihre Glaubwürdigkeit nicht anzweifeln dürfen. Würden Sie mir bitte die Telefonnummer Ihrer Schwester geben, damit ich sie selbst anrufen kann?“

Tess hätte am liebsten laut gestöhnt. Sie hatte schon gehofft, das Schlimmste sei überstanden, und dann kam er mit diesem Vorschlag. Nachdem er sie mit seinen Blicken durcheinandergebracht hatte, wollte er sie jetzt völlig fertigmachen. Er hatte nur die Taktik geändert.

Sie schüttelte hilflos den Kopf. Die Telefonnummer konnte sie ihm nicht geben, das war unmöglich. Er durfte nicht mit Ashleys Mutter sprechen. Wenn Andrea hörte, dass ihre Tochter verschwunden war, wäre sie außer sich.

„Ich halte das für keine gute Idee“, entgegnete Tess und wünschte sich verzweifelt, es würden Kunden hereinkommen. „Ashleys Mutter geht es nicht gut. Sie soll sich nicht aufregen.“

Castelli seufzte. „Miss Daniels …“

„Nennen Sie mich doch Tess“, unterbrach sie ihn.

„Okay, Tess.“ Er atmete tief aus. „Warum würde sie sich über meinen Anruf aufregen? Es ist nicht mein Stil, meine Gesprächspartner einzuschüchtern.“

Aber genau das tat er. Mit seiner Arroganz und seiner dominanten Art schüchterte er die Menschen ein. Wer war dieser Mann? Wie beurteilte seine Frau die Situation? Vermutlich war sie genauso entsetzt über die Beziehung ihres Sohnes mit einer Frau Ende zwanzig wie ihr Mann.

Tess hatte ihn schon viel zu lange angesehen und wandte sich ab. Wenn Marco seinem Vater ähnlich war, konnte sie verstehen, dass Ashley sich zu dem Jungen hingezogen fühlte. Falls es überhaupt stimmte, was Castelli behauptete.

„Mrs. Daniels kennt Sie nicht“, erwiderte sie energisch. „Und wenn Ashley gerade nicht zu Hause ist, regt sich ihre Mutter natürlich über Ihren Anruf auf.“

„Das verstehe ich nicht.“ Wieder blickte er sie mit seinen goldbraunen Augen durchdringend an. „Kommen Sie, Tess, seien Sie ehrlich. Sie befürchten, dass Ashley nicht bei ihrer Mutter ist. Stimmt’s?“

„Ja“, gab sie widerstrebend zu. „Ich kann die Möglichkeit nicht ganz ausschließen. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie mit Ihrem Sohn zusammen ist. Vielleicht braucht sie nur Ruhe und hat sich irgendwohin zurückgezogen.“

„Das glauben Sie selbst nicht, oder?“, fragte er freundlich und ließ die Hand langsam über seine Seidenkrawatte gleiten. Diese Geste wirkte seltsam erotisch, was ihm sicher nicht bewusst war. Die Sinnlichkeit, die er ausstrahlte, gehörte genauso zu seiner Persönlichkeit wie sein markantes Gesicht, sein muskulöser Körper und der Designeranzug. „Ich habe das Gefühl, Sie sind viel zu verständnisvoll. Hoffentlich ist Ihrer Schwester klar, was für eine loyale kleine Freundin sie an Ihnen hat.“

Musste er sie daran erinnern, dass sie relativ klein war? „Ich rufe jetzt in England an“, verkündete sie ärgerlich. „Aber wenn Ashley bei ihrer Mutter ist …“

„Dann mache ich es irgendwie wieder gut“, versprach er ihr ruhig. „Wenn Ihre Schwester Ihnen ähnlich ist, kann ich verstehen, dass Marco sich zu ihr hingezogen fühlt.“

„Behandeln Sie mich nicht so gönnerhaft.“ Seine herablassende Art machte sie zornig. „Ashley ist ganz anders als ich. Sie ist groß und hat dunkles Haar.“

„Ah ja“, antwortete er nachsichtig. „Offenbar habe ich Sie beleidigt. Verzeihen Sie mir. Da Sie die jüngere Schwester sind …“

„Das bin ich nicht“, unterbrach sie ihn hitzig. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass mein Vater nach dem Tod meiner Mutter wieder geheiratet hat.“

„Ich kann es nicht glauben.“ Er schüttelte den Kopf. „Haben Sie vorhin nicht behauptet, Ihre Schwester sei achtundzwanzig?“

„Ja, und ich bin zweiunddreißig“, erklärte Tess ungeduldig. Nach kurzem Zögern fuhr sie ruhiger fort: „Sparen Sie sich bitte die Bemerkung, ich würde jünger aussehen. Schon seit zehn Jahren versuche ich vergeblich, die Leute davon zu überzeugen, dass ich älter bin als die Kinder, die ich unterrichte.“

Castellis Lächeln wirkte beunruhigend charmant. „Die meisten Frauen würden Sie darum beneiden. Meine Mutter gibt ein kleines Vermögen dafür aus, nicht so alt auszusehen wie sie ist.“

„Ich bin eben anders als die meisten Frauen“, entgegnete sie. „Und jetzt rufe ich in England an. Dann ist die Sache erledigt.“

2. KAPITEL

Raphael di Castelli ging angespannt in der Galerie hin und her. Am liebsten hätte er sich neben Tess gestellt, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich ihre Schwester in England anrief. Tess wirkte ehrlich und unschuldig, aber er hatte keinen Grund, ihr zu vertrauen.

Aus Höflichkeit blieb er im Ausstellungsraum. Er war überzeugt, dass er recht hatte. Verdicci, der Privatdetektiv, den er engagiert hatte, hatte sich nicht getäuscht. Marco war mit einer Frau an Bord des Flugzeugs nach Mailand gegangen.

Das Gespräch schien endlos lange zu dauern. Schließlich kam sie aus dem Büro, und Castelli spürte, wie aufgewühlt sie war. Ihre Wangen waren gerötet. Sie ist ganz bezaubernd, dachte er und stellte sich vor, wie sie morgens nach dem Aufwachen aussehen würde. Rasch verdrängte er das beunruhigende Bild wieder, das vor ihm aufstieg. Tess bedeutete ihm nichts. Ihre Naivität gefiel ihm, das war alles.

„Sie ist nicht in England“, stieß Tess unvermittelt hervor.

Raphael war erleichtert darüber, dass seine Informationen richtig waren. Zugleich war er aber auch resigniert.

„Sie hatten recht“, fügte Tess hinzu und sah ihn reumütig an. Ihm fiel auf, wie dicht und lang die dunklen Wimpern waren, die ihre grünen Augen umrahmten. „Okay, Sie hatten recht, und ich habe mich geirrt. Was machen wir jetzt?“

„Wir?“, fragte er und zog die Augenbrauen hoch.

„Ich meine, was soll ich jetzt machen?“, korrigierte sie sich leicht verlegen. „Ich kann nicht wer weiß wie lange hierbleiben. In zehn Tagen fängt die Schule wieder an.“

„Für Marco auch“, stellte Raphael frustriert fest. „Was hat Ihre Schwester denn gesagt, als sie Ihnen die Schlüssel zur Galerie übergeben hat? Hat sie erwähnt, wann sie zurückkommt?“

Tess seufzte. „Wir haben uns gar nicht gesehen.“ Sie legte die Hände in den Nacken. Dabei rutschte ihr Top hoch.

Unwillkürlich betrachtete er ihre nackte Taille und stellte sich vor, wie weich und zart ihre Haut sich anfühlen würde. Dann nahm er sich zusammen. „Sie haben sich nicht gesehen?“, wiederholte er. „Das verstehe ich nicht.“

„Ashley hat mich angerufen“, erklärte Tess. „Sie hat behauptet, ihre Mutter sei krank, und mich gefragt, ob ich sie für einige Tage in der Galerie vertreten könne. Angeblich war sie besorgt und wollte so rasch wie möglich nach England fliegen. Die Schlüssel hat sie beim Hausmeister hinterlegt.“

„Demnach sind Sie aneinander vorbeigeflogen.“

„So kann man es nennen. Ashleys Mutter und ich leben in verschiedenen Landesteilen.“

„Ah ja.“ Er nickte. „Deshalb konnte sich Ihre Schwester ziemlich sicher sein, dass es nicht herauskommen würde.“

„Vermutlich.“ Tess schüttelte den Kopf. „Ich finde es unglaublich, dass sie gedacht hat, niemand würde etwas merken. Ich hätte nur aus irgendeinem Grund Andrea, ihre Mutter, anzurufen brauchen.“

„Aber das haben Sie nicht getan.“

„Nein.“ Sie zuckte die Schultern. „Ashley weiß, dass Andrea und ich uns nicht besonders nahe stehen.“

„Sie waren doch offenbar noch ein kleines Kind, als Ihre Mutter gestorben ist.“ Raphael ärgerte sich sogleich über seine Taktlosigkeit. „Hat sich die zweite Frau Ihres Vaters nicht um Sie gekümmert?“, fügte er hinzu.

Tess schüttelte wieder den Kopf. „Andrea war schon immer etwas … wehleidig. Sie wäre damit überfordert gewesen, zwei kleine Kinder zu versorgen. Ich bin bei der Schwester meiner Mutter aufgewachsen. Sie war unverheiratet und auch Lehrerin.“

Andrea Daniels scheint genauso gefühllos und egoistisch zu sein wie ihre Tochter, dachte er. Tess tat ihm leid. „Man hat uns beide hereingelegt“, stellte er sanft fest. „Schade, dass Ihre Schwester kein Handy hat. Marco hat seins ausgeschaltet.“

„Ashley hat doch eins“, rief Tess aufgeregt aus und lächelte. „Wieso habe ich daran nicht gedacht?“

Raphael fand ihr Lächeln viel zu verführerisch. Er atmete tief aus. „Haben Sie die Nummer?“

„Natürlich.“ Tess lief in das Büro und kam wenige Sekunden später mit einem Zettel in der Hand zurück. „Hier, das ist sie. Wollen Sie sie anrufen?“

Plötzlich waren sie so etwas wie Verbündete. Auch Tess wollte jetzt wissen, wo ihre Schwester war. Er durfte sich jedoch nicht mit ihr anfreunden, denn sie würde im Zweifelsfall zu ihrer Schwester halten.

„Wenn Sie möchten, spreche ich mit ihr“, antwortete er höflich. „Aber vielleicht wäre es besser, Sie würden es tun. Wenn sie meine Stimme hört …“

„Ja, stimmt.“ Tess wusste, was er meinte. Sie ging wieder ins Büro und erschien wenig später mit enttäuschter Miene. „Ashley hat das Handy auch ausgeschaltet.“ Sie seufzte. „Es sieht so aus, als hätten Sie recht gehabt. Was wollen Sie jetzt machen?“

„Ich werde wahrscheinlich weitersuchen“, erwiderte er. „Zwischen Porto San Michele und Genua gibt es viele Urlaubsorte. Vielleicht hat Ihre Schwester am Flughafen ein Auto gemietet. Es wird jedenfalls nicht leicht sein, die beiden zu finden.“

„Hm.“ Nachdenklich befeuchtete sie sich die Lippen, und er beobachtete sie fasziniert. „Informieren Sie mich, wenn Sie Ashley gefunden haben?“

Raphael war sich noch nicht sicher, ob er Tess wiedersehen wollte. Sie war viel zu jung für ihn und zu verletzlich. Obwohl sie älter war als ihre Schwester, war sie nicht so erfahren wie Ashley. Aber weshalb machte er sich so viele Gedanken? Tess hatte nicht gefragt, ob sie sich wiedersehen würden, sondern wollte nur über den Aufenthaltsort ihrer Schwester informiert werden.

„Ja“, versprach er ihr und durchquerte den Raum. An der Tür blieb er stehen und drehte sich zu Tess um, um sich zu verabschieden. Sie stand seltsam verloren und einsam da. „Rufen Sie mich auch an, falls Sie vor mir etwas herausfinden?“, fragte er.

Sie sah ihn mit großen Augen an. „Ich habe Ihre Telefonnummer doch gar nicht.“

Er ärgerte sich über seine unüberlegte Bemerkung. Seine private Telefonnummer wollte er ihr nicht geben. Deshalb reichte er ihr seine Geschäftskarte, dann konnte Giulio ihren Anruf entgegennehmen. Als Tess unabsichtlich seine Finger berührte, durchzuckte ihn die Erkenntnis, dass er sie begehrte und sich zu ihr hingezogen fühlte. Doch weshalb weckte sie so seltsame Gefühle in ihm? Er verstand sich selbst nicht. Er schien wirklich in einer Midlife-Crisis zu stecken. Zu Frauen wie Tess hatte er sich bisher nicht hingezogen gefühlt, sondern weltgewandte und elegante Frauen bevorzugt, die Designeroutfits und hochhackige Schuhe trugen und nie ohne Make-up ausgingen.

Vigneto di Castelli las Tess auf der Visitenkarte und sah ihn überrascht an. „Sie haben ein Weingut“, stellte sie leise fest. „Wie aufregend. Ich habe noch nie zuvor einen Winzer kennengelernt.“

Ihre Schwester auch nicht, dachte Raphael spöttisch. Er vermutete, dass es Ashley nur um Geld ging. „Es ist ein relativ kleines Weingut“, erklärte er abweisend.

„Trotzdem …“ Sie lächelte, und wieder war Raphael sich viel zu sehr bewusst, wie anziehend diese Frau war. Es wurde Zeit, dass er sich verabschiedete, ehe er sie noch einlud, ihn zu Hause zu besuchen. Seine Mutter wäre entsetzt, wenn er mit einer Frau wie Tess ankäme.

„Wir sehen uns, Signorina“, sagte er höflich und drehte sich um.

„Ich heiße Tess“, erinnerte sie ihn und blickte hinter ihm her.

Der Name passt zu ihr, er klingt kapriziös und sehr weiblich, überlegte Raphael, während er in seinen Wagen stieg.

Wie Raphael befürchtet hatte, erwartete seine Mutter ihn bei einem Cappuccino auf der überdachten Terrasse der Villa Castelli. Sie war eine große, elegante Frau und Mitte sechzig. Nach seiner Scheidung vor sechs Jahren war sie wieder zu ihm in das große Haus gezogen. Sein Vater war vor beinahe zwanzig Jahren gestorben, und Raphael war sich sicher, dass ihr die Betreuung der Enkelkinder Maria und Marco neuen Lebensmut gegeben hatte. Natürlich hatte sie ihm nie verziehen, dass er sich von Gina hatte scheiden lassen. Die Castellis waren sehr religiös und strikt gegen Scheidungen. Seit sie wieder in der Villa Castelli wohnte, hatte seine Mutter sich dennoch oft genug als Fels in der Brandung erwiesen. Erst vor Kurzem hatte sie sich entschlossen, wieder in das relativ kleine Landhaus zu ziehen, das auf einem der riesigen Grundstücke der Familie stand und in dem sie nach dem Tod ihres Mannes gelebt hatte.

„Hast du mit Ashley Daniels gesprochen?“, fragte Lucia di Castelli.

„Sie ist momentan nicht in der Galerie“, antwortete er und gesellte sich zu ihr. Er löste die Krawatte und öffnete den Kragen seines Hemdes. Dann nahm er sich aus der Glasschale einen der Lieblingsbiskuits seiner Mutter. „Verdicci scheint recht zu haben. Sie sind zusammen weggefahren.“ Er drehte sich zu der Hausangestellten um, die herbeieilte und ihn fragte, ob sie ihm etwas bringen könne. „Nur einen schwarzen Kaffee, Sophia“, sagte er freundlich und wandte sich wieder an seine Mutter. „Ihre Schwester vertritt sie in der Galerie.“

„Ihre Schwester?“, wiederholte seine Mutter skeptisch.

„Ja.“ Raphael ließ sich in einen der Korbsessel sinken. „Glaub mir, sie ist ganz anders als die Frau, mit der Marco sich eingelassen hat.“

„Wie kannst du das beurteilen?“ Lucia kniff die Augen zusammen. „Du hast doch behauptet, du könntest dich an Ashley Daniels nicht erinnern.“

„Das stimmt.“ Ihm wurde klar, dass er sich zu weit vorgewagt hatte. „Aber Tess ist Lehrerin. Sie tappt genauso im Dunkeln wie wir. Ashley hat ihr erzählt, sie müsste in England ihre kranke Mutter pflegen.“

„Tess!“, spottete Lucia. „Was ist das denn für ein Name?“

„Es ist die Abkürzung für Teresa“, erwiderte Raphael ruhig und bedankte sich bei der Hausangestellten, die ihm den Kaffee brachte. Dann blickte er seine Mutter an. „Es bringt uns nicht weiter, wenn wir eine der wenigen Personen, die uns wirklich helfen können, kritisieren oder verurteilen.“

„Wie könnte diese Frau uns denn helfen? Du hast doch gerade selbst behauptet, dass sie nicht weiß, wo ihre Schwester sich aufhält.“

„Vielleicht ruft Ashley sie an, damit ihre Geschichte glaubhaft klingt.“

Lucia verzog verächtlich die Lippen. „Das hört sich so an, als hätte die Schwester der Daniels dich sehr beeindruckt, Raphael“, stellte sie fest. „Welche Beweise hast du dafür, dass sie die Wahrheit sagt?“

Keinen, dachte er. „Sie war genauso schockiert wie ich“, antwortete er steif. „Du kannst sie nicht für das verantwortlich machen, was ihre Schwester getan hat.“

„Hat sie wenigstens ihre Mutter angerufen?“, fragte Lucia scharf. „Oder ist das heutzutage nicht mehr üblich? Verzeih mir, ich weiß, ich bin altmodisch.“

„Ashleys Mutter ist Tess’ Stiefmutter. Ihr Vater hat zweimal geheiratet. Tess ist die Ältere der beiden“, entgegnete Raphael gereizt.

„Ach, warum überrascht mich das nicht?“ Lucias Stimme klang ironisch. „Ehescheidungen werden immer beliebter. Glücklicherweise nehmen gute Katholiken das Eheversprechen noch ernst.“

Raphael wusste, dass seine Mutter auf seine Scheidung anspielte. Er reagierte jedoch nicht auf die Bemerkung. „Tess’ Mutter ist gestorben“, erklärte er und fügte hinzu: „Ashley ist nicht zu Hause bei ihrer Mutter, wie du sicher schon erraten hast. Sie hat ihre Schwester offenbar belogen.“

Lucia schüttelte den Kopf. „Davon bin ich noch nicht überzeugt.“

„Das kann ich nicht ändern.“ Es fiel ihm schwer, seinen Ärger zu verbergen.

„Es ist seltsam, dass diese Teresa angeblich nicht weiß, wo ihre Schwester ist. Das musst du doch zugeben.“ Lucia zog eine Augenbraue hoch. „Warum hätte Ashley es ihrer Schwester nicht erzählen sollen?“

„Wahrscheinlich ist Ashley klar, dass Tess’ ihr Verhalten nicht billigen würde. Ehrlich gesagt, Mutter, ich glaube ihr. Und das solltest du auch tun.“ Raphael fand es geradezu lächerlich, sich seiner Mutter gegenüber rechtfertigen zu müssen. Manchmal behandelte sie ihn so, als wäre er noch ein Teenager.

„Was geschieht jetzt?“, fragte Lucia schließlich, als Raphael schwieg. „Ist Verdiccis Information die einzige Spur? Willst du warten, bis diese Frau sich vielleicht einmal bei ihrer Schwester meldet?“

„Ich will noch mit Maria reden“, antwortete Raphael. „Sie und Marco haben sich immer alles Mögliche anvertraut. Momentan wissen wir nur, dass Ashley und Marco in Genua aus dem Flieger gestiegen sind. Vermutlich hat die Frau damit gerechnet, dass wir bei den Fluggesellschaften nachfragen. Indem sie einen Flug nach Mailand gebucht haben, wollten sie uns wahrscheinlich auf die falsche Fährte locken.“

„Was hilft es uns, anzunehmen, dass sie in Genua sind?“

„Nicht viel. Aber die Frau hat offenbar nicht geahnt, dass sie und Marco beobachtet wurden. Deshalb geht sie davon aus, wir würden in Mailand nach ihnen suchen.“

„Gut.“ Lucia ließ dieses Argument gelten. „Genua ist eine große Stadt. Wie willst du die beiden dort aufspüren?“

„Vielleicht hat Ashley ein Auto gemietet.“ Raphael trank den Kaffee aus und stand auf. Dann ging er seltsam rastlos auf der Terrasse hin und her und betrachtete die Weinberge in der Ferne. „Verdicci fragt bei allen Autovermietern am Flughafen nach. Wenn sie einen Wagen unter ihrem richtigen Namen gemietet hat, werden wir sie finden.“

„Und wenn nicht?“

„Es ist nahezu unmöglich, ohne Personalausweis, Reisepass oder Führerschein ein Auto zu mieten. Deshalb kann sie keinen falschen Namen benutzt haben.“

Lucia verzog die Lippen. „Ach, was für eine schreckliche Sache. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich Marco mit dieser Frau vor mir. Es ist einfach unerträglich.“

„Übertreib bitte nicht, Mutter.“ Er befürchtete, sie würde wieder hysterisch werden. „Es ist immerhin möglich, dass Marco schon viel erfahrener ist, als wir ahnen.“

Lucia blickte ihn geradezu schockiert an. „Wie kannst du so etwas sagen? Marco ist noch ein Kind …“

„Mutter, er ist beinahe siebzehn und kein Kind mehr, sondern eher ein junger Mann“, unterbrach er sie ungeduldig. „Er hat wahrscheinlich dieselben Wünsche und Bedürfnisse wie andere Jugendliche seines Alters.“

Seine Mutter versteifte sich und stand auch auf. „Gut. Ich sehe, du bist nicht bereit, dich vernünftig mit mir zu unterhalten. Das hätte ich mir denken können. Du warst nie streng genug mit dem Jungen. Jetzt müssen wir alle die Folgen tragen.“

Raphael atmete tief aus. „Du brauchst nicht irgendwelche Folgen zu tragen, Mutter. Du bist höchstens etwas eifersüchtig. Ich weiß, dass du Marco Maria immer vorgezogen hast. Deiner Meinung nach konnte er nichts falsch machen. Du solltest einmal darüber nachdenken, ob du nicht mitverantwortlich bist für sein rebellisches Verhalten.“

„Willst du etwa mir die Schuld geben an diesem Drama?“

„Nein“, erwiderte er erschöpft. „Ich verteidige mich nur.“

„Genauso wie damals, als Gina genug hatte von deiner Gleichgültigkeit?“, fragte seine Mutter und ging zur Terrassentür. „Du hast deine Familie schon immer vernachlässigt, Raphael. Zuerst deine Frau, dann deinen Sohn. Deine Arbeit ist dir wichtiger als alles andere.“

„Gina hat mit dem Gutsverwalter geschlafen“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Was hast du denn sonst von ihr erwartet? Sie war einsam“, entgegnete seine Mutter unbeirrt. „Sie hat sich nach Liebe gesehnt, und du hast sie ihr nicht gegeben.“

Raphael widersprach ihr nicht. Über das Thema hatten sie oft genug diskutiert. Gina hatte sich nicht nach seiner Liebe gesehnt, sondern nach Sex. Wegen ihrer Affäre mit Guido Marchetta hatte er sich scheiden lassen. Es war nicht ihr erster Seitensprung gewesen. Das hatte er seiner Mutter jedoch nie erzählt, und es war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, es nachzuholen.

„Pass mal auf“, schlug er ruhig vor, „wir sollten uns nicht gegenseitig Vorwürfe machen. Marco ist verschwunden, und ich werde ihn finden.“

Lucia zuckte die Schultern. „Hoffentlich gelingt es dir.“

3. KAPITEL

Kurz nachdem Castelli gegangen war, läutete das Telefon in dem kleinen Büro der Galerie. Tess zögerte sekundenlang und wünschte, es wäre ihre Schwester. Sie befürchtete jedoch, dass es Andrea war. Wahrscheinlich wollte sie nach dem kurzen Gespräch von vorhin mehr wissen. Widerstrebend nahm Tess den Hörer ab und meldete sich.

„Teresa?“, ertönte Andreas Stimme. „Was ist eigentlich los? Weshalb bist du in der Galerie? Wo ist Ashley?“

Tess seufzte. Sie hatte Andrea gegenüber nicht erwähnt, dass sie in Italien war. Aber ihre Stiefmutter nahm natürlich an, sie könnte ihre Tochter in der Galerie erreichen.

„Sie … macht Urlaub“, improvisierte Tess. „Wie geht es dir, Andrea?“

„Das ist jetzt uninteressant, Teresa“, entgegnete die ältere Frau kühl. „Vor fünf Minuten hast du angerufen und wolltest mit Ashley sprechen. Dir muss klar gewesen sein, dass ich mich aufregen würde. Sie müsste in Porto San Michele sein.“

„Hast du etwas von ihr gehört?“ Tess war ganz aufgeregt.

„Natürlich. Wieso auch nicht? Sie liebt mich doch.“

„Klar, aber …“

„Du hast sie ermutigt, nach Italien zu gehen, und leider hat sie sich von dir beeinflussen lassen. Das bedeutet aber nicht, dass Ashley kein Gewissen hat“, fuhr Andrea zusammenhanglos fort. „Du warst ja immer eifersüchtig auf unser gutes Verhältnis, Teresa. Doch wenn du das alles inszeniert hast, um uns auseinanderzubringen …“

„Du liebe Zeit, das ist absurd.“ Tess hatte Ashley nie zu irgendetwas ermutigt. Und sie war auch nie eifersüchtig gewesen auf die Mutter-Tochter-Beziehung. Natürlich war sie manchmal traurig darüber gewesen, dass sie keine Mutter mehr hatte, mit der sie über ihre Hoffnungen, Ängste und Träume reden konnte. Ihre Tante Kate war jedoch eine sehr gute Ersatzmutter gewesen und hatte Tess sehr geliebt.

„Warum hast du mich denn sonst angerufen?“, fragte Andrea vorwurfsvoll. „Wolltest du mich nur aufregen?“

„Nein, ganz bestimmt nicht.“

„Aber du hast mich gefragt, ob ich etwas von Ashley gehört hätte. Das klang so, als wäre sie verschwunden. Hast du ihre Handynummer nicht?“

Tess zögerte. „Ihr Handy war ausgeschaltet“, erwiderte sie dann. „Deshalb habe ich gedacht, sie sei vielleicht nach England geflogen. Momentan vertrete ich sie in der Galerie.“ Sie machte eine Pause. „Ein Kunde wollte unbedingt mit ihr sprechen. Es geht um ein Gemälde“, behauptete sie. Dass Ashley sie in so eine schwierige Lage gebracht hatte, fand sie ungerecht. Sie musste nicht nur mit dem zornigen Vater des jungen Freundes ihrer Schwester fertig werden, sondern auch mit deren Mutter. Ashley hätte sich denken können, dass es Probleme geben würde.

Tess atmete tief durch. „Ich bin sicher, sie wird sich bald melden“, versuchte sie ihre Stiefmutter zu beruhigen. „Falls du etwas von ihr hörst, sag ihr bitte, sie solle mich unbedingt anrufen. Dieser Kunde will nur mit ihr persönlich reden.“

„Hast du denn wirklich keine Ahnung, wo Ashley sein könnte?“ Andreas Stimme klang beunruhigt. „Wenn du etwas weißt, Teresa, darfst du es mir nicht verheimlichen. Soll ich nach Italien kommen? Vielleicht sollte man die Polizei einschalten.“

„Das ist nicht nötig, denn Ashley wird ja nicht vermisst“, versicherte Tess ihr rasch und verfluchte ihre Schwester insgeheim. Was hatte die sich nur dabei gedacht? „Andrea, du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Ashley gönnt sich eine Pause, das ist alles. Wahrscheinlich hat sie das Handy ausgeschaltet, um nicht belästigt und gestört zu werden.“

„Du willst doch hoffentlich nicht andeuten, meine Tochter würde sich durch meine Anrufe belästigt fühlen“, rief Andrea sogleich aus.

„Nein, natürlich nicht“, versicherte Tess ihr. Sie nahm sich vor herauszufinden, was Ashley ihrer Mutter über sie erzählt hatte.

„Na ja …“ Andrea hörte sich resigniert an. „Dann muss ich dir wohl glauben. Aber vergiss nicht, mich zu informieren, wenn es etwas Neues gibt. Falls Ashley dich anruft, richte ihr bitte aus, sie soll sich sogleich bei mir melden.“

„Mache ich.“ Tess legte erleichtert den Hörer auf. Sie hatte das Gefühl, ihre Schwester hatte sie benutzt, und wünschte, sie hätte nicht eingewilligt, sie zu vertreten.

Plötzlich stieg Castellis Bild vor ihr auf. Sie verdrängte es jedoch sogleich wieder. Sie wollte nicht über das Gespräch mit ihm nachdenken, um sich die Laune nicht zu verderben.

Ashley hatte ihr den Aufenthalt in Italien in den glänzendsten Farben geschildert. Sicher, sie hatte Tess gebeten, sie in der Galerie zu vertreten. Aber sie hatte auch davon geredet, sie könnte die Tage am Strand in der Sonne und die Abende in gemütlichen Restaurants und Bars verbringen. Tess machte sich nichts aus Barbesuchen, doch es war ein verlockender Gedanke gewesen, in italienischen Restaurants zu essen. Außerdem hatte sie sich sehr auf den Strand im Sonnenschein gefreut.

Jetzt war ihr die Freude verdorben. Die beiden ersten Abende hatte sie damit verbracht, Ashleys Apartment zu säubern und die Buchführung zu erledigen, die ihre Schwester vernachlässigt hatte. Und jetzt musste sie sich damit auseinandersetzen, dass Ashley verschwunden war. Sie hatte zweifellos ganz genau gewusst, wie Tess reagiert hätte, wenn sie ihr die Wahrheit gesagt hätte. Mit voller Absicht war Ashley bei der Ankunft ihrer Schwester schon weg gewesen.

Tess war frustriert und enttäuscht. Sie hätte sich denken können, dass mehr dahinter steckte, als Ashley ihr erzählt hatte. Es ist meine eigene Schuld, dass ich Andrea vor meiner Abreise nicht angerufen und gefragt habe, wie es ihr geht, überlegte Tess. Jetzt konnte sie nichts anderes tun, als abzuwarten, ob Ashley anrief.

Eigentlich hatte sie vorgehabt, am Abend in einer Pizzeria zu essen. Doch sie überlegte es sich anders. Nachdem sie den ganzen Tag nervös zusammengezuckt war, wenn jemand in die Galerie gekommen war, hatte sie keine Lust mehr, unter Menschen zu sein. Sie würde sich selbst etwas zubereiten.

Als sie gerade abschließen wollte, kam ein Mann herein. Tess bekam Herzklopfen und errötete. War das etwa Castelli? Nein, sie hatte sich geirrt hatte. Es war Silvio Palmieri, der nette junge Mann von dem Sportgeschäft nebenan. Wie dumm von mir, ihn mit Castelli zu verwechseln, dachte sie ärgerlich. Die einzige Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern war das dunkle Haar.

„Hallo“, begrüßte er sie. „Habe ich Sie erschreckt?“, fügte er hinzu, als ihm ihre seltsame Miene auffiel.

„Nein. Ich war mit meinen Gedanken ganz woanders“, erwiderte sie. „Sie haben mich überrascht, das ist alles.“

Er runzelte die Stirn. „Gibt es schlechte Nachrichten?“, fragte er. „Geht es Ashleys Mutter schlechter?“

„Nicht, dass ich wüsste.“ Ihre Stimme klang spöttisch. „Hatten Sie einen guten Tag?“

Silvio zuckte die Schultern. „Na ja, es ging. Und Sie?“

Tess war nahe daran, hysterisch zu lachen. Aber sie nahm sich zusammen. Castelli wäre es bestimmt nicht recht, wenn sie mit Silvio über ihre Probleme redete, und Ashley hätte sicher auch etwas dagegen.

„Es war ein … aufschlussreicher Tag“, antwortete sie deshalb nur. „Ich bin nicht traurig, dass er vorbei ist.“

„Ich habe gesehen, dass Raphael di Castelli heute Morgen in der Galerie war.“ Silvio zog fragend die Augenbrauen hoch. „Er ist eine bekannte Persönlichkeit. Während der Ernte arbeiten viele Leute aus San Michele bei ihm in den Weinbergen.“

„Sie kennen ihn?“ Tess blickte ihn nachdenklich an. War der junge Mann etwa nur hereingekommen, um zu erfahren, was Castelli gewollt hatte? „Ist sein Weingut sehr groß?“

„Ja. Aber ich kenne ihn nicht persönlich.“

Tess fing an zu begreifen, warum Ashley sich für Marco interessierte. „Ashley kennt seinen Sohn, oder?“ Sie ließ die Stimme betont gleichgültig klingen.

„Sie meinen Marco? Ja, den kennt sie.“ Silvio nickte. „Er scheint sich für Kunst zu interessieren. Angeblich möchte er Maler werden.“

Vielleicht erklärt das, warum Ashley sich um den Jungen kümmert, überlegte Tess. „Ah ja. Ist sein Vater damit einverstanden?“

„Vermutlich nicht. Ein di Castelli verschwendet seine Zeit nicht mit Malen. Außerdem geht Marco noch zur Schule. Sie haben mir immer noch nicht verraten, was Marcos Vater bei Ihnen wollte“, erinnerte Silvio sie.

„Oh.“ Tess suchte nach einer Ausrede. „Er … wollte mit Ashley sprechen, hat aber nicht gesagt, warum.“

„Hm.“ Silvio war offenbar nicht überzeugt.

„Ich will jetzt abschließen“, verkündete Tess. „Ich muss noch im Supermarkt für heute Abend einkaufen.“

„Sie können ja mit mir essen gehen“, schlug er vor. „Meine Lieblingstrattoria ist gleich da vorne um die Ecke.“

„Nein, lieber nicht …“

„Wollen Sie mir einen Korb geben?“ Er verzog das Gesicht.

„Es gibt bestimmt genug andere Frauen, die gern mit Ihnen ausgehen würden, Silvio“, entgegnete Tess energisch. „Es tut mir leid, es war ein langer Tag, und ich bin müde. Ich wäre heute sowieso keine gute Gesellschafterin.“

„Ashley hat behauptet, Sie würden gern mit mir ausgehen“, wandte er ein. „Sie hat erzählt, Sie seien nicht … gebunden.“

„So? Dann hat sie sich getäuscht, Silvio. Ich habe einen Freund.“ Sogar mehrere Freunde – und alles ist ganz harmlos, fügte sie insgeheim hinzu. Dass sie keine feste Beziehung hatte, ging Silvio nichts an.

Er zuckte die Schultern. „Aber er ist nicht hier, oder?“

Tess seufzte. „Trotzdem …“

„Dann vielleicht an einem anderen Abend“, erklärte er unbekümmert und ging hinaus. „Bis morgen, meine Liebe.“

„Bis morgen. Und gute Nacht.“ Tess schloss die Tür ab und atmete erleichtert auf. Was für ein Tag, zuerst Castelli, dann Silvio, dachte sie. Sie freute sich darauf, den Abend allein in Ashleys Apartment verbringen zu können.

In der Nacht wälzte sie sich ruhelos im Bett hin und her. Immer wieder glaubte sie, ein Telefon läuten zu hören. Es waren jedoch nur die Glöckchen draußen auf dem Balkon. Kurz vor Tagesanbruch schlief sie ein und wurde erst wieder wach, als es hell war und die Sonnenstrahlen durch die Ritzen in den Jalousien auf ihr Gesicht fielen.

Sie stand auf und stellte die Kaffeemaschine an, ehe sie in dem winzigen Badezimmer duschte. Wenig später schlang sie sich ein Badetuch um den Körper.

Nachdem sie sich einen Kaffee eingeschenkt hatte, stellte sie sich auf den kleinen Balkon. Die Welt wirkte an diesem Morgen weniger feindselig als am Tag zuvor. Was für ein lächerlicher Gedanke, schalt sie sich sogleich. Die Welt konnte nicht feindselig wirken, sondern nur die Menschen.

Das Apartment befand sich im obersten Stock eines alten Hauses in der Via San Giovanni. Es lag am Hügel oberhalb des Hafens. Das Haus war eher unauffällig, die Flure und Treppen waren sauber, und es roch nicht nach Zwiebeln oder Knoblauch wie in vielen anderen alten Gebäuden.

Die Wohnung bestand aus einem Schlafzimmer, Wohnzimmer mit eingebauter Küchenzeile und einem kleinen Bad. Die Einrichtung war eher spartanisch, aber es war alles da, was man brauchte. Ashley hatte sich einige Brücken, Läufer und hübsche Vorhänge gekauft.

Tess lehnte sich über die Balkonbrüstung. Am Abend zuvor hatte sie das Gefühl gehabt, betrogen worden zu sein. Aber es hatte sich für sie ja nichts dadurch geändert, dass Ashley sie und alle anderen belogen hatte. Sie vertrat ihre Schwester immer noch in der Galerie, und es lag nur an ihr selbst, wie sich ihr Aufenthalt in dieser wunderschönen Umgebung gestaltete.

Dass sie sich fragte, wo Ashley sein mochte, war ganz normal. Ashley hatte schon immer nach ihren eigenen Regeln gelebt. Tess erinnerte sich daran, dass ihr Vater sich bei einem seiner unregelmäßigen Besuche in Derbyshire über die Lebensweise seiner jüngeren Tochter beschwert hatte.

Auf einmal wurde ihr bewusst, dass die Tasse leer war und sie ihre Zeit vertrödelte. Rasch ging sie ins Schlafzimmer und zog ihr knöchellanges cremefarbenes Baumwollkleid und flache Sandaletten an. Dann betrachtete sie resigniert das gelockte Haar, das in der Sonne getrocknet war. Vielleicht beneideten sie einige Frauen darum, dass sie viel jünger wirkte, als sie war. Aber sie fand sich gar nicht beneidenswert. Sie wünschte, ihr Haar wäre noch so lang wie vor der Reise, damit sie es hochstecken könnte.

Schließlich wusch sie die Tasse aus und verließ das Apartment. Nachdem sie die drei Treppen hinuntergeeilt war, ging sie hinaus ins Freie, in die warme Luft. Sie würde sich weder von Ashley noch von Castelli den Urlaub verderben lassen und nahm sich vor, die Galerie früher zu schließen und den Nachmittag am Strand zu verbringen.

Ashleys kleinen Wagen hatte sie wenige Meter weiter weg am Straßenrand geparkt. Sie betrachtete kurz die Häuser mit den roten und ockerfarbenen Dachziegeln und den Balkonen mit den blühenden Pflanzen. Sie standen so dicht nebeneinander, dass nichts dazwischen zu passen schien. Die Vorgärten mit dem üppigen Grün waren ein wunderschöner Anblick. Der Duft nach Lilien, Rosen und Jasmin vermischte sich mit dem feinen Aroma aus der Bäckerei an der Ecke.

Als Tess die Tür zur Galerie aufschloss, läutete schon das Telefon. Das ist sicher Ashley, dachte sie und schaltete rasch die Alarmanlage aus. „Hallo?“, meldete sie sich dann.

„Teresa?“, ertönte zu ihrer Enttäuschung Andreas Stimme. „Wo warst du? Ich habe vorhin versucht, dich in Ashleys Wohnung anzurufen.“

„Wahrscheinlich war ich schon unterwegs“, erwiderte Tess freundlich. „Hast du etwas von Ashley gehört?“

„Nein“, antwortete Andrea ungeduldig. „Du etwa?“

„Dann hätte ich dir sogleich Bescheid gesagt.“

Andrea atmete tief ein. „Das hätte ich auch getan, Teresa. Du brauchst nicht in so einem Ton mit mir zu reden. Wenn du nicht weißt, wo deine Schwester sich befindet, ist das nicht meine, sondern deine eigene Schuld.“

Tess verkniff sich die scharfe Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag. Es hatte keinen Sinn, sich mit Andrea zu streiten. Dass sie sich aufregte, war verständlich. Ihre Tochter war verschwunden, und sie war weit weg.

„Vor einigen Tagen habe ich noch mit ihr gesprochen“, verteidigte Tess sich.

„Das hast du mir gestern nicht erzählt.“

Tess seufzte. „Ich habe es vergessen.“

„Oder du hast es mir absichtlich verschwiegen, um mich aufzuregen.“ Andreas Stimme klang vorwurfsvoll. „Hast du sie nicht gefragt, wo sie ist?“

Nein, warum hätte ich das tun sollen, für mich war doch alles klar, ich habe ihr geglaubt, überlegte Tess. „Daran habe ich nicht gedacht“, erwiderte sie. „Aber sie wird sich bestimmt melden, sobald sie Zeit hat.“

„Die ganze Sache ist ziemlich mysteriös“, stellte Andrea fest. „Wenn dieser Kunde sie nicht unbedingt hätte sprechen wollen, hätte ich von der ganzen Sache nichts erfahren.“

Sekundenlang herrschte unbehagliches Schweigen. Während Tess noch überlegte, was sie sagen sollte, fuhr Andrea fort: „Ich habe den Eindruck, du weißt mehr, als du mir verraten willst. Ashley muss sehr verzweifelt gewesen sein, sonst hätte sie dich nie gebeten, sie zu vertreten. Aber momentan kann ich nichts anderes tun als zu warten. Falls du bis zum Wochenende nichts von ihr gehört hast, komme ich nach Italien und werde selbst Nachforschungen anstellen.“

Tess seufzte insgeheim. „Daran kann ich dich natürlich nicht hindern.“

„Stimmt. Versprich mir, mich anzurufen, wenn Ashley sich bei dir meldet.“

„Ja, das werde ich tun.“ Nachdem das Gespräch beendet war, stand Tess minutenlang da und blickte ins Leere. Sie hatte keine Lust mehr, die Galerie früher zu schließen und den Rest des Tages am Strand zu verbringen. Sie kam sich vor wie eine Angeklagte, die ihre Unschuld beweisen musste.

Das ist nicht fair, dachte sie verbittert. Es war nicht ihre Schuld, dass Ashley verschwunden war und Castellis Sohn mitgenommen hatte. Weshalb fühlte sie sich dann trotzdem schuldig?

4. KAPITEL

Den Rest des Tages verbrachte Tess damit, einige Kunden zu bedienen und sich mit einem Ehepaar aus Manchester zu unterhalten, das zum ersten Mal in Italien war. Als es endlich Zeit war, die Galerie zu schließen, war sie erleichtert. Sie fuhr nach Hause und hatte das Gefühl, der einzige Mensch in Porto San Michele zu sein, der keinen Spaß hatte.

Am nächsten Morgen hatte sich ihre Laune gebessert. Sie hatte ganz gut geschlafen und wollte nicht darüber nachdenken, was sie machen sollte, falls Ashley nicht rechtzeitig auftauchte. Sie zog pinkfarbene Shorts, ein ärmelloses Top und flache Sandaletten an. Weshalb sollte sie darauf Rücksicht nehmen, ob anderen ihr Outfit gefiel oder nicht? Sie war im Urlaub und wollte ihn genießen.

Sie entschloss sich, den Wagen stehen zu lassen und zu Fuß zur Galerie zu gehen. Dann konnte sie sich unterwegs in der Bäckerei etwas zum Frühstück kaufen. Außerdem würde die Bewegung ihr guttun.

Es war ein wunderschöner Morgen. Die Sonne schien, und Tess war recht optimistisch gestimmt. Egal, was Ashley angestellt hatte, sie hatte es ihr ermöglicht, diesen Teil der Toskana kennenzulernen. Und dafür war sie ihr dankbar.

Mehrere Leute, denen sie auf dem Weg zur Galerie begegnete, grüßten sie und sagten etwas, was sie nicht immer verstand. Dennoch antwortete sie. Ihre italienischen Sprachkenntnisse waren gar nicht schlecht. Sie hatte sich vorgenommen, später noch einmal nach Italien zu reisen und sich dann auch Florenz und Venedig anzusehen.

Mit dem Gebäck in der Hand schloss sie schließlich die Hintertür zur Galerie auf und schaltete die Alarmanlage aus. Dann ging sie in das Büro und wollte die Kaffeemaschine anstellen. Doch in dem Moment läutete das Telefon.

Oh verdammt, jedes Mal, wenn ich hereinkomme, will jemand etwas vor mir, dachte sie ärgerlich. „Medici Galleria“, meldete sie sich und rechnete mit dem Schlimmsten.

„Miss Daniels?“

Tess schluckte. Diese Stimme hätte sie immer und überall erkannt. „Signor di Castelli, was kann ich für Sie tun?“, erwiderte sie höflich und bekam Herzklopfen. „Haben Sie Nachrichten von Ihrem Sohn?“

„Nein.“ Er seufzte. „Vermutlich haben Sie auch nichts von Ihrer Schwester gehört, oder?“

„Nein, weder ich noch ihre Mutter.“

„Ah ja.“ Er machte eine Pause. „Haben Sie wieder mit Ashleys Mutter gesprochen?“

„Ja, Andrea hat mich angerufen.“ Tess konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme leicht verbittert klang.

„Sie scheinen deprimiert zu sein, meine Liebe“, sagte er mitfühlend. „Ashleys Mutter macht Sie für alles verantwortlich, stimmt’s?“

„Wie kommen Sie darauf? Aber Sie haben recht. Sie meint, ich hätte Ashley fragen müssen, wo sie ist, als ich das letzte Mal mit ihr am Telefon gesprochen habe.“

„Sie haben doch geglaubt, sie würde zu ihrer Mutter nach England fliegen, oder?“, wandte Raphael ein.

„Natürlich. Das weiß Andrea jedoch nicht. Ich habe es ihr verschwiegen, um sie nicht aufzuregen.“

„Sie Ärmste. Das ist sicher nicht leicht für Sie.“

„Nein.“ Tess seufzte. „Ist das alles? Wollten Sie sich nur erkundigen, ob Ashley sich gemeldet hat?“

„Das war nur einer der Gründe für meinen Anruf“, antwortete er rätselhaft. „Dann bis später, meine Liebe“, verabschiedete er sich und legte auf.

Nach dem kurzen Gespräch war Tess etwas traurig. Sie hatte gehofft, Castelli wüsste, wie das Problem zu lösen war. Er schien jedoch genauso ratlos zu sein wie sie. Sie schaltete die Kaffeemaschine ein, und schon bald duftete es in dem kleinen Raum verführerisch nach frischem Kaffee. Sogleich hellte sich Tess’ Stimmung leicht auf. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie die Galerie noch gar nicht geöffnet hatte. Rasch holte sie es nach. Und als die Sonnenstrahlen durch die Schaufenster hereindrangen, sah die Welt wieder viel freundlicher aus.

Draußen auf der Straße herrschte an diesem Morgen schon reger Verkehr. Autos und Touristenbusse fuhren auf der Suche nach Parkplätzen umher, Fischer lehnten an der Ufermauer jenseits der Straße, und mehrere Segeljachten glitten über das Wasser in Richtung des kleinen Jachthafens, der am südlichen Ende der Stadt lag. Tess beneidete die Leute etwas. An einem so schönen Tag tun zu können, wozu man Lust hatte, musste herrlich sein. Über den Sorgen um ihre Schwester hatte sie beinah vergessen, wie es war, sich völlig frei zu fühlen.

Sekundenlang stand sie an der Tür und beobachtete das muntere Treiben. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was sie machen würde, falls Ashley sich bis Freitag nicht gemeldet hatte. Es passte ihr gar nicht, dass dann ihre Stiefmutter kommen und sich an der Suche beteiligen wollte.

Tess beobachtete einen Windsurfer. Zunächst hielt sie ihn für ziemlich geschickt, doch dann änderte sie ihre Meinung. Wahrscheinlich war es ein Urlauber, der erst noch lernen wollte, auf dem schmalen Surfbrett über das Wasser zu gleiten. In einer etwas kräftigeren Brise verlor er das Gleichgewicht und fiel kopfüber in das Meer.

Zu ihrer Erleichterung tauchte er wenig später direkt neben dem gekenterten Surfbrett auf. Er schaffte es jedoch nicht, es wieder umzudrehen. Hilflos ließ er sich ins flachere Wasser treiben.

Tess musste lachen. Sie konnte nicht anders, obwohl es eigentlich nicht nett war. Lachen zu können wirkte jedoch wie eine Befreiung nach dem ganzen Druck, dem sie ausgesetzt gewesen war.

„Ihnen geht es offenbar besser, Signorina“, ertönte plötzlich Raphael di Castellis Stimme. Tess drehte sich um. Er hatte sich an die Wand neben der Tür gelehnt und kam ihr seltsam vertraut vor.

„Signor di Castelli“, sagte sie. Ihr war klar, dass es steif und abweisend klang. Aber sie hatte ja auch nicht damit gerechnet, ihn zu sehen. „Sie hatten nicht erwähnt, dass Sie heute kommen wollten.“

„Es war ein spontaner Entschluss“, antwortete er und richtete sich auf. In der schwarzen Hose und dem schwarzen Jackett aus Seide wirkte er nicht weniger beeindruckend als am Tag zuvor. Immerhin trägt er heute keine Krawatte, dachte Tess. Er hatte die obersten Knöpfe seines schwarzen Hemdes geöffnet, und sie betrachtete fasziniert die gelockten dunklen Härchen auf seiner Brust. „Wer hat Ihnen eigentlich erzählt, dass ich di Castelli heiße? Haben Sie etwa doch mit Ashley gesprochen?“

„Nein.“ Tess ging zurück in die Galerie, und Raphael folgte ihr. Verheiratete Männer dürften nicht so attraktiv sein, überlegte sie und wünschte, sie wäre von diesem Mann, den sie sowieso nicht haben konnte, nicht beeindruckt. Sie wollte nicht beweisen, dass sie nicht besser war als ihre Schwester. „So heißen Sie doch, oder?“, fügte sie betont gleichgültig hinzu. „Ich habe gehört, Sie seien eine bekannte Persönlichkeit.“

Er kniff die Augen zusammen. Es gefiel ihm nicht, dass sie mit anderen über ihn gesprochen hatte. „Hat das Ihr Informant behauptet? Dann hat er sich getäuscht. Oder Sie haben etwas missverstanden.“

„Das glaube ich nicht.“ Tess befeuchtete sich die Lippen. „Was führt Sie her?“

Castelli zog spöttisch eine Augenbraue hoch. „Ich bin auf dem Weg nach Viareggio und habe Sie im Vorbeifahren zufällig gesehen“, erklärte er. „Sie wirkten so … traurig.“

„Sie können sich Ihr Mitleid sparen, Signor di Castelli“, entgegnete sie scharf. „Ich habe mir nur die Zeit vertrieben, während ich darauf wartete, dass der Kaffee fertig wurde.“

Er blickte sie nachsichtig an. „Wie Sie meinen. Aber ich weiß genau, wie Ihre Miene gewirkt hat.“

Tess versteifte sich. „Vielleicht haben Sie von sich auf mich geschlossen.“

„Warum regen Sie sich so auf? Es ist nur natürlich, dass Sie nicht glücklich sind. Immerhin verläuft Ihr Urlaub anders, als Sie es sich vorgestellt hatten.“

„Ja, das stimmt. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen?“ Sie ging in das Büro und hoffte, er würde die Andeutung verstehen und sich verabschieden. Aber während sie noch das Gebäck betrachtete, das sie sich zum Frühstück gekauft hatte, fiel Castellis Schatten über den Schreibtisch.

„Kommen Sie mit mir“, forderte er sie auf.

Verblüfft sah sie ihn an. Er stützte sich mit beiden Händen an den Türrahmen und blickte Tess mit seinen goldbraunen Augen rätselhaft an. Ihr kribbelte die Haut, und Hitze breitete sich in ihr aus.

Als ihr bewusst wurde, dass sie ihn wie ein verliebter Teenager ansah, wandte sie sich ab. „Es tut mir leid, das ist unmöglich“, erwiderte sie. Er hatte wahrscheinlich sowieso damit gerechnet, dass sie seine Einladung ablehnen würde, sonst hätte er sicher nicht gefragt. „Trotzdem danke.“

„Warum?“

„Was meinen Sie?“ Tess stellte sich dumm.

„Warum ist es unmöglich?“ Er sprach jedes Wort so langsam und deutlich aus, als wäre sie ein kleines Kind oder schwer von Begriff. „Es ist doch ein wunderschöner Tag.“

„Ja. Aber ich kann die Galerie nicht einfach nach Lust und Laune schließen.“

Castelli verzog die Lippen. „Weil Ashley Sie gebeten hat, sie zu vertreten?“, fragte er ironisch. „Ja, ich kann mir gut vorstellen, dass Sie sich ihr gegenüber loyal verhalten wollen.“

Wieder versteifte sie sich. „Sie können sich die sarkastischen Bemerkungen sparen.“ Sie zögerte kurz. „Ich muss hier sein, falls sie anruft.“

„Rechnen Sie denn damit, dass sie sich meldet?“

Tess zuckte die Schultern. „Vielleicht tut sie es.“

„Vielleicht auch nicht. Ich habe das Gefühl, Ihre Schwester wird erst kurz vor ihrer Rückkehr etwas von sich hören lassen.“

Der Meinung war Tess auch. „Wer weiß“, erwiderte sie. „Jedenfalls habe ich ihr versprochen, sie in der Galerie zu vertreten. Ich halte meine Versprechen.“ Als sie das Gebäck in die Hand nahm und merkte, wie klebrig es war, wischte sie sich die Hände mit einem Papiertaschentuch ab.

Castelli schüttelte den Kopf. Dann kam er näher, lehnte sich an den Schreibtisch und kreuzte die Arme über der Brust. „Wollen Sie mir keinen Kaffee anbieten?“

Den Kaffee hatte sie völlig vergessen. Sie holte zwei Becher hervor und füllte sie vorsichtig. Obwohl sie ziemlich nervös war, schaffte sie es, ihm den Becher zu reichen, ohne etwas zu verschütten. „Ich habe weder Milch noch Zucker.“

„Weshalb sollte man guten Kaffee mit solchen Zusätzen verderben?“, antwortete er sanft. Doch als er den ersten Schluck getrunken hatte, schien er seine Bemerkung zu bereuen. „Hm.“ Er lächelte höflich und stellte den Becher rasch hin. „Er hat einen … ganz eigenen Geschmack, stimmt’s?“

„Sie trinken natürlich nur den besten Kaffee“, stellte Tess kurz angebunden fest.

„Da haben Sie recht“, gab er ohne falsche Bescheidenheit zu. „Wenn Sie mich heute begleiten, kann ich es Ihnen beweisen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass es nicht geht.“

In seinen Augen blitzte es ungeduldig auf. „Sie trauen mir nicht, oder?“

„Vertrauen hat damit nichts zu tun“, behauptete sie. Aber es stimmte, sie wusste nicht viel über ihn.

„Woran liegt es denn sonst?“ Er ging zur Tür und blickte in den Verkaufsraum. „Es sind noch keine Kunden da. Sehr viel gibt es hier sowieso nie zu tun. Deshalb hat Scottolino vor, den Laden ganz zu schließen und nach Florenz zu verlegen.“

Tess erinnerte sich daran, den Namen des Inhabers der Galerie auf den Briefköpfen gesehen zu haben. „Mr. Scottolino will die Galerie schließen?“, wiederholte sie überrascht. „Weiß Ashley es schon?“

„Das bezweifle ich. Augustin informiert normalerweise sein Personal nicht über seine Pläne, besonders dann nicht, wenn jemand arbeitslos wird wie jetzt Ihre Schwester.“

Sie verzog die Lippen. „Da ist es ja nicht besonders hilfreich, dass Sie ihrem Ruf schaden, indem Sie Nachforschungen über sie anstellen“, erklärte sie ironisch.

Castelli hob die Hände. „Sie tun mir unrecht, Tess. Ich bin nicht Ihr Gegner.“

Aber mein Freund ist er auch nicht, dachte sie. Seine Stimme klang so sanft, tief und weich, dass es Tess heiß überlief und sie sich völlig hilflos fühlte. Sie ärgerte sich über ihre Reaktion und war froh, dass er nicht ahnte, was in ihr vorging. „Sie haben mir noch nicht erzählt, wie Ihr Sohn und Ashley sich kennengelernt haben“, sagte sie schärfer, als sie beabsichtigt hatte.

„Sie sind sich im September vorigen Jahres begegnet. Auf dem Winzerfest. Irgendjemand muss Ihre Schwester eingeladen haben.“

Tess runzelte die Stirn. „Demnach sind Sie ihr aber doch schon begegnet.“

„Ja, aber daran kann ich mich nicht erinnern, wie ich schon erwähnt habe.“ Er zuckte die Schultern. „Es sind immer so viele Gäste da, dass man die meisten Namen und Gesichter vergisst.“

„Ich habe angenommen, die beiden wären sich in der Galerie begegnet, denn ich habe gehört, Marco interessiere sich für Kunst.“

„Wer hat Ihnen das denn berichtet?“ Castelli sah sie scharf an. „Offenbar haben Sie auch Nachforschungen angestellt.“ Er verzog die Lippen. „Mein Sohn interessiert sich erst für Kunst, seit er Ihre Schwester kennt. Es war für ihn nur ein Vorwand, um sie in der Galerie zu besuchen.“

„Sie scheinen sich sehr sicher zu sein.“

„Marco hat sich jedenfalls nie zuvor für Kunst interessiert, sondern wollte Naturwissenschaften studieren.“

„Ah ja. Wahrscheinlich wissen Sie, dass auch Leonardo da Vinci, einer der berühmtesten Maler, Naturwissenschaftler war“, wandte Tess ein.

„Sind Sie immer so rechthaberisch? Behaupten Sie bitte nicht, Marcos Begeisterung für Ihre Schwester beruhe auf so etwas wie Seelenverwandtschaft. Das würde ich ganz bestimmt nicht glauben.“

Raphael di Castelli war ein ungemein intelligenter Mann. Tess konnte sich gut vorstellen, wie frustriert er darüber war, dass Ashley so viel Macht über seinen Sohn hatte.

„Es ist mir unerklärlich, was Ashley sich dabei denkt“, flüsterte sie. „Ihre Mutter meint, ich müsste ihr Verschwinden der Polizei melden.“

„Der Polizei?“, wiederholte er bestürzt. „Es liegt doch kein Verbrechen vor.“

„Nein. Ich habe Andrea überzeugen können, dass momentan dazu keine Veranlassung besteht“, versuchte sie ihn zu beruhigen.

„Danke.“ Castelli war erleichtert.

„Ihr Privatdetektiv hat auch nichts herausgefunden, oder?“, fragte sie.

„Nein“, gab er resigniert zu. „Er ist noch in Genua und erkundigt sich bei den Autovermietern. Bis jetzt hatte er noch kein Glück.“

Tess seufzte. „Das tut mir leid.“

„Sie haben nicht den besten Eindruck von meiner Familie gewonnen, nehme ich an. Natürlich ist Marco noch sehr jung. Dennoch ist er nicht unschuldig an der ganzen Sache.“

Sie zauberte ein Lächeln auf die Lippen. „Danke, dass Sie das gesagt haben.“

„Gern. Sie sind ganz anders als Ihre Schwester, meine Kleine.“ Seine Stimme klang verführerisch.

Obwohl Tess die Anspielung auf ihre Körpergröße nicht gefiel, konnte sie die plötzliche Vertrautheit zwischen ihnen nicht ignorieren. „Sind Sie sicher, dass sich die beiden in Genua aufhalten?“, fragte sie, um sich abzulenken. „Ist es eine sehr große Stadt?“

„Ja. Und sicher bin ich mir überhaupt nicht mehr. Deshalb will ich nach Viareggio fahren. Vielleicht hat Marco mit seiner Schwester über seine Pläne geredet.“

„Mit seiner Schwester? Ich wusste nicht, dass Sie auch noch eine Tochter haben.“ Sie war überzeugt gewesen, Marco sei ein Einzelkind. Vielleicht war es nur Wunschdenken gewesen. Wenn Castelli zwei Kinder hatte, war er für Tess noch unerreichbarer.

Er sah sie nachdenklich an, und sie überlegte, was in ihm vorgehen mochte. War ihre Bemerkung unpassend gewesen? War er der Meinung, sie hätte kein Recht, ihm Fragen über sein Privatleben zu stellen?

„Meine Tochter Maria hat Ende vergangenen Jahres geheiratet“, erklärte er schließlich. „Sie und ihr Mann Carlo besitzen ein albergo, ein kleines Hotel, in einem Vorort von Viareggio. Wenn Sie mich begleiten, können Sie sie kennenlernen.“

Tess atmete tief ein. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er seine Einladung wiederholte. Es wäre besser, sie würde Nein sagen, das war ihr klar. Die Galerie für einen Tag zu schließen wäre verantwortungslos und leichtfertig. Und was würde seine Tochter denken, wenn ihr Vater eine fremde Frau mitbrachte? Wahrscheinlich würde sie sich ärgern.

Nein, Tess konnte nicht mit ihm fahren. Obwohl es ein verlockendes Angebot war, musste sie einen klaren Kopf bewahren. Italiener standen in dem Ruf, Frauen sehr zu mögen. Außerdem war Castelli verheiratet. Sie durfte sich auf nichts einlassen.

„Es tut mir leid“, erwiderte sie deshalb. „Es wäre Ihrer Frau bestimmt nicht recht.“

„Meiner Frau?“ Sein Blick wirkte rätselhaft. „Was hat meine Frau damit zu tun, dass ich Sie bitte, mich zu begleiten?“

„Na ja …“ Tess errötete. Seine Frage klang so, als hätte sie ihm Motive unterstellt, die er nicht hatte. „Wahrscheinlich würde Ihre Familie es seltsam finden, wenn Sie mit einer fremden Frau ankämen.“

„Mit einer schönen Frau“, korrigierte er sie sanft und lächelte. „Sie glauben wohl, meine Frau und meine Tochter hätten etwas gegen meine Freundschaft mit der attraktiven Schwester der Geliebten meines Sohnes, oder?“

Tess war noch nie so verlegen gewesen. „Wir sind keine Freunde und kennen uns kaum. Ich meinte nur …“

„Ich weiß, was Sie meinten, Tess“, unterbrach er sie. „Entspannen Sie sich. Es wird keine Interessenkonflikte geben. Meine Frau und ich leben nicht mehr zusammen.“

„Aber sie lebt noch in Ihrem Haus, oder?“ Tess war noch nicht überzeugt.

„Nein. Wir sind geschieden. Gina lebt in New York.“

5. KAPITEL

Tess blickte Raphael ungläubig an. Er gestand sich ein, dass Scheidungen in seinem Land nicht gerade häufig waren. War nicht auch seine eigene Mutter entsetzt gewesen? Sie bestand darauf, dass gute Katholiken sich nicht scheiden ließen und das Eheversprechen ernst nahmen.

Raphael hingegen konnte nicht einsehen, dass Partner dazu verurteilt waren, lebenslang zusammenzubleiben, wenn einer der beiden untreu war. Er vermutete, dass seine Exfrau ihn nur geheiratet hatte, um sich dem Einfluss ihres dominanten Vaters zu entziehen.

„Das tut mir leid.“ Tess verschränkte die Hände im Nacken. Raphaels Blick wurde sogleich wie magisch von ihren vollen Brüsten angezogen, die sich unter dem Top deutlich abzeichneten. „Es geht mich nichts an.“

„Richtig“, stimmte er ihr zu. Ihm war bewusst geworden, wie untypisch er sich verhielt. Du liebe Zeit, er war zu alt, um mit einer jungen Frau zu flirten, die beinahe seine Tochter sein könnte. Doch dann gestand er sich ein, dass das stark übertrieben war. Aber er war immerhin dreiundvierzig, und in dem Alter sollte ein Mann vernünftig sein.

„Okay, ich möchte Sie nicht länger aufhalten“, erklärte Tess und lächelte höflich. „Sagen Sie mir Bescheid, falls Ihre Tochter etwas weiß?“

Sein Entschluss, vernünftig zu sein, geriet ins Wanken. Verdammt, weshalb sollte er sie nicht nach Viareggio mitnehmen? Er hatte doch keine Hintergedanken dabei. Sie war Ashleys Schwester und hatte ein Recht darauf, zu erfahren, was los war.

„Ich könnte mir vorstellen, dass Sie Maria gern selbst fragen würden“, antwortete er und ignorierte seine Gewissensbisse. „Kann ich Sie nicht doch noch dazu überreden, mich zu begleiten?“

Tess ließ die Hände sinken. „In diesem Outfit kann ich unmöglich mit Ihnen fahren“, entgegnete sie und errötete.

„Warum nicht?“ Seiner Meinung nach sah sie mit den schlanken, nackten Beinen sehr reizvoll aus. „Es ist kein offizieller Besuch, meine Liebe. Sie sind doch in dem Outfit auch zur Arbeit gegangen.“

Sie zuckte die Schultern. „Ach, ich weiß nicht“, flüsterte sie unsicher. Raphael spürte, dass sie nahe daran war nachzugeben. „Wie lange wäre ich denn weg?“

„Ungefähr zwei Stunden.“ Oder eher drei, fügte er insgeheim hinzu. „Was ist Ihnen wichtiger? Den Arbeitgeber Ihrer Schwester zufriedenzustellen oder Ashley zu finden?“

„Ashley zu finden natürlich.“

„Okay, dann lassen Sie uns fahren“, forderte er sie auf.

Nervös zuckte sie die Schultern und griff nach ihrer Tasche.

Er hatte den Ferrari im Halteverbot geparkt. Als Tess es bemerkte, sah sie ihn mit großen Augen an. War sie verblüfft über so viel Kühnheit? Oder war sie von dem Wagen beeindruckt? Nein, das konnte Raphael sich nicht vorstellen. Solche Äußerlichkeiten bedeuteten Tess Daniels nichts. Und das war für ihn eine ganz neue Erfahrung.

„Sie sind sich wohl sehr sicher, dass Sie keinen Strafzettel wegen Falschparkens bekommen, oder?“, fragte sie, während sie sich auf den Beifahrersitz sinken ließ. Sekundenlang ärgerte Raphael sich über die Bemerkung. Weshalb musste sie ihn daran erinnern, dass die Polizei oft über seine kleinen Parksünden hinwegsah?

„Ist es bequem genug für Sie?“, erkundigte er sich, ohne auf ihre Frage einzugehen, und setzte sich ans Steuer. Dabei freute er sich diebisch über ihre irritierte Miene.

„Natürlich“, erwiderte sie. „Das ist ein Ferrari, stimmt’s? Ich habe das Pferd auf der Kühlerhaube gesehen.“

„Das ist ein Hengst“, korrigierte er sie spöttisch.

„Ah ja. Ein italienischer Hengst. Das hätte ich mir denken können.“

Raphael wünschte, er hätte geschwiegen. Er startete den Motor, blickte in den Spiegel und reihte sich in den fließenden Verkehr ein. „Hoffentlich soll das keine Kritik sein.“

Tess drehte sich zu ihm, und der Wind wehte ihr das hellblonde Haar ins Gesicht. „Was meinen Sie damit?“ Sie strich sich das Haar zurück.

Er war sich ziemlich sicher, dass sie genau wusste, was er meinte. Er hatte jedoch keine Lust, das Thema weiterzuverfolgen. „Vergessen Sie es. Es ist nicht wichtig“, erklärte er. Er war sich ihrer Gegenwart, ihrer nackten Arme und der nackten Beine viel zu sehr bewusst und atmete tief ein. „Kennen Sie Viareggio, Signorina?“

Sekundenlang zögerte sie und überlegte, ob sie eine Antwort auf ihre Frage verlangen sollte. Sie entschied sich dagegen und erwiderte: „Ich war noch nie zuvor in Italien und kenne bis jetzt nur Porto San Michele. Im Übrigen heiße ich Tess. Sie haben es wahrscheinlich vergessen. Oder habe ich Sie beleidigt? Sie sind plötzlich so förmlich.“

Sie fuhren aus der Stadt hinaus und über die Küstenstraße in südlicher Richtung. Raphael dachte darüber nach, wie er Tess’ Frage beantworten sollte. Sie sollte nicht wissen, dass er befürchtete, zu tief in die Sache hineinzugeraten.

„Sie haben mich nicht beleidigt.“ Seine Stimme klang gleichgültig. „Aber vielleicht haben Sie recht. Wir kennen uns kaum.“

„Weshalb haben Sie mich dann eingeladen?“ Tess sah ihn aufmerksam an.

„Sie wissen, warum. Sie sollen selbst mit Maria reden.“

„Ah ja.“ Tess war skeptisch. „Glauben Sie etwa, meine Anwesenheit würde sie zum Reden bringen? Falls sie überhaupt etwas weiß.“

„Keine Ahnung.“ Er fühlte sich in die Enge getrieben. „Aber da Sie zum ersten Mal in Italien sind, macht es Ihnen vielleicht Spaß, etwas mehr von meinem Land zu sehen.“

Tess warf ihm einen erstaunten Blick zu. „Als Sie mich eingeladen haben, wussten Sie noch gar nicht, dass ich zum ersten Mal in Italien bin“, erinnerte sie Raphael nachsichtig.

Er atmete tief aus. „Stimmt. Sie haben gewonnen. Ich wollte nur mit Ihnen zusammen sein. Sie können mich ja verklagen.“

„Sie wollten mit mir zusammen sein?“, wiederholte sie verblüfft. „Warum das denn?“

Bei jeder anderen Frau wäre er davon überzeugt gewesen, sie fische nach Komplimenten. Aber so war Tess nicht.

„Ich kann Ihnen nichts Neues über Ashley berichten“, fuhr sie fort. „Ich möchte genauso gern wie Sie herausfinden, wo sie sich aufhält. Wenn Sie glauben …“

„Mir ist doch klar, dass Sie mich nicht belogen haben“, unterbrach er sie ruhig. „Warum sollte es mir keinen Spaß machen, mit einer jungen Frau zusammen zu sein? Auch wenn ich über vierzig bin, bin ich den Freuden des Lebens nicht abgeneigt.“

Erstaunt schüttelte sie den Kopf. „Machen Sie sich bitte nicht lustig über mich, Signore. Ich kenne meine Fehler und Schwächen sehr gut.“

Er kniff die Augen zusammen. „Würden Sie sie mir verraten?“

Tess errötete. Sie wirkte mit ihrer feinen hellen Haut und dem hellblonden Haar, das der Wind ihr ins Gesicht wehte, beinahe wie ein Teenager. Immer noch fand Raphael es unglaublich, dass sie älter war als ihre Schwester. Aus Verdiccis Beschreibungen hatte Raphael entnommen, dass Ashley Daniels weltgewandt und selbstbewusst auftrat. Sie wusste genau, was sie wollte, und verfolgte ihre Ziele rücksichtslos. Sogar auf ihre Schwester schien sie keine Rücksicht zu nehmen.

„Das lohnt sich nicht, es sind zu viele“, erwiderte Tess. „Ist das ein Kloster da drüben?“, fragte sie, um ihn abzulenken.

Raphael ließ sich darauf ein, das Thema zu wechseln. In der grünen Landschaft mit den Pinien und Olivenbäumen, die sich neben der Küstenstraße ins Landesinnere erstreckte, tauchten immer wieder Weingüter auf. Zwischen den Bäumen hindurch waren kleine Dörfer zu sehen.

Jedes Dorf hatte seinen eigenen Campanile, wie die frei stehenden Glockentürme genannt wurden. „Es ist eine Kirche“, antwortete er. „Hier in der Gegend gibt es nur noch sehr wenige erhaltene Klöster und natürlich viele Ruinen von früheren Klöstern, falls es Sie interessiert. Ich kann mich für alles, was mit der Kirche zusammenhängt, nicht mehr begeistern.“

Tess runzelte die Stirn. „Hat das etwas mit Ihrer Scheidung zu tun?“, fragte sie.

Er lächelte und warf ihr einen kurzen Blick zu. Ihre Offenheit fand er geradezu herzerfrischend. „Nein, dafür kann ich die Kirche wirklich nicht verantwortlich machen.“

„Aber warum …?“

„Ich bin in Rom auf eine Jesuitenschule gegangen“, erzählte er. „Diese Leute sind sehr streng und ziemlich unbarmherzig, wie Sie sicher wissen. Es ist schon lange her, ich habe es jedoch nicht vergessen. Meine Mutter hat sich sehnlichst gewünscht, dass ich Priester würde.“

Autor

Anne Mather

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