Dumm gelaufen, Darling

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Das eine hat man, das andere braucht man nicht. Lily Dumont allerdings hat beides: viel Geld und einen Onkel, der es ihr abluchsen will. Kurzerhand bringt sie das Vermögen in Sicherheit und sich selbst über einen inszenierten Unfall zum Verschwinden. Nach zehn Jahren aber will ihr Onkel Marc sie für tot erklären, um endlich in Besitz des Reichtums zu kommen. Dumm gelaufen, Darling. Lily muss sich also wieder etwas einfallen lassen und bittet wie schon damals ihren Jugendfreund Tyler um Hilfe. Und weil der nicht nur Lilys Geld, sondern sich selbst auch einen Platz an ihrer Seite sichern will, machen die beiden sich ans Werk ....


  • Erscheinungstag 15.08.2009
  • Bandnummer 9
  • ISBN / Artikelnummer 9783862953691
  • Seitenanzahl 352
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Der Himmel war pechschwarz. Keine Sterne. Kein Mond. Kein Licht, das sie verraten konnte. Tyler Benson führte sie die Klippe hinauf. Daniel Hunter, ihr bester Freund, hinkte etwas hinterher. Lilly hielt sich an Tys Hand fest, drückte sie ab und zu und zeigte ihm damit ihre Angst. Sonst würde er noch denken, das hier sei für sie nur ein weiteres Abenteuer. Doch Ty wusste es besser.

Gleich würde er den Wagen starten, den Gang einlegen und dann schnell hinausspringen, bevor das Auto über die Klippe in den düsteren See stürzte. Danach würde Lilly Dumont vermisst gemeldet werden. Auf dem Grund des Sees fände man den Wagen ihres Onkels, vielleicht bliebe er auch verschwunden. Eine Leiche könnte man jedenfalls nicht bergen. Lilly würde nach New York gehen und den Namen annehmen, den die drei für sie ausgesucht hatten. Und Ty sähe sie nie wieder.

All das, damit Lilly nicht zu diesem Mistkerl von Onkel zurückkehren musste, der sie weiter misshandeln würde. Deswegen wollte sie ihre Pflegefamilie, Tys Mutter, verlassen. Sie war erst siebzehn. Sie würde keinen weiteren Monat, geschweige denn ein Jahr, überleben, wenn sie zu ihrem Onkel zurückkehrte. Der Mann liebte nicht sie, sondern ihren Treuhandfonds.

„Komm schon, Daniel!“, rief Lilly und durchbrach damit die Stille. Sie hatte vermutlich Angst, dass sie ihn in der Dunkelheit verlieren könnten.

„Ich heiße Hunter“, murmelte ihr Freund und Pflegebruder laut genug, dass sie es hören konnten.

Ty grinste. Seit er dem Freund geraten hatte, seinen Nachnamen zum Rufnamen zu machen, sagten die Mitschüler nicht mehr „Danny Boy“ zu ihm, und Hunter hatte aufgehört, jeden zu verprügeln, der ihm in die Quere kam. Hunter und Ty waren wie richtige Brüder, und Ty kümmerte sich um Hunter und dieser sich um ihn. Deshalb blieb er jetzt auch etwas zurück. Er überließ Ty die letzten paar Minuten mit Lilly.

Dem Mädchen, das sie beide liebten.

Hunter hatte niemals darüber gesprochen, doch Ty wusste es. Er war jedoch nicht sicher, ob es auch Lilly klar war. Sie war so verdammt unschuldig, auch wenn sie versuchte, sich anders zu geben; deshalb lag sie Ty auch so sehr am Herzen. Sie waren kein Paar, doch da war etwas zwischen ihnen.

Zu schade, dass sie niemals die Gelegenheit haben würden, herauszufinden, was das war.

Der Anhänger, den er für sie gekauft hatte, brannte ihm fast ein Loch in die Tasche. Sie sollte ihn nicht vergessen. Niemals. Sein Magen zog sich zusammen, und er blieb plötzlich stehen.

Lilly lief auf ihn auf. „Was ist los? Warum hältst du an? Wir sind doch noch nicht da.“

Ty schluckte hart. „Ich wollte dir nur etwas geben.“ Er flüsterte, obwohl niemand in der Nähe war.

Hunter, der Tys Plan kannte, wartete irgendwo hinter ihnen.

Ty schob die Hand in seine Hosentasche und holte das kleine goldene Herz hervor. Ihm wurde ganz heiß, als er ihr die Hand entgegenstreckte. Gut, dass es so dunkel war und sie seine brennenden Wangen nicht sehen konnte.

„Hier“, murmelte er. Es war nicht viel, und das war ihm ebenso peinlich wie ihr überhaupt das Geschenk zu überreichen.

Lilly nahm den winzigen Anhänger. Obwohl in der Dunkelheit kaum etwas zu erkennen war, drehte sie ihn in der Hand hin und her und betrachtete ihn so lange, dass Ty nervös von einem Fuß auf den anderen trat.

„Er ist wunderschön“, sagte sie schließlich mit belegter Stimme.

Er atmete tief durch vor Erleichterung. „Ich …“ Ty war keiner, der große Worte machte. Er wusste nicht, was er nun sagen sollte.

„Ich weiß.“ Wie schien sie seine Gedanken lesen zu können. Sie umklammerte das Herz, schlang die Arme um ihn und drückte ihn fest an sich.

Der liebliche Geruch ihrer Haare stieg ihm in die Nase, als er ihre Umarmung erwiderte und ihren weichen Körper fest an sich zog. Zu viele Gefühle und Empfindungen durchströmten ihn gleichzeitig.

All die Dinge, die sie niemals zueinander würden sagen können, lagen in dieser letzten Berührung.

Ty konnte keinen klaren Gedanken fassen, geschweige denn sprechen. Der Kloß in seinem Hals wurde immer größer.

Sie entzog sich ihm plötzlich und schaute nach unten. Sie nestelte an ihrer Kette, und irgendwie gelang es ihr trotz der Dunkelheit, das Herz daran zu befestigen.

„Danke“, sagte sie weich und blickte ihm in die Augen.

Er nickte steif. „Gerne.“

Sekunden der Stille vergingen, in denen keiner von beiden die Worte aussprechen wollte, die doch irgendjemand sagen musste. Schließlich konnten sie es nicht riskieren, erwischt zu werden.

„Wir müssen gehen“, sagte Ty.

Sie nickte und reichte ihm die Hand. Er ergriff sie und lief weiter.

Wenige Minuten später krochen die drei durch das Unterholz und kamen dicht an der Klippe heraus. Dort wartete ein Wagen auf sie – so wie Tys Freund, der mit ihm an der Tankstelle arbeitete, es versprochen hatte. Ihr Vorhaben wurde immer mehr zur Realität. Schwindel überkam Ty, und er musste gegen die Übelkeit ankämpfen.

„Ist das wirklich der von Onkel Marc?“, fragte Lilly, während sie mit der Hand über den dunkelblauen Lincoln strich.

Ty nickte. „Ein Kumpel von mir weiß, wie man Autos knackt. Er schuldete mir einen Gefallen, weil ich ihn nicht verpfiffen habe, deswegen war das keine große Sache.“ Ty hatte Freunde in unterschiedlichen Kreisen, an unterschiedlichen Orten. Diese Sache hier abzuziehen, war leicht gewesen.

„Ich kann kaum glauben, dass wir das hier tun“, sagte Lilly.

Sie starrte ihn aus angsterfüllten Augen an. Doch hinter ihrer Furcht entdeckte Ty die Entschlossenheit. Sie war stark und unerschrocken, und er war stolz auf sie.

„Es ist nicht so, als ob wir eine Wahl hätten“, erinnerte Hunter sie.

„Ich weiß.“ Sie nickte und schob ihr dunkles Haar, das ihr ins Gesicht gefallen war, hinter die Ohren zurück. „Ihr Jungs seid wirklich großartig, dass ihr mir hierbei helft.“

„Einer für alle, alle für einen“, sagte Hunter.

Ty schüttelte den Kopf und verkniff sich ein Lachen, um seinen Freund nicht zu beschämen. Hunter sagte immer die dümmsten Sachen, doch Ty war das egal. Außerdem nahm er an, dass Hunter im Moment auch nicht klarer denken konnte als Lilly und er.

„Wir sind die drei Musketiere“, sagte Lilly grinsend. Wie immer vermittelte sie und stimmte ihrem Freund zu, um ihn vor einer Demütigung zu bewahren.

Außerdem hatte sie recht. Ebenso wie Hunter. Sie drei waren in dieser Sache ganz allein, und das würde sie für immer verbinden. Ty steckte die Hände in die Taschen seiner Jeans.

„Also stirbt Lillian Dumont heute Nacht, und Lacey Kinkaid wird geboren.“ Lillys Stimme bebte.

Er tadelte sie nicht, weil sie Angst hatte. Sie war dabei, Hawken’s Cove, das kleine Provinzstädtchen im Bundesstaat New York, zu verlassen und allein nach New York zu gehen – nur mit dem wenigen Geld, das Ty in den Ferien an der Tankstelle verdient hatte, und den paar Kröten, die Hunter in dem einzigen Restaurant der Stadt zusammengekratzt hatte, wo er für das Abräumen der Tische zuständig gewesen war.

„Niemand spricht über das, was hier heute Nacht geschieht. Niemals!“, schärfte Ty ihnen ein. Keiner von ihnen konnte es riskieren, auch nur einen Teil des Plans aufzudecken, sodass irgendjemand die richtigen Schlüsse zog. „Okay?“, fragte er und wartete auf die Bestätigung. Sein Herz schlug so hart in seiner Brust, dass er dachte, es müsse explodieren.

„Okay“, stimmte Hunter zu.

Ty wusste, dass sie Lillys Geheimnis für immer bewahren würden.

„Lilly?“, fragte Ty. Sie hatte am meisten zu verlieren, sollte ihr Onkel je herausfinden, dass sie am Leben war.

Sie nickte. „Ich werde niemals darüber sprechen.“ Ihr Blick begegnete dem seinen, während sie mit dem kleinen Herz an ihrer Kette spielte.

Für den Bruchteil einer Sekunde befanden sie sich in ihrer eigenen Welt. Er blickte in ihre braunen Augen, und plötzlich war alles wieder gut. Sie würden zurückgehen zum Haus seiner Mutter und sich in Lillys Schlafzimmer schleichen und die ganze Nacht miteinander reden. Sie würden zusammen sein.

Stattdessen brach sie den Bann. „Ich werde niemals vergessen, was ihr für mich getan habt“, sagte sie.

Sie umarmte Hunter, während Ty wartete und immer wieder seine Hände zu Fäusten ballte und wieder öffnete.

Dann wandte sie sich ihm zu und zog ihn eng an sich. Er hielt sie zum letzten Mal in seinen Armen, schloss die Augen und kämpfte gegen den Kloß in seinem Hals.

„Pass auf dich auf“, brachte er heraus.

Sie nickte. Ihr weiches Haar berührte seine Wange. „Ich werde dich niemals vergessen, Ty. Ich schwöre es“, flüsterte sie ihm ins Ohr.

1. KAPITEL

Das Gerichtsgebäude von Hawken’s Cove war der Mittelpunkt der Stadt. Das alte Steinhaus diente jedermann zur Orientierung. Wenn man links abbog, lag das „Tavern Grill“ auf der rechten Seite, ebenso die „Night Owl’s Bar“, und wenn man rechts abbog, war an der nächsten Ecke die Tankstelle. Die Eisdiele befand sich gegenüber.

Als Rechtsanwalt verbrachte Hunter seine Tage im Gerichtsgebäude, wenn er einen Prozesstermin hatte. Wenn nicht, arbeitete er in seinem kleinen Büro, das sich in der Straße dahinter befand. Manch einer mochte es merkwürdig finden, dass Hunter nach dem, was ihm in seiner Kindheit widerfahren war, in Hawken’s Cove geblieben war. Doch die guten Erinnerungen überwogen, und sein engster Freund sowie die einzige Familie, die Hunter etwas bedeutete, wohnten ebenfalls noch hier.

Hunter hatte niemals daran gedacht, Hawken’s Cove zu verlassen, doch um seinem Leben etwas mehr Würze zu verleihen, wohnte er im zwanzig Autominuten entfernten Albany, einem Ort, der im Hinterland von New York einer Stadt am nächsten kam.

Er verließ das Gericht um vier Uhr nachmittags und steuerte direkt auf die großen Eingangstüren zu. Er hatte heute einen schwierigen Fall gewonnen. Ein unschuldiger Mann, der sich keinen teuren Rechtsbeistand leisten konnte, war Hilfe suchend an ihn herangetreten, und er hatte sein Bestes gegeben. Dies waren die Fälle, die Hunter liebte. Die Reichen und Mächtigen vertrat er nur, um solche kostenlosen Vertretungen annehmen zu können.

Nachdem er monatelang jeden Tag lange gearbeitet hatte, sehnte er sich nun nach einem starken Drink und mindestens vierundzwanzig Stunden, in denen er sein Gehirn nicht anstrengen musste. Doch als er das Büro der Justizbeamtin passierte, fiel sein Blick auf ein Paar lange Beine und knallige pinkfarbene High Heels. Es gab nur eine Frau, die Schuhe in dieser Farbe trug.

„Molly Gifford“, sagte Hunter und blieb neben seiner ehemaligen Kommilitonin stehen. Sie hatten seinerzeit um den ersten Rang an der Albany Law School konkurriert. Es wurmte ihn, zugeben zu müssen, dass sie gewonnen hatte.

Nach dem Abschluss hatten sich ihre Wege getrennt. Molly hatte einen Job in einem anderen Bundesstaat angenommen, doch kürzlich war sie hierhergezogen, und im letzten Monat hatte er fast täglich das Vergnügen gehabt, ihre Beine zu bewundern. Ihr Umzug kam überraschend, denn Molly war weder in Hawken’s Cove geboren noch hier aufgewachsen. Als er sie nach dem Grund gefragt hatte, hatte sie etwas von der Versöhnung mit ihrer Mutter erwähnt – und weiter nichts.

Molly richtete ihre Aufmerksamkeit von der Justizbeamtin, mit der sie gesprochen hatte, auf Hunter und blickte ihn mit ihren braunen Augen an. „Hunter“, sagte sie mit einem einladenden Lächeln. „Wie ich höre, kann man dir gratulieren.“

Hunter war nicht überrascht, dass sie schon davon wusste, doch es war ihm eine Genugtuung. Wenn sie ihm nicht gratuliert hätte, hätte er ihr selbst von dem Sieg erzählt. Er hielt nicht allzu viel von Bescheidenheit, jedenfalls nicht, wenn es darum ging, vor einer Frau gut dazustehen.

„Die Neuigkeiten verbreiten sich ja schnell.“

„Ein Sieg gibt immer Anlass zum Klatsch. Ich hoffe, du feierst ihn“, erwiderte sie.

Was er an Molly immer bewundert hatte, war ihre Bereitschaft, den Erfolg anderer anzuerkennen. „Ich könnte mich dazu überreden lassen.“ Er lehnte sich gegen den Aktenschrank und sah ihr in die Augen. „Kommst du mit auf einen Drink?“

„Ich kann nicht“, schüttelte sie den Kopf. Ihr blondes Haar umschmeichelte in weichen Wellen ihr Gesicht, und er spürte die vertraute Anziehung in sich aufwallen.

Ihre Antwort überraschte ihn nicht. Er fragte, sie lehnte ab. Selbst damals im Studium hatten sie dieses alte Spiel gespielt. Er hatte gewusst, warum er nicht hartnäckiger wurde. Molly war ein nettes Mädchen, und es war leichter, mit den nicht ganz so Netten etwas Ernsterem aus dem Weg zu gehen. Mit denen, die nicht viel mehr erwarteten als Sex und Spaß.

Dennoch konnte er dem Drang nicht widerstehen, Molly zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen wolle. Und nun, da das Schicksal sie wieder zusammengeführt hatte, hoffte er, dass sie ihm – ihnen beiden – eine Chance geben würde. Denn er wusste, dass er nun erwachsen genug war, sich eine Chance mit ihr zu wünschen.

„Wie lautet deine Entschuldigung dieses Mal? Musst du deinen Hund baden?“, fragte er.

Sie grinste. „Nichts, was annähernd so aufregend wäre. Der Verlobte meiner Mutter möchte, dass ich mich um eine rechtliche Angelegenheit kümmere. Was mich just daran erinnert.“ Sie blickte auf die Uhr. „Ich komme zu spät, wenn ich mich nicht beeile. Aber vielleicht ein anderes Mal“, sagte sie und eilte zur Tür, wobei sie eine Wolke betörenden Parfums hinterließ.

Er stöhnte auf, weil er wusste, dass er sich heute Nacht im Bett hin und herwerfen würde – und das nicht nur wegen ihres Dufts. „Vielleicht ein anderes Mal“ waren Worte, die Molly ihm gegenüber nie zuvor ausgesprochen hatte. In der Vergangenheit war ihre Antwort immer ein klares Nein gewesen, bis er sie eben bei der nächsten Gelegenheit erneut fragte. Bei dem Gedanken, sie könnte sich erweichen lassen, schlug sein Herz höher.

Er wandte sich zu der Justizbeamtin, die der Unterhaltung hinter ihrem Schreibtisch begierig gelauscht hatte. „Dann heiratet Mollys Mutter jemanden aus dem Ort?“

Anna Marie Costanza arbeitete bereits länger als Justizbeamtin, als sich irgendjemand am Gericht erinnern konnte. Sie stammte aus einer Familie, die wichtige Positionen in der Stadt innehatte. Einer ihrer Brüder war der Bürgermeister, der andere Stadtrat und ein dritter war Partner in der renommierten Anwaltskanzlei „Dunne & Dunne“ in Albany. Die Familie verfügte über ein gutes Netzwerk und konnte nahezu alle Fragen beantworten, die man haben konnte.

Was Anna Marie anging, so heizte sie die Gerüchteküche im Gericht kräftig an, führte zugleich aber ein strenges Regiment. Außerdem gehörte ihr und ihren Brüdern eine der ältesten Pensionen der Stadt. Anna Marie wohnte selbst dort und spielte die Pensionsherrin. Molly hatte eines der Apartments gemietet. Wenn man Anna Maries Tagesjob und ihre Tätigkeit als Vermieterin bedachte, hätte Hunter darauf gewettet, dass sie über jeden Bewohner der Stadt so ziemlich alles wusste. Auch über Molly.

„Allerdings. Ihre Mutter heiratet einen langjährigen Bewohner unseres hübschen Städtchens.“ Anna Marie beugte sich nach vorn. „Wollen Sie nicht wissen, wer der Glückliche ist?“, fragte sie, offensichtlich begierig darauf, ihre Information weiterzugeben.

„Darüber wollte ich gerade mit Ihnen sprechen“, erwiderte Hunter lachend.

„Ihr Verlobter ist Marc Dumont. Ich weiß das, seit Mollys Mutter die Eheschließung angemeldet hat.“ Anna Marie blickte ihn bedeutungsvoll an.

Hunters Lächeln erlosch. Erinnerungen aus einer Zeit, als er jung und längst nicht so selbstsicher gewesen war, wie er sich heute gerne gab, stürmten auf ihn ein. Er ballte seine Hände zu Fäusten, als die alte Wut, die er zu kontrollieren gelernt hatte, in ihm aufstieg. Er kämpfte sie nieder.

Es war nicht Anna Maries Schuld, dass sie ihn an seine Verbindung zu Dumont erinnerte. Es gab niemanden in der Stadt, der die Geschichte von Lillys Verschwinden nicht kannte und der nicht davon gehört hatte, dass der Wagen vermutlich über die Klippe in den See gestürzt war. Ihre Leiche hatte man niemals gefunden.

Es gab auch niemanden, der nicht wusste, dass Marc Dumont ihre besten Freunde Hunter und Ty für den Tod seiner Nichte verantwortlich gemacht hatte. Er hatte erfolglos versucht, sie des Diebstahls seines Autos zu überführen, doch es war ihm gelungen, die Behörden dazu zu bringen, die Freunde zu trennen und Flo Benson die Pflegschaft für Hunter zu entziehen.

Hunter hatte das folgende Jahr bis zu seinem 18. Geburtstag in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche verbracht. Seine Wut und Verbitterung waren dort wieder zurückgekehrt, und seine Haltung hatte ihm so viele Prügeleien eingebracht, dass er beinahe im Knast gelandet wäre. Stattdessen hatte man ihn zu einem Mentorenprogramm verdonnert, und wie beabsichtigt hatte die Realität seine Einstellung rasch geändert. Der Gedanke an Lilly hatte ihn dabei motiviert.

Sie wünschte sich etwas Besseres für ihn als das Gefängnis, das wusste er. Dumont aber gab er noch immer die Schuld für seine Zeit im Heim; Lilly, Ty und Flo verdankte er seinen Wandel zum Guten.

Dumonts Namen zu hören, brachte Hunter daher noch immer auf die Palme. „Was hat der alte Mistkerl denn jetzt schon wieder vor? Wobei braucht er Mollys Hilfe?“

Anna Marie kniff die Lippen zusammen. „Ts, ts. Sie wissen doch, dass ich solche Auskünfte nicht weitergeben darf.“

Hunter lächelte über die spöttische Herausforderung, die in ihrer Stimme lag. Anna Marie und er liebten es gleichermaßen, Informationen aus anderen herauszukitzeln – egal wie. „Hat Mr. Dumont irgendwelche offiziellen Dokumente bei Gericht ausgefüllt?“

Anna Marie grinste. „Nun, bisher nicht.“

„Was ist dann gegen so ein bisschen Gerichts-klatsch einzuwenden?“ Hunter wollte jetzt unbedingt in Erfahrung bringen, zu welchem Zweck Dumont einen Anwalt brauchte, warum er Molly hinzuzog und wem der Mistkerl diesmal schaden wollte.

„Gutes Argument. Sie sind ein kluger Junge. Sind Sie sicher, dass Sie zu jung für mich sind?“, fragte sie und kniff ihn spielerisch in den Arm.

„Ich schätze, Sie sind zu jung für mich. Ihre Energie würde mich fertigmachen“, lachte er auf. Er wusste nicht, wie alt sie war, doch er schätzte sie auf Mitte sechzig. Sie war geistig jung geblieben.

Sie schlug mit der Hand auf den Tresen und kicherte.

„Na los, spucken Sie’s schon aus.“ Er sah ihr an, dass sie es kaum erwarten konnte, ihr Geheimnis loszuwerden.

„Nun, da Sie so nett fragen: Ich habe Molly vorhin am Telefon gehört. Marc Dumont hat vor, Ansprüche auf den Treuhandfonds seiner Nichte zu erheben.“

„Was?“, fragte Hunter verblüfft. Er glaubte, sich verhört zu haben.

„Da die Frist fast abgelaufen ist, will er sie vor Gericht offiziell für tot erklären lassen. Sie wissen ja, dass man keine Leiche gefunden hat, nachdem das Auto in die Dead Man’s Drift gestürzt ist.“ Anna Marie benutzte den Namen, den die Bewohner von Hawken’s Cove der Klippe samt dem darunterliegenden See nach Lillian Dumonts Tod gegeben hatten.

Hunter wurde schwindelig. Es verging kein Tag, an dem er nicht an Lilly dachte, an jene schicksalhafte Nacht und an seine Rolle bei ihrem Verschwinden. Er würde sie immer vermissen, ihr Lachen, ihre Freundschaft. Dass er Dumonts Namen seit Jahren nicht mehr gehört hatte, hatte ihm dabei geholfen. Hunter wollte das Thema vermeiden, und bis heute war ihm das auch problemlos gelungen. Dumont lebte seit Jahren zurückgezogen im Haus von Lillys Eltern und hatte keinerlei Aufmerksamkeit erregt. Und nun musste Hunter innerhalb von fünf Minuten erfahren, dass der Mann Mollys Mutter heiraten würde und außerdem vorhatte, Lilly Dumont für tot zu erklären, um Zugriff auf ihren millionenschweren Treuhandfonds zu erhalten.

Sein Timing hätte nicht schlechter sein können. Ausgerechnet in dem Moment, in dem Molly ein Date mit Hunter offenbar zumindest in Erwägung zog, tauchte Dumont wieder auf und trat ihm in den Weg. Der Mistkerl hatte sich nicht verändert. Er hatte sich nur versteckt und auf den Zeitpunkt gewartet, zu dem die drei Freunde glaubten, ihre Vergangenheit endgültig hinter sich gelassen zu haben. Dumont hatte ihr Leben schon einmal verändert, und Hunter befiel eine merkwürdige Ahnung, als würde auch die neuerliche Begegnung keinen von ihnen unversehrt lassen.

Tyler Benson war kein Morgenmensch. Er arbeitete lieber spätabends im „Night Owl’s“, als einen Nineto-Five-Job anzunehmen. Von seinem Freund Rufus, dem die Bar gehörte und der es begrüßte, wenn Ty ab und zu aushalf, hatte er die Wohnung darüber gemietet. Wenn er nicht seinem Freund zuliebe hinter dem Tresen stand, arbeitete Ty als Privatdetektiv – sowohl in seiner Wohnung als auch in seinem kleinen Büro gegenüber vom Gerichtsgebäude. Die Ortsansässigen fanden Ty, wo auch immer er sich gerade aufhielt, und er mochte die Freiheit und Spontaneität in seinem Leben. Am meisten gefiel ihm, dass er unabhängig war und niemandem auf der Tasche lag.

Sein Einkommen reichte, um sich die Fälle auszusuchen, die ihn interessierten. Die anderen gab er an Derek weiter, einen frischgebackenen Privatdetektiv, der neu in der Stadt war und Tys Namen brauchte, um sich einen guten Ruf zu erarbeiten. Derek war sein Angestellter, nicht sein Konkurrent in der kleinen Stadt, und diese Situation war für beide von Vorteil. Tatsächlich liefen die Geschäfte immer besser, sodass Ty allmählich eine Bürokraft und einen weiteren Privatdetektiv engagieren musste.

Ty zapfte ein Bud und stellte es dem Gast auf den Tresen. Er blickte auf die Uhr. Erst sieben. In der Baseballsaison und mit den Yankees gegen die Red Sox auf dem Spielplan würde die Bar innerhalb einer halben Stunde total überfüllt sein. Aber im Moment kroch die Zeit geradezu, und er gähnte verstohlen.

„In etwa fünf Minuten wirst du dir wünschen, dass das Leben so langweilig ist, wie du es im Moment offensichtlich findest.“ Hunter, Tys ältester Freund, glitt auf einen Barhocker am Tresen.

Ty grinste. „Irgendwie bezweifle ich, dass deine Erlebnisse bei Gericht heute meine Lebensgeister wecken.“ Er lachte und griff nach dem guten Martini, den sein Freund in den letzten Tagen sowohl dem Fass- als auch dem Flaschenbier vorgezogen hatte.

Der andere schüttelte den Kopf. „Jack Daniels. Pur.“

Ty zog überrascht eine Augenbraue hoch. „Da muss ja was Großes im Gange sein, wenn du deinen gepflegten Drink für härteren Stoff eintauschst. Und dabei wollte ich dir gerade zu deinem gewonnenen Fall gratulieren, doch wenn du feiern wolltest, würdest du keinen Whiskey bestellen.“

Hunters Gesicht blieb umwölkt. Er schien mit den Gedanken meilenweit weg zu sein und dachte ganz offensichtlich nicht an seinen großen Erfolg von heute.

Ty ging davon aus, dass er früh genug erfahren würde, was seinen Freund belastete. Wenn Hunter ein Problem hatte, grübelte er immer ziemlich lange darüber nach, bevor er sein Herz ausschüttete.

„Kannst du dich daran erinnern, wie ich als Pflegekind zu euch kam und mit dir das Zimmer teilte?“, fragte Hunter.

Ty war überrascht. „Na klar erinnere ich mich. Aber das ist lange her, und es hat sich viel verändert. Zum Beispiel sahst du damals anders aus. Herrje, du warst jemand anderes!“

Daniel Hunter war als sehr reizbarer und verschlossener Sechzehnjähriger zu den Bensons gekommen. Für ihn war damals klar gewesen, dass niemand auf der Welt ihn lieben würde. Er hatte sich geirrt. Hunter war fast ein Jahr bei Tyler und seiner Mutter geblieben und für beide zu einem Teil der Familie geworden.

Hunter nickte. „Ich versuchte, anders zu werden. Irgendwie besser.“

Ty blickte den Freund an und verstand seine Begründung. Er hatte sich sehr angestrengt, um ein aufrechter Anwalt und ein geachtetes Mitglied der Gemeinde zu werden – und es war ihm gelungen. Heute Abend trug er dunkle Jeans, die neu und gebügelt wirkten, dazu ein schickes Rugby-Shirt. Für Hunter war seine Kleidung ein Ausdruck des Mannes, zu dem er sich entwickelt hatte.

„Du magst dich zwar anziehen wie ein adretter Collegeboy, aber im Herzen bleibst du ein Straßenjunge,“ neckte ihn Ty. Doch waren sie gerade deshalb all die Jahre so eng befreundet geblieben. „Was ist denn passiert, dass du gerade jetzt die Vergangenheit heraufbeschwörst?“, fragte Ty.

„Einiges. Und nicht nur ich muss mich erinnern, sondern ich möchte, dass auch du zurückdenkst.“

„Ich erinnere mich, wie Mom dich aufgenommen hat“, erwiderte Ty.

„Wir waren so unterschiedlich, dass ich dachte, du würdest mich im Schlaf umbringen“, lachte Hunter trocken.

„Du kannst froh sein, dass ich das nicht getan habe.“ Ty grinste. Seine Erinnerung an Hunters erste Nacht bei den Bensons war immer noch sehr lebendig.

„Das Kind in der vorherigen Pflegefamilie hatte mir in den Hintern getreten, kaum dass seine Mutter aus der Tür war. Du hast mir nur ein Kissen zugeworfen und mich gewarnt, nicht zu schnarchen“, schmunzelte Hunter.

„Was du dennoch getan hast.“ Ty lachte auf.

Äußerlich hätten die beiden nicht unterschiedlicher sein können – Ty mit seinem langen dunklen Haar und der olivfarbenen Haut seiner Mutter und Hunter mit seinem sandfarbenen Haar und der blassen Haut. Doch sie hatten sich gefunden. Sie waren einander ähnlich genug, um sich zu einer Allianz zusammenzuschließen. Denn Ty fasste genauso schwer Vertrauen wie Hunter.

Wie konnte er auch, wo doch die gebrochenen Versprechen seines Vaters seine ganze Kindheit bestimmt hatten? Natürlich werde ich bei deinem Spiel dabei sein. Ich hole dich vom Training ab. Ja, ja – wenn ihn nicht seine Spiel- und Wettsucht davon abgehalten hätten, dachte Ty bitter. Sein Vater war notorisch unzuverlässig gewesen. Trotzdem war Ty auf den letzten Tritt nicht gefasst gewesen.

Er war in der Woche zuvor gerade neun geworden, als sein Vater ihm versprochen hatte, ihn vom Basketballtraining abzuholen. Ty war nicht überrascht, als er mitten im Winter allein auf dem Parkplatz stand. Es war ja nicht das erste Mal. Also kauerte er sich unter einen Laternenmast und wartete darauf, dass sein Vater mit den üblichen Entschuldigungen und Ausflüchten auftauchte. Als das nicht geschah, lief Ty schließlich zum nächsten Geschäft, um von dort seine Mutter anzurufen. Gemeinsam fanden sie heraus, dass sein Vater sich aus dem Staub gemacht hatte.

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Joe Benson einen Brief hinterlassen. Zurück blieb auch ein enttäuschter Ty, der Versprechen fortan nur noch misstraute. Bis Hunter in seine Familie kam und wenig später auch Lilly.

Bevor er sich weitere Gedanken gestattete, wandte er sich wieder seinem Freund zu. „Was führt dich denn ausgerechnet jetzt zurück in die Vergangenheit?“, fragte Ty und goss seinem Freund den gewünschten Whiskey ein.

Hunter lächelte grimmig. „Du solltest dir auch einen einschenken.“

Ty hob die Augenbraue. „Warum?“

Hunter beugte sich vor und raunte leise: „Es geht um Lilly.“

Allein bei ihrem Namen wurde Ty von Emotionen überwältigt. In seinem Kopf begann es zu pochen. Weder er noch Hunter hatten etwas von Lilly gehört seit jener Nacht, in der sie abgehauen war. „Was ist los?“

Hunter atmete tief durch, bevor er antwortete. „Dumont will sie offiziell für tot erklären lassen, um Anspruch auf ihren Treuhandfonds erheben zu können.“

Ty musste die Worte gar nicht erst sacken lassen, sondern schlug spontan mit der Faust auf den Tresen. „Dieser Hurensohn.“

Die alte Wut und Verbitterung, die Ty lange Jahre empfunden und dann begraben hatte, wallten wieder in ihm auf. Dumont mochte Lilly in Tys Leben gebracht haben, doch er war auch der Grund, warum Ty sie für immer verloren hatte. Das würde er dem Mann niemals verzeihen, ebenso wenig wie die Misshandlungen, die er Lilly angetan hatte, bevor sie zu den Bensons kam.

Das Blut pochte in seinen Schläfen, als die Vergangenheit wieder zum Leben erwachte und seine Gefühle ihn überwältigten. Erst war Hunter in sein Leben getreten und hatte irgendwie die Mauer durchbrochen, die er nach dem Weggang seines Vaters um sich errichtet hatte. Danach war Lilly gekommen, und sein Verteidigungswall war vollständig in sich zusammengebrochen. Er hatte dafür mit vielen einsamen Jahren bezahlt, doch er bereute es nicht, Lilly getroffen und ihr nahe gewesen zu sein.

Für eine kurze Zeit hatte er sein Herz öffnen können. Vom Einzelgänger war Ty zu einem Menschen geworden, der mit seinem besten Freund und seiner besten Freundin herumgezogen war. Zumindest in Gedanken war sie für ihn damals seine beste Freundin gewesen, auch wenn er und Lilly niemals die Chance gehabt hatten, die unter der Oberfläche brodelnden Gefühle auszuleben. Vielleicht waren sie schon damals trotz ihrer Jugend so klug gewesen, die Freundschaft vorzuziehen. Vielleicht hatten sie einfach nur nicht genug Zeit gehabt. Tyler würde es niemals erfahren. Denn allzu bald war der Brief von ihrem Onkel gekommen, in dem er angekündigt hatte, seine Nichte wieder unter seine Obhut nehmen zu wollen. Daraufhin hatten die drei Freunde ihren Plan geschmiedet und in die Tat umgesetzt.

„Kaum zu glauben, dass Dumont sich das nach all den Jahren traut, oder?“, fragte Hunter.

Ty blickte gen Himmel. „Ich wünschte, wir hätten es kommen sehen.“

Hunter verdrehte die Augen. „Und das von dem Mann, der darauf bestanden hat, dass wir niemals über jene Nacht sprechen?“

„Halt die Klappe“, murmelte Ty, der sich über seine eigenen Worte von damals ärgerte.

Denn sein Freund hatte recht. Er hatte gedacht, Lilly würde aus seinem Leben verschwinden, wenn er nie wieder über sie spräche. Und er hatte gehofft, dass er sie vergessen könnte.

Ich schwöre es. Ihre zärtlichen Worte holten ihn ein. Bei ihrem Abschied hatte sie versprochen, dass sie ihn niemals vergessen würde. So sehr er es versucht hatte – auch ihm war es nicht gelungen, sie aus seiner Erinnerung zu verbannen. Egal wie schmerzhaft der Gedanke an das war, was hätte sein können, hatte er oft an Lilly gedacht – und tat es noch immer.

Von der Minute an, als sie ihre Baseballkappe aufgesetzt hatte und verschwunden war, hatte Ty nichts lieber gewollt, als mit ihr zu gehen. Etliche Tage hatte er mit dem Gedanken gespielt, ihr zu folgen. Doch er war zu Hause geblieben, weil seine Mutter ihn brauchte. Ty wusste, dass Flo es nicht verkraftet hätte, wenn ihr Sohn gegangen wäre, nicht so kurz nach Lillys Verschwinden. Sie verdiente etwas Besseres, als dass ihr zweimal hintereinander das Herz gebrochen wurde. Dreimal sogar, wenn man berücksichtigte, dass Hunter ihnen ebenfalls weggenommen worden war. Doch Ty hatte Lilly seitdem jeden einzelnen Tag vermisst.

Jahre später hatte er der Versuchung nachgegeben. Er kontaktierte einige Cops in New York und forschte mit ihrer Hilfe nach dem Verbleib von Lacey Kinkaid. Unter diesem Namen war sie abgetaucht. Es war überraschend einfach gewesen zu erfahren, dass sie am Leben war und es ihr gut ging.

Ty hatte es dabei bewenden lassen. Er hatte keinen Kontakt zu ihr gesucht. Ganz offensichtlich ging es ihr gut in New York, und er sah keinen Sinn darin, die alten Geister heraufzubeschwören. Schließlich hatte Ty selbst auf dem eindeutigen Bruch bestanden. Und obwohl der Vorschlag von ihm gekommen war, hatte sie seine Anweisungen befolgt. Sie hatte niemals Kontakt zu ihm aufgenommen. Auch nicht, als sie erwachsen geworden war, ihren einundzwanzigsten Geburtstag gefeiert und nichts mehr von ihrem Onkel zu befürchten hatte. Und auch nicht Jahre später, als sie eine unabhängige Frau war, die ihre eigenen Entscheidungen traf.

In den Nächten, in denen er daran dachte, redete er sich ein, dass seine Gefühle für sie nicht mehr gewesen waren als „jugendliche Schwärmerei“ – so nannten die Eltern von davongelaufenen Teenagern, wie er sie heute oft aufspürte, die hormonellen Verirrungen ihrer Kinder. Und er versuchte, sie sich selbst auszureden: Sie konnte nicht so hübsch sein, wie er sie in Erinnerung hatte. Ihre Haut konnte nicht so weich sein. Ihr Duft würde ihm nicht mehr die Sinne rauben. All diese Dinge mussten eine Illusion sein, Projektionen dessen, was Lilly damals gewesen war. Eine wohlhabende Erbin, deren Vormund sie aus dem Haus getrieben und ihr das Vermögen vorenthalten hatte, sodass sie auf sich gestellt war und darauf angewiesen, dass sich jemand um sie kümmerte.

Ty hatte diese Rolle bereitwillig übernommen, doch tief in seinem Inneren wusste er, dass Lilly stärker war, als er glaubte, und ihn nicht so sehr brauchte, wie er sich das wünschte. Sie war in die Stadt gegangen und hatte sich dort eine Existenz aufgebaut. Sie war keinesfalls die zerbrechliche Prinzessin, die er auf ein Podest gehoben hatte – Gott sei Dank war sie das nicht, sonst hätte sie es nicht geschafft. Während er von dem Geld gelebt hatte, das seine Mutter niemals hätte annehmen dürfen …

„Ich wusste, dass das hier für keinen von uns einfach sein würde“, sagte Hunter. „Aber du bist etwas grün um die Nase. Geht es dir gut?“

Ty räusperte sich. „Ich bin in Ordnung. Wie hast du das mit Dumont erfahren?“

„Indirekt durch Molly Gifford.“

„Die Kleine, die du vom Studium her kennst?“

Hunter nickte. „Ich lief ihr heute im Gerichtsgebäude in die Arme.“

„Hat sie schon in ein Date eingewilligt?“, lachte Ty, der sicher war, dass sein Freund es zumindest wieder versucht hatte.

„Nein, aber ich mache Fortschritte. Unglücklicherweise ist der Zeitpunkt für ihren Sinneswandel denkbar ungünstig. Ihre Mutter wird Dumont heiraten, was sie zu meiner einzigen Informationsquelle über den Mann macht.“ Er rutschte unbehaglich auf seinem Sitz hin und her. Offensichtlich gefiel ihm die Rolle, die er übernehmen sollte, nicht sonderlich.

„Kein Witz? Mollys Mutter heiratet den Mistkerl?“

Statt einer Antwort kippte Hunter seinen Drink mit einem Schluck hinunter.

„Dann wirst du deinen Charme spielen lassen müssen.“

„Und sie wird mich sofort durchschauen“, erwiderte Hunter und winkte ab. Trotz seines frechen Grinsens war er offensichtlich nicht sehr erfreut über die Verbindung.

Ty schenkte seinem Freund nach. „Aber du tust es, um Lilly zu helfen?“

Hunter senkte den Kopf. „Habe ich eine Wahl? Wir drei sind miteinander verbunden. Ich habe ihr damals geholfen, und ich helfe ihr jetzt.“

Weil auch ihm Lilly am Herzen lag. In all den Jahren ihrer Freundschaft hatten sie nicht über Hunters unerwiderte Gefühle gesprochen oder über die Konkurrenz zwischen den Freunden, die niemals hatte aufbrechen können. Ein weiterer Grund, warum Lillys Rückkehr für alle Beteiligten unangenehm sein würde.

„Dann sind wir uns einig?“, fragte Ty. „Dumont hat kein Recht auf das Geld.“ Ty wiegte seinen Kopf hin und her, um die steifen Nackenmuskeln zu lockern. Doch die Anspannung blieb. Sein Leben würde sich dramatisch ändern.

„Wir sind uns einig. Doch du hast recht. Wir hätten an die Zukunft denken sollen“, sagte Hunter. „An ihren Treuhandfonds und an das, was nach vielen Jahren geschehen würde. Haben wir aber nicht. Lilly wird mit diesem Teil ihres Lebens irgendwie umgehen müssen.“

Und dabei ihrer aller Leben umkrempeln, dachte Ty.

„Lilly muss davon erfahren“, sagte Hunter mit ruhiger Bestimmtheit.

„Lacey. Sie heißt jetzt Lacey“, erwiderte Ty, der sich innerlich schon darauf vorbereitete, jener Frau zu begegnen, zu der Lilly geworden war.

„Lacey muss erfahren, dass Dumont sie offiziell für tot erklären lassen will, um mit dem Geld ihrer Eltern auf großem Fuß zu leben.“

Tys Schläfen begannen wieder zu pochen. Hunters Worte erinnerten ihn daran, dass seine Mutter genau das getan hatte.

Hunter musterte Ty argwöhnisch. „Das meinte ich nicht, und das weißt du.“

Ty zuckte die Schultern. „Vielleicht nicht, aber es war so. Wir dachten, dass Lilly ein weiteres Pflegekind sei, doch das war sie nicht. Meine Mutter bekam Geld von Dumont, damit sie Lilly aufnahm. Inoffiziell. Nichts davon taucht in den Akten auf. Er bezahlte sie, damit sie seine Nichte so lange behielt, bis diese seiner Meinung nach ihre Lektion gelernt haben würde und danach leichter zu kontrollieren wäre.“

„Deine Mutter kannte Dumonts Hintergedanken damals nicht. Sie dachte, dass sie einem Mann hilft, der nicht weiß, wie er mit seiner außer Rand und Band geratenen Nichte fertig werden soll; sie bekam dafür Geld und ermöglichte dir damit gleichzeitig ein besseres Leben. Er bot ihr eine Chance, und sie ergriff sie.“

Ty nickte. Ihn beschäftigte bis heute, was seine Mutter getan hatte. Er fühlte sich noch immer schuldig, weil sie ihren Lebensunterhalt mit Geld bestritten hatten, das eigentlich Lacey gehörte.

„Du hast deine Schuld bezahlt, auch wenn du gar keine hattest. Das College abzubrechen, war eher Selbstbestrafung, wenn du mich fragst. Wem hat es genützt?“, fragte Hunter.

„Meinem Stolz. Ich konnte mir jeden Morgen in die Augen sehen.“ Sie hatten dieses Gespräch schon oft geführt, doch Ty gab zum ersten Mal eine Erklärung für sein Verhalten ab. Er spürte, dass Hunter ihn bereits verstanden hatte.

Hunter nickte. „Das Schicksal bietet dir jetzt die Chance, Lilly das zurückzugeben, was sie verloren hat. Finde sie und sag ihr, dass sie zurückkommen soll, um Anspruch auf ihr Vermögen zu erheben.“

Ty fuhr sich mit der Hand durch das zu lange Haar. Er musste zum Friseur und wünschte, er könnte sich mit solch trivialen Dingen beschäftigen.

„Sie hat eine Menge schlechte Erinnerungen an die Zeit hier.“ Ty schenkte sich selbst einen Whiskey ein. Er trank einen Schluck und genoss die Wärme in seiner Kehle.

„Sie ist erwachsen. Es gibt hier nichts, was ihr noch Schaden zufügen kann. Außer alten Geistern“, sagte Hunter.

„Undmitdenenmüssenwiralleleben.“Tyschwenkte die Flüssigkeit in seinem Glas hin und her.

„Glaubst du, dass sie einfach zu finden sein wird?“

„Du weißt doch, wozu ich fähig bin.“ Ty setzte ein selbstgewisses Grinsen auf und erhob das Glas.

Der Witz war, dass er beim ersten Mal keinerlei Mühe gehabt hatte, sie zu finden. Lilly lebte unter dem Namen Lacey Kinkaid, doch sie benutzte ihre echte Sozialversicherungsnummer, und sie bezahlte ihre Steuern unter ihrem richtigen Namen. Wenn ihr Onkel einige Jahre später noch einmal nach ihr gesucht hätte, hätte er herausfinden können, dass aus Lilly eine erfolgreiche Geschäftsfrau geworden war. Er hatte nur keinen Grund gehabt, daran zu zweifeln, dass sie in jener schicksalhaften Nacht im tiefen dunklen Wasser umgekommen war. Zum Glück für Lacey war ihr Plan trotz ihrer Jugend erfolgreich verlaufen.

Obwohl Ty vor fünf Jahren ihre Adresse ausfindig gemacht hatte, konnte man nicht wissen, wie oft sie seitdem umgezogen war. Dennoch machte er sich nicht allzu viele Sorgen. Er hatte seine Verbindungen und seine Methoden.

Auch Hunter erhob sein Glas. „Viel Glück.“

„Irgendwas sagt mir, dass ich das brauchen werde“, erwiderte Ty und stieß mit Hunter an.

Der Widerhall der Gläser, der sonst so festlich klang, hörte sich plötzlich wie eine Warnung an.

2. KAPITEL

Lacey Kinkaid betrachtete ihre jüngste Neueinstellung, eine junge spanische Frau, die gebrochen Englisch sprach und keinerlei Erfahrung mit Haushaltsarbeit rund um New York oder auch irgendwo anders hatte. Doch sie brauchte den Job dringend, und Lacey wusste genau, wie sich die Verzweiflung anfühlte, die sie in Serenas Augen sah. Aus diesem Grund hatte sie sie dennoch eingestellt. Sie hatte sie auch auf ihrem Sofa übernachten lassen. Das Gleiche hatte einst Marina für sie getan und ihr damals sehr damit geholfen.

Mit einer Kopfbewegung versuchte sie die Vergangenheit abzuschütteln, wie sie es immer tat, wenn Erinnerungen in ihr hochstiegen. Die Gegenwart war alles, was zählte, und in der Gegenwart zählte vor allem der Job. Wenn Lacey nicht gerade einen der verschiedenen Aufträge ihrer Klienten bearbeitete, glättete sie die Wogen zwischen Angestellten und Kunden ihrer kleinen Firma mit dem treffenden Namen „Odd Jobs“ – Gelegenheitsarbeit.

„Was genau ist das Problem?“, fragte Lacey Amanda Goodwin, eine Klientin, die Laceys Dienste jede Woche in Anspruch nahm und eine wertvolle Quelle für weitere Empfehlungen war.

„Sie“, sagte Amanda und deutete mit ihrem manikürten Zeigefinger auf Serena, „versteht kein Englisch. Als Reinigungskraft ist sie wunderbar, doch ihr Englisch ist grauenhaft. Ich musste ihr etwas erklären, also sprach ich Spanisch mit ihr. Sie brach in Tränen aus.“

Lacey nickte. Serena hatte nah am Wasser gebaut, was im Job Probleme bereiten konnte. Während sie Serena eine tröstende Hand auf die Schulter legte, fragte sie Amanda: „Was genau haben Sie zu ihr gesagt? Auf Spanisch bitte, falls es Ihnen nichts ausmacht.“

In ihrer ersten Zeit in New York hatte Lacey so viel Spanisch gelernt, dass sie es fast fließend sprach. Schon in der Highschool hatte sie ausgezeichnete Noten gehabt; die Sprache flog ihr förmlich zu. Das war hilfreich, denn sie brauchte einen Job, und der einzige Mensch, der sie einstellte, war eine Frau namens Marina. Marina leitete einen Reinigungsservice, bei dem vor allem Immigrantinnen arbeiteten. Sie brachte ihr in den Abendstunden alles bei, was Lacey nicht wusste, sodass sie schließlich nicht nur Spanisch sprechen konnte, sondern auch ihr High-school-Diplom erhielt.

Nachdem sie in New York angekommen war, hatte sie den Namen Lacey Kinkaid angenommen und ihn aus Angst, ihr Onkel könnte sie sonst finden, konsequent benutzt. Später, als sie erwachsen war und ihre eigene Firma gründete, nannte sie sich zwar weiterhin so, in den offiziellen Dokumenten jedoch stand der Name Lilly Dumont. Einige wenige Leuten fragten nach, doch die meisten kümmerten sich nicht darum, und heute kam ihr Onkel sowieso nicht mehr auf die Idee, nach ihr zu suchen.

Sie blickte ihre Klientin an und bat sie noch einmal, das Gesagte zu wiederholen.

„Ich wollte ihr sagen, dass sie den Hund nicht füttern soll.“ Die Frau deutete auf den Spitz, der als haariges Knäuel zu ihren Füßen lag. „Also sagte ich: ‚Por favor no comas al perro‘.“ Voller Befriedigung über ihre Fähigkeit, mit der Putzhilfe zu kommunizieren, verschränkte Amanda die Arme vor der Brust.

Lacey brach in Gelächter aus, während aus Serena gleichzeitig ein Sturzbach in weinerlichem Spanisch hervorbrach, das selbst Lacey nicht verstand. Sie erkannte nur einige wenige Wörter, die aber eindeutig davon zeugten, wie wütend und gekränkt Serena war.

„Sehen Sie? Was ist los? Was hat sie denn?“, fragte Amanda.

Lacey fuhr sich beruhigend über den Nasenrücken, bevor sie Amandas Blick begegnete. „Weil Sie gesagt haben ‚Bitte iss nicht den Hund‘ statt ‚Bitte füttere nicht den Hund‘. Das heißt auf Spanisch nämlich ‚Por favor, no le des comida al perro‘ – was wörtlich übersetzt heißt ‚Bitte gib dem Hund kein Futter‘“, erklärte Lacey, die sich wieder an ihre Spanischstunden erinnerte. „Serena ist gekränkt, weil Sie denken, dass sie so etwas tun würde.“ Lacey musste sich ein erneutes Lachen verbeißen.

Amanda, die wirklich eine anständige Arbeitgeberin war und Hilfskräfte sehr nett behandelte, errötete unterdessen vor Scham. „Ich hatte meine Tochter um Hilfe gebeten. Sie hat Spanisch in der Schule“, erklärte sie.

Immerhin war Amanda so peinlich berührt von ihrem Fehler, dass sie sich nicht über Serenas unangebrachte Reaktion beschwerte. Damit würde sich Lacey später befassen müssen. Für den Moment beschränkte sie sich darauf, Serena das Missverständnis auf Spanisch zu erklären, und wandte sich dann wieder ihrer Klientin zu.

„Sie müssen sich keine Vorwürfe machen. Es gibt tatsächlich kein Wort für füttern, was vermutlich zu dem ganzen Durcheinander geführt hat.“

„Es tut mir leid, dass Sie den ganzen Weg hierher machen mussten“, sagte Amanda.

„Mir nicht. Ich wünschte, alle Probleme könnten so leicht gelöst werden.“ Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Serena und Amanda auch ohne sie klarkamen, machte sich Lacey auf den Weg nach Hause.

Ihre Hündin Digger erwartete sie an der Tür und wedelte wie verrückt mit dem Stummelschwänzchen. Lacey liebte nichts mehr, als wenn Digger beim Nachhausekommen vor Aufregung immer wieder an ihr hochsprang.

„Hey, du Süße“, sagte Lacey und tätschelte ihr den Kopf.

Mit dem Hund auf den Fersen warf Lacey ihre Tasche aufs Bett und drückte den Knopf des Anrufbeantworters. Die einzige Nachricht stammte von Alex Duncan, einem Investmentbanker, den sie über einen Klienten kennengelernt hatte und mit dem sie seit Kurzem liiert war. Er war gut zu ihr, lud sie zu Broadway-Shows und in Edelrestaurants ein, und er machte ihr teure Geschenke, was sie mehr als alles andere in den letzten Jahren wieder an ihre Kindheit und ihre Jugend vor dem Tod ihrer Eltern erinnerte. Er weckte in ihr eine Sehnsucht nach Dingen, die sie vermisst hatte – nach Sicherheit und Geborgenheit, nach Wohlstand und Stabilität.

Er wollte auf ganz altmodische Weise für sie sorgen, indem er ihr ein Heim und eine Familie bot. Lacey sehnte sich nach so etwas, seit sie ihre Eltern verloren hatte, denen sie so nahe gewesen war. Ihre Mom Rhona war immer da gewesen, wenn Lacey nachmittags von der Schule kam, und ihr Dad Eric hatte sie jeden Abend zu Bett gebracht. Es war traumatisch gewesen, sie zu verlieren, und ihre ganze Welt war aus den Fugen geraten. Unschuldig wie sie war, hatte sie sich an ihren Onkel Marc gewandt, und er hatte sie verraten.

Außer Ty und Hunter hatte sie jahrelang niemanden an sich herangelassen. Doch sie wünschte sich Nähe zu einem anderen Menschen. Sie sehnte sich nach Zuneigung und nach jemandem, zu dem sie jeden Abend nach Hause kommen konnte. Alex war ein guter Mann. Der beste sogar. Dennoch hatte er ihre Mauer noch nicht überwunden. Und sie hatte seinen Heiratsantrag nicht angenommen.

Noch nicht. Irgendetwas, das sie nicht benennen konnte, fehlte. Egal wie sehr sie ihn mochte und wie sehr sie es versuchte – sie konnte nicht mit Überzeugung sagen, dass sie ihn liebte. Sie hatten nun schon seit einer ganzen Zeit Sex miteinander – trotzdem vermisste sie eine tiefere Verbindung.

Doch Alex hatte Verständnis für ihre steinige Vergangenheit, auch wenn er längst nicht alle Details kannte, und er war bereit, ihr Zeit zuzugestehen, weil er sie liebte. Und weil er überzeugt war, dass Liebe mit der Zeit wachsen konnte. Lacey wollte dies nur allzu gern glauben und hatte eine Zukunft mit ihm deshalb nicht ausgeschlossen.

Mit einem Stöhnen löschte sie den Anruf und zog sich dann rasch aus, um eine lange heiße Dusche zu nehmen. Sie hatte am Nachmittag für eine berufstätige Mutter im Supermarkt eingekauft und danach ein Rudel Hunde auf der Fifth Avenue ausgeführt, bevor sie losgefahren war, um das Missverständnis zwischen Serena und Amanda aufzuklären. Lacey hatte sich schon den ganzen Tag auf ein bisschen freie Zeit zu Hause gefreut. Zeit, in der sie nicht über Alex oder ihre Firma nachdenken wollte.

Ein halbe Stunde später machte sie sich, eingehüllt in einen Frotteebademantel, in der Küche daran, Eier zu verrühren. Sie genoss es, leise Musik zu hören und in ihrer eigenen Küche zu kochen, bis es an der Tür klingelte. Digger begann sofort zu kläffen und lief zur Tür.

Lacey seufzte. Sie konnte nur hoffen, dass Alex nicht überraschend zu Besuch kam, um über alles zu reden. Sie machte den Herd wieder aus und zog die Pfanne von der heißen Platte.

Dann ging sie zur Tür und blinzelte durch den Spion. Alex hatte blondes Haar und trug stets einen Anzug oder zumindest ein Hemd. Der Typ draußen aber hatte langes dunkles Haar, trug eine alte Jeansjacke über der Schulter und wirkte vertraut.

Sie blinzelte und musterte den Mann erneut. Oh herrje! Oh mein Gott. Ty.

Mit bebenden Händen öffnete sie die Wohnungstür. „Ty?“

Sie hätte ihn überall erkannt. Sie sah ihn nicht nur in ihren Erinnerungen, sondern auch in ihren Träumen.

Er nickte, doch bevor er antworten konnte, schnüffelte Digger schon an seinen Füßen und stupste immer wieder mit der Schnauze an sein Bein, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

„Digger, aus!“, schalt Lacey, doch der Hund gehorchte nicht.

Lacey war schon immer der Meinung gewesen, dass man einen Mann nach seinem Verhalten gegenüber einem Hund beurteilen konnte, und grinste, als Ty sich vorbeugte, um Digger zu tätscheln. Er hatte sich offenbar nicht verändert. Er hatte noch immer ein weiches Herz für die Bedürftigen, so wie sie einst eine gewesen war. Was sie an die quälende Frage erinnerte, die sie noch lange nach ihrem Verschwinden aus Hawken’s Cove beschäftigt hatte. Hatte Ty dasselbe merkwürdige Begehren und dieselbe Verliebtheit empfunden wie sie, oder war sie ähnlich wie Hunter nur eine weitere verirrte Seele gewesen, die er unter seine Fittiche genommen und beschützt hatte?

Sie musterte Ty und erkannte, dass er noch immer die Fähigkeit hatte, sie in ihrem Innersten zu berühren. Verschiedenste Emotionen stiegen in ihr hoch. Die Freude darüber, ihn zu sehen, wurde zu Herzenswärme und schließlich zu einem flauen Gefühl im Magen, das sie lange nicht mehr empfunden hatte.

Digger, die die Aufmerksamkeit des Fremden genoss, machte Männchen und bettelte um mehr.

„Okay, du schamloses Flittchen. Lass Ty jetzt mal in Ruhe“, sagte Lacey und zog den Hund von ihm fort.

„Er ist eine Sie?“, fragte Ty überrascht.

Lacey nickte. „Sie hat zwar nicht die Figur, die man sich als Frau wünscht, aber sie ist eine Süße.“

„Sie hat auch keinen Namen, den man sich als

Frau wünscht“, erwiderte er lachend.

Seine Stimme war tiefer geworden, bemerkte sie. Die leichte Heiserkeit darin ließ ihr Herz schneller schlagen.

„Ich fand sie, wie sie im Abfall rumwühlte, daher der Name. Das arme Ding war ganz ausgehungert. Ich nahm sie auf, fütterte sie und versuchte, ihre Besitzer ausfindig zu machen. Vergebens.“ Sie zuckte die Achseln und kraulte Digger unterm Kinn. „Seitdem frisst sie mir die Haare vom Kopf.“ Digger war Laceys Ein und Alles. Sie ließ das Halsband der Hündin los. „Lauf!“, kommandierte sie, und der Hund lief in die Wohnung.

Lacey ging einen Schritt zurück, damit Ty eintreten konnte, und registrierte den warmen, würzigen Duft seines Rasierwassers, als er an ihr vorbeiging. Ihr Körper straffte sich bei dem unvertrauten und doch einladenden Geruch.

Als sie die Tür schloss, wandte Ty sich um und betrachtete sie mit unverhohlener Neugier von oben bis unten. Sie schob die Kragenenden ihres Bademantels zusammen, doch das änderte nichts daran, dass sie darunter nackt war.

Neugierig wie Lacey war, konnte sie nicht widerstehen und musterte Ty ebenfalls. Er war ein attraktiver Junge gewesen, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. In den letzten zehn Jahren war er gereift. Seine Schultern wirkten breiter, sein Gesicht schmaler, und die haselnussbraunen Augen waren düsterer, als sie sie in Erinnerung hatte. Er ist sehr männlich und zum Umfallen attraktiv, dachte Lacey.

Autor

Carly Phillips

Carly Phillips entschied sich trotz eines abgeschlossenen Jurastudiums gegen eine Karriere als Anwältin und für das Leben als Hausfrau und Mutter. Ihr Faible fürs Lesen verwandelte sich schon bald in eine Leidenschaft fürs Schreiben. 1999 begann Carly schließlich ihre Laufbahn als professionelle Autorin. Bis heute hat sie 25 Romane verfasst,...

Mehr erfahren