Julia Weihnachtsband Band 30

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EIN FEST DER LIEBE FÜR UNS ZWEI? von MILNE, NINA
Lichterglanz, der Duft von gerösteten Maronen, Zimt und Nelken … Verzückt plant Historikerin Etta einen viktorianischen Weihnachtsmarkt auf Derwent Manor. Doch den Küssen des attraktiven Hausherrn sollte sie besser widerstehen! Denn der Earl of Wycliffe gilt als Playboy …

MEIN VERFÜHRERISCHER WEIHNACHTSENGEL von COLTER, CARA
Junggeselle Tyler Halliday glaubt zu träumen: In seinem Wohnzimmer funkelt ein Christbaum, und eine Frau mit Baby im Arm erwartet ihn. Was führt diesen blonden Engel zu ihm? Arbeitet Amy wirklich als Haussitter und hat sich nur in der Adresse geirrt?

WIE EIN HOFFNUNGSSCHIMMER IN DUNKLER WINTERNACHT von WILSON, SCARLET
Wenn Weihnachten naht, fühlt sich der attraktive Arzt Brad Donovan besonders verloren. Ein Flirt mit der hübschen Cassidy scheint da die perfekte Ablenkung - bis er sich heimlich verliebt. Doch wenn er ihr sein trauriges Geheimnis gesteht, ist er wieder allein, oder?


  • Erscheinungstag 06.10.2017
  • Bandnummer 30
  • ISBN / Artikelnummer 9783733709136
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Nina Milne, Cara Colter, Scarlet Wilson

JULIA WEIHNACHTEN BAND 30

NINA MILNE

Ein Fest der Liebe für uns zwei?

Als Gabriel Derwent, Earl of Wycliffe, die bezaubernde Etta auf seinem Anwesen vor ihrem Ex in Sicherheit bringt, wächst die sinnliche Spannung mit jedem Tag. Doch auch wenn das Fest der Liebe naht und ihre Küsse ungeahnte Sehnsüchte in Gabriel wecken, kann er Etta nur eine Affäre bieten. Heiraten wird er eine Frau aus seinen Kreisen – keine Bürgerliche!

CARA COLTER

Mein verführerischer Weihnachtsengel

Meterhoher Schnee, eisige Kälte, eine einsame Ranch und ein wortkarger Cowboy: So hat sich Singlemom Amy ihr Weihnachtsfest nicht vorgestellt! Aber je länger sie in Tylers Haus festsitzt, umso heißer knistert nicht nur das Feuer im Kamin. Als er sie überraschend zärtlich in seine starken Arme zieht, wünscht sie insgeheim, dass der Schneesturm niemals vorüberzieht …

SCARLET WILSON

Wie ein Hoffnungsschimmer in dunkler Winternacht

„Zu Weihnachten sind Sie eine Braut!“ Warum fallen Cassidy die Worte der Wahrsagerin ausgerechnet in der Nähe des unverschämt gut aussehenden Arztes Brad Donovan ein? Mit einem erklärten Weihnachtshasser wie ihm würde sie sich doch im Traum nicht einlassen! Es sei denn, in der romantischen Adventszeit wird ein Wunder geschehen …

1. KAPITEL

Gabriel Derwent starrte den Mann an, der ihm aus dem gerahmten Spiegel des luxuriösen Hotelzimmers entgegenblickte, und nickte zufrieden. Das makellose weiße Hemd saß korrekt unter dem schwarzen Smoking, und auch an den kurzen blonden Haaren gab es nichts auszusetzen. Kein Anzeichen des inneren Aufruhrs, in dem er sich seit fast einem Jahr befand. Sehr gut. Er konnte es nun wirklich nicht gebrauchen, dass alle Welt ihm die Wahrheit ansah. Dass irgendjemand sie ihm ansah.

Den anderen Gästen des Adventsballs der Cavershams würde sich das erwartete Bild bieten – der ebenso elegante wie lässige und charmante Gabriel Derwent mit den markanten Gesichtszügen, Earl of Wycliffe, Erbe des Duke of Fairfax. Zweifellos wollte man wissen, wo er so lange gesteckt hatte. Er würde unbekümmert antworten. Auch, falls jemand Näheres über seine Trennung von Lady Isobel Petersen wissen wollte.

Heute Abend wurden Spenden gesammelt für einen Zweck, der Gabriel am Herzen lag. Bei der Aussicht, belanglosen Small Talk zu machen und sich den Reportern zu stellen, biss er die Zähne zusammen. Da musste er durch. Er brauchte die Kulisse, um den wahren Grund seiner Anwesenheit zu verbergen. Gabriel war hier, um jemanden aufzuspüren. Kummer schnürte seine Brust zusammen.

Hör auf, Gabe. Verzweifeln kam nicht infrage. Die Lektion hatte er schon als Kind gelernt.

Ein Klicken des Türschlosses riss ihn aus seinen Gedanken. Er drehte sich um und zwang sich zu einem Lächeln. „Hey, Schwesterherz. Alles in Ordnung?“

Cora Martinez kam näher. Ihr smaragdgrünes Kleid schimmerte. „Sag du es mir. Ich habe zweimal vergeblich geklopft und mir Sorgen gemacht.“

„Dazu gibt es keinen Grund. Übrigens siehst du bezaubernd aus.“

Sie wischte das Kompliment mit einer Handbewegung beiseite. „Lenk nicht ab. Letztes Jahr habe ich dich ein einziges Mal gesehen. Keine Ahnung, wo du warst. Plötzlich rufst du an und bittest mich, dich den Cavershams vorzustellen. Dann bekommst du auf den letzten Drücker eine Einladung zu diesem Ball. Das verstehe ich nicht.“

„Ich weiß.“

Forschend blickte sie ihn mit ihren türkisblauen Augen an. „Ist das alles?“

Gabe bemühte sein überzeugendstes Lächeln. „Ich bin wieder da. Mehr musst du nicht wissen.“

Auf keinen Fall würde er sich Cora anvertrauen. Was sollte er auch sagen? Vor neun Monaten habe ich erfahren, dass ich keine Kinder zeugen kann. Sein Leben würde nie wieder wie früher sein – jene Zukunft, die er jahrelang geplant hatte, war hinfällig. Dank archaischer juristischer Regeln starb der Titel des Duke of Fairfax, der seit Jahrhunderten vom Vater auf den Sohn überging, möglicherweise aus. Es sei denn, Gabe fand einen Erben, der in direkter Linie von einem früheren Duke of Fairfax abstammte. Da war er wieder, der Kummer. Gabe versuchte, seinen Körper zu entspannen.

„Erde an Gabe.“ Cora stemmte ihre Hände in die Seiten und tippte mit einer Schuhspitze auf den weichen Teppich. „Ich mache mir immer noch Sorgen. Du bist mein Bruder, auch wenn ich sechs Jahre jünger bin und wir uns nie nahegestanden haben.“

Nie nahegestanden haben.

Richtig. Cora und ihre Zwillingsschwester Kaitlin waren erst zwei gewesen, als die Eltern ihn ins Internat geschickt hatten. Später hielt er es für sinnlos, enge Bindungen einzugehen. Nähe führte zu quälendem Schmerz. Dazu, Menschen und das Zuhause zu vermissen. Durch Nähe wurde man schwach und machtlos.

Cora zog die Stirn kraus. „Hat es mit Dad zu tun? War sein Herzinfarkt schlimmer, als ich dachte? Oder bist du traurig wegen Isobel? Liebe kann echt kompliziert sein, aber …“

„Stopp.“

Liebe wollte er gar nicht. Für ihn war sie der Inbegriff von Nähe. Wer liebte, verlor all seine Kraft. Was Lady Isobel betraf: Die Beziehung hatte auf einem Pakt beruht. Gabe war stets klar gewesen, dass er sein Playboy-Dasein zugunsten der Pflicht aufgeben musste, und Lady Isobel hätte eine pflichtbewusste Ehefrau abgegeben. Im Gegenzug hätte sie den ersehnten Titel der Duchess erhalten und wäre Mutter des künftigen Duke of Fairfax gewesen.

Als Gabe erfuhr, dass er seinen Teil der Vereinbarung womöglich nicht erfüllen konnte, bat er Isobel, die Verlobung um ein paar Monate zu verschieben. Den Grund nannte er ihr nicht, doch sie willigte ein – um ihn anschließend in Talkshows als flegelhaften Herzensbrecher anzuschwärzen. Er wollte nicht über sie reden.

„Isobel ist Geschichte. Und was Dad angeht – ich habe mit seinen Ärzten gesprochen. Seine Prognose ist gut. Der Infarkt war ernst, aber der Stent dürfte weitere Anfälle verhindern, und Mum hat ihn ja dorthin gebracht, wo er sich erholen kann. In der Zwischenzeit halte ich die Stellung.“ Beruhigend hob Gabe beide Handflächen. „Alles im grünen Bereich. Wie gesagt: Mach dir keine Sorgen.“

Cora gab sich keine Mühe, ihre Skepsis zu verbergen. „Klar, Gabe. Wie du meinst.“ Sie drehte sich um.

Er folgte ihr eine mächtige Eichenholztreppe hinunter und durch einen holzvertäfelten Korridor mit erlesenen mittelalterlichen Wandteppichen in den Empfangssaal des Caversham Castle Hotels. Elegant gekleidete Menschen standen in dem Gewölbe und unterhielten sich. In ihr Geplauder mischten sich Gläserklirren und das leise Ploppen von Champagnerkorken.

Cora lächelte, und ihr ganzes Wesen schien plötzlich aufzuleuchten. Rafael Martinez musste in der Nähe sein. Ihr großer dunkelhaariger Ehemann bahnte sich einen Weg durch die Gästeschar und blieb neben ihr stehen.

„Gabriel.“ Rafael nickte knapp.

„Rafael. Schön, dich zu sehen.“

Ungläubig zog sein Schwager eine dunkle Braue hoch. Gabe konnte es ihm nicht verdenken. Er hatte kein Problem mit Coras Wahl, war aber auch nicht gerade mit überschwänglichen Glückwünschen zu dem Brautpaar geeilt.

Gabe ließ den Blick durch den festlich dekorierten Saal schweifen. Üppige Kränze aus grüner Stechpalme hingen an den Steinwänden, und Choräle sorgten am Vorabend des ersten Advents für unaufdringliche Hintergrundmusik. Bald war Weihnachten – das Ende jener Frist, die er sich gesetzt hatte, um zu klären, ob es außer ihm einen weiteren Erben gab.

Nicht zum ersten Mal verfluchte er die Regel, dass der Erbe aus direkter männlicher Linie abstammen musste. Ohne diesen Nachkömmling starb der Titel aus. Gabe spürte einen bitteren Geschmack im Mund.

Konzentrier dich.

Er registrierte, wie er bei seinem ersten öffentlichen Auftritt seit knapp einem Jahr zunehmend in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückte. Jetzt kam es drauf an. Kein Journalist durfte erraten, warum er diesen Ball besuchte. Er musste mit vielen Leuten reden, damit niemandem auffiel, wer sein Ziel war.

Lächelnd steuerte er auf seine Gastgeber zu – sie konnten ihm gewiss sagen, wo er die gesuchte Person fand.

Etta Mason verdrückte sich hinter eine buschige Kübelpflanze und holte so tief Luft, dass es wehtat, während sie zum x-ten Mal ihr Handy zückte.

Sie hatte einen Riesenfehler begangen. Weiteratmen, Etta. Es würde schon klappen. Cathy befand sich in Sicherheit. Bilder ihrer hübschen sechzehnjährigen Tochter stiegen vor ihr auf. Zugegeben, manchmal war es hart gewesen, doch kein einziges Mal hatte sie bereut, wie sie sich selbst als Sechzehnjährige entschieden hatte. Egal, wie hoch der Preis gewesen war.

Alles gut. Cathy ist in Sicherheit.

Das Mädchen übernachtete bei seiner besten Freundin. Tommy kam nicht an sie heran. Etta ballte ihre freie Hand zur Faust. Cathy war bis heute ohne ihren Vater ausgekommen, und so sollte es auch bleiben.

Etta hatte die Lage im Griff. Jetzt musste sie sich auf ihre Arbeit konzentrieren. Dieser Ball war wichtig, und sie hatte Ruby Caversham versprochen, vor dem Dinner eine Rede zu halten. Da gehörte es sich nicht, hinter einer Kübelpflanze zu kauern. Sie würde in ihrem rosa-weiß gestreiften Kleid hervorkommen und … gegen einen Gast mit einem breiten Brustkorb prallen.

„Entschuldigen Sie bitte. Das liegt an der Kombination von hohen Absätzen und angeborener Ungeschicklich…“

Sie brachte keine Silbe mehr heraus, als sie den Mann anschaute, dessen Füße sie fast mit ihren pinkfarbenen Absätzen aufgespießt hätte.

Kurze dunkelblonde Haare, blaugraue Augen, die im Kerzenschein glänzten und Etta in ihren Bann zogen. Ein ebenso entschlossener wie sinnlicher Mund, auf den sich ihr Blick wie von selbst heftete – erst recht, weil der Mann jetzt lächelte.

Etta blinzelte. Menschenskind! Niemand konnte bestreiten, dass dieser Mann Charisma besaß. Stopp. Endlich funktionierte ihr Gehirn wieder. Sie starrte ihr Gegenüber nicht länger an und schaltete. Gabriel Derwent, Earl of Wycliffe, Erbe des Duke of Fairfax.

Super! Ausgerechnet der erste Mann, der sie seit Ewigkeiten aus dem Konzept brachte, entpuppte sich als jemand, den sie verachtete. Na gut, sie kannte ihn nicht persönlich, aber welche Historikerin verfolgte nicht die Berichte über dieses Mitglied des Hochadels? Seine Vorfahren hatten entscheidende Momente der englischen Geschichte mitgeprägt.

Gabriel Derwents Lebensstil war Etta kein Dorn im Auge. Seine jüngsten Entscheidungen hingegen waren es schon. Vor neun Monaten hatte er den Playboy an den Nagel gehängt, Lady Isobel Petersen umworben und seinen Eltern vorgestellt. Das konnte man in allen Hochglanzmagazinen nachlesen. Ein Paparazzo hatte ihn sogar dabei fotografiert, als er sich bei einem Juwelier Verlobungsringe anschaute. Und dann das Aus! Statt der Lady einen Heiratsantrag zu machen, hatte Gabriel sie verlassen und sich ins Ausland abgesetzt.

Ein gefundenes Fressen für die Medien – bis die effizienten PR-Fachleute der Derwents einschritten. Etta wusste, wie es sich anfühlte, getäuscht zu werden und festzustellen, dass man auf eine Illusion hereingefallen war. Sie konnte Lady Isobels Schmerz gut nachempfinden. Schmerz, den dieser Mann verursacht hatte.

Ihre Augen verengten sich.

Er sah sie aufmerksam an und hielt ihr die rechte Hand hin. Etta glaubte, in seinen Augen etwas aufblitzen zu sehen. „Ich bin Gabriel Derwent.“

Ihr Blick senkte sich kurz auf seine Hand. Eine starke Hand, mit breiten Fingern. Lass das, Etta. Um keinen Preis wollte sie ihrem Gegenüber signalisieren, dass er sie durcheinanderbrachte.

Also schüttelte sie seine Hand kurz und lächelte kühl. „Etta Mason.“ Das merkwürdige Gefühl, das die Berührung in ihr auslöste, ignorierte sie. Sicher nur Einbildung.

„Etta Mason … Die renommierte Historikerin.“

Keine Frage, sondern eine Feststellung. Ein verrückter Gedanke schoss Etta durch den Kopf: Hat er mich etwa abgefangen? Lächerlich, rief sie sich zur Ordnung.

Sie nickte. „Genau.“

Flüchtig dachte sie daran, wie hart sie sich ihre Qualifikationen erkämpft hatte. An den Zustand permanenter Erschöpfung, weil sie die bestmögliche Mutter sein wollte, während sie außerdem lernen und Geld verdienen musste. Vor diesem Hintergrund gab es keinen Anlass für falsche Bescheidenheit – sie war eine der Besten ihres Fachs.

Ihr entging nicht, dass Gabriel sie schnell von Kopf bis Fuß musterte. Er wirkte erstaunt. Mein Outfit passt wohl nicht zu seinem Bild von einer renommierten Historikerin, dachte sie verärgert und sagte: „Sie sehen überrascht aus.“

Er antwortete nicht sofort. Schließlich hob er beide Hände, als wollte er sich ergeben. „Stimmt. Ich gebe zu, dass in meiner Vorstellung von einer profilierten Historikerin kein Kleid mit pinkfarbenen Streifen auftaucht. Entschuldigen Sie bitte mein Vorurteil. Wie wäre es, wenn wir noch einmal von vorn beginnen? Ich vergesse, dass Sie mich fast mit Ihren hohen Absätzen aufgespießt hätten, und Sie vergessen meine Voreingenommenheit. Abgemacht?“

Da war ihr Stichwort, um die Unterhaltung zu beenden und wegzugehen. Doch die Entschlossenheit in seinem Blick strafte sein entspanntes Lächeln Lügen. Gabriel Derwent kehrte den Charmeur heraus, und Etta wollte den Grund dafür erfahren. Sie war nicht sein Typ. Man sagte ihm Affären mit schönen, berühmten und oberflächlichen Frauen nach. Nichts Ernstes, bis zu dem Debakel mit Lady Isobel.

Warum also interessiert er sich für mich?

Lachhaft. Gabriel Derwent und eine Historikerin, die mit siebzehn alleinerziehende Mutter geworden war. Okay, das wusste er nicht, aber in diesem Ballsaal standen mehr als genug Frauen, die empfänglicher für sein umwerfendes Lächeln waren als sie. Vielleicht las sie zu viel hinein, und Gabriel knipste den Charme automatisch an, wenn er den Mund aufmachte. Ihr Instinkt sagte ihr jedoch etwas anderes. Ettas Neugierde erwachte.

„Abgemacht.“ Eine Unterhaltung konnte nicht schaden, oder? „Und wie bewerkstelligen wir das?“

„Vielleicht erzählen Sie mir etwas über sich? Ein Tag im Leben einer Historikerin?“

Er schien aufrichtig interessiert zu sein, wenngleich Etta sich das nicht erklären konnte. „Ich liebe meine Arbeit, weil jeder Tag anders verläuft. Neulich habe ich einen Schriftsteller bei Recherchen für einen historischen Roman unterstützt. Ich erstelle Familienstammbäume und helfe beim Organisieren historischer Veranstaltungen. Außerdem schreibe ich für den Blog eines Geschichtsvereins, verfasse Artikel für Fachzeitschriften, halte Gastvorlesungen …“

„Ruby hat mir erzählt, dass Sie ungemein engagiert sind.“

„Nun, genauso denke ich über Ruby. Und Ethan. Es ist beeindruckend, was sie mit ihrer Stiftung für Jugendliche tun. Ich wünschte …“ Etta brach ab. Ihre Bewunderung für Ruby und Ethan Caversham und deren Initiative, Teenagern in Schwierigkeiten zu helfen, beruhte auf eigener Erfahrung. Wie schön wäre es gewesen, wenn sie sich früher an Leute wie die Cavershams hätte wenden können. Nicht dass sie diesen Wunsch herausposaunen wollte.

„Was wünschten Sie?“

Das Mitgefühl in Gabriels Stimme überraschte Etta. Es klang fast, als könnte auch er sich in Jugendliche hineinversetzen, die in Heimen oder auf der Straße lebten. Plötzlich fühlte sie Wärme in sich aufkeimen. Albern. Gabriel Derwent war mit einem silbernen Löffel im Mund zur Welt gekommen.

„Ich wünschte, ich würde so viel Gutes tun wie die beiden“, improvisierte Etta.

„Wie ich höre, haben Sie auch schon für Ruby gearbeitet.“

Argwöhnisch fragte sie sich, ob er sich über sie erkundigt hatte. Zu ihrem Ärger fand sie die Vorstellung schmeichelhaft. Ihr Blick wanderte zu Gabriels Mund. Prompt spürte sie im ganzen Körper ein längst vergessenes Prickeln. Sie musste verrückt sein – völlig abwegig, dass sich dieser Mann für sie interessierte.

Konzentrier dich auf das Gespräch, Etta.

„Ja. Manchmal hat Ruby mit Kindern zu tun, die von ihren leiblichen Eltern nur einen Namen kennen und mehr erfahren möchten.“

„Dann sind Sie also fast so etwas wie eine Detektivin?“

„Genau. Das fasziniert mich.“ Und war zugleich bittersüß, denn keine Recherche hatte Hinweise auf ihre eigenen Eltern ergeben.

Sie fühlte ein vertrautes Ziehen in der Brust und grub die Fingernägel in die Handballen. Genug. Akzeptier es. Sie würde nie wissen, wer ihre Erzeuger waren oder warum die beiden sie vor zweiunddreißig Jahren ausgesetzt hatten. Geh deinen Weg.

„Was, wenn Sie etwas herausfinden, das die Betroffenen nicht hören wollen?“ Jetzt klang Gabriels Stimme dunkler. Der Blick aus seinen graublauen Augen verschattete sich.

„Ich sage es ihnen trotzdem. Es ist besser, die Wahrheit zu kennen.“ Ihre eigenen Adoptiveltern hatten sie ihr verheimlicht. Das Trugbild war in sich zusammengestürzt, als sie selbst ein Baby bekommen und Etta abgeschoben hatten.

Gabriel betrachtete sie so eindringlich, wie sie es einem Mann mit seinem Ruf nicht zugetraut hatte. Sie setzte ein Lächeln auf, das ihren entschiedenen Unterton hoffentlich überlagerte. Diese Unterhaltung ging viel zu sehr in die Tiefe. Schlimmer noch: Etta hatte keine Ahnung, wie oder weshalb es so war.

„Wie heißt es doch gleich? Wissen ist Macht“, meinte sie leichthin.

„In der Tat“, stimmte er ebenso leichthin zu und lächelte wieder dieses unglaublich charmante Lächeln. Hatte sie sich den anderen Tenor des Gesprächs nur eingebildet?

„Außerdem kann Wissen nützlich sein. Einmal bin ich für Ruby tätig geworden, weil ein schwangerer Teenager seine Krankengeschichte erfahren wollte.“

Ein Fall, mit dem sich Etta nur zu gut identifizieren konnte. Wie oft hatte sie Cathy angeschaut und sich gesorgt, irgendwelche Gene könnten der Gesundheit ihrer Tochter schaden?

„Die andere Seite der Medaille ist, dass früher niemand über Gene informiert war und die Leute einfach unwissend blieben“, fuhr Etta fort. „Manchmal müssen wir ein Risiko eingehen, glaube ich.“

„Und auf das Schicksal vertrauen?“

Nun waren sie also bei Philosophie gelandet. „Ja. Finden Sie nicht?“

Gabriel blickte sie ernst an. „Nein. Wir bestimmen unser Schicksal, weil wir die Wahl haben.“

Er sagte es derart nachdrücklich, dass Ettas Haut zu kribbeln anfing. Der Earl of Wycliffe besaß mehr Tiefgründigkeit als gedacht, doch das änderte nichts. Im besten Fall war dieser Mann ein Playboy, im schlechtesten ein Herzen brechender Blender. Etta wusste nach wie vor nicht, warum er so lange mit ihr sprach. Egal.

„Ich muss gleich meine Rede halten“, sagte sie. „Vorher möchte ich noch mit einigen Gästen sprechen. Deshalb verabschiede ich mich jetzt.“

„Ich freue mich auf Ihre Rede – und darauf, anschließend wieder mit Ihnen zu plaudern.“

Im Ernst? Es ergab keinen Sinn. Wieder meldete sich ihr schlimmstes Laster, die Neugierde. Resolut erstickte Etta sie. Es gab erheblich Wichtigeres.

Sie lächelte betont kühl. „Ich bleibe nicht lange. Für den Fall, dass wir uns nicht mehr sehen, sage ich jetzt schon einmal auf Wiedersehen.“

„Und ich sage, bis bald“, murmelte Gabriel so leise, dass Etta nicht wusste, ob sie ihn richtig verstanden hatte.

2. KAPITEL

Aus einer Ecke des stimmungsvoll dekorierten Ballsaals schaute Gabe zu, wie Etta Mason anmutig zum Podium ging. Verflucht. Da spürte er sie wieder – dieselbe Anziehungskraft wie in jenem Moment, als Etta hinter der Kübelpflanze hervorgekommen war. Eine unerwartete Komplikation.

Während der letzten Monate hatte seine Libido Winterschlaf gehalten. Das Foto auf der Internetseite der Historikerin bereitete einen nicht auf die Etta Mason aus Fleisch und Blut vor. Jene Frau mit bernsteinfarbenen Sprenkeln in ihren dunklen Augen und vollen Lippen, die Gabe unwillkürlich länger betrachtet hatte, als es sich gehörte. Am liebsten hätte er eine Hand ausgestreckt und Ettas schimmerndes kastanienbraunes Haar durch seine Finger gleiten lassen. Angesichts der hohen Wangenknochen mochte so manches Topmodel vor Neid erblassen. Doch nicht nur ihre Schönheit warf ihn aus der Bahn. Sie strahlte eine Sinnlichkeit aus, eine Selbstsicherheit, die ihn fesselte.

Solche Gedanken konnte er sich nicht leisten. Er musste seine Libido in die Schranken weisen, schließlich brauchte er Ettas Fachwissen. Dringend.

Jetzt tippte sie an das Mikrofon. Keine Spur von Lampenfieber, während sie darauf wartete, dass das Geplauder im Saal verebbte. Gelassen stand sie da in ihrem ärmellosen rosa-weiß gestreiften Kleid, das ihre schmale Taille betonte und weich über die Hüfte bis zu den Knöcheln fiel.

Sie sah die Gäste an und lächelte entspannt. Das einzige winzige Indiz von Nervosität war, dass sie eine kurze dunkle Locke hinter das rechte Ohr steckte.

„Meine Damen und Herren, rufen Sie sich bitte eine bemerkenswerte Tatsache in Erinnerung: Jeder von uns hier hat Vorfahren, die im Mittelalter lebten, in der Ära der Tudors und im viktorianischen Zeitalter.“

Gabe merkte, wie Etta die Zuhörer in ihren Bann zog.

„Die Ahnen von manchen unter uns mögen in diesem Raum gestanden und mit Königen getafelt haben.“

Irrte Gabe sich, oder schaute sie ihn tatsächlich kurz an?

„Andere Vorfahren waren vielleicht Soldaten, Steinmetze, Taschendiebe oder Wegelagerer. Wir alle haben Stammbäume, und Bäume brauchen Wurzeln. Wie Sie wissen, sollen auf diesem Ball Spenden gesammelt werden für Teenager, die einen schwierigen Start ins Leben hatten. Viele von ihnen sagen, dass sie sich entwurzelt fühlen …“

Das Thema und diese Teenager bedeuteten Etta offenkundig viel. Gabe respektierte ihr Mitgefühl ebenso wie das der Cavershams. Mitgefühl trieb ja auch ihn an, wenn er sich um junge Menschen kümmerte, die gemobbt worden waren oder selbst gemobbt hatten. Er engagierte sich ehrenamtlich, wenngleich nicht öffentlich.

Ettas aufrichtige Sorge um junge Menschen war ein weiterer Punkt, der in seinen Augen für sie sprach. Ihre Rede kam von Herzen, und sie trug sie professionell vor.

Jetzt deutete sie mit einer Hand auf ihren Rock. „Ich trage heute dieses Kleid, weil es mich an die für Weihnachten typischen Zuckerstangen erinnert. Die Weihnachtszeit steckt voller Traditionen. Familien kommen zusammen. Deshalb ist es eine problematische Zeit für viele Heimkinder und Kinder, die in Heimen sein sollten. Das Geld, das heute gesammelt wird, ermöglicht ihnen ein schöneres Weihnachtsfest und verhilft ihnen zu einer Zukunft, in der sie hoffentlich eigene Wurzeln entwickeln können. Wenn also gleich die Versteigerung beginnt, spenden Sie bitte großzügig, im Geiste der Weihnachtszeit. Ich wünsche Ihnen noch viel Spaß und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.“

Die Gäste applaudierten anerkennend. Für Gabe lag der Fall klar. Er war hergekommen, um herauszufinden, ob Etta Mason liefern konnte, was er brauchte. Nun wusste er, dass dem so war. Also würde er ihre Reize übersehen und seine Mission starten.

Mit ein paar langen Schritten bahnte er sich einen Weg durch die Menschen, die sich um Etta drängten. Als er vor ihr stand, merkte er ihr die Überraschung an.

„Beeindruckender Vortrag.“

„Danke.“

„Ich würde gern unter vier Augen mit Ihnen reden. Wir könnten vor dem Essen auf die Terrasse gehen.“

Erst befürchtete Gabe, sie würde ablehnen. In dem Fall wäre Plan B zum Einsatz gekommen. Doch nach kurzem Zögern nickte sie.

Gemeinsam traten sie in die kalte, saubere Luft hinaus. „Das ist ja wunderschön“, staunte Etta.

Lichterketten glitzerten in grünen Topfpflanzen. Über den Tischen auf dem Mosaikboden hingen Laternen und tauchten die Terrasse in ein warmes Licht. Unauffällige Heizkörper sorgten dafür, dass die niedrigen Temperaturen den Gästen nichts anhaben konnten.

„Die Cavershams wissen wirklich, wie man eine Party organisiert“, meinte Gabe. „Später soll hier getanzt werden. Schade, dass Sie früh gehen müssen.“

Plötzlich stieg ein Bild vor ihm auf: Er hielt Etta in seinen Armen und tanzte mit ihr im Mondlicht auf der Terrasse. Die Vision war so deutlich, dass sein Puls schneller schlug. Unwillkürlich machte er einen Schritt auf Etta zu. Ein dezenter Vanilleduft stieg ihm in die Nase, wie Folter für seine Sinne.

„Ja.“

Gabe fragte sich, ob ihre Gedanken in dieselbe Richtung gingen wie seine. Er blickte ihr in die Augen und las darin eine Verheißung, die ihn die Luft anhalten ließ. Gleich darauf verschwand der eigentümliche Ausdruck.

Sie presste die Lippen aufeinander, flüsterte ein kaum hörbares „Tja“ und wich zum Holzgeländer aus, das die Terrasse umgab.

Dann drehte sie sich mit verschränkten Armen zu ihm um. „Warum haben Sie mich hergeführt?“

Misstrauisch klang sie. Wer konnte es ihr verdenken? Gabriel war sauer auf sich selbst. Er brauchte diese Frau als Profi, und die Unterhaltung war viel zu wichtig, um wegen eines durch und durch unprofessionellen Knisterns etwas zu riskieren. Höchste Zeit, sich auf die Prioritäten zu besinnen.

„Ich brauche eine Historikerin, und Sie sind perfekt für den Job.“

Verblüfft zog sie die Stirn kraus. „Erzählen Sie mir mehr.“

Gabe zeigte auf einen Holztisch in der Laube. Zarte weiße Leuchtsterne hingen von der Decke, an der Lichterketten funkelten. „Setzen wir uns?“

„Gut.“ Elegant nahm Etta auf einem Stuhl Platz. Sie war auf der Hut.

Gabe setzte sich nach ihr und nutzte die Galgenfrist, um seine Worte im Geiste noch einmal durchzugehen.

„Ich möchte, dass Sie einen detaillierten Stammbaum der Familie Derwent erstellen. Vor achtzehn Monaten hat ein Hochwasser viele wertvolle Gegenstände in Derwent Manor zerstört – unter anderem ein Pergament mit dem ursprünglichen Stammbaum. Auch andere Dokumente wurden beschädigt. Jahrhundertealte Verzeichnisse. Leider wurden diese Unterlagen nie digitalisiert. Einige Fakten stehen bestimmt in öffentlichen Archiven, aber ich habe keine Ahnung, wie ich mir Zugang zu ihnen verschaffe. Geschweige denn, wie ich all die Informationen zusammenführe.“

Etta beugte sich vor. Ihre dunklen Augen blitzten interessiert. Gabe wünschte, er wäre der Grund dafür.

„Sie wollen, dass ich Ihren Familienstammbaum erstelle?“

„Ja. Allerdings viel detaillierter als im Original.“

Seit Jahrhunderten war das Herzogtum vom Vater auf den Sohn übergegangen. Damit hatte es nun ein Ende. Gabe musste sich mit bisher unbedeutenden Linien des Stammbaums beschäftigen und prüfen, wer nach ihm Duke werden konnte, da er selbst nie einen Sohn zeugen würde.

Er wollte unbedingt erfahren, welche Optionen es gab – und zwar schnell. Nachdem der Duke einen Infarkt erlitten hatte, drängten er und die Duchess Gabe, zügig zu heiraten und einen Sohn in die Welt zu setzen. Gabe konnte nicht ausschließen, dass die Wahrheit bei seinem Vater einen zweiten Infarkt auslöste. Also musste er eine Lösung finden.

„Es gibt eine weitere Bedingung“, fuhr er fort.

„Und die wäre?“

„Ich brauche das Ergebnis bis Weihnachten. Mir ist klar, dass in den wenigen Wochen eine Menge Arbeit auf Sie zukommt, aber ich werde Ihnen nach Kräften helfen. Sie wissen vielleicht, dass mein Vater kürzlich einen Herzinfarkt hatte. Der Stammbaum soll ein Überraschungsgeschenk für ihn sein.“

Das Interesse wich aus Ettas Miene. „Tut mir leid, ich habe familiäre Verpflichtungen und werde in wenigen Tagen verreisen.“

„Wie lange werden Sie fortbleiben?“

„Fünf Wochen.“

Gabe unterdrückte einen Fluch. Er hielt Etta für die ideale Kandidatin. Sein Instinkt sagte ihm, dass sie den Auftrag sowohl gut als auch schnell erledigen würde. „Können Sie Ihren Urlaub vielleicht verschieben? Ich würde Sie großzügig entschädigen. Ihr Honorar bestimmten Sie selbst.“

„Es geht nicht um Geld. Ich mache mit meiner Tochter eine Kreuzfahrt.“

Tochter. Damit hatte er nicht gerechnet. Auf Ettas Internetseite stand nichts von einem Ehemann oder Kindern. Die Information versetzte Gabe einen Stich. Nein. Anziehungskraft spielte jetzt keine Rolle mehr, doch er wollte Etta nach wie vor für den Stammbaum.

„Vielleicht könnte Ihr Mann mit Ihrer Tochter fahren, und ich zahle für einen weiteren Familienurlaub.“

„Einen Ehemann gibt es nicht. Danke, aber ich kann den Auftrag wirklich nicht annehmen.“

Gabe entging weder das Bedauern in ihrer Stimme noch die Enttäuschung in ihrem Blick. Vielleicht konnte er sie doch noch umstimmen – Kreuzfahrt hin oder her, sie wollte diesen Job, das war offensichtlich.

Zeit für Plan B.

Der Gong für das Dinner ertönte. Gabe stand auf. „Wir gehen besser rein.“

Etta unterdrückte einen Seufzer. Nur zu gern hätte sie den Stammbaum erstellt. Gabriel bot ihr Zugang zu historischen Dokumenten. Die Chance, das jahrhundertealte Geschlecht der Derwents zu erforschen und ein Puzzle von historischer Bedeutung zusammenzufügen.

So ein wichtiges Projekt hätte ihren guten Ruf untermauert und ihr zudem ein hohes Honorar eingebracht. Nicht zu verachten, falls sie je Anwälte brauchte, um Tommy loszuwerden.

Tommy. Etta fröstelte. Sie ließ nicht zu, dass er wieder in ihr und Cathys Leben trat. Oberste Priorität: Cathy von Tommy fernhalten. Darum musste Etta diese einmalige Gelegenheit ablehnen. Trotzdem war sie geknickt. Und aus einem unerklärlichen Grund störte sie die Ruhe, mit der Gabe ihre Absage hinnahm. Sie musste an den Moment auf der Terrasse denken … Einen Herzschlag lang hatte sie sich dermaßen zu ihm hingezogen gefühlt, dass ihr ganz schwindelig geworden war.

Erleichtert betrat sie das warme Hotel. „Ich mache mich jetzt auf die Suche nach meinem Platz im Bankettsaal.“

„Sie sitzen an Tisch fünf. Genau wie ich.“

Etta runzelte die Stirn „Nein, ich habe vorhin die Sitzordnung überflogen.“

„Die wurde leicht verändert.“

„Verändert?“ Seine Arroganz machte Etta wütend. Sie fuhr zu ihm herum. Niemand würde sie manipulieren! „Etwa von Ihnen? Ruby plant jede Sitzordnung sehr sorgfältig. Sie können den Plan nicht einfach ändern, wie es Ihnen gerade in den Kram passt.“

„Beruhigen Sie sich. Ich habe Ruby darum gebeten.“

„Ach, und warum?“

„Sie hatten erzählt, dass Sie früh gehen müssen, und ich wollte sicherstellen, mit Ihnen über den Auftrag reden zu können.“

Misstrauisch sah Etta ihn an. Dieser Mann war daran gewöhnt, alles zu kriegen, was er wollte. Und er wollte, dass sie sein Angebot annahm. Womöglich merkte er ihr an, wie gern sie zugesagt hätte. Zu allem Überfluss fand sie die Vorstellung von ihm als ihrem Tischherrn überaus verlockend.

„Nun, das ist nicht mehr nötig, deshalb sollten wir bei der ursprünglichen Sitzordnung bleiben.“

„Warum wollen Sie es komplizierter machen als nötig?“ Gabe sah sich kurz um. Die meisten Gäste saßen bereits. „Kommen Sie. So schlimm wird es schon nicht. Ich erwähne den Auftrag auch nicht mehr. Wir reden, worüber Sie möchten.“

Da war er wieder, der berüchtigte Charme. Die tiefe Stimme klang überzeugend und brachte Etta mit dem dazugehörigen Lächeln doch glatt dazu, ebenfalls zu lächeln.

Vorsicht. Vielleicht glaubte Gabe, sie mit seinem Charme zu einer Zusage bewegen zu können. Sie sollte ihm seine Grenzen aufzeigen. Etta war immun gegen Verlockungen. Schon vor langer Zeit hatte sie akzeptiert, dass sie nicht der romantische Typ war und Beziehungen für sie einem Buch mit sieben Siegeln glichen.

„Na gut.“

Am Tisch angekommen, begrüßte Etta den Herrn auf ihrer anderen Seite, Toby Davenport. Als er ihre Rede lobte, merkte sie, dass er angeheitert war. Geschickt brachte sie ihn dazu, von seinen Fernreisen und seiner Jacht zu erzählen. Sie musste kaum ein Wort sagen und konzentrierte sich auf die Hirschbrühe, die nach mittelalterlichem Rezept mit Nelken und Muskat gewürzt war. Dabei tat sie ihr Bestes, um die Wärme zu ignorieren, die ihren Körper durchflutete, seit Gabriel neben ihr saß.

„Hört sich toll an“, unterbrach der jetzt Tobys Monolog. „Etta verreist auch bald. Sagen Sie, Etta: Wählen Sie ihre Urlaubsziele nach deren historischer Bedeutung aus? Sie erwähnten eine Kreuzfahrt … Wohin reisen Sie denn?“

Keine Ahnung. Als sie die Kreuzfahrt gebucht hatte, war das Ziel ihre geringste Sorge gewesen. Urlaub auf einem Schiff, umgeben von Wasser, fühlte sich sicher an. Das war es wert, eine Hypothek auf ihr Apartment aufzunehmen und ihr Sparbuch zu plündern. Cathy würde vor ihrem Vater sicher sein.

Eine tief sitzende Angst war in Etta aufgestiegen. Angst, die sechzehn Jahre geschlummert hatte, um mit Wucht zurückzukehren, als Tommy vor ein paar Tagen wieder in ihr Leben stolziert war.

Nicht abschweifen, Etta. Gabe schaute sie regelrecht besorgt an.

„Verzeihung“, sagte sie mit Mühe. „Altersbedingte Gedächtnislücke. Ich erinnere mich nicht.“

„Dafür sind Sie zu jung.“

„Offenbar nicht. Ich lasse Sie wissen, wenn es mir wieder einfällt.“

Na los, Etta. Wechsel das Thema. „Was ist mit Ihnen?“, fragte sie mit dem Mut der Verzweiflung. „Haben Sie Reisepläne für Weihnachten?“

„Nein. Ich bleibe auf Derwent Manor. Mein Vater erholt sich mit meiner Mutter in Frankreich. Also sorge ich dafür, dass bestimmte Traditionen aufrechterhalten werden. Zum Beispiel der Weihnachtsmarkt. Ich habe mich für ein viktorianisches Thema entschieden. Hoffentlich kann mir derjenige, der unseren Stammbaum erstellt, ein paar Tipps geben.“

Etta blinzelte. Sie liebte solche Veranstaltungen. Und Gabriel wusste das, jede Wette. Da konnte er sie noch so unschuldig anblicken.

„Klingt nach ein paar arbeitsreichen Wochen.“ Gar nicht nach den Weihnachtspartys, die sie von einem Playboy erwartete.

„Richtig. Das Management von Derwent Manor ist ein Vollzeitjob. Meine Eltern richten ihr ganzes Leben danach aus.“

„Sie Ihres auch?“

„Nicht mein ganzes Leben, nein.“

„Aber eines Tages werden Sie es tun?“

„Ja.“

Etta hätte schwören mögen, dass die Knöchel der Hand, mit der Gabe sein Wasserglas zum Mund führte, weiß waren. „Muss seltsam sein, schon früh zu wissen, welchen Beruf man ergreifen wird. Die meisten Kinder fragen sich ja, was sie später werden möchten. Sie hingegen wussten es immer.“

„Ganz recht.“

Er sah aus, als würde er die Zähne zusammenbeißen. Etta fragte sich, ob er sein Schicksal liebte oder verfluchte. „Vorhin sagten Sie, die Macht der Wahl wiege für Sie schwerer als die Macht des Schicksals. Stimmt das wirklich? Sie werden einmal Duke of Fairfax sein, weil das Schicksal es so entschieden hat.“

„Ja.“ Als würde ihm bewusst, dass er zum dritten Mal so knapp antwortete, lächelte er das berühmte Derwent-Lächeln. „Allerdings habe ich die Wahl, den Titel aufzugeben.“

Etta legte ihren Löffel in die leere Suppenschale. „Stimmt.“ Obwohl sie nicht glaubte, dass er es je tun würde. „Nicht jeder hat diese Wahl. Denken Sie an die Prinzessinnen, die früher zur Heirat gezwungen wurden.“

„Da bin ich mir nicht so sicher. Möglicherweise haben sie die Option gewählt, ihre Pflicht zu tun. Einige von ihnen hätten ihr Leben auch der Kirche widmen können. Manchmal sind unsere Wahlmöglichkeiten nicht reizvoll, existieren aber trotzdem.“

Sie wollte etwas entgegnen, doch Gabe hob eine Hand. „Einige Menschen haben keine Wahl, ich weiß. Unschuldige, die in Situationen stecken, die sie nicht beeinflussen können. Aber möglicherweise ist das Schicksal dabei außen vor. Vielleicht haben die Betroffenen einfach Pech.“

„Schicksal kontra Zufall?“ Etta fühlte sich, als säßen sie beide in einer kleinen Nische, abseits vom Glitzer und Geplauder um sie herum.

In ihrem Kopf schlug eine Sirene Alarm. Keine Sorge, sagte Etta sich schnell. Noch zwei Gänge, und sie würde sich verabschieden. Gabriel nie wieder begegnen. Diese Unterhaltung war bloß eine willkommene Ablenkung von ihren Gedanken an Tommy. Mehr nicht. Hätte der angesäuselte Toby Davenport nicht mit der Dame auf seiner anderen Seite geflirtet, wäre Etta zweifellos ebenso abgelenkt von ihm gewesen.

Lügnerin. Wenn sie ehrlich war, spann Gabriel gerade ein feines Netz, in dem sich sowohl ihr Körper als auch ihr Geist verfingen. Panik stieg in ihr auf. Sie wusste nicht mehr, wann sie zuletzt so intensiv auf einen Mann reagiert hatte. Der Zustand gefiel ihr kein bisschen.

Plötzlich vibrierte das Handy, das sie in ihrem Abendtäschchen unter der Serviette auf ihrem Schoß verborgen hatte. Etta bekam eine Gänsehaut und redete sich ein, der Anrufer könne irgendwer sein. Kein Grund zur Sorge. Der Gedanke, dass Cathy etwas zugestoßen sein könnte, war völlig abwegig und aus der Luft gegriffen.

Sie schob ihren Stuhl zurück und versuchte, ein Lächeln zustandezubringen. „Verzeihung. Bin gleich wieder da.“

Nicht rennen.

3. KAPITEL

Gabe starrte auf den leeren Stuhl. Kein Abstecher zum Waschraum dauerte derart lange. Inzwischen hätte Etta hundert Nasen pudern können. Gab es ein Problem?

Es ging ihn nichts an. Andererseits hatte sie regelrecht ängstlich ausgesehen, als sie aufgestanden war. Angst war auch einmal Teil seines eigenen Lebens gewesen. Er wusste noch gut, wie sich das anfühlte. Außerdem: Je mehr er über Etta herausfand, desto besser standen die Chancen, sie doch noch umzustimmen. Also hatte er allen Grund, nach ihr zu sehen.

Er entschuldigte sich bei seinen Tischnachbarn und ging durch die mächtigen Türen in den Korridor. Keine Etta. Vielleicht telefonierte sie in einer abgelegenen Ecke. Gabe marschierte zur Lobby mit ihrer Mischung aus mittelalterlichen Details und modernem Komfort.

Auf der Schwelle verharrte er. Etta stand mit dem Rücken an einer Säule. Vor ihr hatte sich ein dunkelhaariger Mann aufgebaut, dessen Haltung eindeutig aggressiv war. Keine Frage, so grinste ein Tyrann, der genau wusste, dass er sein Opfer einschüchterte. Tattoos schlängelten sich über Armmuskeln, für die man ordentlich Gewichte stemmen musste.

„Alles in Ordnung, Etta?“ Dumme Frage, denn Etta wirkte ganz anders als seine gebildete, redegewandte Tischdame. Sie war blass, und in ihrem Blick lagen sowohl Trotz als auch Furcht.

„Bestens“, antwortete der Fremde. „Machen Sie sich vom Acker.“

Sie habe ich nicht gefragt.“

Der Mann machte einen Schritt zurück. „Na und?“, fragte er drohend. „Ich sagte: Machen Sie sich vom Acker.“

Etta trat zu ihm. Sie bewegte sich ungelenk und bange. Gabe wusste genau, dass der Typ ihr irgendwann wehgetan hatte.

„Tommy, bitte.“

Er lachte harsch. „Klingt wie in alten Zeiten.“

„Schluss jetzt.“ Zornig ging Gabe auf ihn zu. „Der Einzige, der sich hier vom Acker machen muss, sind Sie.“

„Schon gut, Gabe, ich erledige das.“ Etta holte tief Luft. „Tommy, geh einfach. Bitte. Du hast gesagt, was du sagen wolltest.“

Tommy funkelte sie mit geballten Fäusten an. Gabe machte noch einen Schritt in seine Richtung.

„Na gut. Für diesen feinen Pinkel setze ich nicht meine Bewährung aufs Spiel. Aber es ist noch nicht vorbei. Cathy ist meine Tochter, und ich werde sie treffen. So oder so.“ Er verschwand.

„Geht es Ihnen gut?“, vergewisserte sich Gabe.

„Ja. Danke.“ Etta rieb sich mit den Händen über die Unterarme. Dann straffte sie die Schultern, zückte ihr Handy und tippte aufs Display.

„Es gibt ein Problem“, hörte Gabe sie wenig später sagen. „Tommy ist aufgetaucht. Ich fahre zurück. Mit welchem Zug, sage ich dir noch.“

Als sie das Handy sinken ließ, fragte Gabe: „Wohin müssen Sie?“

„London.“

Bevor er die Tragweite seiner Worte begriffen hatte, hörte er sich anbieten: „Ich fahre Sie.“

Entgeistert schaute sie ihn an. „Warum sollten Sie das tun?“

„Weil ich Sie früher nach London bringe als ein Zug. Außerdem könnte es sein, dass Tommy draußen wartet und Ihnen folgt.“

Etta fuhr zusammen. Erneut rieb sie ihre Unterarme. Der Ausdruck in ihren braunen Augen sprach Bände – sie stellte sich vor, er könnte recht haben. „Ich wäre wohl dumm, wenn ich Ihren Vorschlag ablehnen würde. Vielen Dank.“

„Ich sage Ruby schnell, dass Sie aus familiären Gründen wegmüssen.“

Als Etta zehn Minuten später Gabes tiefroten Ferrari musterte, zögerte sie. Vielleicht hätte sie doch besser den Zug oder einen Mietwagen genommen und diese Krise selbst bewältigt. Doch der Drang, bei Cathy zu sein, überwog alles andere.

Sie mahnte sich, logisch zu überlegen. Cathy ist bei deiner Freundin Steph und deren Tochter Martha. Tommy kann Cathy dort nicht finden. Nun, das alles sagte ihr der gesunde Menschenverstand. Allerdings hatte Tommy sie gefunden.

Zugegeben, dafür brauchte er keine besondere Kombinationsgabe. Dass sie heute eine Rede beim Adventsball der Cavershams hielt, stand auf ihrer Internetseite. Und ihre Handynummer konnte sich jeder über den Anrufbeantworter in ihrem Büro besorgen. Trotzdem. Wie sie vor Tommy zurückgeschreckt war und wie sehr er das genossen hatte … Verdammt, er weidete sich an ihrer Angst! Einer Angst, für die sie sich selbst hasste. Erinnerungen drohten sie wie ein Sturm mitzureißen. Nein. Die Vergangenheit war vorbei.

Etta wollte so bald wie möglich zu ihrer Tochter, und dieses Ziel erreichte sie am besten in dem Ferrari. Dummerweise war Gabe mit von der Partie.

„Fertig?“ Er klang nicht nur besorgt, sondern auch leicht belustigt. „Sie sehen den Wagen an, als wäre er die Höhle des Löwen.“

Das Blut stieg ihr in die Wangen. „Ich frage mich bloß, ob es fair ist, Ihnen solche Umstände zu machen.“

„Ich habe doch angeboten, Sie zu fahren.“

Du benimmst dich wie ein Dummkopf und verschwendest wertvolle Zeit, mahnte sie sich. Sie nickte, zog die niedrige Beifahrertür auf und glitt auf den eleganten Sitz.

Wenig später schaute sie in die Dunkelheit, während der Ferrari Richtung London brauste. Sie ließen die Windräder, Felder und Bauernhöfe Cornwalls hinter sich. Dann und wann riskierte Etta einen Seitenblick auf Gabe. Seine blonden Haare glänzten im Mondlicht. Er nahm die Augen nicht von der Straße, fuhr entspannt und geschickt.

Plötzlich erwiderte er ihren Blick, sah aber sofort wieder geradeaus. „Sie wirken unruhig“, stellte er fest. „Machen Sie sich Sorgen um Ihre Tochter?“

„Ja, aber ich weiß, dass es ihr gut geht. Sie müssen mich für diese Fahrt bezahlen lassen. Meinetwegen verpassen Sie ein köstliches Dinner und Tanzen im Mondschein.“

„Deswegen brauchen Sie kein schlechtes Gewissen zu haben. Möchten Sie darüber reden? Über das Problem mit Tommy und Ihrer Tochter?“

Erstaunlicherweise verspürte sie tatsächlich den Impuls, genau das zu tun. Dabei war Gabe ein Fremder, und nicht mal ihre engsten Freunde wussten Bescheid über die schlimmste Zeit in ihrem Leben. „Es gibt nichts weiter zu sagen. Sie haben Tommy ja gehört. Er ist Cathys Dad und will sie treffen. Das aber kann ich unter keinen Umständen zulassen.“ Vermutlich wunderte sich Gabe, warum sie ein Kind von einem Kerl wie Tommy hatte.

„Kennt er Cathy denn schon?“

„Nein. Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich rede lieber nicht darüber.“ Jahrelang hatte sie die Erinnerungen an Tommy verdrängt. Sie wollte niemandem anvertrauen, wie töricht und schwach die junge Etta wegen Tommy gewesen war – Tommy, der die Bedeutung des Wortes „schwach“ nicht kannte. Noch heute schämte sie sich, also sprach sie besser nicht über die Vergangenheit. „Es ist mein Problem, und ich werde es lösen.“

„Indem Sie weglaufen? Eine Kreuzfahrt machen?“

Obwohl Gabe es freundlich sagte, flammte Ettas Zorn auf. „Ich laufe nicht weg.“ Oder?

„Tut mir leid, wenn ich anmaßend geklungen habe. Ich kenne die Hintergründe nicht und akzeptiere, dass Sie nicht darüber reden wollen. Aber wenn ich eine Lektion im Leben gelernt habe, dann die: Weglaufen ist selten die beste Option.“

Dem Earl of Wycliffe fiel es bestimmt leicht, nicht wegzulaufen. Sie verkniff sich die Bemerkung, schließlich chauffierte er sie durch die Gegend. „Danke für den Rat. Wie gesagt, es ist mein Problem.“

Etta lehnte sich zurück und blickte aus dem Seitenfenster. Zu ihrer Erleichterung beließ Gabe es dabei. Er sprach erst wieder, als sie London erreichten und er die Adresse wissen musste, zu der Etta wollte. Bald parkte er vor Stephs Haus.

„Nochmals vielen Dank. Ich weiß Ihre Hilfe wirklich zu schätzen, und ich schulde Ihnen einen großen Gefallen.“

Letzteres ärgerte sie, und das blieb wahrscheinlich so, bis sie wusste, wie sie sich revanchieren konnte. „Ich wünsche Ihnen eine gute Heimfahrt und entschuldige mich noch einmal dafür, dass ich Ihren Abend ruiniert habe.“

„Ich bringe Sie zur Tür.“

„Nein! Wirklich … Steph ist noch auf, und ich gehe lieber leise rein.“ Hastig stieß sie die Beifahrertür auf. „Auf Wiedersehen, Gabriel.“

Sie lief die Treppenstufen hinauf und zog Stephs Ersatzschlüssel aus der Handtasche. Sie wollte nur noch ins Haus und sich davon überzeugen, dass Cathy ruhig schlief. Trotzdem drehte sie sich kurz um und warf einen letzten Blick auf Gabriel Derwent.

„Wie hast du geschlafen?“

Etta schaute vom Küchentisch hoch und lächelte ihre beste Freundin an. „Gut.“

„Schwindlerin. Du musst starr vor Schreck gewesen sein, als Tommy aufgekreuzt ist.“

„Schon, aber …“ Sobald Gabriel Derwent bei mir war, habe ich mich sicher gefühlt.

Sie musste sich zusammennehmen. Das Leben hatte sie gelehrt, dass sie nur auf sich selbst zählen durfte. Einmal war sie Tommy bereits entkommen. Nun würde sie es wieder tun.

„Alles in Ordnung.“ Etta schnappte ihren Kaffeebecher und versuchte, ihren eigenen Worten zu glauben, obwohl sie hohl klangen. „Wie war Cathy gestern Abend drauf?“

„Still. Mir gegenüber hat sie Tommy nicht erwähnt. Allerdings hat sie betont, dass sie keine Kreuzfahrt machen will.“

Etta seufzte. Seit Tommys Auftauchen war ihre fröhliche, brave Tochter verändert. Sie konnte es Cathy nicht vorwerfen. Auch sie hätte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihren Vater oder ihre Mutter kennenzulernen.

Erst mit fünfzehn hatte sie herausgefunden, dass sie ein Adoptivkind war. Nach dieser Erfahrung wollte sie Cathy niemals belügen. Also hatte sie ihr von Tommy erzählt und auch nicht verschwiegen, dass er Kontakt zu seiner Tochter wünschte. Mit Cathys Reaktion hatte sie jedoch nicht gerechnet.

Ihre Tochter wollte glauben, dass Tommy ein wunderbarer Mann war, und brannte darauf, ihn zu treffen und eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Bei der Vorstellung wurde Etta eiskalt. Niemand wusste besser als sie, wie einnehmend Tommy sein konnte. Er würde sich als missverstandenen, geläuterten Rebell präsentieren.

„Ich weiß.“ Die Kreuzfahrt stand nicht zur Diskussion, denn Etta würde nicht einfach dasitzen, während ihre Tochter die Fehler der Mutter wiederholte. „Trotzdem reisen wir.“ Sie stand auf. „Tausend Dank für gestern, Steph. Geh ruhig. Du musst Martha doch zur Gesangsstunde bringen.“

Zwanzig Minuten später verließen Steph und Martha das Haus. Etta ging in Marthas Zimmer.

Ihre Tochter saß im Schneidersitz auf dem Bett, die langen, dunklen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden. „Mum – bitte, bitte, bitte zwing mich nicht zu dieser Kreuzfahrt. Wenn Dad mich so gern sehen will, dass er dir nach Cornwall folgt, muss es doch einen Versuch wert sein.“

Etta fühlte sich schrecklich. „Dein Vater ist nicht vertrauenswürdig, Schatz.“

„Vielleicht hat er sich geändert.“

Bevor Etta antworten konnte, klingelte es. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Bleib ruhig. Tommy konnte es nicht sein.

Cathy sprang vom Bett. Offenbar erhoffte sie sich genau das, was Etta wie versteinert stehen bleiben ließ.

„Warte, Cathy!“ Etta eilte ihrer Tochter hinterher. Als sie am Fuß der Treppe ankam, spähte ihre Tochter durch den Spion.

„Das ist nicht Dad. Irgendein blonder Typ.“ Enttäuscht wandte sie sich ab. „Kommt mir irgendwie bekannt vor. Sieht gut aus für sein Alter.“

Nun guckte Etta durch den Spion – und schloss kurz die Augen, für den Fall, dass sie unter Halluzinationen litt. Doch es war und blieb Gabriel Derwent, der da vor ihrer Tür stand. Heute trug er Jeans und Sweatshirt. Auch in dieser legeren Kleidung strahlte er eine bemerkenswerte Energie aus. Ettas Herz pochte rascher.

Sie öffnete die Tür und schluckte den Protest herunter, der ihr auf der Zunge lag, weil Gabe einfach hereinkam und die Tür hinter sich schloss.

„Was …?“, begann sie.

„Entschuldigen Sie, dass ich unangemeldet hereinschneie. Es gibt eine neue Entwicklung.“

„Ich verstehe nicht“, erwiderte Etta mit einer unguten Ahnung. Schlimmer konnten die Dinge doch gar nicht werden … oder? Sie atmete tief durch. „Was für eine Entwicklung?“

4. KAPITEL

Gabriel hielt inne. Alles, was ihn eben noch beschäftigt hatte, verflüchtigte sich, als er Etta anschaute. Dies hier war eine ganz andere Frau als gestern. Eine sogar noch anziehendere Frau in Jeans und einem kurzen cremefarbenen Pullover, der ihre langen Beine betonte. Die vom Duschen noch feuchten Haare dufteten betörend nach Erdbeeren und fielen ihr in das ungeschminkte Gesicht. Ihre Haut schimmerte frisch. Auf dem Nasenrücken entdeckte Gabe ein paar Sommersprossen. Am liebsten hätte er mit der Fingerspitze über die feine Linie gestrichen. Und Ettas Lippen erst …

Er zwang sich, wegzusehen. Jetzt nahm er den Teenager wahr, der sich neben Etta stellte und ihn inspizierte. Die beiden waren unverkennbar miteinander verwandt. Das Mädchen hatte zwar lange Haare, aber die gleichen bernsteinfarbenen Sprenkel in den Augen. Schwestern? Oder …

„Gabriel, dies ist Cathy, meine Tochter“, stellte Etta sie vor. „Cathy, das ist Gabriel. Er hat mich gestern Abend netterweise hergefahren.“

Cathy blickte ihn an und reckte herausfordernd das Kinn vor. Gabe wurde bewusst, wie überrascht er aussehen musste. Kein Wunder, er war ja auch überrascht, denn er hatte sich Cathy deutlich jünger vorgestellt.

„Freut mich, dich kennenzulernen“, sagte er und streckte Cathy die rechte Hand hin.

Die Sechzehnjährige guckte ihn forschend an. „Sind Sie … Gabriel Derwent?“

„Ja.“

„Machst du dich bitte fertig, Cathy?“, bat Etta. „Sobald Gabriel gegangen ist, müssen wir unsere Koffer von zu Hause holen.“

Cathy seufzte. „Wir müssen nicht fahren, Mum.“ In den Trotz mischte sich Resignation. Das Mädchen schlurfte zur Treppe.

„Wir reden später darüber, aber fest steht: Wir fahren.“

Sobald Cathy im oberen Stockwerk verschwunden war, stieß Etta ein Seufzen aus und blickte Gabe an. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. „Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich habe wenig Zeit. Das Schiff legt heute Abend ab. Was ist denn passiert?“

In einem Flur wollte er das knifflige Gespräch, das ihm bevorstand, nicht führen. „Wir müssen reden. Ich brauche Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit und verspreche, mich kurz zu fassen.“

Sie zögerte. Dann nickte sie. „Ich koche Kaffee. Hört sich an, als würde ich welchen brauchen.“

Gabe folgte ihr in eine große, helle Küche mit narzissengelben Wänden, an denen Pinnwände mit Bildern und Fotos hingen. Er setzte sich an den Holztisch, während Etta den altmodischen Wasserkessel füllte. „Okay. Legen Sie los“, forderte sie ihn auf.

Fall nicht mit der Tür ins Haus, Gabe. Seine Worte würden Etta nicht gefallen – egal, welche er wählte.

„Die Reporter wissen, dass wir den Ball gestern zusammen verlassen haben. Sie haben auch von unserem Spaziergang auf der Terrasse und dem von mir geänderten Sitzplan erfahren. Jetzt halten sie uns für ein Paar. Ich wollte Sie warnen. Vor Ihrem Haus könnten Fotografen lauern.“

Stocksteif stand Etta da. Dann knallte sie den Kessel auf die Herdplatte. Vor Wut schoss ihr das Blut in die Wangen. „Sie und ich? Die Reporter denken, wir wären … ein Paar?“

Ihr entsetzter Unterton gefiel Gabe nicht. „Ja, leider.“

„Aber das ist doch lächerlich!“

„Warum?“, hörte er sich fragen. Ettas Reaktion irritierte ihn.

„Weil die Vorstellung abwegig ist!“

„Weshalb?“ Er stand auf und ging zur Arbeitsplatte, ohne den Blick von Etta zu lösen.

Schlagartig schien die Temperatur im Raum anzusteigen. Die Abneigung in Ettas Miene verschwand. Verlangen loderte in ihren Augen auf. Gabes Mund fühlte sich wie ausgetrocknet an. Das Ticken der Küchenuhr dröhnte in seinen Ohren, während er näher auf Etta zuging – nah genug, um wieder die verflixten Sommersprossen zu sehen.

Sie packte die Kante der Arbeitsplatte so fest, dass sich ihre Knöchel weiß färbten. Abrupt wich sie zurück. „Weil es völlig unmöglich ist“, antwortete sie. Das leise Zittern in ihrer Stimme passte zu ihrem wackligen Argument.

„Tatsächlich?“ Er zog sein Handy aus der Jeanstasche und tippte aufs Display. „Schauen Sie mal.“

Mit aufgerissenen Augen starrte sie auf die Bilder. Ein Fluch entschlüpfte ihr.

„Ja, das dachte ich auch.“ Gabe konnte seine Genugtuung schlecht verbergen. Als Etta hinter der Kübelpflanze hervorgekommen und ihm das erste Mal begegnet war, hatte ein findiger Fotograf abgedrückt. Niemand konnte leugnen, wie hingerissen Gabe und Etta einander ansahen.

„Wer auch immer dieses Foto gemacht hat, ich drehe ihm den Hals um“, brummte Etta. „Er ist unfähig. Entweder war das Licht ungünstig, oder der Kamerawinkel oder …“

„Oder es gab einen Moment, in dem wir voneinander fasziniert waren.“

Sie senkte den Blick noch einmal auf das Foto, und Gabe hätte schwören können, dass nun in ihrer Miene Genugtuung aufblitzte, weil er ebenso gebannt wirkte wie sie selbst.

„Ich bleibe lieber bei der Fehlertheorie, vielen Dank.“

Gabe zog die Brauen hoch. Vielleicht hätte er das Thema abhaken sollen, aber Ettas Weigerung, die Anziehungskraft zwischen ihnen einzuräumen, weckte seine Neugierde – und seinen Widerspruchsgeist. „Sie könnten aber auch die Wahrheit sagen.“

„Die Wahrheit?“

„Ja. Sie fühlen sich zu mir hingezogen, und umgekehrt ist es ebenso. Ich habe kein Problem damit, es zuzugeben.“ Er zeigte aufs Display. „Da ist der Beweis.“

Wäre es möglich gewesen, hätte Ettas giftiger Blick das Handy in tausend Stücke zerspringen lassen. „Auch wenn Sie es kaum glauben können: Ich fühle mich keineswegs zu Ihnen hingezogen.“ Sie biss die Zähne zusammen und schaffte es dennoch, jedes Wort zu betonen.

Gabe wusste, dass sie log. „Falsch. Sie wollen sich nicht zu mir hingezogen fühlen. Das ist etwas anderes.“

„Gabriel …“

„Bitte. So nennen mich nur meine Eltern. Gabe ist mir lieber.“

„Gabe. Sie sind nicht mein Typ. Ich stehe nicht auf oberflächliche Playboys oder Männer, die Frauen etwas vormachen und dann ihre Herzen brechen.“

Moment mal. „Den oberflächlichen Playboy räume ich ein, aber ich mache keiner Frau etwas vor.“

„Und was ist mit Lady Isobel? Sie haben die arme Frau hinters Licht geführt. Sie im Glauben gelassen, Sie würden sie heiraten. Dann haben Sie sich aus dem Staub gemacht, ihr das Herz gebrochen und sie öffentlich gedemütigt.“

Wut brodelte in Gabe hoch, doch er konnte Ettas Standpunkt nachvollziehen. Isobel hatte ihre Rolle perfekt gespielt. Die meis ten Leute nahmen ihr ab, dass er ein rücksichtsloser Herzensbrecher war. Mit dieser Version hatte sie ein hübsches Sümmchen verdient und ordentlich Schlagzeilen gemacht. Einen Monat später hatte seine Schwester Kaitlin an der Riviera gesehen, wie Isobel unbeschwert feierte.

Doch seine Ex spielte keine Rolle. Er stand Etta gegenüber, die ihn anfunkelte und ungeduldig mit einer Fußspitze auf den Küchenboden tippte.

Gabe wich ihrem Blick nicht aus. „Ich dachte, Historiker schätzen Genauigkeit und Recherchen und verlassen sich nicht auf Klatsch?“

Sie lief rot an. „Gute Historiker sichten die verfügbaren Beweise und ziehen daraus Schlüsse. Leugnen Sie etwa, dass Sie Lady Isobel glauben ließen, Sie würden sie heiraten?“

„Nein. Aber das ist eine isolierte Tatsache. Es gibt etliche Fakten, die Sie nicht kennen. Im Gegensatz zu Isobel behalte ich die für mich. Allerdings gebe ich Ihnen mein Wort, dass es anders war, als sie behauptet. Ich habe ihr nicht das Herz gebrochen.“

Zuerst schwieg Etta. Dann zuckte sie leicht die Schultern. „Stimmt, ich kenne nicht die ganze Wahrheit. Trotzdem fühle ich mich nicht zu Ihnen hingezogen. Ich weiß Ihre Warnung zu schätzen. Den Reportern werde ich sagen, dass das mit dem Paar ein Missverständnis ist.“

„Eigentlich schwebt mir eine andere Lösung vor.“

Argwöhnisch kniff sie die Augen zusammen. „Wir brauchen keine andere Lösung. Wir brauchen überhaupt keine, weil dies kein Problem sein muss.“

„Gut. In dem Fall habe ich eine Idee, die ich Ihnen schildern möchte. Sie nützt uns beiden.“

Der Kessel pfiff. Etta nickte. „Ich gebe Ihnen so viel Zeit, wie man für eine Tasse Kaffee braucht.“

„Einverstanden. Ich schlage vor, wir spielen mit und tun so, als wäre die Story wahr.“

Etta, die gerade Kaffee in zwei Becher schenkte, zuckte sichtlich zusammen. „Mitspielen? Warum?“

„Weil Sie als meine Freundin mit Cathy nach Derwent Manor ziehen können. Sie erstellen den Stammbaum. Ich zahle Ihnen ein hohes Honorar und beschütze Sie vor Tommy. Auf diese Weise gewinnen wir beide.“

„Das ist verrückt.“

„Nein.“

„Doch, ist es. Wie können Sie unsere Sicherheit garantieren?“

„Ich beherrsche Selbstverteidigung und mehrere Kampfsportarten.“ Irgendwann hatte Gabe erkannt, dass ihn niemand vor den grauenhaften Zuständen im Internat und den Demütigungen durch andere Schüler retten würde. Also hatte er beschlossen, sich selbst zu retten.

Unbeeindruckt schüttelte Etta den Kopf. Sie schob ihm einen der Becher hin. „Sie verstehen nicht. Tommy ist ein Irrer. Ein Straßenkämpfer. Man hat ihn wegen diverser Straftaten verurteilt. Drogenhandel, bewaffneter Raub, Fahrerflucht.“

„Ich will nichts davon kleinreden, und ich protze auch nicht – aber ich kann Sie vor Tommy beschützen. Meine Erfahrung geht über ein paar Kurse hinaus. Wäre ich nicht sicher, dass ich Sie schützen kann, würde ich es nicht vorschlagen.“

Etta trommelte mit den Fingerkuppen auf die Arbeitsplatte, während sie ihn musterte. „Es würde nicht funktionieren.“

„Wieso nicht?“

„Sie können nicht sowohl Cathy als auch mich beschützen, weil wir nicht ständig zusammen sind. Außerdem …“

Ohne die Augen von Etta zu nehmen, ging er die kurze Begegnung mit Cathy noch einmal durch. „Außerdem will Ihre Tochter keine Kreuzfahrt machen, sondern ihren Dad treffen, und das macht sie schwer zu beschützen, richtig?“

Erst dachte Gabe, Etta würde nicht antworten, doch schließlich seufzte sie. „Ja. Deshalb ist die Kreuzfahrt ja so eine gute Idee. Da kann sie nicht abhauen.“

„Sie können Ihre Tochter aber nicht ewig auf einem Schiff lassen.“

„Ich weiß. Aber vorläufig ist es eine gute Strategie.“

„Wie ich Ihnen gestern sagte: Weglaufen ist selten eine gute Strategie.“ Er wusste noch, wie er mit acht aus dem Internat fortgelaufen war. Dieses Hochgefühl! Die Mischung aus Angst und Entschlossenheit auf seinem Weg nach Derwent Manor. Der beschämende Empfang.

„Derwents rennen nicht weg, Gabriel. Du hast den Namen unserer Familie befleckt.“

Er hatte vom Mobbing erzählt, war aber auf taube Ohren gestoßen.

„Feigheit darf nicht geduldet werden, Gabriel.“

„Es ist ein taktischer Rückzug“, argumentierte Etta.

„Machen Sie sich nichts vor. Ein taktischer Rückzug bietet die Chance, sich neu aufzustellen, weil man an seinem derzeitigen Standort unterliegen würde. Auf einem Schiff können Sie sich nicht neu aufstellen.“

Heftig stellte sie ihren Becher auf die Arbeitsplatte, nachdem sie einen Schluck genommen hatte. „Ich kenne Sie seit nicht mal vierundzwanzig Stunden und brauche weder Ihren Rat noch Ihre Analysen. Sie könnten andere Historiker engagieren, und zwar direkter und gefahrloser. Wieso bieten Sie ausgerechnet mir diesen Auftrag an?“

Gute Frage. Als er Etta mit Tommy gesehen hatte, war sein Beschützerinstinkt erwacht. Nichts Persönliches. Der Grund lag in seinen eigenen Erfahrungen. Auch er hatte sich hilflos gefühlt und voller Scham flüchten wollen.

„Meine Intuition sagt mir, dass Sie die richtige Person für den Job sind. Außerdem mag ich Männer wie Tommy nicht. Ich würde ihn liebend gern zurechtstutzen.“

Ettas Gesichtszüge wurden etwas weicher. „Verlockender Gedanke, aber ich muss erreichen, dass Cathy von Tommys Radar verschwindet.“

„Na gut.“ Gabe drehte sich um und ging zum anderen Ende der Arbeitsplatte. „Wie wäre es, wenn Sie hierbleiben und Cathy die Kreuzfahrt mit ihren Großeltern oder anderen Verwandten macht? Ich zahle die Differenz.“

„Es gibt keine anderen Verwandten. Das macht aber nichts, denn ich sorge dafür, dass Cathy in Sicherheit ist.“

„Sie schaffen es aber am besten, indem Sie das Problem mit Tommy lösen.“

Verletzlichkeit schimmerte in Ettas braunen Augen. Als hätte sie Angst, gegen Tommy aufzubegehren.

„Während ich dafür sorge, dass Sie in Sicherheit sind.“

Wieder trommelte sie mit den Fingerkuppen auf die Arbeitsplatte. „Ich könnte Steph fragen, ob sie Cathy begleitet. Mit Martha natürlich. Die Mädchen sind Klassenkameradinnen. Der Direktor ist damit einverstanden, dass ich Cathy vorübergehend aus der Schule nehme – vorausgesetzt, sie lernt unterwegs. Das könnte auch Martha tun. Steph ist selbstständige Illustratorin, sie könnte vielleicht ebenfalls Arbeit mitnehmen …“ Etta schüttelte den Kopf. „Verzeihung. Ich habe laut gedacht.“

„Nur zu.“

„Erst rede ich mit Cathy, dann mit Steph. Falls die beiden zustimmen, erstelle ich den Stammbaum Ihrer Familie. Sie bezahlen mich dafür und fungieren als mein Leibwächter, während ich überlege, wie ich mit Tommy verfahre.“

„Und wir tun so, als würde die Pressegeschichte von der Romanze zwischen uns stimmen.“

Als Gabe heute Morgen den Artikel gesehen hatte, war sein erster Impuls gewesen, Etta zu warnen. Anschließend hatte er überlegt, ob er das Foto zu seinen Gunsten nutzen konnte. Zu seinen und Ettas. Denn eine Allianz hielt nur, solange sie beiden Beteiligten Vorteile bot.

„Wenn die Reporter glauben, dass wir miteinander ausgehen, ist Ihre Arbeit am Stammbaum meiner Familie unwichtig“, fuhr Gabe fort. „Niemand muss wissen, dass ich Sie engagiere.“ Oder sich fragen, warum ich es tue.

Falls sein Vater von dem „Überraschungsgeschenk“ erfuhr, würde er aufhorchen. Weder der Duke noch die Duchess interessierten sich für den Stammbaum. In ihren Augen zählte er nur als Beweis für die ununterbrochene direkte Erbfolge der Derwents – die Gabe bald beenden würde.

„Das sehe ich anders. Wenn ich für Sie arbeite, möchte ich auch Anerkennung dafür.“

„Kriegen Sie. Jede Menge. Nach Weihnachten.“

„Bis dahin wird mein Ruf als Historikerin ruiniert sein. Alle werden glauben, Sie hätten mich nur deshalb engagiert, weil ich mit Ihnen schlafe.“

Stille. Gabe wusste genau, dass Etta an dasselbe dachte wie er: seidene Bettwäsche, nackte Haut, zwei Menschen, die einander berührten und schmeckten und …

„Angeblich“, korrigierte sich Etta ein wenig atemlos. „Angeblich mit Ihnen schlafe.“

„Nicht, wenn die Leute Ihre Qualifikationen und die Ergebnisse Ihrer Recherchen kennen. Niemand wird Ihnen vorwerfen, Arbeit und Vergnügen zu mischen. Als vermeintliche Freundin von mir können Sie sogar positive Publicity abstauben. Es ist eine einmalige Gelegenheit.“ Alle Frauen, mit denen Gabe ausgegangen war, hatten die Chance ergriffen, in Hochglanzmagazinen zu erscheinen und im Luxus zu schwelgen.

„Wollen Sie mir das etwa als Vorteil verkaufen?“, fragte Etta empört.

„Ja.“

„Für mich ist es keiner. Positive Publicity verschaffe ich mir lieber durch meine Arbeit. Ich werde den Stammbaum erstellen, nicht aber Ihre Freundin sein, egal ob echt oder unecht. Sie haben die Wahl.“

In ihrer Stimme liegt kein Mitleid, stellte Gabe irritiert fest. Das überraschte ihn. Nicht dass es eine Rolle gespielt hätte. Er hatte sein wichtigstes Ziel erreicht. Bald spürte er den nächsten Derwent-Erben auf.

„Einverstanden. Wir sagen den Reportern, dass ich Sie als Beraterin für den Weihnachtsmarkt engagiere. Lassen Sie mich wissen, wenn Sie Ihre Meinung ändern und meine Freundin sein wollen – echt oder unecht. Wir können dieses Spiel spielen, wie Sie wollen. Es hängt ganz von Ihnen ab.“

5. KAPITEL

„Es hängt ganz von Ihnen ab.“

Die mit samtiger Stimme gesprochenen Worte verfolgten Etta.

Seit dem Anfang des Gesprächs knisterte es zwischen Gabe und ihr. All ihre Sinne erwachten zum Leben. Ihre Haut prickelte. Auf einmal schien sie alles intensiver zu empfinden.

Sei nicht so überspannt.

Es war töricht, mit Gabriel Derwent zu flirten. Der Mann war ein Meister, sie hingegen eine blutige Anfängerin. Trotzdem ging die Fantasie mit ihr durch. Was, wenn sie auf sein Angebot zurückkam und sich in die Schlange der Gespielinnen des Playboys einreihte? Bloß nicht, mahnte der winzige Teil ihres Hirns, der noch gesunden Menschenverstand aufwies. Ja! jubelte der hormongesteuerte Teil.

In der Küche schien es immer heißer zu werden. Gabe war so nah. Seine Augen wirkten dunkel vor Begehren … Dunkelblau wie das Meer bei Sturm. Etta konnte kaum noch atmen. Je schneller ihr Puls schlug, desto langsamer verging die Zeit. Erwartungsvoll öffnete sie die Lippen.

Schlagartig fühlte sie sich schuldig. Was mache ich denn hier? Wenn man sich zu jemandem hingezogen fühlte, sah man die Welt nicht mehr, wie sie war, machte Dummheiten, beschwor Qualen und Verlust herauf.

Etta presste die Lippen aufeinander und wich zurück. Verräterisch abrupt, das merkte sie selbst. Sie würde Gabe ganz bestimmt keine Macht über sich einräumen. Nicht mal einen Bruchteil Kontrolle gab sie auf. Für keinen Mann. Sie hatte ja erlebt, was Machtlosigkeit bedeutete.

„Spiele interessieren mich nicht. Ich will nur, dass meine Tochter in Sicherheit ist. Sobald ich mit Cathy und Steph gere det habe, rufe ich Sie an. Wenn alles planmäßig läuft, fahre ich nach Derwent Manor, nachdem Cathy zur Kreuzfahrt aufgebrochen ist.“ Sie streckte die rechte Hand aus. Gabe ergriff sie nicht.

„Sie müssen nach Hause, um Ihre Koffer zu holen. Möglicherweise lungert Tommy dort herum. Die Reporter warten garantiert, also begleite ich Sie. Ich bin Ihr Leibwächter, Etta. Gewöhnen Sie sich an mich.“

Na toll.

„Am besten legen wir uns ein paar Sätze für die Medien zurecht“, fuhr er gelassen fort. „Man wird uns auf das Foto ansprechen.“

Etta bemühte nicht noch einmal ihr Argument, das Foto sei kein Abbild der Realität. Als sie Gabe zum ersten Mal begegnet war, hatte er sie umgehauen. Wenigstens sah er ebenso verzaubert aus wie sie selbst. Trotz aller guten Vorsätze empfand sie Genugtuung. Schon wieder.

„Ich …“ Ihr fiel keine einzige Erklärung ein, und er wusste es. Jetzt lächelte er leicht, was sie ärgerte. „Wir stellen klar, dass unsere Verbindung rein beruflich ist“, sagte sie. „Sie haben mich als Beraterin für Ihren Weihnachtsmarkt engagiert.“

„Dann sollen wir also hoffen, dass man uns glaubt und unsere Körpersprache niemandem auffällt?“

„Es gibt keine Körpersprache.“

„Sind Sie da sicher?“

„Hundertzehnprozentig“, bekräftigte Etta. Und wenn sie in eine Walle voll Eiswasser springen musste, bevor sie sich den Reportern stellte. „Jetzt rede ich mit Cathy und rufe Steph an.“

Ebenso neugierig wie überrascht sah Gabe ihr nach. Die meisten Frauen hätten sein Angebot angenommen. Erst recht, wenn es so gefunkt hätte. Einen Moment lang bedauerte er, dass Etta die sinnliche Spannung zwischen ihnen leugnete. Ganz zu schweigen davon, dass sie ihr nicht nachgeben wollte. Aber es würde andere Frauen geben. Hier ging es ums Geschäft. Er sollte erleichtert sein, weil sie ein rein berufliches Verhältnis wollte.

Gabe blickte sich in Stephs Küche um. Eine Fotocollage zeigte die unglaublich junge Etta mit einem dunkelhaarigen Kleinkind auf einem Karussell. Auf einem anderen Foto standen Etta und Steph hinter ihren Töchtern, die Schuluniformen trugen und mit Zahnlücken in die Kamera lächelten.

Der Anblick bedrückte Gabe – wegen einer Vergangenheit, die er nicht ändern konnte, und einer Zukunft, die ihm nicht vergönnt war. Er würde keine Kinder haben, mit denen er sich fotografieren lassen konnte.

Etta kehrte in die Küche zurück. „Steph und Martha sind begeistert, und Cathy ist zumindest enthusiastischer als vorher. Sie möchte unter vier Augen mit Ihnen sprechen. Vielleicht will sie vermeiden, dass Sie Tommy grün und blau prügeln. Oder …“

„Oder was?“

Etta lächelte, „Oder sie will herausfinden, ob Sie ehrbar genug sind, um als Gastgeber für mich infrage zu kommen.“

„Ich werde ihr versichern, dass ich ausschließlich ehrenwerte Absichten hege.“ Leider, flüsterte seine Libido.

Fünf Minuten später kam Cathy und setzte sich an den Holztisch. Gabe nahm ihr gegenüber Platz und wartete, während sie ihn ansah.

„Mum wird also bei Ihnen wohnen?“

„Ja.“

„Und Sie beschützen sie vor meinem Dad?“

„Ja.“

„Das ist nicht nötig.“ Cathy reckte ihr Kinn genauso vor wie ihre Mutter. „Dad will mich sehen. Was ist so schlimm daran? Er hat sich in den letzten sechzehn Jahren geändert. Eigentlich sollte Mum froh darüber sein.“

„Ich habe deinen Dad gestern gesehen, und ich fand ihn durchaus gefährlich“, sagte er.

Sie blickte zweifelnd drein, nur ganz kurz. „Jeder Mensch ist irgendwie gefährlich. Dad würde mir nicht wehtun. Und Mum auch nicht.“

„Deine Mum ist nur auf deine Sicherheit bedacht.“

„Ich weiß, aber ich bin sechzehn. In meinem Alter war Mum schwanger und hatte niemanden. Ein paar Leute haben ihr eine Chance gegeben, deshalb konnte sie etwas erreichen, sagt sie immer. Warum gibt sie Dad keine Chance?“

Gabe fühlte sich überfordert. „Das besprichst du besser mit deiner Mum.“

„Geht nicht, weil ich bald mitten auf dem Meer bin. Dann sind Sie bei Mum. Sie könnten mir helfen. Immerhin habe ich Ihnen auch geholfen.“

Er mochte das Mädchen. Eine Hand wäscht die andere, das hatte Cathy begriffen. „Wie kommst du darauf?“

„Sie wollen unbedingt Mum für diesen Job. Ich hätte sie dazu bringen können, abzulehnen.“

„Ja. Allerdings ist es nicht meine Aufgabe, deine Mum zu beeinflussen. Ich bin ihr Kunde. Sie weiß schon selbst, wie sie mit deinem Vater umgehen muss.“

Cathy schüttelte den Kopf. „Wenn Mum eine Entscheidung getroffen hat, bleibt sie dabei. Sie wird nie zugeben, dass sie sich wegen Dad irrt. Erst recht nicht, wenn ihr jeder zustimmt. Sie haben sie dazu gebracht, Ihren Auftrag anzunehmen, statt die Kreuzfahrt zu machen. Also könnten Sie auch versuchen, sie davon zu überzeugen, Dad eine Chance zu geben.“

„Tut mir leid, Cathy, daraus wird nichts. Das ist eine Sache zwischen deiner Mum und dir.“

Es klopfte, und Etta erschien in der Küche. Sie sah geschäftsmäßig aus, von den Spitzen ihrer kastanienbraunen Haare, die ihr weich bis auf die Schulterblätter fielen, bis zu den Spitzen ihrer schwarzen Stiefel mit den winzigen Knöpfchen. Der taillierte blaue Tweedblazer über dem dazugehörigen Kleid wirkte ebenso seriös wie modisch. Das elegante Etuikleid mit dem V-Ausschnitt brachte nicht nur ihre schlanke Figur zur Geltung, sondern auch ihre Kurven. Gabe hielt die Luft an.

„Ich störe ungern, aber Steph und Martha sind zurück. Wir müssen unser Gepäck holen.“

Mit einem bittenden Blick in Gabes Richtung stand Cathy auf. „Denken Sie wenigstens darüber nach.“

„Worüber?“, fragte Etta, nachdem ihre Tochter die Küche verlassen hatte. „Nein, vergessen Sie es. Cathy wollte vertraulich mit Ihnen reden. Sagen Sie mir nur, dass sie keine abenteuerlichen Pläne schmiedet.“

„Anvertraut hat sie mir jedenfalls keine. Außerdem kann sie wenig anstellen, es sei denn, sie schwimmt durch den Ozean.“

„Stimmt.“ Etta strich ihren Rock glatt. „Wollen wir?“

„Ja.“ Gabe erhob sich. „Sie brauchen nicht nervös zu sein“, sagte er, weil Etta so blass war.

„Ich denke doch. Vielleicht schreibt irgendein Reporter eine komplett erfundene Story.“

„Die Journalisten nützen uns. Wenn Tommy seine Tochter wirklich treffen will, ist eine Konfrontation vor der Presse das Letzte, was er braucht. Gestern Abend war er ja in Cornwall. Mit etwas Glück ist er noch nicht wieder in London.“

Etta blickte ein wenig fröhlicher drein. Gabe spürte eine merkwürdige Zufriedenheit, weil er dafür gesorgt hatte.

„Vermutlich schläft er seinen Rausch aus. Als ich mit ihm sprach, hatte er schon einiges intus.“ Etta erschauderte leicht.

Gabe ahnte, dass Tommy in betrunkenem Zustand handgreiflich wurde. Sollte der Typ aufkreuzen, würde er es bereuen. „Erwähnen Sie Cathy nicht. Tommy wird glauben, dass sie mit Ihnen auf Derwent Manor ist, also wird er nicht dazwischenfunken, wenn sie zum Schiff fährt. Und behalten Sie April Fotherington im Auge – sie ist eine gute Reporterin, wittert aber überall Romantik.“

„Was nicht existiert, kann man auch nicht sehen“, erwiderte Etta resolut. „Je eher wir gehen, desto eher ist es vorbei, richtig?“

Autor

Cara Colter

Cara Colter hat Journalismus studiert und lebt in Britisch Columbia, im Westen Kanadas. Sie und ihr Ehemann Rob teilen ihr ausgedehntes Grundstück mit elf Pferden. Sie haben drei erwachsene Kinder und einen Enkel.
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