Julia Weihnachtsband Band 31

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IM FUNKELNDEN LICHT DER LIEBE von BAINE, KARIN
Der süße Duft von Lebkuchen, ein Berg liebevoll eingepackter Geschenke und eine Ehefrau, so anbetungswürdig wie ein Engel! Eigentlich der perfekte Heiligabend. Doch Lucas weiß genau: Wenn er Freyas Leben nicht zerstören will, muss er sie noch diese Nacht verlassen …

NUR EIN GEBORGTES WEIHNACHTSGLÜCK? von FAYE, JENNIFER
Weihnachten? Nein, danke! Was für TV-Moderator Jackson zählt, ist sein Job. Auch als er die Feiertage mit der schönen Serena eingeschneit auf einer Berghütte verbringen muss, denkt er an Flucht. Aber warum fühlt sich plötzlich dieser eine verbotene Kuss so unglaublich richtig an?

DENN MEIN GRÖßTES GESCHENK BIST DU! von HARDY, KATE
Nie hätte Amy geglaubt, dass man am Fest der Liebe so glücklich sein kann. Ihr Nachbar Josh sorgt nicht nur rührend für Findelkind Hope, seine Küsse sind für Amy auch wie ein kostbares Geschenk … aber sie weiß, eine Zukunft mit dem smarten Arzt ist undenkbar …


  • Erscheinungstag 05.10.2018
  • Bandnummer 0031
  • ISBN / Artikelnummer 9783733711023
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Karin Baine, Jennifer Faye, Kate Hardy

JULIA WEIHNACHTEN BAND 31

KARIN BAINE

Im funkelnden Licht der Liebe

Freya ist entsetzt! Nie wollte sie Lucas wiedersehen! Schließlich hat der Kinderarzt sie vor einem Jahr kaltherzig verlassen! Doch als Lucas überraschend einen Kollegen vertritt und Freya auf eine Charityreise begleitet, fühlt sie wieder dieses Prickeln. Unter dem funkelnden Polarhimmel ist Freyas größter Weihnachtswunsch, dass ihre Herzen wieder zueinander finden …

JENNIFER FAYE

Nur ein geborgtes Weihnachtsglück?

Kurz vor Weihnachten flieht Filmstar Serena vor der Presse in eine einsame Berghütte! Allerdings währt ihre Ruhe nur kurz, denn nach einem Schneesturm sitzt TV-Profi Jackson bei ihr fest. Und plötzlich lodert nicht nur im Kamin ein prasselndes Feuer, auch zwischen ihnen knistert es. Serena ist schockiert, denn als Jackson sie küsst, vergisst sie jede Vorsicht …

KATE HARDY

Denn mein größtes Geschenk bist du!

Heiligabend? Für Dr. Farnham ein Fest, das er gerne aus seinem Leben streichen möchte. Doch mit seiner bezaubernden Nachbarin Amy das süße Findelkind Hope zu versorgen, hält für den Notarzt eine Überraschung bereit. Denn zwischen Fläschchen und Kerzenschein bezaubert ihn nicht nur das Funkeln in Amys Augen, plötzlich glaubt Josh auch wieder an Wunder …

PROLOG

Es würde das schönste Weihnachtsfest aller Zeiten werden! Das hatte Freya sich fest vorgenommen.

Als sie hörte, wie Lucas die Haustür aufschloss, richtete sie mit einer unbewussten Geste ihr Haar und hoffte inständig, der köstliche Duft des Bratens würde ein Lächeln auf sein Gesicht zaubern.

„Ich bin in der Küche!“, rief sie mit heller Stimme, froh, dass sie sich den heutigen Tag hatte freinehmen können.

Lucas war in letzter Zeit nicht gerade bester Laune gewesen, was sicherlich damit zu tun hatte, dass er Weihnachten arbeiten musste. Und wohl auch mit ihrer Ungeschicklichkeit, heikle Themen anzusprechen, während er überarbeitet und übernächtigt war. Trotzdem hätte sie nie erwartet, dass ihr Wunsch nach einem eigenen Baby bei ihm, als engagiertem Kinderarzt, eine derart kontroverse Diskussion lostreten würde. Zumal er bei seinen kleinen Patienten ausgesprochen beliebt war.

Bisher war eine eigene Familie zwischen ihnen kein Thema gewesen.

Trotzdem hatte Freya angenommen, Lucas sehne sich danach ebenso wie sie. Doch seine negative Reaktion von heute Morgen, sagte etwas ganz anderes. Da hatte er wortlos die Tür hinter sich zugeworfen und sich ins Krankenhaus geflüchtet, als sie ihn gefragt hatte, ob Weihnachten nicht der perfekte Zeitpunkt sei, ein Baby zu zeugen. Und das, während er offensichtlich unter Druck stand und keinen Kopf dafür hatte, über eine Vaterschaft nachzudenken.

Besser, sie besprachen dieses sensible Thema später, wenn sie beide Zeit und Muße für langfristige Zukunftspläne hatten.

Als Lucas zu ihr in die Küche kam, immer noch mit demselben finsteren Blick, den er seit Tagen zur Schau trug, sank ihr Herz. Wie es aussah, war ihr Timing immer noch nicht perfekt, genauso wenig, wie ihre Beziehung dem romantischen Märchen glich, als das sie sich ihre Ehe vorgestellt hatte. Ihr Traum von der eigenen kleinen Familie schien weiter entfernt denn je.

Lucas jüngste Stimmungsschwankungen ließen sie fast ihre Abmachung bedauern, die Festtage in diesem Jahr ganz allein zu verbringen, nur sie beide. Es würde ihr erstes Weihnachten ohne ihre deko- und weihnachtsverrückten Eltern sein. Erschwerend kam hinzu, dass ihr Ehemann Freyas eigene Begeisterung für das Christfest so gar nicht teilte.

Je mehr sie versuchte, ihn dafür zu begeistern, desto heftiger schien er sich dagegen zu wehren. Dennoch war sie entschlossen, das Fest und ihre Ehe zu einem Erfolg zu machen. Sie hatte bereits zu viel verloren, um sich alles wieder aus den Händen nehmen zu lassen …

Lucas lehnte mit dem Rücken am Kühlschrank. „Wie ich sehe, warst du fleißig“, stellte er mit einem flüchtigen Blick auf den Berg Plätzchen fest, ehe er weiter auf seinem Handy herumtippte.

Freya schluckte. Das war weit weg von der romantischen Wiedervereinigung, die sie sich den ganzen Tag über ausgemalt hatte: Nachdem sie beide zugegeben hätten, im Unrecht gewesen zu sein, würden sie ihre Versöhnung ganz sicher in einem heißen Küchen-Quickie feiern. Denn in Sachen Sex hatte es zwischen ihnen früher nie Probleme gegeben.

Klar hatte sie davon gehört, dass Leidenschaft nachlassen konnte, sobald man verheiratet war. Aber doch nicht bereits nach wenigen Monaten! Da sollte man sich eigentlich noch bei jeder Gelegenheit die Kleider vom Leib reißen! Dass es offensichtlich nicht so war, verunsicherte Freya und ließ sie an sich zweifeln.

Ihre Mutter schien nie ein Problem damit gehabt zu haben, ihren Beruf als Krankenschwester und ihre Ehe perfekt unter einen Hut zu bringen. Warum hatte nur sie, Freya, offensichtlich solche Probleme damit?

Alles, was sie tun konnte, war, dieses erste Weihnachten für sich und ihren Ehemann zu etwas ganz Besonderem zu machen.

„Der Truthahn ist so gut wie fertig, falls du schon Appetit hast. Ich habe ihn genauso gefüllt, wie meine Mutter es immer macht. Vielleicht kann ich diese Familientradition ja auch eines Tages weitergeben …“

Es war heraus, ehe sie es verhindern konnte. Angespannt wartete sie auf eine neue heftige Reaktion wegen ihrer Vision von einer fröhlichen Kinderschar unterm Christbaum.

„Momentan habe ich keinen Hunger … vielleicht später“, murmelte Lucas geistesabwesend und starrte weiter mit gerunzelter Stirn auf sein Handy-Display.

Freya schluckte mühsam und ermahnte sich streng, nicht überzureagieren. So war es eben, wenn man einen engagierten Kinderarzt heiratete, der rund um die Uhr in Bereitschaft war. Trotzdem konnte sie den nagenden Zweifel nicht abschütteln, dass sich möglicherweise noch etwas anderes hinter seinem Verhalten verbarg. Besonders, seit sie mehrfach miterlebt hatte, wie Lucas Telefonate abrupt beendete, sobald sie das Zimmer betrat.

„Ich habe sogar Lebkuchen gebacken“, verkündete sie mit erzwungener Fröhlichkeit. „Du weißt doch, diese kleine Armee von Lebkuchenmännern, ohne die es einfach kein richtiges Weihnachten ist. Auch wenn man sich nach Silvester die Zähne daran ausbeißt. Ich dachte, du könntest mir dabei helfen, sie zu dekorieren, ehe Santa Claus …“

Sie brach ab, als sie merkte, dass ihr kindlicher Eifer ihn nicht wie erhofft zum Schmunzeln brachte, sondern Lucas nur entnervt mit den Augen rollte.

Er ist wahrscheinlich zu erschöpft, um sich von mir in Weihnachtsstimmung bringen zu lassen, versuchte Freya sich einzureden. Das war allemal besser, als die Vorstellung, Lucas könne sie und ihre Ehe bereits satt haben.

„Großartig …“, murmelte er, ohne sie anzusehen. „Ich … äh, ich geh dann mal duschen.“ Damit strebte er aus der Küche und wischte mit der Hand gedankenlos die schillernden Papiergirlanden am Türrahmen zur Seite.

Freya erstarrte. Es erschien ihr wie ein Synonym dafür, dass er in ihr auch nichts anderes sah, als eine hübsche aber bedeutungslose Dekoration, die man ignorieren oder aus dem Weg räumen konnte, um sein Leben wie gewohnt fortzuführen.

Und erneut rotierte ihr Gedankenkarussell.

Selbst, wenn er nicht arbeitete, kam Lucas erst spät zu ihr ins Bett und war meist schon aufgestanden, wenn sie aufwachte, sodass ihnen nur wenig Zeit als verheiratetes Paar blieb. Okay, die Ehe war für sie beide noch Neuland, doch Freya hatte sich geschworen, alles dafür zu tun, dass sie funktionierte. Dies war ihre Chance, endlich eine eigene Familie zu bekommen, und sie wollte kein zweites Mal scheitern.

Lucas schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und überließ es dem strömenden Wasser, alle verdächtigen Spuren von seinen Wangen zu wischen.

Ein Mann, der heulte!

Und das am ersten Weihnachtsfest mit seiner wunderschönen Frau. Müsste das nicht die glücklichste Zeit seines Lebens sein? Aber wie sollte er sich an der vor ihnen liegenden Zukunft freuen, wenn seine Vergangenheit ihn derart brutal einholte? Er konnte unmöglich daran denken, eine eigene Familie zu gründen, während er immer noch damit kämpfte, den Tod seines Vaters zu verkraften – des einzigen Elternteils, das er kannte.

Dabei trauerte er nicht um den Mann, sondern um seine eigene Kindheit. Die leidvollen Erfahrungen, die ihn immer noch nicht losließen und verhinderten, dass er sein neues Leben, seine Ehe mit Freya genießen konnte.

Alles, was er sich so hart erarbeitet hatte, erschien ihm als Lüge, seit er sich dem stellen musste, wer er eigentlich war – abgesehen von seiner Karriere und dem sichtbaren Erfolg. Ein verbitterter Sohn und zutiefst verunsicherter potenzieller Vater. Es wäre einfach nicht fair, ein Kind in diese Welt zu setzen, während seine eigene um ihn herum zusammenzubrechen drohte …

Lucas fluchte lautlos, schrubbte sein Selbstmitleid erbarmungslos weg und stellte die Dusche ab.

Dass er Freya gegenüber nicht fair war, quälte ihn besonders. Ein normaler Mann hätte seiner Frau bestimmt von dem entfremdeten Vater erzählt, der schließlich seiner Lebererkrankung erlegen war. Und sie gebeten, an seiner Seite zu sein, um die verdammte Beerdigung durchzustehen.

Dann hätte sie sicher verstanden, dass er nicht über ein eigenes Kind nachdenken konnte, solange er vor Angst verging, genauso zu versagen, wie sein Vater es bei ihm getan hatte. Aber die Beziehung zu seinem Erzeuger war so krank und vergiftet gewesen, dass er sie damit nicht konfrontieren wollte. Freyas rosarote Brille, was ihre Ehe und Zukunft betraf, sollte nicht durch die hässliche Wirklichkeit getrübt werden.

Er hätte wissen müssen, dass man dem Fluch der Vergangenheit nicht so einfach entkommen konnte.

Die Nachricht vom Tod seines Vaters hatte ihn wie mit einer Zeitmaschine in eine Vergangenheit zurückgebeamt, von der er glaubte, sie endgültig bewältigt zu haben. Stattdessen wurde er plötzlich von Erinnerungen eingeholt, die er so vehement zu unterdrücken versucht hatte, bis selbst seine wachen Momente von dunklen Gedanken und der Notwendigkeit, ihnen zu entkommen, dominiert wurden.

Freya war es als Einziger gelungen, ihn aus dieser Falle zu befreien – leider nicht endgültig, wie er sich jetzt eingestehen musste. Anstatt sein neues Leben zu genießen, drohte er in Verzweiflung zu ertrinken und stieß seine Frau von sich, während sie versuchte, ihr Haus zu dem Heim zu machen, das er nie gehabt hatte.

Sobald er sich abgetrocknet und umgezogen hatte, ging Lucas zu ihr nach unten.

Dort erwartete ihn ein liebevoll gedeckter Tisch. Doch anstatt die Bemühungen seiner Frau wertschätzen zu können, erinnerte es ihn nur schmerzhaft daran, worauf er in seiner Kindheit und Jugend hatte verzichten müssen. Wie es aussah, war es seinem Vater gelungen, ihm neben allem anderen auch noch Weihnachten für immer zu zerstören …

„Ich dachte, wir könnten jeder schon heute Abend eines der Geschenke unterm Christbaum öffnen“, schlug Freya ihm mit strahlendem Lächeln vor. „Zu Hause haben wir es immer so gemacht, und für gewöhnlich war darin ein Pyjama, den man dann schon vor dem Weihnachtsmorgen tragen durfte.“ Sie setzte sich ihm gegenüber, immer noch so aufgekratzt, als erwarte sie tatsächlich, dass der Weihnachtsmann jeden Moment durch den Schornstein purzeln würde, um ihnen Gesellschaft zu leisten.

Er hatte sich derartigen Wahnvorstellungen noch nie hingegeben, weder als Kind noch als Erwachsener. „Klingt gut.“ Wenn er gewusst hätte, dass sie so eine Weihnachtsfanatikerin war, hätte er sich vielleicht auch etwas überlegt, um sie zu überraschen, aber dies war alles so schrecklich neu für ihn. Geschenke waren bisher nicht mehr als Gesten gewesen, um seinem Gegenüber Wertschätzung, Dank oder sonst was zu vermitteln.

Für seine Frau schienen sie einen anderen Stellenwert zu haben, angesichts des kunterbunten Geschenkebergs unterm Weihnachtsbaum.

„Ich weiß, dass wir eigentlich ein ruhiges Fest geplant haben, aber ich dachte … wenn es für dich okay ist …“ Freya brach ab, räusperte sich und gab sich einen Ruck. „Könnten wir nicht morgen zusammen mit meinen Eltern essen? Wir haben sie seit der Hochzeit kaum gesehen.“

Während sich Lucas’ Magen zusammenzog, fiel sein Besteck scheppernd zu Boden. Damit war auch sein letztes bisschen Appetit verflogen. „Ich dachte, du wolltest unser erstes Weihnachtsfest unbedingt in trauter Zweisamkeit verbringen?“, erinnerte er seine Frau. Jetzt auch noch den Tag im Kreis ihrer anscheinend perfekten Familie zu verbringen, war das Letzte, was er wollte.

„Ich weiß. Es wäre nur schön, sie zu sehen und den Tag irgendwie ein wenig …“

Die Enttäuschung in ihren großen braunen Augen war nicht zu übersehen. Weihnachten galt offenbar als Symbol für alles, was ihrer Familie wichtig war. Alles, worauf er ein Leben lang hatte verzichten müssen.

Freya liebte es, mit ihren Eltern zusammen zu sein und konnte es nicht abwarten, selbst Mutter zu werden. Und er hasste den Gedanken, der dunkle Schatten über ihrem Leben und dem ihres Kindes zu sein. Was, wenn sich herausstellte, dass er wie sein Vater keine anderen Emotionen als Bitterkeit, Kälte oder Hass zeigen konnte?

War er nicht schon auf dem besten Weg dahin? Würde er sonst so gereizt auf die Liebesbeweise seiner Frau reagieren und sich lieber in die Schrecken der Vergangenheit flüchten? Sie verdiente einen besseren, stärkeren Mann als ihn. Einen, der sich nicht wie ein ängstlicher kleiner Junge verhielt, und der sich immer noch von seinem Vater einschüchtern ließ, selbst nach dessen Tod …

Er hatte nichts mehr gemein mit dem Mann, den Freya geheiratet hatte und mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte, auch wenn sie das nicht zugab. Ihre Liebe mochte perfekt sein, was die physische Seite betraf, doch ihre unterschiedlichen Zukunftsvisionen und Sehnsüchte würden sie unweigerlich voneinander entfernen.

Lucas schob seinen Teller zurück und stand auf. „Tut mir leid, Freya, aber ich halte das nicht länger aus.“ Jedes Wort schmerzte wie ein Dolch, der sich immer tiefer in seine Brust bohrte und eine Wunde riss, die nie wieder heilen würde.

Aber dies war die einzige Möglichkeit, sie beide zu retten, auch wenn es sich momentan nur brutal und grausam anfühlte. Freya war jung und idealistisch, die Zeit würde für ihn arbeiten und ihr klarmachen, dass er das Richtige getan hatte. Ihr offenes Wesen würde ihr helfen, eines Tages die große, wahre Liebe zu finden, die sie verdiente und die er ihr von Herzen gönnte … irgendwann, mit dem nötigen Abstand.

„Lucas …?“ Ihre Stimme erstarb. „Wir müssen nicht zu ihnen fahren, wenn du nicht willst. Lucas …?“

Er kam nicht weiter als bis zur Haustür, bevor er ihre hastigen Schritte hinter sich hörte, schaute aber nicht zurück. Seine Knie zitterten, sein Brustkorb war so eng, dass der unerträgliche Druck ihn zu sprengen drohte. Er musste von hier weg, bevor noch etwas passierte, das er später bereute.

Freya konnte immer noch alles haben, wonach ihr Herz sich sehnte, aber mit jemand anderem. Das Beste zurückzulassen, was ihm je passiert war, erschien ihm unerträglich, und trotzdem musste es sein, zu ihrem Wohl …

1. KAPITEL

Zehn Monate später …

Freya klingelte testhalber mit den Glöckchen an ihrem Hut, richtete ihre Elfenohren auf und zog die gestreiften Strümpfe hoch. Weihnachten sollte die schönste Zeit des Jahres sein, und sie war fest entschlossen, genau das den kleinen Patienten vom Princes-Street-Kinderkrankenhaus zu vermitteln.

Egal, ob sie sich schon jetzt im Oktober auf den Weg nach Lappland machten, um den Mann im roten Anzug zu treffen. Sobald sie ihn sah, wollte Freya ihn daran erinnern, dass er ihr fürs letzte Weihnachten noch einen großen Gefallen schuldete …

„Na, ist dir überhaupt schon weihnachtlich zumute?“, wollte Gillian wissen, die wie sie als Krankenschwester in der Notaufnahme arbeitete und, ebenfalls als Elf verkleidet, jetzt neben Freya Stellung bezog. Zusammen mit der Crew wollten sie die aufgeregten Kinder an Bord begrüßen, die sie dann auch während des Fluges betreuen würden.

„Ich gebe mein Bestes.“ Tatsächlich fiel es ihr schwer, sich darauf zu besinnen, wie sehr sie dieses Fest geliebt hatte, bis sie ihr Mann im letzten Jahr am Weihnachtstag verlassen hatte und ihr damit die schlimmste Zeit ihres Lebens bescherte. Aber hier ging es nicht um sie, weshalb Freya ein betont fröhliches Lächeln auf ihre Lippen zauberte, während sie rot-weiß geringelte Zuckerstangen mit dem Aufdruck MERRY X-MAS an die kleinen Patienten verteilte, die das Ärzteteam für die von einer Wohltätigkeitsorganisation gesponserte Flugreise zum offiziellen Weihnachtsmanndorf am Polarkreis ausgewählt hatte.

„Auf jeden Fall steht dir dieses heiße Outfit!“, lachte Gillian und zupfte an dem weißen Kunstpelzsaum, der den Rock von Freyas grünem Elfenkostüm zierte.

„Ich wusste, dass er zu kurz ist!“, stöhnte sie auf. „Das kommt davon, wenn man gezwungen ist, in der Kinderabteilung einzukaufen!“ Wobei sie es vermutlich gerade ihrer mangelnden Körpergröße und ihrer zierlichen Figur verdankte, dass man sie als Hilfself für Santa Claus einsetzte. Okay, das und ihre umfassende pflegerische Erfahrung.

Ohne die Unterstützung eines qualifizierten medizinischen Teams würden diese armen Würmchen Edinburgh niemals verlassen können. Für einige von ihnen war es das erste Mal seit Jahren, dass sie das Krankenhaus für eine kurze Zeit hinter sich lassen durften, was diese Reise zu etwas ganz Besonderem machte. Nicht nur für die kleinen Patienten, sondern auch für ihre Familien und für jeden, der daran beteiligt war.

Allein deshalb war Freya wild entschlossen, ihren Kummer und ihre Einsamkeit wenigstens für diese Zeit zu vergessen, um den Trip für jedes der Kinder zu einem einmaligen Erlebnis zu machen.

„Du siehst einfach umwerfend aus. Vielleicht gelingt es dir ja, einem der Rentierzüchter den Kopf zu verdrehen, sodass er dich nie mehr weglassen will.“

Freya biss sich auf die Lippe und versuchte sich zu beherrschen, bis die Kinder außer Hörweite waren. Auf dieser Reise hatten Schmerz und Enttäuschung keinen Platz, und ihr Liebesleben, oder der Mangel desselben, gehörte absolut in diese Kategorie.

„Männer stehen in absehbarer Zukunft definitiv nicht auf meiner Wunschliste. Den letzten habe ich nur knapp überlebt. Alles, was ich mir dieses Jahr zu Weihnachten wünsche, ist, Lucas Brodie zu vergessen und mich daran zu erinnern, dass ich Freya Darrow bin: die personifizierte Weihnacht und nicht irgendein trauriges Scheidungsopfer, das in ihren Eierlikör heult und sich selbst bedauert.“

Wobei, offiziell geschieden waren Lucas und sie noch nicht. Aber da sie ihn nie wieder gesehen hatte, seit er einfach so gegangen war, musste sie wohl akzeptieren, dass ihre Ehe beendet war. So hatte Freya wieder ihren Mädchennamen angenommen, im Bestreben, alles aus ihrem Leben zu verbannen, was sie an ihn erinnern könnte.

In der ersten Zeit ihrer stürmischen Romanze, hatten sie nur Augen füreinander gehabt und sich um nichts und niemand sonst gekümmert.

Deshalb hatte sie Lucas auch nie von dem Verlust erzählt, den sie als Teenager erlitten hatte. Und er hatte offenbar auch nie den richtigen Zeitpunkt gefunden, über sein Widerstreben zu sprechen, was eine eigene, kleine Familie betraf …

In der ersten Zeit ihrer Ehe war sie so überschäumend glücklich gewesen, dass Freya es nicht riskieren wollte, diese Harmonie zu zerstören, indem sie alte Wunden aufriss. Lieber gab sie sich der Hoffnung hin, mit der Zeit würde schon jedes Puzzleteil automatisch an seinen richtigen Platz fallen.

Dann, als Lucas erste Stimmungsschwankungen auftraten und er zunehmend launenhafter wurde, wollte sie ihn nicht noch zusätzlich aufregen, indem sie sein seltsames Verhalten thematisierte. Naiv wie sie war, dachte sie, ein so positives und optimistisches Thema wie die eigene Familienplanung könne alles wieder richten, nicht wissend, dass er zu dem Zeitpunkt offenbar schon entschlossen war, aus ihrer Ehe zu fliehen.

Er gab sie und ihre Ehe auf, ohne auch nur den Versuch zu machen, eine Lösung zu finden. Was immer ihn auch damals umtrieb, es ließ ihm offenbar keine andere Option, als zu gehen.

„Ich bin froh zu sehen, dass du wieder viel mehr deinem alten Selbst gleichst“, platzte Gillian mitten in ihre schweren Gedanken hinein. „Und … ach übrigens, da ist noch etwas wegen Lucas, das ich dir vielleicht sagen sollte …“

„Ich will nichts hören“, bremste Freya ihre Freundin gleich wieder aus und hielt sich die Ohren zu. „Nur glückliche Impulse an diesem Wochenende, okay?“

Gerüchte, dass Lucas zurück sei und im Krankenhaus am anderen Ende der Stadt arbeiten würde, waren natürlich auch bis zu ihr durchgedrungen. Doch Freya zog es vor, sie zu ignorieren. Und verbot sich selbst rigoros, auch nur eine Minute ihres neuen Lebens zu verschwenden, indem sie der Vergangenheit nachtrauerte.

„Die Kinder scheinen jetzt schon ungeheuren Spaß zu haben“, stellte sie mit einem Lächeln fest, das niemand als künstlich hätte entlarven können.

War es wirklich schon ein Jahr her, dass sie verzweifelt sämtliche Freunde und Krankenhäuser angerufen hatte, um herauszufinden, ob der Mann, den sie liebte, überhaupt noch lebte? Tage voller Panik und Unglauben hatte sie ertragen müssen, bevor ihr zu Ohren kam, dass er sich in der Klinik krankgemeldet hatte und nicht kontaktiert werden wollte. Anscheinend schloss das auch sie mit ein, weil angeblich niemand seine neue Adresse und Telefonnummer kannte oder sie ihr nicht geben durfte.

Bis heute wusste Freya nicht, ob er sie wegen einer anderen verlassen hatte oder ob ihr Kinderwunsch schuld an seiner Flucht gewesen war.

Er hatte ja leider darauf verzichtet, sich ihr zu erklären.

Nicht, dass es jetzt noch etwas ändern würde, nachdem sie die letzte Woche auf der Couch liegend verbracht hatte, mit einer gefährlichen Überdosis von schmalzigen Weihnachtsfilmen und heißer Schokolade, im verzweifelten Versuch, ihre lebenslange Begeisterung für Weihnachten nach der Katastrophe des letzten Jahres wiederzubeleben.

Diese Reise an den Polarkreis war genau das, was sie brauchte, um ihren Glauben an das Gute im Menschen wiederherzustellen und ihr inneres Kind zu wecken.

„Frohes Fest!“, wünschte Freya jedem kleinen Patienten, dem an Bord geholfen wurde und schämte sich für unsinnige Gedanken, die sich nur um sie selbst drehten.

Dies war eine Pause vom Alltag für sie alle. Selbst Eltern und Geschwister, die zu Hause blieben, würden an diesem Wochenende einen von der Wohltätigkeitsorganisation finanzierten Ausflug ins schottische Hochland unternehmen, um zu entspannen und Kräfte zu sammeln für die nächsten Herausforderungen.

„Ist der Weihnachtsmann schon an Bord?“, wollte ein aufgeregter Knirps wissen.

Gillian lächelte. „Keine Panik, Sam. Ich habe dir doch gesagt, wir sehen ihn erst am Ende der Reise. Versuch bis dahin Ruhe zu bewahren.“

Posy, eine weitere freiwillige Helferin, die Sams Asthmagerät hinter ihm hertrug, schnitt eine hilflose kleine Grimasse und folgte ihrem Patienten zu seinem Platz.

„Wenigstens einer, der es kaum abwarten kann“, schmunzelte Freya, die Sams Enthusiasmus gut nachvollziehen konnte, wenn er ihr selbst auch abhandengekommen war.

Ihre Aufgabe war es jetzt, ihre Schützlinge so lange im Zaum zu halten, bis sie Santas Zuhause tief im Winterwunderland der finnischen Wälder erreichten. Und am Ende des Wochenendes würde ja vielleicht etwas von der Magie und dem Zauber dieser Reise auf sie abgefärbt haben.

„Seine Mutter sagte, Sam hätte sich seit Wochen derart auf diesen Trip gefreut, dass sie ihn kaum bändigen konnte.“

Posy bedachte den mageren kleinen Kerl, der inzwischen wieder mit seinem Sauerstoff-Inhalator verbunden war, mit einem liebevollen Blick. „Noch einmal so jung und offen für alles Zauberhafte zu sein …“, murmelte sie leise.

„Ich denke wirklich, dass du es wissen solltest …“, nahm Gillian erneut Anlauf, doch Freya winkte ab.

Wollte Gillian ihr vielleicht erzählen, dass sie Lucas mit einer anderen Frau gesehen hatte? Nach so einer langen Trennung kein Grund für sie zu verzweifeln, oder doch? Egal, nur wollte sie heute und morgen nicht darüber nachdenken. Es hatte ihr schon gereicht zu erfahren, er sei wieder in der Stadt. Dass er sich bisher nicht bei ihr gemeldet hatte, sagte ihr alles, was sie wissen musste.

„Ich glaube, jetzt sind alle an Bord. Wir sollten unsere Plätze einnehmen, damit der Pilot starten kann. Sobald wir in der Luft sind, geht’s mit dem Unterhaltungsprogramm los.“ Damit steuerte Freya energisch auf ihren Sitz zu, der glücklicherweise weit weg von Gillians lag. So würde ihre Freundin ihr wenigstens nicht weiter mit Gerüchten über Lucas in den Ohren liegen. Sobald sie saß und angeschnallt war, schloss sie demonstrativ die Augen.

Kurz darauf berührte jemand ihr Knie, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken. „Wir warten nur noch auf den Arzt. Danach schließen wir die Türen, und die Party kann loslegen“, informierte sie die nette, blonde Stewardess, die ihr geholfen hatte, den Innenraum mit Lametta und Girlanden zu schmücken.

„Aber sicher. Ohne einen Doktor an Bord ist die Party ja nur halb so schön“, scherzte Freya und betete innerlich, dass es unterwegs keinen medizinische Notfall gab. Als Begleitkrankenschwester hatte sie sich bereit erklärt, zwei der Kinder persönlich zu betreuen, aber einen echten Mediziner konnte trotzdem niemand von ihnen ersetzen.

„Sie haben gerade vom Abfertigungsschalter angerufen. Er ist auf dem Weg.“

Zumindest bedeutete die Verzögerung, dass sie eine kleine Weile durchatmen konnte, bevor sie sich der nächsten Herausforderung stellen musste. Der Start war für Freya das einzige Problem am Fliegen. Den Moment, wenn das Flugzeug festen Boden verließ und die Welt unter ihr immer kleiner wurde, fürchtete sie jedes Mal.

Seufzend lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück.

„Meine Damen und Herren, unser letzter Passagier ist an Bord, deshalb schließen wir die Kabinentür und bereiten uns auf den Start vor.“ Die Ankündigung erfolgte, während eine hochgewachsene Gestalt in den Mittelgang trat und damit einen begeisterten Begrüßungschorus und Applaus von allen Seiten auslöste.

Nur Freya hockte stumm und mit aufgerissenen Augen auf ihrem Sitz, zu traumatisiert, um auch nur Luft zu holen.

Lucas … hier an Bord! Es sei denn, sie litt unter einer Halluzination.

„Tut mir leid, dass ich den Betrieb aufgehalten habe. Aber es gab Probleme mit dem Wagen.“ Der verspätete Passagier lächelte breit und schüttelte Regentropfen aus seinem dichten dunkelblonden Haar.

Freya blinzelte unter dem Tropfenschauer und stellte sich, wenn auch widerwillig, der Tatsache, dass ihr Ex-Mann tatsächlich an Bord des Fliegers war. Mit flammendem Blick wandte sie sich quer über den Gang ihrer Freundin zu, doch Gillian zuckte nur mit den Achseln. „Ich habe versucht, es dir zu sagen …“, verteidigte sie sich.

„Nicht nachdrücklich genug!“, giftete Freya. Das durfte nicht wahr sein. Sie hatte keine Lust, Lucas zu sehen oder mit ihm zu reden. Sie hier einfach zu überfallen, ohne vorherige Warnung, das war selbst für seine Verhältnisse zynisch und grausam.

„Der Arzt, der eigentlich mitfliegen sollte, ist krank geworden. Ich habe erst heute Morgen erfahren, dass Lucas seinen Platz übernommen hat“, zischelte Gillian.

„Zeit genug, mich zu warnen!“

„Du wolltest ja nicht!“

Die Türen waren verschlossen, und sie war mit ihm in diesem kleinen und zugleich sehr öffentlichen Raum eingesperrt. Nicht gerade der ideale Ort, um ihren Ex zum ersten Mal seit fast einem Jahr zu sehen, zumal ihre Emotionen so heftig unter der Oberfläche brodelten, dass sie die Türen dieses Flugzeugs sehr leicht sprengen könnten. Schon jetzt begann sie zu hyperventilieren.

„Tut mir leid, ich wollte dich nicht aufregen. Wir brauchen dich doch hier.“

Freya maß ihre Freundin mit einem vernichtenden Blick. „Es hätte meine Entscheidung sein müssen.“ Die aufgestauten Gefühle in ihrem Innern waren genau der Grund, warum sie keinen Kontakt mit Lucas wollte. Selbst jetzt fiel es ihr schwer, nicht aufzustehen, ihn ins Gesicht zu schlagen und die Antworten zu verlangen, die sie wahrscheinlich nicht bereit war zu hören.

Allein sein Anblick ließ ihr Herz schneller schlagen, aus welchen Gründen auch immer. Erinnerungen, gute und schlechte, überschwemmten sie mit einer Intensität, die ihr den Atem raubte.

Ihr erster Kuss … als sie nach wochenlanger Arbeit, Seite an Seite, mit Kollegen ausgegangen waren, und sie noch verbissen versucht hatte, die fatale Anziehungskraft zwischen ihnen zu ignorieren. Sie war nie auf eine Romanze am Arbeitsplatz aus gewesen. Besonders nicht mit jemandem, der nur einen Zeitvertrag hatte. Keine ideale Basis für eine langfristige Beziehung, und sie war kein Typ für eine kurze Affäre.

Aber Lucas war so nett und reizend zu seinen kleinen Patienten und zu ihr, dass sie sich eine Ausnahme genehmigte. Und was war daraus geworden? Gepeinigt senkte Freya die Lider.

Noch heute bezahlte sie für ihren Fehler von damals.

Als Lucas ihr den Antrag gemacht hatte und versprach, sie für immer zu lieben, hatte sie sich von ihm dazu verführen lassen zu glauben, diesmal würde eine Verlobung auch zu einer Ehe und einer eigenen Familie führen und sie für alles entschädigen, was ihr bisher versagt geblieben war.

Sie hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass sie sich nach der Art von besonderer Beziehung sehnte, wie ihre Eltern sie führten. Und sie hatte geglaubt, er hätte verstanden, dass die Ehe für sie ein heiliges Sakrament war und nichts, womit man leichtfertig umging. Der Heiratsantrag beim Candle-Light-Dinner in seinem Apartment war perfekt gewesen.

Aber dann einfach fallen gelassen zu werden, weil ihr Göttergatte des Ehelebens allzu schnell müde geworden war …!

Am Tag ihrer Eheschließung hatte sie noch geglaubt, sie würden für den Rest ihres Lebens zusammenbleiben. Es war nur eine kleine kirchliche Hochzeit gewesen, da es auf Lucas’ Seite keine Familie gab, die er hätte einladen können. Er hatte unglaublich attraktiv ausgesehen und sich so zugewandt und ergeben gezeigt, als sie ihre Gelübde sprachen, dass er ihr wirklich wie ein Märchenprinz erschien. Und als sie ihren Hochzeitstanz absolvierten, standen Tränen in seinen Augen, wie sie heute noch bereit war zu schwören.

Doch leider war seine Liebe nicht von Dauer gewesen.

Das letzte Bild, das sie vor Augen hatte, war sein breites, gebeugtes Kreuz, als er nur wenige Monate später ging und ihr damit das Herz brach.

„Wenn Sie sich bitte setzen würden, Doktor, damit wir starten können?“

Die Bewunderung in der Stimme der hübschen Flugbegleiterin war nicht zu überhören. Und plötzlich verspürte Freya ein seltsames Gefühl der Gelassenheit. Vor nicht allzu langer Zeit war sie wie dieses naive junge Ding gewesen, das sich von den strahlend blauen Augen, seinem jungenhaften Charme und dem verwegenen Piratenlächeln hatte blenden lassen. Ihm vom ganzen Herzen zu vertrauen hatte sehr viel länger gedauert.

Irrtümlicherweise war sie davon ausgegangen, dass jemand, der in seinem Beruf so kompetent und zuverlässig war und im besten Sinne seinen Mann stand, auch für sie da sein würde, wenn sie ihn brauchte. Die Art von Mann, der sich mit einer Frau und Kindern niederlassen und Zufriedenheit finden würde.

Wie hatte sie nur so falsch liegen können?

Lucas war nicht besser als sein Vorgänger, der ebenfalls ihr Vertrauen auf perfide Weise missbraucht hatte. Er war sogar noch schlimmer, weil er neben seinem Gelübde auch noch ihr Herz gebrochen hatte.

Als sie sah, wie sein Lächeln schwand, als er sie auf seinem Weg durch den Mittelgang erkannte, fühlte sie so etwas wie Genugtuung.

„Freya?“ Lucas schluckte heftig.

Dass es ihm momentan nicht besser zu gehen schien als ihr, befriedigte sie. Vielleicht war es ja sogar von Vorteil, dass sie auf diesem Weg gezwungen wurden, sich endlich auszusprechen. Obwohl nichts, was er sagen könnte, wieder gutmachen würde, was er ihr angetan hatte.

„Lucas, du bist die letzte Person, die ich erwartet hätte, hier zu sehen“, sagte sie ruhig und unterkühlt. Ihren hitzigen Emotionen freien Lauf zu lassen, dafür war dies nicht der richtige Ort. Ihre zu Fäusten geballten Hände musste er ja nicht sehen und ebenso wenig wissen, dass ihr Herz oben im Hals klopfte.

„Ich wurde in letzter Minute gebeten, für einen erkrankten Kollegen einzuspringen. Und ich dachte …“ Er versuchte sein Handgepäck in einem Fach über den Sitzen zu verstauen und war einen Moment abgelenkt.

„Was dachtest du? Dass es eine lustige Überraschung für mich sein könnte?“ Wenn er etwas von Körpersprache verstand, würden ihre verschränkten Arme und der grollende Unterton ihn eines Besseren belehren. Dass er ihre Aussprache bewusst vor den Augen der Öffentlichkeit inszenierte, machte es noch schlimmer. Zum Glück waren alle so kurz vor dem Start mit sich selbst beschäftigt.

„Doktor, nehmen Sie doch bitte endlich Platz, damit wir starten können.“ Die Flugbegleiterin versüßte ihre sanfte Rüge mit einem hinreißenden Lächeln, schloss energisch das Gepäckfach und drängte Lucas auf den Sitz vor Freyas.

Die atmete tief durch, sobald sie nicht mehr diesem hypnotischen Blick aus kobaltblauen Augen ausgesetzt war. Monate voller Tränen und Herzschmerz hatten es nicht vermocht, sie von dem stärksten aller Gefühle, das sie Lucas entgegenbrachte, zu heilen.

Von ihrer großen Liebe zu ihm. Und dafür hasste sie sich selbst.

Wenn es ihr gelungen wäre, sich diese Liebe aus dem Herzen zu reißen, würde es ihr heute sicher besser gehen. Und es würde nicht so wehtun, ihn zu sehen und an alles erinnert zu werden, was sie verloren hatte.

Sie musste dieses Wochenende einfach als Test betrachten, sowohl in professioneller wie in privater Hinsicht. Weder wollte sie Lucas erlauben, sie zur Gefangenen ihrer eigenen Emotionen zu machen, noch durfte irgendetwas oder irgendjemand die Magie dieser Reise für die Kinder zerstören.

Wie in Trance ließ Lucas ließ sich auf seinen Sitz fallen. Freyas Anblick hatte ihn wie der Schlag eines Preisboxers ausgeknockt, obwohl er gewusst hatte, dass sie mit an Bord sein würde.

„Ihr Sicherheitsgurt, Sir“, wurde Lucas von einem anderen Crewmitglied ermahnt.

Sorry … es tut mir leid.“ Am liebsten hätte er es auf seine Stirn gemeißelt, und sich zu ihr umgedreht, weil er unfähig schien, seine Reue Freya gegenüber in Worte zu fassen.

Fast ein Jahr war vergangen, seit sie sich zuletzt gesehen hatten, und doch waren ihr Schmerz und seine Schuld und Scham so offenkundig, als wäre all das gerade erst geschehen.

Als er ihren Namen auf der Mitarbeiterliste gelesen hatte, hatte er zunächst gezögert, für seinen Kollegen einzuspringen.

Doch dann war ihm bewusst geworden, dass diese erzwungene Begegnung auch eine Chance war. Dass sie miteinander reden mussten, um beide mit einem qualvollen Kapitel ihres Lebens abschließen zu können. Es würde ihm nicht leicht fallen, die Möglichkeit einer Scheidung anzusprechen, aber ein offizielles Ende ihrer Beziehung war der nächste logische Schritt, um Freya den Weg zu einem Neustart zu ebnen, den sie verdiente. Irgendwann an diesem Wochenende würde sich bestimmt eine Gelegenheit dazu ergeben.

Außer, dass er nicht ein derartiges Gefühlschaos erwartet hatte, als er sich entschloss, in ihr Leben zurückzukehren …

Ihr Anblick hatte ihm schlagartig vor Augen geführt, was er durch seine Krankheit verloren hatte.

Sein Freund Peter war es gewesen, der während seiner Abwesenheit den Kontakt zum Krankenhaus aufrechterhalten und so seine Karriere gerettet hatte. Und um der Klinikleitung zu beweisen, dass er wieder voll einsatzfähig war, hatte man endlose Meetings abgehalten und Einschätzungen und Beurteilungen vom Arbeitsschutz eingeholt, bevor man ihn wieder als arbeitsfähig erachtete. Seine Kollegen und der Chefarzt hatten seine Rückkehr unterstützt, und momentan steigerte er kontinuierlich seine Stundenzahl im Krankenhaus und war wild entschlossen, was seine Arbeit betraf, wieder da anzuknüpfen, wo er aufgehört hatte.

Doch die Chance, seine Frau zurückzugewinnen, erachtete er als aussichtslos.

Allein sie zu sehen, ließ den sengenden Schmerz in seiner Brust wieder aufflackern, der ihm signalisierte, dass er noch nicht wirklich bereit war, sie für immer gehen zu lassen. Obwohl er wusste, dass es das Beste und einzig Anständige war, das er für sie tun konnte. So viel Zeit war vergangen, und eigentlich hatte er gedacht, sie müssten beide erleichtert sein, sobald sie nichts mehr aneinander binden würde.

Aber auf diese Reaktion bei ihrem ersten Wiedersehen nach zehn langen Monaten war er nicht vorbereitet gewesen …

Seine sanfte, süße Freya hatte ihn angestarrt, als würde sie ihm am liebsten an die Gurgel gehen. Sie hatte es noch nie gut verstanden, ihre Gefühle zu kaschieren, im Gegensatz zu ihm, der seine Geheimnisse und Emotionen vor ihr versteckt hatte, bis ihn der seelische Stress überwältigte und er alles zerstörte, was er je geliebt hatte.

Der heiße Zorn der in ihren mandelförmigen Augen aufloderte, gefolgt von kalter Verachtung, ließen Lucas immer noch schaudern. Der schmale verkniffene Mund, den sie einst so bereitwillig unter seinen heißen Küssen geöffnet hatte … die wehrhaft verschränkten Arme vor ihrer Brust … alles zeugte von einer Härte, die er nicht an ihr kannte.

Er war nicht so naiv gewesen zu erwarten, von ihr mit offenen Armen empfangen zu werden, aber dass sie sich so krass verändert hatte, schockierte ihn. Und es machte ihm noch einmal deutlich, wie viel Zeit verstrichen war.

Und es warf die Frage auf, wie viel er zu dieser Veränderung beigetragen hatte.

In seinem kranken Hirn hatte er geglaubt, das Richtige zu tun, als er sie verließ. Er wollte die geliebte Frau nicht mit sich in den dunklen Abgrund reißen, an dessen Rand er stand und taumelte. Und wenn sich sein Gewissen in Erinnerung an ihr ungläubiges Gesicht und die flehentlichen Rufe meldete, beruhigte er es mit der Überzeugung, dass sie inzwischen sicher jemanden gefunden hatte, der ihn ersetzte.

Jemand, der ihr das geben konnte, wonach sie sich sehnte: Kinder, eine eigene Familie, ein sorgloses, friedvolles Leben …

Zwischendurch hatte es sich sogar heroisch und selbstlos angefühlt, doch sie zu sehen, ließ ihn zum ersten Mal seine anscheinend so edlen Motive hinterfragen und das Geschehene aus Freyas Blickwinkel sehen.

Sie waren verliebt gewesen, hatten geheiratet, und sie freute sich auf ein normales Familienleben an seiner Seite. Doch anstatt der Frau, die er über alles liebte, Einblick in sein gestörtes Seelenleben zu geben, hatte er sie ausgeschlossen und ihr den Rücken zugekehrt.

Aber zu welchem Preis? Ihr anklagender Blick und der kalte, verbitterte Ton ihrer sonst so sanften Stimme brachen ihm das Herz. Erst jetzt, da er wieder klar denken konnte, wurde ihm das Ausmaß dessen, was er ihr angetan hatte, wirklich bewusst. Sie ohne Erklärung zu verlassen, hatte sie nicht vor ihm geschützt, sondern ihr weitere Qualen auferlegt. In seiner Verblendung und Arroganz hatte er geglaubt, sich erst selbst heilen zu müssen, ehe er ihr der Mann sein konnte, den sie verdiente. Und dadurch hatte er sie verloren.

Das Flugzeug rumpelte über die Startbahn, und Lucas griff instinktiv nach hinten, um ihre Hand beruhigend zu drücken. Er wusste schließlich, wie sehr Freya diesen Moment fürchtete und hasste. Doch dann fiel ihm ein, dass er dazu jedes Recht verwirkt hatte.

Lautlos fluchte er in sich hinein, ehe er den Kopf wandte. „Bist du in Ordnung?“

„Keine Sorge, mir geht’s gut!“, schnappte sie giftig und zuckte vor ihm zurück, als hätte sie sich verbrannt.

Die flüchtige Berührung brachte ebenso süße wie quälende Erinnerungen an ihre Flitterwochen zurück, als sie noch unter seinen Händen vor Wonne und Ekstase geseufzt hatte. Damals waren sie glücklich und voller Hoffnung gewesen, und in dieser Sekunde wünschte sich Lucas nichts mehr, als die Zeit einfach zurückdrehen zu können, allein um das Recht zu haben, seine Frau in die Arme zu nehmen und zu trösten, um sie nicht angesichts einer beginnenden Panikattacke sich selbst überlassen zu müssen. Doch die ertrug sie lieber allein, anstatt seine Hilfe zu akzeptieren.

Die Liste seiner Verfehlungen war lang, aber er war sich ihrer nie bewusster gewesen als in diesem Moment, da seine süße Frau mit aller Macht versuchte, die Wut zu kontrollieren, die sie ihm gegenüber empfand. Hätte es ihr irgendeine Befriedigung verschafft, hätte er sich ihr liebend gern als Punchingball zur Verfügung gestellt.

Er hatte die Situation nicht gründlich genug durchdacht, als er sich entschieden hatte, für seinen Kollegen einzuspringen. Trotzdem hoffte Lucas, an diesem Wochenende eine Gelegenheit zu finden, um mit ihr über den nächsten Schritt reden zu können. Mehr durfte er wohl nicht erwarten, zumal er vielleicht nicht einmal das verdiente.

Er hörte die Oohs der Kinder, als das Flugzeug aufstieg und die unzähligen Lichter, die an diesem dunklen Morgen die Stadt unter ihnen erleuchteten, langsam unter einer dichten Wolkendecke verschwanden. In der Sekunde, als sie ihre Reisehöhe erreicht hatten und die Warnlampen erloschen, glich das Flugzeuginnere einem Bienenstock.

„Also, wer freut sich alles auf den Weihnachtsmann?“, schallte es durch die Gegensprechanlage, und ein kurzer Blick bestätigte Lucas, dass es wie vermutet der zweite Elf war, der schräg hinter ihm gesessen hatte. Freya war auch auf den Beinen, kümmerte sich um kleine Passagiere, denen es nicht so gut ging, und versorgte sie mit Papiertaschentüchern und Spucktüten.

„Wir wollen uns alle mit ein paar Weihnachtsliedern einstimmen. Damit auch jeder mitsingen kann, wird Elf Freya Liedblätter an alle verteilen. Wenn jemand ein Lied am Mikro singen oder uns einen Witz erzählen möchte, darf er gern zu mir kommen.“

Lucas blendete Weihnachtslieder und Witze rigoros aus und konzentrierte sich ganz auf Freya, die sich geschickt ihren Weg durch die Kabine bahnte. Ihr sonniges Lächeln galt allen, mit denen sie sprach, und mit klopfendem Herzen und angehaltenem Atem wartete er darauf, dass er endlich an die Reihe kam, was natürlich nicht passierte. Als sie seine Sitzreihe erreichte, blickte sie demonstrativ über ihn hinweg.

„Du siehst gut aus, Freya.“ Was anderes fiel ihm nicht ein, um die Peinlichkeit des Augenblicks zu überbrücken, aber er meinte jedes Wort ernst. Die vergangenen Monate hatten weder ihre Schönheit beeinträchtigt noch die Wirkung, die sie auf ihn ausübte. Er empfand sich immer noch als der glücklichste Mann der Welt, weil sie ihm einmal ihr Jawort gegeben hatte – und gleichzeitig als der dümmste Narr.

Sie wandte sich ab, ohne ein Wort zu sagen, aber es war so lange her, dass sie einander so nah waren, dass er sie nicht einfach so gehen lassen wollte. „Du hast dein Haar abgeschnitten.“ Der kurze, freche Bob passte zu ihren feinen Zügen, aber ihr langes, kastanienbraunes Haar hatte er geliebt.

„Ich brauchte eine Veränderung.“

Sein Magen zog sich zusammen bei dem Gedanken, dass er die Ursache für diesen radikalen Schritt und für die Veränderung gewesen war, die ihr ganzes Wesen betraf. Sie war so ein hingebungsvolles, lebenssprühendes Geschöpf gewesen, bevor er sie verlassen hatte. Jetzt wirkte sie angespannt und voller Misstrauen. Er war es, der ihr Herz verhärtet hatte, so wie das selbstzerstörerische Verhalten seines Vaters das seine. Und aus eigener Erfahrung wusste er, was für ein langer, schmerzhafter Prozess notwendig war, um das zu revidieren. Dabei war er doch gegangen, um Freya genau das zu ersparen.

„Ich möchte mich entschuldigen, für alles …“

„Doktor, wollen Sie nicht ein Lied für uns singen?“, lockte Elf Gillian übers Mikro. „Ich bin mir sicher, die Kinder würden sich darüber freuen.“

Da war das Lächeln, das er so schmerzlich vermisst hatte, als Freya ihm eines der Liederblätter reichte. Und die Faust, die sich um die Textblätter krampfte, bevor sie sich abwandte. Das durfte er wohl als Weigerung auffassen, seine Entschuldigung zu akzeptieren, ohne dass sie Aufmerksamkeit erregen oder ihn vor den anderen bloßstellen wollte.

Sorry, aber ich äh … ich hab noch eine Menge Papierkram zu erledigen.“ Und das war nicht mal eine Lüge, da er ja erst in letzter Minute für seinen Kollegen eingesprungen war und deshalb naturgemäß kaum Zeit hatte, sich mit den einzelnen Krankengeschichten der kleinen Patienten vertraut zu machen. Instinktiv streckte er die Hand nach Freya aus, als wollte er sie angreifen, doch als sie zurückzuckte, ließ er sie wieder fallen.

„Bitte, Freya, es tut mir wirklich sehr leid …“ Wäre er an ihrer Stelle, würde er sich vermutlich auch niemals verzeihen können, aber wie sollten sie einen Ausweg aus dieser schmerzvollen Situation finden, wenn sie es nicht mal in seiner Nähe aushielt?

„Wenn du mich jetzt entschuldigst, wir haben einen straffen Zeitplan einzuhalten, und ich möchte die Kinder nicht enttäuschen“, wies sie ihn erneut ab. Zurück blieb ihr warmer, verlockender Duft mit einem Hauch von Zitrone und Zimt.

Für alle im Flugzeug zeigte sie sich als das Herz und die Seele der Party über den Wolken. Sie vermittelte den Kindern den Geist von Weihnachten, wie sie es liebte: festlich, farbig, voller Fröhlichkeit, Lachen und Musik. Sie führte mit ihnen zusammen ein improvisiertes Krippenspiel auf, und es gab Momente, wo Lucas sie lauter lachen hörte als die Kinder. Nur, wenn sie in seine Richtung schaute, erstarb ihr Lachen, und ihr Blick wurde wieder ernst und verhangen.

Damit reifte sein Entschluss, alles zu tun, um wenigstens zu versuchen, den Schaden wiedergutzumachen, den er mit seinem Weggang angerichtet hatte. Anders als sein Vater wollte er sich der Verantwortung stellen. Obwohl er Freya nicht der Ehemann sein und ihr die Familie schenken konnte, nach der sie sich sehnte, gab es etwas, das sie verdiente zu bekommen: eine Erklärung.

Es würde nicht leicht sein, sich ihr gegenüber zu öffnen und von seinen Dämonen zu sprechen, aber er schuldete es ihr … zumindest den Versuch.

Vielleicht konnte ihnen dieser Besuch bei dem Weihnachtsmann das geben, was sie am dringendsten benötigten – ihren Seelenfrieden.

2. KAPITEL

„Wow, seht ihr chic und kuschelig aus!“ Freya half den beiden Mädchen, die sie übers Wochenende betreute, in ihre Skianzüge und Moonboots.

Inzwischen war es hell, und die schneebedeckte Landschaft unter ihnen ließ alle ganz aufgeregt werden. Die Kinder konnten es kaum abwarten, endlich raus aus dem Flieger und rein in die weiße Schneewüste zu kommen. Natürlich dick eingemummelt, was angesichts ihrer angeschlagenen Konstitution besonders wichtig war.

Auch Freya hatte ihr Elfenkostüm gegen ein passenderes Outfit eingetauscht, bevor sie den Flughafen verließen: Zur Thermohose trug sie einen Wollpullover mit winterlichem Motiv. Obwohl der lustige Schneemann im pinken Skidress durchaus in die Szenerie passte, zog sie hastig den Reißverschluss ihrer Steppjacke hoch, um sich und ihn vor dem durchdringenden Blick ihres Ex-Mannes zu schützen.

Nie wäre ihr in den Sinn gekommen, dass er ihr ausgerechnet jetzt über den Weg laufen würde. Und noch weniger war sie auf ihren fliegenden Puls und die heißen Schauer vorbereitet gewesen, die sie jedes Mal überliefen, wenn er sie ansah. Etwas, das viel zu häufig während des nicht enden wollenden Fluges geschehen war.

Auch jetzt spürte sie seinen Blick in ihrem Rücken und wagte sich kaum zu bewegen, aus Angst, er könne jede kleine Geste als Anlass nehmen, wieder etwas zu sagen, was sie auf keinen Fall hören wollte. Nicht jetzt … und vielleicht auch niemals mehr.

Was ging es sie an, ob er sein Gewissen entlasten wollte? Wenn, dann hätte er es schon viel früher tun müssen, anstatt sie zehn endlose Monate ihrer Verzweiflung zu überlassen. Jedes erdenkliche Szenario hatte sie in ihrem gemarterten Hirn durchgespielt und war immer wieder zum selben Schluss gekommen: Lucas wollte einfach nicht mehr mit ihr zusammen sein.

Und was immer er jetzt unbedingt loswerden wollte, ihr gebrochenes Herz würde das nicht heilen.

Trotz des warmen Outfits fröstelte Freya in Erinnerung an seine ausgestreckte Hand, als der Flieger gestartet war. In dieser Geste hatte etwas so Vertrautes, Tröstliches gelegen, dass sie fast schwach geworden wäre. Aber das durfte nicht passieren! Hatte sie nicht schon genügend Demütigungen hinnehmen müssen?

„Wo sind meine Finger?“, fragte die fünfjährige Hope, hielt ihr die behandschuhte Faust entgegen und holte Freya damit zurück ins Hier und Jetzt. Sie war eines von den Diabetes-Kindern, deren Blutzuckerspiegel regelmäßig kontrolliert werden musste.

„Sie haben sich vor Väterchen Frost in ihrer Höhle versteckt, aber der Daumen hat wohl noch nicht sein Bettchen gefunden“, behauptete Freya lächelnd und sorgte dafür, dass der winzige Fausthandschuh richtig saß.

„Hast du auch noch zwei Kuschelhöhlen für Scarletts Finger?“, sorgte sich die Kleine um ihre Freundin, die ihre bloßen Händchen rieb.

„Aber natürlich!“ Damit zog Freya ein weiteres Paar Handschuhe hervor und stülpte sie dem geduldig wartenden Kind geschickt über. Mit den gleichfarbigen Ski-Overalls und Mützen hätte man sie für Schwestern, wenn nicht gar für Zwillinge halten können.

Freyas Herz zog sich beim Anblick ihrer kleinen Patientinnen, die ihr übers Wochenende anvertraut waren, schmerzhaft zusammen. Neben der großen Verantwortung empfand sie es als mindestens ebenso großes Privileg, sie wenigstens für einen Moment den Geschmack einer normalen, sorglosen Kindheit kosten zu lassen.

Wäre ihr Leben mit Lucas anders verlaufen …

Sie war so glücklich gewesen, hatte sich bereit für ein eigenes Baby gefühlt, doch ihr Mann hatte sie verlassen und ihr damit alles genommen. Die Kinder anderer Eltern zu lieben und sie zu umsorgen war alles, was ihr geblieben war, weil sie nie wieder einem Mann soweit würde vertrauen können, um eine eigene Familie zu gründen

„So, das sind also Hope und Scarlett? Hallo, ihr beiden. Mein Name ist Lucas, und ich werde mich zusammen mit Freya um euch kümmern. Wenn ihr irgendetwas braucht, fragt einfach einen von uns, okay?“

Er hatte es tatsächlich geschafft, neben ihr aufzutauchen, ohne dass ihre Alarmglocken sie gewarnt hätten. Alles in Freya sträubte sich gegen seine körperliche Nähe. Im stahlblauen Skianzug und schwarzer Beaniemütze wirkte er wie jemand, der einfach Spaß im Schnee haben wollte und nicht wie der notorische Herzensbrecher, der er war.

„Okay“, antworteten die Mädchen im Chor und nickten strahlend, offensichtlich bereits vom jungenhaften Charme des attraktiven Doktors eingewickelt.

„Zeit einzusteigen“, scheuchte Freya ihre Zöglinge in Richtung des wartenden Busses. Die Luft war so eisig, dass sich kleine Rauchwölkchen vor ihren Mündern bildeten, und sie wollte die Mädchen nicht länger der Kälte aussetzen als unbedingt nötig.

„Ich möchte nur sichergehen, dass du Scarletts Anti-Epilepsie-Mittel und Hopes Insulin unterwegs griffbereit hast“, murmelte Lucas, der ihnen gefolgt war.

Freya nickte errötend. Hatte sie tatsächlich gedacht, seine Aufmerksamkeit würde speziell ihr gelten? Natürlich war er mit der Versorgung aller Kinder beauftragt, und seine Professionalität als Arzt infrage zu stellen, dazu hatte Lucas ihr niemals Anlass gegeben. „Keine Sorge, ich habe alles bei mir.“

„Gut.“ Ein kurzes Nicken, und er ging weiter, um mit den anderen Betreuern zu sprechen. Es war einfacher, mit ihm umzugehen, wenn er sich im Arzt-Modus befand. Es erinnerte sie an die Zeit, in der sie gut zusammengearbeitet hatten … bevor ihnen sexuelle Anziehung und himmelstürmende Emotionen dazwischenkamen.

Wenn er sich weiterhin so sachlich zeigte und jede Erwähnung ihrer gemeinsamen Vergangenheit mied, würde es ihr vielleicht sogar gelingen, ihre Tränen und den Drang, ihn zu schlagen, zu unterdrücken.

Freya schloss für einen kurzen Moment gequält die Augen, dann zwang sie ein Lächeln auf die Lippen und stieg in den Bus. Sie hatte den Verlust ihres Babys als Teenager überlebt und die Hölle, nachdem Lucas sie ohne ein Wort der Erklärung verlassen hatte. Dann würde sie auch alles andere schaffen.

„Schaut mal, ein riesiger Schneemann!“, schrie eins der Kinder aufgeregt, und neben ihr pressten Hope und Scarlett ihre Nasen an der Busscheibe platt, um ja nichts zu verpassen. Und selbst Freya musste zugeben, dass die monumentale Schneefigur, die sie kurze Zeit später an ihrem Zielort begrüßte, ziemlich eindrucksvoll war.

Sie beeilten sich, ihre reservierte Unterkunft zu beziehen und ließen dort alles überflüssige Gepäck zurück, bevor sie auf Erkundungstour gingen. Alles außer Medikamenten, medizinischen Geräten, Notfall-Sets und einem Ex-Ehemann, der sich einfach nicht abschütteln ließ.

„Ist das nicht wundervoll?“ Ganz tief atmete Freya die würzige Luft ein, und ihre beiden Schützlinge nickten eifrig und taten es ihr nach. Die weiß überpuderte Landschaft, die dunklen Kiefern und der fallende Schnee … gab es etwas Besseres, als den Stress der letzten Monate abzuschütteln?

Das Dreiergrüppchen war so abgelenkt, dass sie erst verspätet mitbekamen, dass alle anderen sich bereits bei den Rentierschlitten angestellt hatten, die sie auf die Reise durch den magischen Weihnachtswald mitnehmen würden. So landeten sie am Ende der Schlange, wo Lucas sich erneut zu ihnen gesellte.

„Sie können nur zwei Personen pro Schlitten mitnehmen.“

„Wie soll das denn gehen?“, fragten die Mädchen, hielten sich fest an den Händen und schauten mit großen Augen zwischen den Erwachsenen hin und her.

„Nun, ich biete mich als Begleitung für eine von euch an“, schlug Lucas vor.

„Okay, dann fährst du mit Scarlett vor, und ich komme mit Hope hinterher“, entschied Freya brüsk. So wurde ihre Schlittenfahrt wenigstens nicht dadurch ruiniert, dass ihr Ex womöglich noch erwartete, sie würde sich unterwegs an ihn kuscheln, um sich zu wärmen. Schlittenfahrten im Schnee mochten aufregend und romantisch sein, aber definitiv nichts, was man mit seinem zukünftigen Ex-Ehemann teilen konnte.

Im Gegensatz zu ihr schien Scarlett von der Aussicht begeistert zu sein, mit ihrem Doktor fahren zu dürfen und kletterte unter seiner Assistenz strahlend in den wuchtigen Holzschlitten.

Freya holte tief Luft. Sobald sie unterwegs durch den Wald waren, würde sie bestimmt wieder befreit durchatmen können. „Wir sind dran.“

Dass ihr Schlittenführer eine traditionelle leuchtend rotblaue Tracht anhatte, ließ die ganze Aktion noch märchenhafter erscheinen, als sie ohnehin schon war. Selbst das Rentier war auf eine gewisse Weise verkleidet. Sein Gurtzeug leuchtete in denselben Farben wie das Gewand des Kutschers, und das mächtige Geweih war mit frisch gefallenem Schnee bestäubt, wie in den sentimentalen Weihnachtsfilmen, die Freya von klein auf geliebt und sicher hundert Mal angeschaut hatte.

„Ob ich das Rentier streicheln darf?“, flüsterte Hope an ihrer Hand hoffnungsvoll.

Eine Bitte, die ihrem Schlittenführer nicht entgangen war, und als er freundlich nickte, nutzte nicht nur Hope die einmalige Gelegenheit, das dichte braune Fell des Tieres zu berühren. Freya spürte einen Stich im Herzen und versuchte den wehmütigen Gedanken zu verdrängen, dass sie diesen magischen Moment nicht mit ihrem eigenen Kind an der Hand genießen konnte.

Wie es wohl heute aussehen würde, wenn es überlebt hätte …? Sie würde es nie wissen und musste endlich aufhören, sich damit zu quälen.

Der innige Wunsch, Mutter zu werden, hatte schon vor Lucas ihr Fühlen und Denken beherrscht. Und hätte ihr damaliger Verlobter sie nicht sitzen lassen, als sie mit achtzehn schwanger geworden war, wäre ihr die Fehlgeburt vielleicht erspart geblieben. Wirklich wissen würde sie es nie.

Ihre Ausbildung zur Krankenschwester und die Hoffnung, dass sie eines Tages doch noch einen Mann finden würde, mit dem sie eine Familie gründen könnte, half ihr damals über die tiefe Trauer hinweg. Doch die Tragödie schien sich zu wiederholen. Ihr Ehemann hatte sie verlassen, und damit war der Traum von einem eigenen Kind vorerst ausgeträumt.

Und jedes Mal, wenn Lucas in ihr Blickfeld geriet, wurde sie daran erinnert.

„Kann er wirklich fliegen?“, fragte Hope aufgeregt.

Die Spekulation der Kleinen über die Flugeigenschaften ihres Rentiers lenkte Freya von ihren dunklen Gedanken ab. Gleichzeitig hielt es ihr erneut vor Augen, dass sie nie Teil des vorweihnachtlichen Eltern- und Kinderklubs sein würde, in dem genau diese wichtigen Fragen erörtert, Geschichten vorgelesen, Gedichte gelernt und Kekse gebacken wurden, um das Fest der Liebe gelingen zu lassen.

Ihre eigenen Eltern hatten die Vorweihnachtszeit für sie all die Jahre zu etwas ganz Besonderem gemacht, und sie hatte gehofft, diese Tradition weiterführen zu können …

Schluss mit den trüben Gedanken! mahnte sie sich selbst. Genieße lieber, was du jetzt in diesem Moment erlebst.

Die Schlittenfahrt erwies sich als ebenso aufregende wie gemütliche Reise. Und das, obwohl die Temperatur noch sank, je tiefer sie in den Winterwald hineinfuhren. Doch unter den dicken Decken aneinandergekuschelt, war weder Hope noch ihr kalt.

Eine schemenhafte Erscheinung zwischen den Bäumen vor ihnen entlockte der Kleinen einen entzückten Aufschrei. „Schau nur! Da vorn sind Scarlett und Dr. Lucas!“

Ab dem Moment gab es immer wieder Momente, wo sich beide Mädchen frenetisch zuwinkten, kreischten oder ihrer Aufregung und Begeisterung sonst wie Luft machten. Irgendwann ließ selbst Freya sich von ihrem Enthusiasmus anstecken und ertappte sich dabei, mitzuwinken und zu albern.

Solange Lucas nichts anderes darin sah, als den Spaß der Kinder mit ihnen zu teilen, konnte sie damit sogar leben. Dass sie jemals würde vergeben und vergessen können, was er ihr angetan hatte, darauf brauchte er aber nicht zu hoffen.

Sobald sie ihr Ziel erreicht hatten, kletterten Hope und sie als letztes Team von ihrem Schlitten und schlossen sich den anderen an, die sich im Halbkreis um den als Eventmanager eingesetzten Mitarbeiter geschart hatten, um ihm aufmerksam zu lauschen.

„Wir haben eine Menge Aktivitäten im Angebot. Am besten, wir starten mit einer kurzen Führung, damit ihr euch hier zurechtfindet. In dem kleinen Gebäude hinter uns gibt es neben einem Aufenthaltsraum zum Erholen und Aufwärmen, Waschräume und Toiletten, was ja auch nicht unwichtig ist. Dann könnt ihr wählen zwischen Geschichtenerzählen und – vorlesen im Originaltipi dort drüben, einer Fahrt im Hundeschlitten oder, für die Abenteurer unter euch, mit dem Schneemobil. Daneben Lagerfeuerromantik und natürlich jede Menge Plätzchen.“

„Ich weiß schon, worauf ich mich freue!“, rief Lucas spontan aus und erntete jede Menge Lacher, hauptsächlich von den Erwachsenen. Seine lockere Art machte es allen leicht, ihn zu mögen, aber Freya wollte nicht dazugehören.

„Lass mich raten, wir müssen paarweise unterwegs sein“, knurrte sie und hätte sich im selben Moment am liebsten auf die Zunge gebissen.

Lucas neigte in dieser für ihn typischen Art den Kopf zur Seite. „Wäre das ein Problem für dich?“, fragte er lächelnd.

Aber so leicht würde sie sich nicht einfangen lassen.

„Ich kann mit dir tauschen“, bot Gillian an, die mit einem kleinen Jungen an der Hand neben ihnen auftauchte. Sie wirkte besorgt und ein wenig schuldbewusst.

Freya schüttelte den Kopf. „Nein, das wäre nicht fair den Kindern gegenüber. Ehrlich, für mich ist das absolut okay.“ Vielleicht würde sie es ja selbst irgendwann glauben, wenn sie es nur oft genug behauptete.

Als er der Reise spontan zugesagt hatte, hatte Lucas nicht geahnt, derart aktiv ins Geschehen eingebunden zu werden. Eigentlich hatte er etwaigen Zweiflern nur beweisen wollen, dass er als Arzt immer noch so kompetent und zuverlässig war wie vor seiner Auszeit. Aber zu dem Zeitpunkt hatte er auch noch nichts von der Anwesenheit seiner Frau geahnt …

Natürlich hätte er selbst in letzter Minute einen Rückzieher machen oder sich wenigstens hier vor Ort einem anderen Betreuungsteam anschließen können, doch die Versuchung, wenigstens für eine kurze Zeit ihre Nähe zu spüren, war einfach zu groß gewesen. Als er sich von Freya trennte, hatte er sich eingeredet, sie nicht mehr zu lieben – aus Selbstschutz und um ihretwillen.

In den vergangenen Monaten hatte er mit seinen Dämonen zu kämpfen gehabt, doch seit der Genesung und seiner Rückkehr ins Leben war die Vorstellung, für immer von seiner Frau getrennt zu sein, für ihn unerträglich.

Dass sie ihre Verachtung für ihn nicht einmal zu verbergen suchte, änderte nichts daran. Sie hatte jedes Recht, ihm die Alleinschuld an ihrem Ehedesaster zu geben. Freya hatte mindestens so gelitten wie er, das konnte er in ihren Blicken sehen, selbst wenn sie Augenkontakt rigoros zu vermeiden versuchte.

Fest stand auch: Seine unerwartete Anwesenheit verdarb ihr offensichtlich jeden Spaß an der Reise mit den Kindern, auf die sie sich als ausgewiesener Weihnachtsfan ganz sicher gefreut hatte. Wenigstens in diesem Punkt wollte er so etwas wie eine Wiedergutmachung versuchen. Wenn sie es zuließ, würde er ihr den Grund seiner Abwesenheit erklären. Dann konnte sie Wut und Bitterkeit vielleicht irgendwann ablegen und ihr Leben wieder genießen – wenn auch ohne ihn.

Möglicherweise konnte sie sogar irgendwann die Größe aufbringen, ihm zu verzeihen, doch ihre Liebe hatte er wohl für immer verspielt …

„Also, Scarlett, womit möchtest du starten“, fragte er das rotwangige kleine Mädchen, das geduldig an seiner Seite ausharrte.

„Könnten wir damit fahren?“, fragte sie aufgeregt und zeigte auf einen Schneehügel, auf dessen Kuppe traditionelle Holzschlitten auf mutige Passagiere warteten.

„Ich denke, das schaffen wir. Was meinst du dazu, Freya?“ Anders als bei den Huskyschlitten und Schneemobilen war die Warteschlange sehr übersichtlich. Was bedeutete, dass sie beim Rodeln auch weniger Zuschauer haben würden, als bei den anderen Events, worüber Lucas angesichts seines eben gefassten Plans froh war.

Freya begutachtete den sanft gerundeten Hügel mit hoch gezogenen Augenbrauen.

„Habe ich denn eine Wahl?“ Die Frage richtete sich allein an ihn, da die beiden Mädchen längst aufgeregt kreischend davongestürmt waren.

„Immer“, entfuhr es ihm spontan, was ihm einen scharfen Seitenblick einbrachte.

„Wirklich?“, kam es spröde zurück.

Mehr brauchte es nicht, um ihn erneut daran zu erinnern, dass er ihr damals nicht den Hauch einer Chance gelassen hatte, als er ihre Ehe so abrupt und einseitig beendete. Beide wussten sie, dass ihr kurzer Schlagabtausch nichts mit den heutigen Aktivitäten zu tun hatte, und während Lucas ihr und den Mädchen hinauf auf den Hügel folgte, sank sein Mut mit jedem Schritt.

Oben angekommen, bildeten sie wieder die gewohnten Paare, um sicherzustellen, dass ein Kind immer mit einem Erwachsenen Schlittenfahren würde. Die Luft war hier kälter, und Lucas beschloss, seine kleinen Patienten nicht länger als notwendig den Elementen auszusetzen. „Wie wär’s mit einem Rennen?“

„Yeah!“ Scarlett und Hope sprangen auf und ab wie Flummis, und Lucas drängte zum Aufbruch, aus Angst, die Aufregung könne zu viel für sie werden.

„Auf die Plätze …“

„Fertig los!“, antwortete ihm ein dreistimmiger Mädchen-Chor.

Ein unerwarteter Schauer überlief ihn bei der Feststellung, dass Freyas Stimme mindestens so enthusiastisch klang wie die ihrer Schützlinge. Und dann spürte er nur noch den Fahrtwind im Gesicht, während sie den Hügel hinuntersausten.

Zumindest kam es ihm so vor. Immerhin war es seine erste Erfahrung dieser Art und plötzlich war er nur noch das unbeschwerte Kind, das er nie hatte sein dürfen. Lautes Lachen und Kreischen um ihn herum, zusammen mit den eigenen Jauchzern, die das Echo des dunklen Waldes zurückwarf, ließen seinen Adrenalinspiegel nur noch weiter in die Höhe schnellen.

„Das war fantastisch!“, rief Freya spontan aus. Ihr Gesicht glühte vor Aufregung, als sie ihm ein Lächeln schenkte, mit dem er schon gar nicht mehr gerechnet hatte. Es brachte Erinnerungen an frühere Zeiten zurück, in denen sie viel Spaß miteinander hatten. Wie sehr wünschte er, sie würde ihn immer so anschauen, ohne Vorwurf und Misstrauen.

„Es erinnert mich an unser Charity-Schlamm-Rennen. Weißt du noch? Als wir den Berg bei strömendem Regen bäuchlings runtergerutscht sind?“

Die gesamte Talfahrt über hatten sie sich vor Lachen kaum halten können, und Lucas erinnerte sich noch gut daran, wie sehr Freyas Kampfgeist und Unerschrockenheit ihn beeindruckt hatten. Es war der Tag gewesen, an dem er sich in sie verliebt hatte.

Mit dem breiten Lächeln auf dem dreckverschmierten Gesicht, den schlammverkrusteten Haaren und den leuchtenden Augen war sie ihm als die schönste Frau auf der Welt erschienen. Ihre Lebensfreude war ebenso ansteckend wie unwiderstehlich gewesen, und plötzlich hatte er gewusst, dass er nicht mehr ohne sie sein wollte.

Und so war es immer noch …

„So viel Schlamm wie an dem Tag hatte ich im ganzen Leben noch nicht gesehen!“, erinnerte sich nun auch Freya lachend. „Und dann haben sie sich geweigert, uns im Bus mitzunehmen …“

Lucas sah, wie sich ihre Wangen verfärbten und wusste, dass sie wie er gerade an die gemeinsame Dusche in seinem Apartment dachte, mit der sie den Ausflug abgeschlossen und ihre erste gemeinsame Nacht eingeläutet hatten.

„Heute wird es auf jeden Fall trockener und komplikationsloser ablaufen.“ Freya stieg vom Schlitten und klopfte den Schnee von den Kleidern.

„Ich weiß gar nicht, warum wir das nie zuvor getan haben.“ Lucas half den Mädchen auf die Beine und biss sich auf die Lippe. Natürlich wusste er es! Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt, ehe Freya und er weitere fröhliche und aufregende Unternehmungen starten und gemeinsame Erinnerungen hatten sammeln können in ihrer kurzen Ehe.

Und dann hatte er sie auch noch ausgerechnet am Weihnachtsabend verlassen: dem Fest, das seiner Frau, wie er wusste, am meisten bedeutete.

„Hände hoch, wer alles eine heiße Schokolade will!“, rief Freya.

„Ich!“ Fast hatte Lucas es noch vor den Mädchen angemeldet. Vielleicht, weil ihm die Atmosphäre zwischen ihm und Freya plötzlich wieder extrem frostig erschien.

Sie liefen zurück zu den anderen, wo er einen schnellen Check machte, um sicherzustellen, dass ihr Schlittenrennen keinen negativen Einfluss auf Hopes Blutzuckerspiegel hatte, bevor sie sich auf warmen Kakao und Hotdogs stürzte. Er notierte sich alles, was sie heute aß und trank, um das Insulin entsprechend dosieren zu können.

Sobald die Kleine versorgt und mollig eingehüllt am Lagerfeuer saß, widmete Lucas sich seinen anderen Patienten und registrierte erleichtert, dass es keinen einzigen medizinischen Notfall gab. So konnte er sich der ungewohnten Aufgabe eines Marshmallow-Grillmeisters widmen.

Freya reichte ihm zwei Holzstäbchen mit Marshmallows, was er heimlich für sich als eine Art Waffenstillstand verbuchte, obwohl er wusste, dass sie die Mädchen nur vor dem offenen Feuer schützen wollte. „Woher weiß ich, wann sie fertig sind?“ Als keine Antwort kam, schaute er auf und begegnete ihrem lachenden Blick.

„Fragst du das im Ernst?“

„Ich möchte nur nichts falsch machen“, gab er defensiv zurück. Immerhin war es sein erstes Mal. Vergnügungen dieser Art hatte es in seiner Kindheit nie gegeben.

„Wenn sie ein helles Gold annehmen, ist es soweit“, erklärte Freya erstaunlich liebevoll. „Und achte darauf, dass sie erst abkühlen, ehe du sie den Mädchen gibst.“

„Das ist wirklich … gut.“ Er tat sein Bestes, die klebrige Süßigkeit unfallfrei in den Mund zu bekommen und horchte auf, als er Freya leise lachen hörte.

„Du hast da was“, sagte sie und fuhr mit dem Daumen über seinen Mundwinkel.

Es war eine unschuldige, spontane Geste, die seinen gesamten Körper in Flammen setzte. „Danke …“, murmelte er rau und sah, wie es kurz in ihren wundervollen Augen aufblitzte, ehe sie rasch die Lider senkte.

Obwohl sie nicht allzu lange verheiratet gewesen waren, kannte er diesen Blick und erinnerte sich nur zu gut an ihn. Es war dieses heiße Aufwallen von Interesse, dem er nur wenig entgegenzusetzen hatte … weshalb er es schon immer als problematisch empfunden hatte, sich am Arbeitsplatz zu verlieben.

Er spürte denselben stummen Kampf in ihrem Innern, der in seinem Herzen tobte und fühlte einen Hoffnungsfunken in sich aufflackern, der sich in Lichtgeschwindigkeit zu heißem Verlangen steigerte.

Durfte er das überhaupt zulassen?

Das Äußerste, was er sich ausgemalt hatte, als er hörte, dass er seiner Frau auf dieser Reise wiederbegegnen würde, war Vergebung gewesen. In der Hoffnung, dass es ihm so möglich sein würde, einen Schlussstrich unter das schmerzhafte Kapitel seiner Ehe zu ziehen und ein neues Leben beginnen zu können.

Mehr zu erwarten, wäre vermessen, dafür hatte er Freya zu sehr verletzt. Aber wenn sie unter der harten Schale, die sie sich im Jahr ihrer Trennung zugelegt hatte, doch noch Gefühle für ihn hegte, warf das seinen heroischen Plan, sie freizugeben, glatt über den Haufen …

„Was seid ihr nur für zwei kleine Ferkelchen!“, schimpfte sie jetzt lächelnd mit den beiden Mädchen und versuchte, ihre klebrigen Münder und Finger mit einem Feuchttuch zu säubern. Trotz ihrer aufgesetzten Heiterkeit konnte Lucas sehen, wie verwirrt sie war und nutzte die Gunst der Stunde.

„Das müssen wir unbedingt an einem anderen Wochenende wiederholen“, sagte er leichthin und meinte damit nicht allein die süße Leckerei. Wenn sie hier keinen Moment für ein intimes Gespräch fanden und nach Schottland zurückkehrten, ohne eine Klärung herbeigeführt zu haben, brauchten sie dringend eine neue Chance.

„Ich bezweifle, dass wir die Zeit dafür finden.“ Freya wusste zwar nicht, ob er die Marshmallows meinte, die Erinnerungen an den Beginn ihrer stürmischen und so abrupt beendeten Liebe oder was sonst.

Aber eigentlich war es egal, sobald Lucas mit im Spiel war, erschien ihr jedes denkbare Szenario als viel zu gefährlich. Besonders als sie ihn zusammen mit den Kindern gesehen hatte, so heiter und sorglos, als gehöre er einfach dazu, hätte sie leicht vergessen können, was Lucas ihr angetan hatte.

Besser, sie konzentrierte sich darauf, was sein Verrat sie gekostet hatte: ihr Vertrauen in die wahre Liebe und ein glückliches, erfülltes Familienleben mit Kindern. Das Einzige, was sie jetzt noch von ihm wollte, war eine Erklärung dafür, dass er ihr Leben, das sie für sie beide geplant hatte, so brutal zerstört hatte.

Freya riss sich zusammen und lotste die Mädchen in ein Märchenzelt, wo sie warm und gut aufgehoben in Gesellschaft der anderen Kinder waren. In seiner pompösen Samtrobe und den Schnabelschuhen erinnerte der Vorleser an einen Schamanen aus dem Mittelalter, doch die Mädchen waren eher fasziniert, als dass sie Angst zeigten. Sie rückten immer näher, um seine Weihnachtsgeschichten zu hören und entließen die Erwachsenen in die Kälte, wo sie sich die Füße vertreten konnten.

„Und du hast wirklich noch nie Marshmallows gegrillt? Nicht einmal in der Schule?“

Es erschien ihr immer noch unvorstellbar, dass ein erwachsener Mann diesen winterlichen Spaß nicht kannte. Obwohl, jedes Mal, wenn sie vor Lucas ihr Lieblingsthema Weihnachten angeschnitten hatte, war er ihr ausgewichen. Und wenn sie ihn nach dem Grund fragte, hatte er das Gespräch abgebrochen und sich wortlos verdrückt. Bis ihm das Leben unter demselben Dach mit ihr offenbar unerträglich geworden war …

„Nein.“

Immer noch hielt er sich bedeckt und ließ sich nicht von ihr in die Karten schauen. Was war es nur, dass er so vehement vor ihr verbarg?

Natürlich gab es auch das eine oder andere in ihrem Leben, über das sie nicht mit Lucas gesprochen hatte. Aber doch nur, weil sie selbst versucht hatte, die schmerzhaften Erinnerungen zu begraben, um frei zu sein, für ein neues, erfülltes Leben als Ehefrau und Mutter an der Seite ihres geliebten Mannes.

Er selbst hatte schließlich auch so gut wie nichts aus seiner Vergangenheit preisgegeben. Doch dass er sich damit zurückhielt, um sich ganz auf ihre Beziehung zu konzentrieren, wie er damals behauptete, glaubte Freya nicht eine Sekunde. Wann immer sie versucht hatte nachzuhaken, lenkte er sie mit einem Kuss oder anderen Liebkosungen ab, und sie war stets nur allzu bereit gewesen, der Versuchung nachzugeben …

Plötzlich konnte sie ihre Frustration nicht länger im Zaum halten. „Ich will endlich wissen, was passiert ist. Was hat sich zwischen uns verändert?“

„Ich … ich wollte dich weder quälen, noch in Verlegenheit bringen“, murmelte er rau. „Ich bin allein wegen der Kinder mitgekommen. Jedes Kind verdient doch wenigstens einen sorglosen, glücklichen Moment, um sich irgendwann daran zu erinnern und …“

Begeisterter Applaus für den Märchenerzähler ließ Lucas verstummen. Er wandte sich um und beugte sich spontan herab, um die heranstürmenden Mädchen in seinen Armen aufzufangen. Obwohl er lachte, lag in seinen Augen ein Ausdruck tiefer Qual.

Als Scarlett und Hope auch Freyas Umarmung einforderten, fiel die besonders warm und mütterlich aus. Dabei versuchte sie, den Kloß in ihrem Hals loszuwerden.

Zum ersten Mal wurde ihr klar, dass sie von Lucas’ eigener Kindheit so gut wie nichts wusste. Nur, dass er keine Geschwister hatte und ohne Mutter groß geworden war. Die Tatsache, den Menschen hinter dem Mann, der aus ihm geworden war, so wenig zu kennen, bestürzte und verunsicherte sie.

Autor

Karin Baine
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Kate Hardy
Kate Hardy wuchs in einem viktorianischen Haus in Norfolk, England, auf und ist bis heute fest davon überzeugt, dass es darin gespukt hat. Vielleicht ist das der Grund, dass sie am liebsten Liebesromane schreibt, in denen es vor Leidenschaft, Dramatik und Gefahr knistert?
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