Der italienische Prinz und die Tänzerin

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Ihr fehlt Leidenschaft beim Tanzen? Getroffen von der Kritik des Balletmeisters flieht die zarte Posy auf die Isola dei Fiori. Hier hat sie von ihrer Tante die Villa Rosa geerbt. Auch eine Bucht gehört dazu - wo Posy bei einem abendlichen Bad auf einen unverschämt attraktiven Mann trifft. Zum ersten Mal erfährt sie, was das wirklich ist: atemberaubende, berauschende Hingabe. Sie ahnt nicht, wer ihr geheimer Liebhaber ist: Kronprinz Nico Del Castro, der so schnell wie möglich eine Zweckehe eingehen muss - und seine Braut gefunden hat!


  • Erscheinungstag 05.06.2018
  • Bandnummer 122018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733710200
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Posys Wangen schmerzten, aber ihr Lächeln hielt. Sie zuckte mit keiner Wimper, während ein dünnes Schweißrinnsal über ihre Stirn lief und ein anderes quälend langsam entlang ihrer Wirbelsäule den Rücken hinunter. Ihre Muskeln flehten um Gnade, doch sie rührte sich keinen Millimeter – ein Bein gebeugt, einen Arm weit ausgestreckt, den Kopf im Nacken, den Blick starr auf die jubelnde Menge gerichtet.

Standing Ovations! Alle waren auf den Beinen, Bravo-Rufe schallten durchs Auditorium, während üppige Blumenbuketts auf der Bühne abgelegt wurden.

Wie mochte es sich anfühlen, an Darias Stelle zu sein? fragte sich Posy, während die Primaballerina Luftküsse ins ekstatische Publikum warf, im Wissen, dass all der Jubel allein ihr galt. Was für ein Privileg, in einem brandneu inszenierten Ballett zu tanzen, das speziell für eine Person choreografiert worden war und das kritische Londoner Publikum dazu verführte, einem zu Füßen zu liegen.

Daria und sie hatten vor Jahren zusammen in der Ballettschule angefangen, als einzige Elevinnen ihres Jahrgangs, die es in die Company geschafft hatten. Und jetzt stand Daria vorn auf der Bühne, während sie selbst in der Balletttruppe im Hintergrund tanzte.

Aber sie würde die Hoffnung nicht aufgeben, bevor die Prüfungsergebnisse bekannt gegeben wurden. Vielleicht war sie in diesem Jahr ganz vorn mit dabei und bekam ein paar kleinere Solorollen. Und damit möglicherweise die Chance, zur Primaballerina aufzusteigen und so weiter und so weiter … bis zur Theaterchefin.

Aber mit Vierundzwanzig, fünf Jahre nach ihrem Abschluss an der Akademie, würde es mehr als nur ein Quäntchen Glück erfordern.

Andererseits … dachte Posy mit zusammengebissenen Zähnen, würden Tausende von Ballettelevinnen alles dafür geben, jetzt an meiner Stelle zu sein. Selbst, wenn der Schweiß wie glühende Lava in ihren geschminkten Augen brannte. Ihr aber reichte es nicht, wie weit sie bisher gekommen war. Sie wollte mehr.

Nachdem der letzte Vorhang endlich gefallen war, hielt Posy sich länger als gewöhnlich im Bühnenhintergrund auf. Ruhig verharrte sie in einer Ecke, während die anderen Tänzer aufgeregt durcheinanderschnatterten. Die Bühnenarbeiter begannen, die Kulissen abzubauen und in der Requisite zu verstauen.

Wie stets nach den Samstagabendvorstellungen herrschte eine ganz besondere Unruhe, voller Erwartung auf wohlverdiente Freizeit, da sonntags kein Unterricht stattfand. So konnten sich auch die Tänzer zwischen die Touristen aus aller Welt mischen, die mit einbrechender Dunkelheit in den Covent Garden strömten, um dort in einem der angesagten Clubs den Tag ausklingen zu lassen.

Aber Posy konnte ihre Entmutigung einfach nicht abschütteln und so wartete sie, bis der Backstage-Bereich sich geleert hatte, bevor sie sich zum Aufbruch rüstete. Als sie die Garderobe erreichte, die sie sich mit anderen Tänzerinnen teilte, war sie verwaist, abgesehen von Make-up und Haarbürsten auf den Tischen vor der Spiegelwand, abgestreiften Strumpfhosen auf dem Boden und Ballettschuhen, die sich in einer Ecke stapelten. Auf einer langen Stange hingen Kostüme, die bis zur nächsten Aufführung gereinigt und repariert werden mussten.

Mit einem Seufzer sank Posy auf ihren Stuhl und mied den Blick in den hell erleuchteten Spiegel. Sie wollte weder das verwischte Bühnen-Make-up sehen noch ihre für gewöhnlich üppige dunkle Haarmähne, die sie seit Jahren als fest gezwirbelten Ballettknoten im Nacken trug. Oder ihre durch hartes Training muskulöse und zugleich hagere Schulterpartie, die ihre Schlüsselbeine prominent zur Schau stellte.

Ihr Make-up juckte und fühlte sich klebrig auf der Haut an, die Schultern schmerzten und die Knöchel waren geschwollen, genau wie ihre Füße.

Doch wie lautete das oberste Gebot? Lächeln und Mühelosigkeit ausstrahlen, auch wenn man das Gefühl hatte, im nächsten Moment ohnmächtig umzusinken. Heute Abend erschienen ihr die Spitzenschuhe besonders eng und die geschnürten Bänder schnitten ihr ins zarte Fleisch. Es dauerte ihr viel zu lange, sie zu lösen, um den schmerzhaften Druck zu lindern. Posy verzog das Gesicht, während sie vorsichtig gequetschte Zehen und überdehnte Fußgelenke bewegte. Normalerweise nahm sie jeden Stich gelassen hin. Normalerweise …

„Du siehst deprimiert aus, Chérie.“

Posy fuhr zusammen. Sie hatte angenommen, dass alle gegangen waren. Bevor sie den Kopf wandte, zwang sie sich zu einem sorglosen Lächeln. „Hallo, Elise“, begrüßte sie ihre französische Kollegin. „Keine Sorge, mir geht es gut. Nur ein kleiner Ende-der-Saison-Blues, wie üblich.“

Ballettlehrer, Choreografen und Solisten standen bereits in den Startlöchern für eine Australientour, nach der sie auseinanderdriften würden, um Gastauftritte in unterschiedlichen Ensembles wahrzunehmen. Für alle, die über keine internationale Reputation verfügten, dehnte sich die Sommerpause entsprechend länger und ereignisloser aus.

Posy füllte die Zwangspause mit Unterrichtsstunden in Sommerschulen, inklusive Extrakursen und nahm auch sonst jeden Job an, der weitestgehend etwas mit ihrer Passion zu tun hatte. Sie wusste, dass sie als angestellte Tänzerin mit festem Gehalt besser dran war als viele andere, trotzdem erschienen ihr die Wochen und Monate ohne ihre übliche Routine irgendwie verloren.

Elise schnalzte leise mit der Zunge und ließ sich anmutig auf dem Stuhl neben Posy nieder. „Also, ich freue mich über den Break, so heißt das doch hier in London, oder?“, fragte die zierliche Französin mit breitem Lächeln. „Ich dachte, dir geht es genauso. Hast du nicht ein eigenes Ferienhaus in Italien?“

Posy hob die Schultern. Sie wusste, dass sie mehr Enthusiasmus wegen der unverhofften Erbschaft ihrer Patentante hätte zeigen müssen, aber ihr letzter Aufenthalt auf der Isola dei Fiori hatte sie ernüchtert. Anlässlich der spontanen Hochzeit ihrer Schwester Miranda, die sie in der Villa Rosa gefeiert hatten, war sie schon überwältigt gewesen – allerdings eher vor Panik als vor Entzücken. Die riesige Villa war früher ein echtes Prunkstück gewesen. Jetzt war der Lack sozusagen ab, der Glanz verblichen, die Bausubstanz zweifelhaft und der Garten sicher immer noch ziemlich verwildert, trotz Immis tapferer Bemühungen. Es würde ein Vermögen kosten, alles instand zu setzen.

Ein Vermögen, das sie nicht besaß.

„Irgendwann in diesem Sommer werde ich bestimmt noch einmal hinfahren, aber momentan ist Imogen dort und ich bin nicht sicher, ob sie auf Gesellschaft aus ist.“ Seltsamerweise war die Villa in den letzten Monaten für ihre drei Schwestern so etwas wie ein Zufluchtsort gewesen. Für sie alle schien es ein Jahr der Neuorientierung zu sein: zuerst für Miranda oder Andie, wie alle sie nannten, dann für Portia und jetzt Immi.

Posy wusste, dass es keinen triftigen Grund gab, warum sie nicht gleichzeitig mit ihrer Schwester in der Villa sein sollte, aber die Jahre in der Ballettschule hatten sie irgendwie zum Außenseiter in ihrer eigenen Familie gemacht.

„Wenn ich ein Haus am Meer hätte, würde ich auf der Stelle dorthin fliegen und wahrscheinlich nie wieder zurückkommen.“ Elise musterte Posy mit scharfem Blick. „Es sei denn, du hast einen ganz bestimmten Grund, weshalb du unbedingt hier rumhängen willst?“

Posy zog umständlich eine Haarnadel nach der anderen aus ihrem Knoten, um Elise nicht ansehen zu müssen. „Ich will lieber in der Nähe bleiben, falls jemand während der Tournee krank wird oder sich verletzt und sie einen Ersatz brauchen. Ich hasse die Vorstellung, meine Chance zu verpassen, nur weil ich mich in der Weltgeschichte herumtreibe.“

„Posy, wie lange tanzen wir jetzt schon zusammen? Drei Jahre?“

Sie schluckte wegen Elises ungewöhnlich ernstem Ton und nickte dann.

„In dieser Zeit wurde keine von uns gebeten, irgendetwas zu zeigen oder zu tun, was uns aus der hinteren Reihe geholt hätte, während Neuzugänge Duette, Solos und Charakterrollen bekommen haben.“

Gequält kniff Posy die Augen zusammen, weil sie die bittere Wahrheit nicht leugnen konnte. „Aber das muss doch nicht bedeuten, dass wir nie …“

„Nicht!“, unterbrach Elise sie scharf. „Tu dir das nicht an. Ich bin jedenfalls nicht Tänzerin geworden, um als dekoratives Hintergrundbild zu fungieren.“

„Was … was meinst du damit?“

„Ich gehe weg. Ich habe mich einer Tanz-Tournee angeschlossen.“

Posy starrte Elise aus aufgerissenen Augen an. „Du willst schäbige Garderoben und Bühnen in wechselnden Kleinstädten gegen die Geschichte und Reputation des London Ballet eintauschen? Warum?“

„Um zu tanzen“, erwiderte Elise schlicht. „Ich bin als erste Solistin engagiert, und kann mit Chance im nächsten Jahr zur Theaterchefin aufsteigen. Im Herbst werde ich die Clara und Aurora tanzen, und wenn ich hart an mir arbeite, vielleicht auch Odette/Odil in Schwanensee. Ich verdiene das. Warum kommst du nicht mit? Ich weiß, dass sie sofort zugreifen würden, wenn du …“

Doch Posy schüttelte abwehrend den Kopf. Sie gehörte hierher und nirgendwo anders. Das war die Bühne, die sie erobern wollte. „Ich kann nicht. Aber ich wünsche dir alles Glück der Welt, wenn es das ist, was du wirklich willst.“

Elise lachte. „Was ich wirklich will, ist ein hübscher Prinz, der mich vor sich auf sein weißes Pferd wirft und von all dem wegholt. Aber da so etwas im wirklichen Leben nicht passiert, will ich wenigstens tanzen. Posy, vergiss nicht, dass da draußen eine ganze Welt existiert, die es vielleicht zu erkunden und zu erobern lohnt. Denk daran, bevor du endgültige Entscheidungen fällst. Aber jetzt kommst du erst mal mit. Es ist Samstagnacht und bei Luigi ist ein Tisch für uns reserviert.“

„Geh schon vor. Ich will mich rasch umziehen und muss noch meine Jacke aus dem Studio holen. Wir sehen uns dann dort, ja?“

„Okay, aber beeil dich. Es tut nicht gut, allein zu sein, wenn die Gedanken kreisen.“

Es gibt eine ganze Welt da draußen. Elises Worte hallten durch Posys Kopf, während sie langsam die Treppe hinaufstieg, die zu den Proberäumen führte, wo sie in den letzten Jahren den Großteil ihrer Zeit verbracht hatte. Ja, es gab diese Welt da draußen, aber das hier war alles, was ihr von dem Moment an vorgeschwebt hatte, als sie zum ersten Mal ihre Ballettschuhe angezogen hatte. Sie hatte Freunde, Romantik, Universitätsstudium … sogar ihre Familie geopfert, um diese Korridore entlangzugehen und in diesen Studios zu proben. Wie könnte sie ihren Traum aufgeben, solange er noch in ihrer Reichweite lag?

Posy hatte erwartet, den Studiotrakt dunkel vorzufinden, doch überall brannten Lichter. Sie blieb stehen, um den vertrauten Raum zu betrachten: die verspiegelten Wände mit den davor angebrachten Übungsstangen, die abgewetzten Sofas vor der Wand mit den riesigen Fenstern mit Blick auf Covent Garden und die Londoner Skyline. Hier hatte sie neun Stunden pro Tag, sechs Tage die Woche verbracht. Hier war sie mehr zu Hause als in ihrem winzigen Schlaf-Apartment, das nur ein paar Straßen entfernt lag.

Posy schnappte sich ihre Jacke, die sie auf einem der Sofas hatte liegen lassen. Plötzlich hatte sie es eilig, aus dem Gebäude und vor ihren schweren Gedanken zu fliehen. Elise hatte recht, in diesem Zustand allein zu bleiben, wäre ein Fehler. Im Luigi’s, vor einem Teller Pasta und mit einem Glas Wein in der Hand, würde es ihr gleich viel besser gehen. Als sie sich umwandte, sah sie zwei Personen im benachbarten Atelier verschwinden und erstarrte, als sie den Ballettmeister Bruno und Marietta Kirotsova, die von allen bewunderte Theaterchefin erkannte. Die beiden waren ins Gespräch vertieft und hatten sie offenbar nicht bemerkt.

Posys Herz klopfte schmerzhaft weit oben im Hals. Das war ihre Chance, quasi auf dem Silbertablett präsentiert …

Sie konnte ihnen folgen und sie fragen, was sie tun sollte, woran sie noch arbeiten könnte und wie sie sich von anderen unterscheiden musste, um endlich ihren rechtmäßigen Platz als Solo-Künstlerin einzunehmen. Noch einmal atmete sie tief durch und versuchte, die aufsteigende Panik in den Griff zu bekommen.

Was sollte schon passieren? Sie konnte mit Kritik und Ablehnung umgehen. Sie hatte sich daran gewöhnen müssen. Aber dies hier könnte zum wichtigsten Moment ihres bisherigen Lebens werden.

„Beweg dich, Posy!“, trieb sie sich zwischen zusammengebissenen Zähnen an, aber ihre Füße gehorchten ihr nicht. Vielleicht war sie doch ein Feigling und wollte lieber weiter hoffen, als zu wissen, dass es keine Hoffnung gab?

Alle unsinnigen Spekulationen verflüchtigten sich, als sie ihren Namen laut und deutlich durch die angelehnte Tür hörte. Sie versuchte, sich bemerkbar zu machen, doch ihre Stimme versagte ihr ebenso den Dienst wie ihre Beine.

„Rosalind Marlowe? Oh, du meinst Posy?“

Das war Brunos Stimme mit dem schweren italienischen Akzent, der sich auch nach Jahrzehnten in London noch nicht gelegt hatte. Posy schluckte mühsam und wünschte sich sonst wo hin.

„Sie tanzt bereits in der fünften Saison hier. Glaubst du, sie ist so weit für einen Solopart?“

Posy hielt den Atem an, kniff die Augen zu und fieberte mit der glühenden Leidenschaft eines kleinen Kindes der richtigen Antwort entgegen, die all ihre Sorgen und Zweifel in einem Handstreich wegwischen würde.

„Nein.“

Damit zerplatzte ihr Traum wie eine Seifenblase.

„Sie ist eine hervorragende Tänzerin, rein technisch gesehen möglicherweise die beste. Ich könnte sie mir eines Tages als Coryphée vorstellen. Außerdem wäre sie eine wundervolle Lehrerin. Aber ihr fehlt das Feuer, die Leidenschaft, die nötig ist, um aus der Reihe zu treten. In einer Charakterrolle würde ihr niemand die Frau abnehmen, die leidenschaftlich geliebt und gelebt hat. Eigentlich schade, aber wie ich bereits sagte, technisch ist sie unübertroffen und eine Bereicherung für …“

Mehr musste sie nicht hören. Irgendwie gewann Posy die Kontrolle über ihre Beine zurück und trat ihren Rückzug in tödlicher Ruhe an. Sie würde niemals eine Solistin sein, niemals im Rampenlicht stehen und sehen, wie ihr das Publikum zu Füßen lag. Und was noch viel schlimmer war, sie würde niemals die Passagen tanzen, die sie so gut kannte und liebte. Würde niemals Julia oder Giselle sein.

Sie hatte versagt …

2. KAPITEL

Würde ihn jemand fragen, hätte Nico frei heraus geantwortet, dass er überall auf der Welt lieber festsitzen würde als hier auf der Isola dei Fiori. Trotzdem versöhnte er sich zunehmend mit seinem Schicksal.

Vielleicht war es dieses weiche Licht eines typisch italienischen Sommerabends, während eine kühle Meeresbrise die Hitze des Tages vertrieb. Und dann der Duft des Jasmins, der sich mit dem salzigen Tanggeruch des Meeres vermischte, oder die grünen Klippen, die sich ins azurblaue Meer zu stürzen schienen, außer an den weißen Sandstränden.

Die Isola dei Fiori mag ja ein Gefängnis sein, aber zumindest ein überwältigend schönes, dachte Nico mit bitterem Lächeln, während er den Pfad in Richtung der Villa Rosa zurücklegte.

Obwohl der unterhalb der Villa liegende Sandstreifen theoretisch jedermann offenstand, wie alle Strände auf der Insel, war er zugleich Eigentum der Krone. Der einzig bekannte Weg dorthin führte durch den verwilderten Garten der verblassenden rosa Villa, die majestätisch am Rande der Klippe thronte. Doch wer die Insel wie seine Westentasche kannte, wusste auch von dem anderen Pfad, der in das versteckte Paradies führte. So wie Nico.

Ob es ihm gefiel oder nicht, jede Wegbiegung, jeder Grashalm und jedes Sandkorn war in seinem Herzen verankert, und gemahnte ihn dadurch unweigerlich an seine Verpflichtungen.

Der geheime Zugang, eher ein Ziegenpfad als ein normaler Weg, lag verborgen zwischen zwei Felsbrocken. Nico starrte auf das wuchernde Grün, das einen Großteil des Zugangs bedeckte. Wie oft war er mit Alessandro hier runtergejagt und häufig genug auch bis zum weißen, warmen Strand hinuntergerollt und hatte sich Stunden später zerkratzt und sonnenverbrannt wieder von ihrem verbotenen Abenteuer zurückgeschlichen …

Seine Augen brannten. Nein, er würde jetzt nicht an Alessandro denken. Aber das war schwer, wenn nicht unmöglich, da jeder Stein, jeder Halm und Baum eine wehmütige Erinnerung an ihn bedeutete, die ihm tief ins Herz schnitt. Zwei Jahre hatten den Schmerz nicht lindern können.

Grimmig beschleunigte er seine Schritte, als könnte das Adrenalin, das jetzt durch seine Adern strömte, die dumpfe Trauer hinwegspülen. Es schien tatsächlich zu funktionieren, weshalb Nico das Tempo noch beschleunigte und halb stolpernd, halb fallend den Strand erreichte, wo er augenblicklich die Schuhe von den Füßen schleuderte, um den warmen Sand auf der bloßen Haut zu spüren.

Seit seinem letzten Besuch hier war mehr als ein Jahrzehnt vergangen und nichts schien sich verändert zu haben. Auch wenn er in der Zwischenzeit zu den aufregendsten Plätzen der Welt gejettet war, an einem Abend wie diesem war der Zauber dieser versteckten kleinen Bucht schwer zu schlagen. Geformt wie ein Hufeisen, schmiegte sie sich im anmutigen Bogen um zerklüftete Felsen. Die Wellen rollten sanft ans Ufer, und Nico erinnerte sich daran, dass man eine gewisse Strecke im seichten Wasser zurücklegen musste, bevor es tief genug zum Schwimmen war.

Da die Felsen eine natürliche Barriere vor der erfrischenden Sommerwindbrise bildeten, war es hier unten sehr heiß. Sein T-Shirt klebte am Körper. Nach einem Blick übers azurblaue Meer glaubte Nico das Wasser bereits auf seiner erhitzten Haut zu spüren. Nach der sengenden Tageshitze musste es eine angenehme Temperatur haben.

Nicht, dass Alessandro oder er früher auch nur einen Gedanken auf derartige Nebensächlichkeiten verschwendet hätten, wenn sie sich frühmorgens, nachts oder auch mitten im Winter in die Fluten gestürzt hatten. Im Sommer waren Strand und Meer ihr liebster Spielplatz gewesen, bis Alessandro in seine Aufgaben hineingewachsen war und ihre Kindheit als ferne, sehnsuchtsvolle Erinnerung hinter ihnen gelegen hatte.

Nico seufzte und straffte sich. Jetzt war es an ihm, diese Bürde zu schultern und seine Verantwortung so ernst zu nehmen, dass ihm kaum Zeit für abendliche Bäder im Meer bleiben würde. Eigentlich schon jetzt nicht. Das Vernünftigste wäre es, kehrtzumachen und nach Hause zu gehen.

Er ballte die Hände zu Fäusten. Nein, ab sofort würde er ein Leben lang vernünftige Entscheidungen fällen müssen, seine Pflichten immer an die erste und sich selbst an die letzte Stelle stellen. Der heutige Abend gehörte noch ihm allein, in Erinnerung an zwei Jungen, die sich früher heimlich von Traditionen und Verantwortungen davongestohlen hatten, um im Mondschein zu baden.

Sein Körper übernahm die Regie, während sein Verstand noch zögerte. Keine Minute später lagen das verschwitzte T-Shirt, Shorts und Boxershorts als zusammengeknüllter Haufen im Sand, während er splitterfasernackt mit ausgebreiteten Armen in Richtung Meer sprintete.

Kaum, dass er die Wasserkante erreicht hatte, fragte sich Nico, ob die spontane Idee wirklich so brillant gewesen war, wie er geglaubt hatte. Wenn ihm heimlich Paparazzi gefolgt waren und sich nun irgendwo im Verborgenen die Hände rieben und ihre Kameras schussbereit hielten?

Doch bereits in der nächsten Sekunde schüttelte er sämtliche Skrupel ab. Wenn sich diese Schmeißfliegen tatsächlich so unternehmungslustig zeigten, hatten sie das Foto ihres Lebens irgendwie auch verdient, oder?

Die Vorstellung, wie sein Onkel reagieren würde, entlockte Nico ein Grinsen. So gesehen würde es sich fast lohnen …

Das Wasser war genauso belebend, wie er es sich erhofft hatte. Die Wellen nicht zu hoch, die Temperatur zunächst angenehm warm, später äußerst erfrischend, sobald er weiter hinausschwamm. Nico durchpflügte das kühle Nass mit kräftigen Schwimmstößen. Als er sich irgendwann auf den Rücken drehte und zurückschaute, war der Strand nur noch ein dünner heller Streifen.

Eine Zeit lang ließ er sich träge von den Wellen schaukeln, blinzelte in die langsam versinkende Sonne und genoss die letzten warmen Strahlen auf seiner salzigen Haut. Fast unmöglich, sich vorzustellen, dass derart paradiesische Momente bereits ab morgen der Vergangenheit angehören sollten. Stattdessen erwartete ihn eine streng geregelte Existenz hinter Palastmauern, gespickt mit altbackenen Zeremonien und Pflichten, die ihn rund um die Uhr in Anspruch nehmen würden.

Wozu, früher oder später, auch die passende Ehefrau gehören würde, samt zu gründender Familie …

Ein erschreckender Gedanke, der seine gute Laune blitzartig sinken ließ.

Nicos Schwimmbewegungen in Richtung Ufer fielen nicht weniger kraftvoll aus als zuvor, zeugten aber nicht länger von Freiheitsdrang, sondern eher von resignierter Entschlossenheit und dem inneren Kampf gegen einen kaum zu bezwingenden Fluchtinstinkt.

Er suchte das Ufer nach seinem achtlos hingeworfenen Kleiderhaufen ab – und dann sah er sie …

Mit einem unterdrückten Fluch begann Nico, Wasser zu treten, um die veränderte Sachlage besser in Augenschein nehmen zu können.

Sie stand auf der anderen Seite des Felsens, der den hufeisenförmigen Strand in zwei Hälften unterteilte, direkt neben dem Zugang zu einem natürlichen Thermalbad. Ihr Boot war nicht zu sehen, aber es schien ihm, als wäre sie gerade erst an Land gegangen. Wenn er sich vorsichtig bewegte, könnte er vielleicht unbemerkt ans andere Ufer gelangen, sich seine Kleider schnappen und verschwinden, bevor sie ihn überhaupt bemerkte. Oder er blieb so lange im Wasser, bis sie verschwunden war.

Nachdem sein Entschluss gefasst war, musterte er das Mädchen noch einmal, aber sie war zu weit weg, als dass er ihre Gesichtszüge erkennen konnte. Eine schmale, zierliche Gestalt mit einer Fülle dunkler Locken, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie spazierte an der Wasserkante entlang und starrte auf den Boden. Alles an ihr sprach von Bedrückung, ja, Verzweiflung und rührte etwas in ihm an, gegen das er sich nicht wehren konnte. Vielleicht, weil er ähnlich empfand?

Gerade hatte er beschlossen, doch heimlich an Land zu waten, da richtete sie sich auf, strich sich die dunkle Haarflut mit einer graziösen und gleichzeitig dramatisch anmutenden Geste aus dem Gesicht und vollführte eine anmutige Pirouette nach der anderen.

Eine geheimnisvolle Strandnixe bei ihrem Abendritual …

Nico spürte, dass er Zeuge einer sehr intimen Szene geworden war, brachte es aber nicht fertig, den Blick abzuwenden. Gefangen von der unbewusst präsentierten Grazie, mit der sie ihr weißes leichtes Kleid über den Kopf zog und es wie ein Blütenblatt zu Boden fallen ließ, hielt er unbewusst den Atem an.

Jetzt war es zu spät, um sich unbemerkt davonzustehlen.

Sie trug keinen BH und es dauerte weniger als zwei Sekunden, bis sie ihren winzigen Slip abgestreift hatte, um mit der gleichen Grazie ins Meer zu steigen, mit der sie sich zuvor ihrer Kleidung entledigt hatte. Sie musste auf jeden Fall eine Nixe oder Sirene sein. Und er war – wie Odysseus – zu fasziniert und bezaubert von diesem Wunderwesen, um sich zurückzuziehen.

Jetzt konnte er nur noch abwarten und darauf hoffen, dass sie ihn nicht sah. Eine vergebliche Hoffnung, das wusste Nico, als sie plötzlich mitten in der Bewegung erstarrte, von einer vorwitzigen Welle erfasst wurde und erschrocken nach Luft schnappte.

Mein Stichwort! dachte er mit grimmiger Befriedigung und schwamm langsam auf sie zu. Aber nicht zu nah, um sie nicht noch mehr zu beunruhigen, als er es offensichtlich bereits getan hatte.

„Perfekter Abend für ein Bad im Meer.“

Wenn Blicke hätte töten können, wäre er jetzt Haifischfutter. „Das ist Privatbesitz.“

„Was? Das Meer?“, spottete Nico und begegnete lächelnd dem empörten Blitzen in den dunklen, sprechenden Augen. „Und du bist Poseidons Geliebte, die ihren Anspruch über Wasser und Wellen geltend macht?“

Posy schluckte. „Der Strand … er ist privat.“

„Ist er nicht, wie du sehr wohl weißt, meine kleine Nixe“, korrigierte er sie im Konversationston. „Er ist Eigentum der Krone und steht allen offen. Und selbst, wenn es nicht so wäre, bist du keine Del Castro.“ Seine Zuversicht war nicht gespielt, da er naturgemäß jeden Ableger des verzweigten königlichen Stammbaumes kannte.

„Aber es gibt nur einen Weg, der nach unten zum Strand führt, und der ist in Privatbesitz“, trumpfte Posy wenig beeindruckt auf. „Und ich weiß, dass du nicht mit dem Boot hierhergekommen bist.“

„Man findet immer einen zweiten Weg, wenn man entschlossen ist und weiß, wo man suchen muss“, konterte er amüsiert.

„Haben Sie mich etwa beobachtet?“, fragte Posy, plötzlich verunsichert.

„Nicht absichtlich“, gestand Nico mit schiefem Lächeln. „Der Strand war leer, als ich hier ankam, also bin ich es, der sich beschweren müsste. Denn du bist in meine Privatsphäre eingedrungen, kleine freche Nixe.“

Sein Lächeln und der neckende Tonfall waren an sie verschwendet. Die fein geschwungenen dunklen Brauen wanderten nach oben und die Mundwinkel herunter. „Ein Gentleman hätte sich bemerkbar gemacht.“

„Aber ich bin kein Gentleman, frag meinen Onkel.“ Ihre unnachahmliche Grazie, die sie immer noch wie ein unsichtbarer Mantel umgab, faszinierte ihn. „Außerdem gibt es einen triftigen Grund, warum ich mich nicht unbedingt bemerkbar machen wollte. Ich habe nämlich nicht mehr an als Sie.“ In diesem speziellen Moment erschien ihm die gesetzte Anrede durchaus angemessen.

Posy presste die Lippen zusammen und warf mit einer stolzen Geste den Kopf in den Nacken. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass Sie sich zurückziehen, Sir!“

„Nicht, wenn Sie mir dabei zusehen, Miss.“

Sie starrte ihn an, mit brennenden Wangen und funkelndem Blick. „Glauben Sie mir, ich habe schon ziemlich alles gesehen.“

Nico grinste breit. „Wie es aussieht, stecken wir in einer Zwickmühle“, sagte er und schwamm langsam näher. Hätte diese vorlaute Nixe echte Wut oder Angst gezeigt, wäre er mit einer Entschuldigung davongeschwommen, aber irgendetwas verriet ihm, dass sie dieses kleine Intermezzo ebenso genoss wie er.

Sie schien jünger zu sein, als er auf den ersten Blick hin vermutet hatte, etwa Mitte Zwanzig. Sie hatte einen makellosen hellen Porzellanteint, der im geradezu dramatischen Kontrast zu den dunklen Augen und dem nachtschwarzen Haar stand.

Keine klassische Schönheit, aber ein fesselndes Gesicht, das von Ernsthaftigkeit und einer gewissen Würde sprach, die einen geradezu zwangen, ein zweites Mal hinzuschauen. Oder noch öfter.

Autor

Jessica Gilmore

Jessica Gilmore hat in ihrem Leben schon die verschiedensten Jobs ausgeübt. Sie war zum Beispiel als Au Pair, Bücherverkäuferin und Marketing Managerin tätig und arbeitet inzwischen in einer Umweltorganisation in York, England. Hier lebt sie mit ihrem Ehemann, ihrer gemeinsamen Tochter und dem kuschligen Hund – Letzteren können die beiden...

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