Diese Sehnsucht nach deinen Küssen

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Um dem Leben im goldenen Käfig zu entkommen, kehrt Lady Annabelle dem Königreich Halencia den Rücken. Doch erstmals ohne Bodyguards unterwegs, wird ihr prompt die Handtasche entrissen. Zum Glück eilt ihr ein faszinierender Fremder zur Hilfe, der Unternehmer Grayson Landers. Vom ersten Moment an prickelt es unwiderstehlich zwischen ihnen, sehnsüchtig verzehrt sie sich bald insgeheim nach seinen Küssen. Aber mehr noch fürchtet sie, mit einer Romanze genau das zu riskieren, was sie sich gerade erst zurückerobert hat: die Freiheit ihres Herzens!


  • Erscheinungstag 21.11.2017
  • Bandnummer 2311
  • ISBN / Artikelnummer 9783733708771
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Wieder ein katastrophales Date! Lady Annabelle DiSalvo knirschte mit den Zähnen, als sie sich an den vergangenen Abend erinnerte. Es war schwer genug, einen anständigen Mann zu finden, der sie um ihrer selbst willen mochte und nicht nur, weil sie die Tochter des Herzogs von Halencia war. Von ihm auch noch zu erwarten, dass er ihr übereifriges Sicherheitsteam hinnahm, war eine ganz andere Sache.

Als ihr Date versucht hatte, sich mit ihr zu einem Spaziergang unter dem Sternenhimmel wegzuschleichen, hatte ihr Bodyguard sie zurückgehalten. Ihre Wangen glühten, als sie daran dachte, wie der Abend geendet hatte: mit einer heftigen Auseinandersetzung zwischen ihr, ihm und ihrem unnachgiebigen Bodyguard. Es war schrecklich gewesen. Und selbstverständlich würde es kein zweites Date geben.

Annabelle war so frustriert, dass ihr Tränen in die Augen traten. Sie konnte nicht länger so leben. Ihre Freundinnen heirateten allmählich alle. Doch sie war Single und hatte auch keine Hoffnung, dass sich daran etwas ändern würde, solange jeder ihrer Schritte überwacht wurde. Sie wollte einfach nur ein normales Leben – so, wie es gewesen war, bevor ihre Mutter ermordet wurde.

Wenn ihre Mutter nur da gewesen wäre! Dann hätte sie Annabelles überfürsorglichen Vater ein wenig zur Vernunft bringen können. Die junge Lady vermisste ihre Mutter sehr. Und dass ihr Vater nur selten von seiner verstorbenen Frau sprach, machte Annabelle das Herz noch schwerer.

Sie drückte das Tagebuch ihrer Mutter fest an die Brust. Vielleicht hätte sie nicht in deren Sachen herumschnüffeln sollen, aber ihr Vater hatte ihr keine andere Wahl gelassen. Wie sonst sollte sie je etwas Genaueres über ihre Mutter erfahren?

Annabelle steckte das Tagebuch in ihre große Umhängetasche und lief die gewundene Treppe hinunter, die ins Erdgeschoss des weitläufigen Anwesens ihres Vaters führte, das auf Halencia lag. Unten wartete ihr stets wachsamer Bodyguard Berto auf sie. Ein ganzes Sicherheitsteam stand bereit, um Annabelle zu beschützen.

Seit ihre Mutter bei einem Raubüberfall getötet worden war, wurde Annabelle Tag und Nacht bewacht. Zunächst hatte Annabelle verstanden, dass sich ihr Vater Sorgen um sie machte – immerhin war der Mörder ihrer Mutter nie gefasst worden! Doch jetzt, elf Jahre später, fühlte sie sich von den Sicherheitsmännern eingeengt. Und sie fand es völlig unnötig, ständig bewacht zu werden.

Sie hatte geglaubt, dass sich die Dinge ändern würden, wenn sie nach Mirraccino zog, in die Heimat ihrer Mutter. Doch da ihr Onkel der König von Mirraccino war, wurde Annabelle immer noch von bewaffneten Bodyguards bewacht. Allerdings hatte sie vor, das zu ändern.

„Wir können gehen, Berto.“

Der Mann mit den kurzen dunklen Haaren und den ausgeprägten Muskeln, die selbst dann nicht zu übersehen waren, wenn er – wie jetzt – eine Anzugjacke trug, stand auf. Er war schweigsam, konnte Menschen jedoch allein mit einem Blick einschüchtern.

Bei Annabelle funktionierte das allerdings nicht, sie kannte ihn seit ihrer Jugend. Sie wusste, er war ein sanfter Riese, es sei denn, man provozierte ihn. Für sie war er wie ein überfürsorglicher großer Bruder.

Die beiden gingen zur Tür. Annabelle wollte unbedingt nach Mirraccino zurück, wegen eines wichtigen Geschäftstreffens …

„Nicht so schnell.“ Der Herzog von Halencia betrat das weitläufige Foyer und hielt sie mit seiner grollenden Stimme zurück. „Ich wusste gar nicht, dass du schon so bald gehen willst.“ Er hob eine Braue. „Gibt es irgendeinen Grund für deine überhastete Abreise?“

„Mir ist etwas dazwischengekommen.“ Ungerührt begegnete sie dem Blick ihres Vaters.

Er zupfte seine Ärmel zurecht. „Was soll das heißen?“

„Das heißt, dass ich Verpflichtungen in Mirraccino habe. Auch wenn du das nicht verstehst.“ Ihre Stimme klang schrill, weil sie an den vergangenen Abend dachte.

„Ich verstehe nicht, warum du so feindselig bist, Annabelle. Das sieht dir gar nicht ähnlich.“

„Vielleicht, weil ich vierundzwanzig bin und du mich kein normales Leben führen lässt.“

„Aber das tue ich doch …“

„Warum weigerst du dich dann, meine Bodyguards abzuziehen? Sie ruinieren mir jede Chance darauf, je glücklich zu werden. Momma ist schon lange tot. Es gibt keine Bedrohung mehr.“

„Das weißt du doch gar nicht.“ Die buschigen dunklen Brauen ihres Vaters zogen sich zusammen, und sein Gesicht wirkte augenblicklich um Jahre älter.

Annabelle war mit ihrer Geduld am Ende. „Du hast recht, ich weiß es nicht. Aber das ist nichts Neues. Ich habe dich in all den Jahren immer wieder gebeten, mir und auch Luca zu erzählen, warum du dir Sorgen um uns machst. Aber du weigerst dich.“

Der Herzog seufzte. „Ich habe dir doch gesagt, dass die Polizei gemeint hat, es sei ein Raubüberfall gewesen, der außer Kontrolle geraten ist.“

„Warum sollte uns denn ein Räuber auflauern?“

„Das würde er nicht.“

„Aber?“ Sie wollte nicht, dass er es dabei beließ.

„Irgendetwas hat sich immer falsch angefühlt.“

Zumindest passten jetzt ein paar Teile des Puzzles zusammen. „Die Polizei hat also geglaubt, es sei ein Raubüberfall gewesen, weil ihr Schmuck und ihre Tasche gestohlen wurden. Aber du weißt noch mehr, stimmt’s?“

Der Mund ihres Vaters wurde schmal. „Ich weiß nicht mehr als die Polizei.“

„Aber du hast einen Verdacht, oder nicht?“ Er antwortete nicht, doch sie weigerte sich aufzugeben. Die Sache war viel zu wichtig. „Du schuldest mir eine Erklärung, Poppa.“

Er seufzte erneut. „Ich fand es seltsam, dass deine Mutter mich vom Palast aus anrief, um mir zu sagen, dass etwas nicht in Ordnung sei, am Telefon aber nicht ins Detail gehen wollte. Und zwei Tage später wurde sie … bei einem Raubüberfall getötet.“

„Und was war nicht in Ordnung?“

„Das ist es ja eben, ich weiß es nicht. Vielleicht war nichts dran. Das meinte jedenfalls die Polizei, als ich den Beamten davon erzählte. Alle Beweise deuteten auf einen Raubüberfall hin.“

„Du hast das allerdings nie geglaubt?“

Er schüttelte den Kopf. „Da der König auch nicht wusste, worauf deine Mutter sich bezogen haben könnte, engagierte ich einen Privatermittler. Er hat die Sachen deiner Mutter durchsucht und mit den Palastangestellten gesprochen. Aber er hat keinen Hinweis darauf gefunden, warum sie getötet wurde.“

„Dann hatte die Polizei vielleicht doch recht.“

Wieder schüttelte ihr Vater den Kopf. „Das glaube ich nicht.“

„Obwohl du keinerlei Beweise hast?“

„Das sagt mir mein Gefühl.“ Sein Gesicht fiel in sich zusammen. „Und ich will bei dir und deinem Bruder kein Risiko eingehen. Ihr seid alles, was mir geblieben ist.“

„Ich weiß, dass du dir Sorgen machst. Aber du kannst uns doch nicht ständig bewachen und ausspionieren lassen, als wären wir Kriminelle! Es ist sehr schade, dass Luca nicht mehr nach Hause kommt. Und …“ Sie wollte schon gestehen, dass sie deshalb in Mirraccino lebte, doch der Schmerz im Blick ihres Vaters hielt sie zurück.

„Und was? Willst du so tun, als sei nichts passiert? Der Mörder ist immer noch auf freiem Fuß.“

Annabelle hatte ihn ihr ganzes Leben lang besänftigt, denn er tat ihr leid, weil er bis heute um ihre Mutter trauerte. Doch die letzten Jahre in Mirraccino hatten ihr klargemacht, dass sie nie frei sein würde, wenn sie nicht für sich selbst einstand. Sie würde viele ihrer Träume nie verwirklichen können, sondern für immer unter dem wachsamen Blick ihres Vaters leben. Aber das war kein Leben für sie.

„Ich werde keinen Rückzieher machen, Poppa. Mit vierundzwanzig habe ich ein Recht auf ein eigenes Leben …“

„Das führst du doch.“

„Nein, das tue ich nicht. Jeder Schritt, den ich machen will, wird vorher unter die Lupe genommen und dir berichtet. Das ist kein Leben.“

Der Herzog seufzte. „Es tut mir leid, dass du das so empfindest, aber ich tue all das nur, um dich und deinen Bruder zu beschützen. Von ihm habe ich noch keine Beschwerden gehört.“

„Weil es Luca egal ist, was du oder irgendein anderer sagt. Er tut das, was er will.“

Ihr Vater strich sich mit der Hand über die rasierte Wange. „Ich weiß.“

„Willst du, dass ich es genauso mache wie er?“

„Nein!“ Die laute Stimme des Herzogs hallte von den Wänden wider. „Ich habe schon genug Probleme mit deinem Bruder, aber das muss ein Ende haben. Wenn er meinen Titel erben will, muss er sich ihn erst einmal verdienen.“

Sie waren vom Thema abgekommen. „Mein Bruder kann für sich selbst einstehen. Hier geht es um dich und mich. Und du musst mich endlich in Ruhe lassen, sonst …“

Die Augen ihres Vaters verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Sonst was?“

„Sonst lässt du mir keine andere Wahl. Dann werde ich Halencia und Mirraccino verlassen.“ Sie sah den überraschten Blick ihres Vaters, und es gefiel ihr überhaupt nicht, ihm das anzutun. Aber vielleicht gab es keinen anderen Weg, um ihm verständlich zu machen, dass sie es ernst meinte.

Einen Moment lang sagte er kein Wort. Doch als er dann sprach, klang er sehr aufgewühlt. „Mit deinen Drohungen kommst du bei mir nicht weiter.“

„Das ist keine Drohung, Poppa. Es ist mein voller Ernst.“

Ihr Vater starrte sie an, als wollte er herausfinden, wie ernst es ihr damit war. „Warum versteht du und dein Bruder nicht, dass ich euch nur beschützen will?“

„Ich weiß, dass du dir Sorgen um unsere Sicherheit machst, nach dem, was Momma passiert ist. Aber das ist schon lange her. Es war ein Raubüberfall, für uns besteht also keine Gefahr.“

Er schüttelte den Kopf. „Das kannst du nicht wissen. Ich kann dein Wachpersonal nicht abziehen. Ich … zuerst muss ich wissen, ob du erwachsen genug bist und in der Lage, für dich selbst zu sorgen.“

Dass ihr Vater so wenig von ihr hielt, tat ihr weh, doch Annabelle ignorierte den Schmerz. „Ich werde dir beweisen, dass ich durchaus auf mich aufpassen und die richtigen Entscheidungen treffen kann.“

Sie hatte ihrem Vater erzählt, dass sie das South-Shore-Projekt übernommen hatte. Von geschäftlichen Dingen verstand ihr Vater etwas. Da der Kronprinz inzwischen mit seiner neuen Familie beschäftigt war und immer mehr Pflichten des Königs übernahm, konnte er sich nicht mehr persönlich um das Projekt kümmern. Annabelle war erfreut eingesprungen und hatte schon fast alle Geschäftslokale an der Piazza belegt. Es gab nur noch ein freies Objekt. Dort wollte sie ein Unternehmen ansiedeln, das die jungen Leute anzog, damit das Viertel auch in Zukunft noch florieren würde.

„Und du glaubst, dass du alles allein hinbekommst?“ Zweifel klangen in der Stimme des Herzogs mit.

Sie biss die Zähne aufeinander. Wie altmodisch ihr Vater doch war! Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sie bereits einen erfolgreichen Geschäftsmann geheiratet, der ihren Vater bei allen geschäftlichen Dingen unterstützte.

Annabelle hob ihr Kinn und begegnete seinem Blick. „Ja, das glaube ich. Ich werde es dir zeigen. Und dann wirst du die Bodyguards abziehen.“

Sie starrten sich an. Ein Machtkampf, bei dem keiner klein beigeben wollte. Offenbar war ihrem Vater nicht klar, dass er eine Tochter großgezogen hatte, die genauso stur war wie er selbst.

Trotzdem überlegte sie, ob an den Vermutungen ihres Vaters in Bezug auf den Tod ihrer Mutter etwas dran war. Oder klammerte er sich nur an die Vorstellung, dass ihre Mutter für etwas Bedeutsameres gestorben sein musste als Geld und Schmuck?

1. KAPITEL

An diesem Tag begann ein neues Kapitel …

Lady Annabelle DiSalvo lächelte, als sie durch Bellacitta ging, die Hauptstadt von Mirraccino.

Da ihr bis zu ihrem großen Meeting noch ein paar Minuten Zeit blieben, wollte sie bei Prinzessin Zoe vorbeischauen. Sie waren gute Freundinnen geworden, seit Zoe und der Kronprinz ihre Ehestreitigkeiten beigelegt hatten. Annabelle bewunderte Zoe dafür, dass sie darauf bestanden hatte, eine moderne Prinzessin zu sein und als Innenarchitektin weiterzuarbeiten – obwohl sie inzwischen nicht mehr so viel Zeit dafür hatte, weil sie ihren königlichen Pflichten als Ehefrau und auch als Mutter nachkommen musste. Wenn Zoe all das schaffte, dann würde auch Annabelle es schaffen. Doch zuerst musste sie frei sein und den Sicherheitsdienst loswerden …

Erst jetzt erinnerte sich Annabelle wieder an die E-Mail, die Zoe ihr geschickt hatte: Sie und ihr Ehemann hatten die Stadt wegen einer längeren diplomatischen Reise verlassen. Und da der andere Prinz in Amerika war, um die Familie seiner Frau zu besuchen, würde es im Palast ziemlich still sein.

In diesem Moment stieß jemand gegen ihre Schulter, und Annabelle hatte Mühe, nicht hinzufallen. Als sie die Arme hob, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, riss ihr jemand die Tasche von der Schulter, doch Annabelle bekam den Riemen noch zu fassen.

Auf keinen Fall würde sie diesen Kerl mit ihrer Tasche entkommen lassen, in der sich das Tagebuch ihrer Mutter befand! Zum ersten Mal bedauerte Annabelle, dass sie Berto gezwungen hatte, mindestens zehn Schritte hinter ihr zu bleiben. All das war viel zu schnell gegangen, als dass er ihr hätte helfen können.

Da sie wusste, dass das Tagebuch in Gefahr war, klammerte sie sich mit aller Kraft an den Riemen. Doch der schlaksige Junge mit der schwarzen Baseballkappe bewegte sich sehr schnell und kugelte ihr fast die Schulter aus.

Schmerz durchschoss ihren Arm, und instinktiv lockerte sie ihren Griff. Dann waren sie verschwunden – ihre Tasche, das Tagebuch und der Dieb.

„Hey! Stopp!“ Annabelle umfasste ihre schmerzende Schulter.

„Sind Sie okay?“, fragte Berto, der herbeigehechtet kam.

„Nein, bin ich nicht. Bitte holen Sie meine Tasche zurück. Schnell!“

Der Mann zögerte. Sie wusste, dass er Anweisung hatte, bei ihr zu bleiben, ganz egal, was passierte. Doch das hier war eine Ausnahmesituation: Der Dieb hatte die letzte Verbindung zu ihrer Mutter geraubt! Um dem Übeltäter nicht noch weiteren Vorsprung zu geben, lief Annabelle los, Berto dicht auf ihren Fersen.

„Bleiben Sie stehen, Lady Annabelle!“, rief der Bodyguard.

Auf keinen Fall! Sie würde nicht zulassen, dass ihr noch ein Teil aus ihrer Vergangenheit gestohlen wurde.

Sie lief immer schneller. „Haltet den Dieb!“

Adrenalin trieb sie durch die Menge der verwirrten Fußgänger. Manche hatte der Dieb zur Seite gestoßen, andere waren stehen geblieben, um zuzusehen bei dem, was sich hier abspielte.

Bald wurde klar, dass Annabelle ihn nicht einholen würde. Trotzdem lief sie weiter; ab und zu erhaschte sie in der Menschenmenge einen Blick auf die Baseballkappe des Jungen. Sie würde nicht aufgeben!

„Haltet den Dieb!“, rief sie.

Sie war bereits völlig außer Atem, doch Frustration und Wut trieben sie vorwärts.

Berto blieb an ihrer Seite. Sie wusste, dass seine Priorität ihr galt, dennoch hätte sie sich gewünscht, er würde dieses eine Mal die Regeln brechen. Er hatte keine Ahnung, was sie im Begriff war zu verlieren.

Annabelles einzige Hoffnung war, dass irgendein Held auftauchen und ihr helfen würde. Bitte, lass mich ihn fassen. Bitte.

„Haltet den Dieb!“

Das war also Mirraccino.

Grayson Landers rückte seine dunkle Sonnenbrille zurecht, während er durch Bellacitta schlenderte und bewunderte, wie sich hier nahtlos moderne Gebäude an historische Bauwerke anschlossen. Und was ihm noch mehr gefiel, war, dass niemand von ihm Notiz nahm oder ihn erkannte als … wie hatte die Klatschpresse ihn noch genannt? Ach ja, den gerissenen Bonzen.

Sicher, mit dieser Bezeichnung lagen sie nicht ganz daneben. Doch er riss sich von diesem Gedanken los, denn er wollte sich nicht in seiner dunklen, unglücklichen Vergangenheit verlieren.

Er fuhr sich über seinen ungepflegten Bart. Am liebsten hätte er ihn abrasiert, aber er wollte nicht erkannt werden und sich wieder unangenehmen Fragen ausgesetzt sehen. Also nahm er den Bart in Kauf, um anonym zu bleiben.

In einer knappen halben Stunde hatte er ein Meeting, bei dem es um einen möglichen Geschäftsabschluss ging – eine Chance, mit seinen Gaming-Cafés, die in den Vereinigten Staaten bereits der letzte Schrei waren, in den Mittelmeerraum zu expandieren.

Und Mirraccino bot einige Vorteile, die ihn dazu veranlasst hatten, sich den Standort näher anzusehen. Es würde sicher nicht schwer sein, neue Angestellte für die sonnige Insel zu gewinnen. Denn der Inselstaat war groß genug, um ihnen sowohl städtisches als auch ein mehr ländliches Leben zu bieten.

Und seinem Vorstand würde der Umsatzzuwachs durch dieses internationale Projekt sicher sehr gefallen. Es könnte der Beginn einer großen Sache werden.

„Haltet den Dieb!“, erklang eine weibliche Stimme und riss ihn aus seinen Überlegungen.

Im nächsten Moment rannte ein schlaksiger Junge in ihn hinein. Grayson packte ihn.

Der Junge schlug um sich und versuchte, dem eisernen Griff zu entkommen. Doch er hatte keine Chance, da Grayson viel größer und kräftiger war.

„Haltet den Dieb!“ Wieder erklang die weibliche Stimme, diesmal näher.

Ob sie diesen Jungen meinte? Grayson musterte ihn kurz. „Das gehört vermutlich nicht dir.“ Er deutete auf die Tasche, die der Junge in der Hand hielt.

„Doch, das ist meine.“

„Aber die Farbe passt nicht zu dir.“ Die Tasche war braun, mit Rosa abgesetzt und hatte einen rosa Riemen.

Der Junge wehrte sich immer noch, offenbar nicht klug genug, um zu erkennen, dass er sich nicht aus dem Staub würde machen können, bis die Polizei kam. „Lassen Sie mich gehen!“

Mit schmalen Augen sah Grayson ihn an. „Halt endlich still, sonst lernst du mich richtig kennen.“

Der Junge warf einen Blick über seine Schulter. „Sie sind hinter mir her.“

„Wahrscheinlich, weil du geklaut hast.“ Als der Junge kurz nicht aufpasste, entriss Grayson ihm die Tasche. „Die hier.“

„Hey, geben Sie mir die zurück“, ereiferte sich der Teenager mit dem leichten Flaum am Kinn und warf einen Blick über die Schulter. Einige Passanten waren bei ihnen stehen geblieben. „Vergessen Sie’s. Sie können sie behalten. Lassen Sie mich einfach nur gehen.“

„Ich behalte die Tasche – und dich ebenfalls.“

„Ich habe die Polizei gerufen“, rief jemand aus der Menge.

Kaum merklich zuckte Grayson zusammen. Das Letzte, was er jetzt wollte, war, mit weiteren Polizisten zu tun zu haben. Vor etwas über einem Jahr hatte er so viele Fragen beantworten müssen, dass es ihm für sein ganzes Leben reichte. Deshalb war er versucht, den Jungen laufen zu lassen und dann in der Menge unterzutauchen.

Doch er kam nicht mehr dazu, sich zu überlegen, ob er einem Fremden helfen oder sich selbst vor einer weiteren Vernehmung bewahren sollte, da er schon die Sirene des Polizeiwagens hörte. Wenig später wurde eine Autotür zugeschlagen.

Der Verdächtige, den Grayson festhielt, kämpfte mit erstaunlicher Kraft um seine Freiheit und versetzte ihm einen so heftigen Schlag in den Magen, dass er aufstöhnte. Wut stieg in ihm hoch. Ganz egal, was es ihn selbst kosten würde, dieser Junge musste seine Lektion lernen.

Die Leute traten auseinander und machten dem Polizeibeamten Platz, der den Jungen sofort übernahm und festhielt.

„Zur Seite!“, rief eine tiefe Stimme. „Lassen Sie die Lady vorbei.“

Grayson sah sich um und entdeckte eine sehr schöne junge Frau, die am Rand der Menge stand. Er erkannte sofort, dass sie etwas Besonderes hatte. Vielleicht waren es ihre großen braunen Augen. Oder es war die Art, wie ihre langen dunkelbraunen Haare ihr Gesicht umrahmten.

Erst jetzt bemerkte Grayson den großen bulligen Mann an ihrer Seite. Ihr Freund? Wahrscheinlich, dachte er mit einem Anflug von Enttäuschung.

Nicht dass er an einer Romanze interessiert gewesen wäre. Er hatte seine Lektion in Bezug auf die Liebe gelernt: In einer Beziehung tat man Dinge, die man normalerweise nicht tun würde, und am Ende wurde einem das Herz gebrochen – oder, wie in seinem Fall, gleich ganz aus der Brust gerissen. Nein, es war besser, wenn er allein blieb.

Er wollte sich gerade abwenden, als ihm klar wurde, dass die junge Frau ihm bekannt vorkam. Und dann fiel es ihm ein: Sie war Lady Annabelle DiSalvo – die Frau, mit der er sich treffen wollte.

Der Polizist wandte sich an die Menge. „Es gibt hier nichts zu sehen. Gehen Sie bitte weiter.“

Lady DiSalvo rührte sich nicht. War sie so fasziniert von dem Vorfall? Oder war sie etwa das Opfer?

Dann schweifte ihr Blick in seine Richtung. Er wartete ab, ob sie ihn erkannte. Doch ihre Miene wirkte nichtssagend, und dann wandte sie sich auch schon wieder an den Mann an ihrer Seite.

Im nächsten Moment wurde Grayson vom Aufblitzen einer Kamera geblendet.

Konnte dieser Tag noch schlimmer werden?

Annabelle verrenkte sich den Hals und suchte fieberhaft nach ihrer Tasche. Doch dann fiel ihr ein, dass der Dieb sie während seiner Flucht weggeworfen haben könnte.

Ihr Blick fiel auf den attraktiven großen, dunklen Mann, der mitten im Geschehen stand. Sie hatte gespürt, dass er sie eben angestarrt hatte. Er war athletisch gebaut und hatte einen Bart – unweigerlich überlegte sie, wie er wohl ohne aussehen würde. Das Gedankenspiel faszinierte sie, doch im Moment gab es Wichtigeres.

Sie wollte den Blick gerade abwenden, als sie bemerkte, dass er ihre Tasche in der Hand hielt.

„Hallo Sie da. Das ist meine Tasche!“, rief Annabelle und hoffte, dass der Fremde sie gehört hatte. „Ich will sie wiederhaben.“

Ein Reporter stellte sich zwischen sie, und der Mann mit ihrer Tasche trat zurück, drehte sein Gesicht weg von der Kamera. Was sollte das denn?

Sie musste diesen Mann erwischen, aber ohne Berto im Schlepptau – Fremde fanden ihn häufig ein bisschen abschreckend.

Als ihr Bodyguard über die Schulter sah, um sicherzugehen, dass keine neue Gefahr lauerte, schlüpfte sie schnell durch die Menge zu dem Mann, der ihre Tasche hatte, während der Polizist den Dieb gerade zum Einsatzwagen brachte.

Annabelle musste den Kopf in den Nacken legen, um dem Mann ins Gesicht sehen zu können.

„Vielen Dank. Ich dachte schon, ich sehe meine Tasche nie wieder. Sie sind ein richtiger Held.“

Dem Mann schien ihr Lob unangenehm zu sein. „Ich freue mich, wenn ich helfen konnte.“

„Ich weiß Ihre Hilfe sehr zu schätzen. Wenn Sie mir jetzt bitte meine Tasche geben würden? Dann kann ich wieder gehen.“

Überrascht hob er die Brauen, machte jedoch keine Anstalten, ihrer Bitte nachzukommen.

„Gibt es ein Problem?“

„Ich kann sie Ihnen nicht geben.“ Die Stimme des Mannes klang dunkel und weich.

Das durfte doch nicht wahr sein! Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Ich glaube, Sie verstehen nicht. Das ist meine Tasche.“ Sie deutete auf den Dieb, der sich jetzt gegen den Polizisten wehrte. „Er hat sie mir gestohlen.“

„Es ist Beweismaterial. Das müssen Sie mit der Polizei klären.“

„Hören Sie, dafür habe ich keine Zeit. Ich habe ein Meeting …“

„Tut mir leid, ich muss sie der Polizei geben.“ Sein Tonfall hatte etwas Endgültiges.

Was war nur los heute? Zuerst die Szene mit ihrem Vater. Danach hatte sie ihren Flug nach Mirraccino fast verpasst. Und jetzt weigerte sich dieser Mann, ihr ihren Besitz zurückzugeben.

Vielleicht musste sie die Sache anders angehen. „Wenn Sie auf eine Belohnung aus sind, brauche ich meine Tasche, um Ihnen etwas geben zu können.“

Der Mann runzelte die Stirn. „Ich brauche Ihr Geld nicht.“

Auch das noch! Er musste doch irgendwie umzustimmen sein, bevor der Polizist wieder zurückkam.

Plötzlich kam ihr eine Idee. „Wenn ich keine Anzeige erstatte, gibt es auch kein Beweismaterial.“

„Das müssen Sie mit dem Polizisten ausmachen.“

Warum war dieser Mann nur so stur?

„Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?“ Vielleicht half das.

Bevor der Mann antworten konnte, kam der Polizist zu ihnen. „Ich nehme die Tasche.“

Sofort übergab der geheimnisvolle Mann ihm die Tasche.

Wütend funkelte Annabelle ihn an, ehe sie sich an den Polizisten wandte. „Die gehört mir. Ich will sie wiederhaben. All meine wichtigen Sachen sind darin.“

„Tut mir leid, Miss. Das ist jetzt Beweismaterial.“ Als der junge Polizist sie erkannte, wich alle Farbe aus seinem Gesicht. „Lady Annabelle, ich wusste nicht, dass Sie es sind. Es … es tut mir leid.“

Sie lächelte in der Hoffnung, ihm die Befangenheit zu nehmen. „Schon in Ordnung. Sie tun nur Ihre Pflicht. Könnte ich jetzt meine Tasche zurückhaben?“

Der Polizist wurde rot. „Laut Vorschrift muss ich sie als Beweismaterial sicherstellen. Doch da Sie es sind, kann ich wohl eine Ausnahme machen …“

„Nein.“ Sie wollte nicht, dass der junge Beamte wegen ihr Schwierigkeiten mit seinem Vorgesetzten bekam. „Tun Sie, was Sie tun müssen. Ich komme dann später zum Polizeirevier und hole sie ab.“

Der Polizist schaute sie überrascht an. „Das weiß ich sehr zu schätzen, besonders, da Sie das Opfer sind. Sie müssten dann Anzeige gegen den Verdächtigen erstatten.“

„Nein, das will ich nicht.“

Er runzelte die Stirn. „Es zu lassen, wäre aber nicht richtig.“

Der Polizist erklärte ihr, warum es eine schlechte Idee wäre, den Jungen einfach davonkommen zu lassen. Einige seiner Argumente klangen sehr vernünftig, sodass sie ihm schließlich zustimmte.

„Also gut. Sie und der Mann, der den Dieb gefasst hat, müssten dann auf dem Revier Ihre Aussagen machen.“ Er sah sich um. „Wo ist er denn?“

Auch Annabelle sah sich nach ihrem Helden um, aber er war nirgendwo zu sehen. Wie hatte er so schnell verschwinden können?

„Ich habe noch nicht einmal seinen Namen, geschweige denn seine Aussage.“ Der Beamte schüttelte den Kopf, während er sich auf einem Block Notizen machte.

Warum ist er verschwunden? überlegte Annabelle. Hatte er Angst vor der Polizei? Oder steckte etwas anderes dahinter?

2. KAPITEL

Endlich war sie da.

Annabelle sah auf ihrem Smartphone nach der Uhrzeit. Zum Glück hatte sie es in ihre Hosentasche gesteckt, sonst wäre es zusammen mit ihrer Tasche konfisziert worden. Ihr blieben noch zwei Minuten bis zu ihrem Treffen mit der leitenden Angestellten der Fo Shizzle Cafés. Sie hieß Mary, und sie hatten während der letzten Wochen korrespondiert. Annabelle vermutete, dass Grayson Landers, der Chef des Unternehmens, erst auftauchen würde, wenn ein vertrauenswürdiges Mitglied seines Teams die Örtlichkeit geprüft hatte.

Annabelle nahm an einem Tisch mit Sonnenschirm an der historischen Piazza Platz. Sie sah sich suchend um, konnte jedoch keine junge Frau entdecken, die geschäftsmäßig gekleidet war.

Sie nahm ihr Smartphone heraus. Von dem Vorfall mit ihrer Tasche gab es bereits etliche Posts, auch Fotos von ihr, aber keine vom Gesicht ihres Helden. Zu schade.

Dann kam ihr ein Gedanke. Vielleicht würde sie ihre Sachen schneller zurückbekommen, wenn sie beim Polizeirevier anrief. Sie suchte gerade nach der Nummer, als …

„Das ist doch nicht Ihr Ernst! Lassen Sie mich durch!“

Annabelle sah auf, als sie die verärgerte männliche Stimme hörte, und bemerkte, dass Berto einen Mann davon abhielt, ihr näher zu kommen. Wie ein riesiger Muskelberg stand ihr Bodyguard da, die Arme verschränkt und die Beine leicht gespreizt. Annabelle zweifelte nicht daran, dass er bei der kleinsten Provokation sofort handeln würde. So, wie er es bei allzu begeisterten Verehrern bereits getan hatte. Natürlich war es nicht nur schlecht, dass er in ihrer Nähe war, aber sie hatte Selbstverteidigungskurse belegt und wusste, wie sie sich schützen konnte.

„Sie sollten jetzt weitergehen. Die Lady möchte nicht gestört werden.“ Bertos Stimme klang entschlossen.

„Ich möchte mit der Lady sprechen.“

„Das geht nicht.“

Annabelles Blick glitt zu dem Fremden, den sie sofort erkannte. Er war der Mann, der dem Dieb ihre Tasche entrissen hatte. Was machte er hier?

Autor

Jennifer Faye
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