Dr. Santinis Geheimnis

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Vom ersten Moment an ist Dr. Carlo Santini von der jungen Suzannah bezaubert! So hingerissen ist er von ihr, dass er ihre Einladung zu einem romantischen Weihnachtsabend annimmt. Dabei weiß Carlo genau, dass ihnen nur ein Glück auf Zeit vergönnt ist. Denn er hat ein Geheimnis, das Suzannah niemals erfahren darf...


  • Erscheinungstag 06.08.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737672
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Schneeflocken trieben über die verwaisten Straßen Londons. Frost lag in der kalten Luft. Es war knapp eine Woche vor Weihnachten, und die meisten Menschen waren zu Haus, schmückten ihre Bäume und packten Geschenke ein.

Carlo Santini störte sich nicht an der eisigen Kälte. Die letzten Entwicklungen in seinem Leben machten ihn frustriert und rastlos. Ein düsterer Ausdruck beherrschte sein markantes Gesicht, während Carlo die Straße entlangmarschierte. Die dichte Schneedecke unter seinen Füßen dämpfte seine Schritte. Gegen die Kälte hatte er den Kragen seines schwarzen Mantels hochgeschlagen.

Man hatte ihn gewarnt, sein Apartment und das Krankenhaus zu verlassen, aber er war die Warnungen langsam leid.

Viele Menschen träumten davon, einmal richtig reich zu sein, doch für Carlo war dieser Reichtum mehr und mehr zum Albtraum geworden. So hatte er nur zu gern die Gelegenheit ergriffen, Italien zu verlassen und ein anderes Leben zu leben, wenn auch nur für ein paar kostbare Wochen. Welch ein Geschenk, unter einem angenommenen Namen in London zu arbeiten!

Zum ersten Mal in seinem ganzen Leben wusste niemand, wer er war.

Jetzt zählten nur sein berufliches Können und seine menschlichen Qualitäten, nicht der Ruf, ein millionenschwerer Playboy mit einflussreichen Freunden zu sein.

Plötzlich wurde ihm bewusst, dass die Straßen menschenleer waren, und er schaute sich um. Schon immer hatte er einen Bodyguard abgelehnt, und auch die letzten Drohungen gegen ihn hatten daran nichts geändert. Er konnte auf sich selbst aufpassen.

Carlo lächelte dünn. Wahrscheinlich saß Matteo Parini, Sicherheitschef seines Vaters, nun in seinem Hotelzimmer, kaute nervös an den Nägeln und fragte sich, wo sein Freund und Schutzbefohlener geblieben war.

Nicht dass Carlo sich etwas vormachte. Selbst in Londons East End, wo niemand seine wahre Identität kannte, war er gefährdet. So lange, bis die Männer, die sein Leben bedrohten, festgesetzt waren. Aber immerhin konnte er für ein paar Stunden so tun, als wäre alles okay.

Da bemerkte er zwei zwielichtige Typen in der Straße vor sich. Sie kamen langsam auf ihn zu. Carlo beobachtete sie misstrauisch.

Was hatten sie bei diesem unwirtlichen Wetter auf der Straße zu suchen, noch dazu um diese späte Stunde?

Er sah, wie einer der Männer die Straße entlangschaute, und bemerkte gleichzeitig einen schmalen Teenager, der eine voll gestopfte Mülltüte vor die Brust presste und mit gesenktem Kopf dahineilte.

Carlo ahnte, was die beiden vorhatten, noch ehe sie handelten. Er zog die Hände aus den Manteltaschen und beschleunigte seine Schritte.

Ohne Vorwarnung rannten die beiden Männer plötzlich auf den Jungen zu, versuchten ihm die Tüte zu entreißen und stießen ihn brutal zu Boden.

Adrenalin schoss Carlo durch die Adern. Aber noch bevor er den Jungen erreichte, sprang dieser blitzschnell auf und packte einen der Männer mit einem klassischen Judogriff. Der Angreifer landete dumpf auf dem Bürgersteig.

So wie es aussah, brauchte der Kleine offenbar keine Hilfe.

Oder doch?

Während der eine Mann noch am Boden lag, packte der andere den Jungen an der Kehle. Blanker Stahl blitzte auf.

Carlo lief schneller, nutzte den Überraschungseffekt, um den Mann von hinten zu attackieren. Klirrend fiel das Messer auf den Gehweg.

„Lass ihn los, sonst …“ Ihm fiel keine entsprechende Drohung auf Englisch ein, also wechselte er ins Italienische, drehte dem Mann den Arm auf den Rücken und zwang ihn damit, den Jungen freizugeben.

Der andere rappelte sich auf und schien wieder angreifen zu wollen. Er atmete schwer. Carlos zorniger, kalter Blick aber nahm ihm anscheinend den Mut. Rasch wich er zurück.

„He, das war nicht meine Idee …“

Dann warf er einen Blick auf seinen Kumpan, wirbelte herum und raste davon. In seiner Hast rutschte er auf der schneeglatten Straße aus, taumelte, fing sich wieder und verschwand in der Dunkelheit.

Der andere, den Carlo immer noch mit hartem Griff festhielt, wimmerte vor Schmerz. Carlo stieß das Messer mit dem Fuß beiseite und gab ihn frei, wenn auch zögernd, von unbändiger Wut erfüllt. Feige Kerle, griffen ein Kind an!

Der Mann rieb sich fluchend den Arm, trat dem Jungen hinterhältig in den Bauch und rannte dann seinem Kumpan hinterher.

Carlo überlegte, ob er den beiden folgen sollte, aber der Teenager lag vor Schmerz zusammengekrümmt am Boden. Er streckte die Hand aus, um ihm hoch zu helfen, landete aber platt auf dem Rücken und sah über sich die Sterne funkeln.

Wie zum Teufel war das passiert?

Carlo beherrschte mehrere Kampfsportarten und hatte sein Leben lang trainiert, um sich im Ernstfall verteidigen zu können. Aber er hatte nicht damit gerechnet, sich gegen einen Gegner wehren zu müssen, der ihm gerade bis zum Kinn reichte und den er zudem vor hinterhältigen Straßendieben gerettet hatte.

Anscheinend war dem Jungen dies nicht bewusst.

Mit einem leichten Stöhnen richtete Carlo sich auf, nur um gleich darauf blitzschnell ausweichen zu müssen, weil ein Fuß auf sein Gesicht zugeschossen kam.

„Halt ja Abstand von mir, du Mistkerl!“

Carlo wurde die Sache langsam gefährlich. Er packte den Fuß und brachte den Jungen zu Fall, rollte sich auf ihn und hielt seine Arme fest.

„Ich tue dir doch nichts“, knurrte er. Der Junge hörte schließlich auf, sich zu winden, und starrte ihn feindselig an.

Noch nie hatte Carlo einen Jungen mit solch wunderschönen Augen gesehen.

Sie waren von einem faszinierenden Grün, umrahmt von dichten tiefschwarzen Wimpern.

Getrieben vom männlichen Instinkt, ließ er die Hände des Jungen los und riss ihm die Wollmütze vom Kopf. Ihm stockte der Atem, als sich langes, schimmerndes dunkles Haar auf dem weißen Schnee ausbreitete.

Das ist kein Junge …

Es war das bezauberndste Mädchen, dem er je ins Gesicht geblickt hatte.

Und dann erwischte es ihn.

Carlo zuckte zusammen, als die kleine Faust mit voller Wucht seinen Wangenknochen traf. Er fluchte auf Italienisch und betastete die Stelle, ob etwas gebrochen war.

Eins musste er ihr zugestehen, sie verstand zu kämpfen. Wie war er eigentlich auf die Idee gekommen, er müsse ihr helfen?

Porca miseria! Ich gehöre zu den Guten“, murrte er. „Ich wollte Sie retten!“

Sie funkelte ihn wütend an und rang nach Luft.

„Mich retten?“ fauchte sie. „Sie retten mich nicht, Sie erwürgen mich! Und beschimpfen mich in einer fremden Sprache. Lassen Sie mich los!“

Sie war überwältigend.

Hingerissen lächelte er sie an, lockerte seinen Griff aber nicht im Geringsten. Dazu genoss er die Situation viel zu sehr. Der warme, weibliche Körper unter seinem fühlte sich gut an. Wie hatte er sie nur für einen Jungen halten können?

Ein entnervter Blick traf ihn. „Wollen Sie die ganze Nacht auf mir liegen bleiben?“

Warum nicht?

„Ist das eine Einladung?“ Carlo wusste, er sollte sich erheben und ihr aufhelfen, aber das Bedürfnis, den Kopf zu senken und sie zu küssen, war stärker.

Er gab nach.

Zur Sicherheit hielt er ihre Hände fest, nur um sich nicht einen zweiten Hieb einzuhandeln. Doch nach kurzem Zögern öffneten sich ihre weichen, warmen Lippen, und sie erwiderte seinen Kuss, als er vierunddreißig Jahre Erfahrung einsetzte, um sie zu verlocken.

Als er sich von ihr löste, fühlte er sich leicht benommen. Dieser Kuss war nur ein Vorgeschmack gewesen und machte ihm großen Appetit auf die volle Mahlzeit.

„Was … was sollte das sein?“ Diese erstaunlich grünen Augen starrten ihn an.

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Carlo Schwierigkeiten, einen zusammenhängenden Satz zu Stande zu bringen. Es war, als hätten sein Körper und sein Gehirn keine Verbindung mehr zueinander.

„Wiederbelebung“, murmelte er heiser, mit allen Sinnen auf ihren Mund konzentriert. „Diese Typen sind ziemlich grob mit Ihnen umgesprungen – ich dachte, vielleicht …“

„Sie hat nicht richtig gewirkt, glaube ich.“ Ihr Gesicht drückte Verwirrung aus, die Stimme war rauchig und feminin. „Wollen Sie nicht noch einen Versuch wagen?“

Das ließ er sich nicht zwei Mal sagen. Carlo eroberte ihren süßen Mund erneut, gab ihre Hände frei, um sie dichter an sich ziehen zu können.

Er spürte, wie sie erschauerte, ihm die Arme um den Hals schlang. Heißes Verlangen stieg in ihm auf.

Da erklang von der anderen Straßenseite her ein gellender Pfiff. Blitzschnell sprang Carlo auf.

Sei immer diskret, hatte sein Vater ihm beigebracht.

Mitten auf einem schneebedeckten Fußweg zu liegen, eine Frau unter sich, die er leidenschaftlich küsste, war wohl alles andere als das. Rasch ergriff er ihre Hand und zog sie hoch.

Sie kam auf die Beine, entriss ihm aber die Finger, als hätte sie sich verbrannt.

„Ich fasse einfach nicht, was wir gerade getan haben.“ Sie wich zurück und berührte ihre Lippen. „Sie sind ein Fremder. Ich küsse keine fremden Männer.“

Verwirrt und doch wachsam musterte sie ihn. Carlo zwang sich, still stehen zu bleiben. Er konnte es ihr nicht verübeln, dass seine Gegenwart sie nervös machte. Schließlich hatte sie gerade einen brutalen Überfall hinter sich.

Carlo suchte nach den richtigen Worten, um sie zu beruhigen, aber bevor er etwas sagen konnte, bückte sie sich nach der Mülltüte und zuckte vor Schmerz zusammen.

„Tut Ihnen etwas weh?“ Unwillkürlich runzelte er die Stirn, registrierte verwundert das starke Bedürfnis, sie beschützen zu wollen. Er kannte nicht einmal ihren Namen, aber bei dem Gedanken, die Kerle könnten sie verletzt haben, stieg heiße Wut in ihm auf. „Das war ein gemeiner Tritt.“

Er suchte nach dem richtigen Wort, um sich ihren Bauch anzusehen – ohne dass es missverstanden werden konnte. Schließlich war er Arzt.

„Ich habs überlebt.“ Sie schob sich das schneeverklebte Haar aus dem Gesicht. „Und ich muss mich wohl bei Ihnen bedanken.“ Aber ihr Blick drückte immer noch Vorsicht aus. „Wahrscheinlich hätten sie das Messer benutzt, wären Sie nicht eingeschritten. Tut mir leid, dass ich Sie zu Boden geschleudert habe. Es geschah alles so schnell, dass ich in Panik geriet. Ich dachte, Sie gehören zu denen.“

Sie wirkte immer noch angespannt, aber immerhin war sie nicht davongerannt.

„Entschuldigen Sie sich nicht. Ich freue mich, dass Sie es getan haben.“ Sogar mehr als das, wenn er an ihren weichen Körper dachte. Hätte sie es nicht getan, hätte er sie auch nicht geküsst. Und sie zu küssen …

Hungrig heftete sich sein Blick wieder auf ihren Mund, und er focht einen stummen Kampf mit sich aus. Schließlich konnte er sich nicht wie ein Neandertaler benehmen und sie irgendwohin schleppen, wo er ungestört war. Um sie zu lieben, bis sie nicht mehr stehen konnte.

Aber sie war sichtlich nervös, und bestimmt würde er sich seine Chancen nicht verbessern, indem er mehr oder weniger über sie herfiel. Also schob er seine Hände tief in die Manteltaschen und hielt Abstand.

„Küssen Sie jeden, der Sie zu Boden schlägt?“ Sie betrachtete ihn mit einem Ausdruck, als überlege sie noch, ob sie davonrennen solle oder nicht.

„Nie.“

Ihre Finger umklammerten die Mülltüte fester. „Und warum haben Sie dann ausgerechnet mich geküsst?“

Carlo fiel es immer schwerer, normal zu atmen. „Weil Sie unwiderstehlich sind.“

Nun hellte sich ihr Gesicht auf, sie legte den Kopf in den Nacken und lachte. „In zerrissener Jeans und einem uralten Pullover, dazu eine Wollmütze auf dem Kopf? Sehr sexy, bestimmt.“

„Küssen eignet sich ausgezeichnet, um einen Angreifer abzulenken“, improvisierte er und konnte einfach den Blick nicht von ihrem wunderschönen Gesicht nehmen. „Der Überraschungseffekt ist beachtlich.“

„Ich mache Judo, seit ich sechs bin, aber davon habe ich noch nie gehört“, bekannte sie lächelnd. Endlich wirkte sie entspannt. Ihre Augen funkelten, Schneeflocken hingen an ihren Wimpern und im schimmernden dunklen Haar. Der Gedanke war kurz, aber heftig: Wenn er sich etwas zu Weihnachten wünschte, dann sie.

Vorzugsweise ausgepackt.

„Wollen Sie sagen, Sie sind noch nie von Ihrem Gegner geküsst worden?“ Er rückte näher. „Da ist Ihnen wirklich etwas entgangen.“

Ihre Blicke verfingen sich, und sie lächelte zögernd. „Es lenkt eindeutig vom Kampf ab.“ Ihr Lächeln verblasste, und sie schaute bestürzt auf seinen Wangenknochen. „Oh nein! War ich das? Habe ich Ihnen ein blaues Auge verpasst?“

Das Auge war ihm völlig egal. Im Moment machte ihm ein ganz anderer Körperteil Sorgen. Seine Jeans war einfach zu eng für solche extremen Reaktionen.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und berührte vorsichtig die geschwollene Stelle. „Wir sollten Eis darauf legen“, murmelte sie reumütig.

Eis. Vielleicht sollte er an Eis denken. Kübel voller Eis, eiskalte Duschen, Eiswasser … Du meine Güte, er reagierte tatsächlich wie ein hormongeschüttelter Teenager!

„Sind Sie okay? Die sind ziemlich grob mit Ihnen umgesprungen.“

Sie hingegen wirkte nicht sonderlich mitgenommen. Er versuchte sich vorzustellen, wie die Frauen, die er kannte, in einer solchen Situation reagieren würden. Es misslang. Für die meisten von ihnen ging die Welt unter, wenn sie sich einen Fingernagel einrissen.

„Mir geht es gut, dank Ihnen. Abgesehen davon, dass meine Lieblingsjeans zerrissen ist. Ich war mit meinen Gedanken woanders gewesen, sonst hätten sie mich nicht überraschen können.“ Sie sah ihn schuldbewusst an. „Sie retten mir das Leben, und ich verpasse Ihnen eine … In Filmen kommt so etwas nie vor. Ich hätte vor Erleichterung und Dankbarkeit schluchzen müssen, anstatt Ihnen zu einem blauen Auge zu verhelfen.“

„Ich liebe dominante Frauen“, gab er zurück, und sie lachte.

„Nächstes Mal versuche ich nicht gleich in Panik zu geraten.“

„Mich überrascht es nicht, dass Sie so reagiert haben.“ Nun wurde er ernst. „Aber ich glaube immer noch nicht, dass der Typ sein Messer benutzt hätte.“ Er wollte sie beruhigen. Oder sich selbst?

Sie schnitt eine Grimasse. „Wären Sie nicht gewesen, wohl doch. Hier gibt es viele Überfälle. Ich bin nur froh, dass Sie gerade vorbeikamen. Sollten wir die Polizei rufen – was meinen Sie?“

Carlo erstarrte. Bloß nicht. Es würde nur die Aufmerksamkeit auf ihn lenken.

„Ich glaube, die sind längst über alle Berge. Und richtig ansehen konnte ich sie mir auch nicht. Sie?“

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf, und er wechselte das Thema.

„Was machen Sie um diese Zeit in dieser Gegend?“

Sie nahm den Müllbeutel in die andere Hand. „Ich arbeite.“

Arbeit?

Welche Arbeit verlangte, am späten Abend in abgetragener Jeans, Wollmütze auf dem Kopf und einer Mülltüte in der Hand, durch diese Gegend zu laufen?

Sie war doch wohl keine …?

Ihr Lachen klang glockenhell. „Ihr Gesicht sollten Sie jetzt sehen! Ich kann Ihnen versichern, ich verdiene mein Geld nicht mit dem, was Sie gerade denken! Ich bin Hebamme“, sagte sie in einem Ton, als müsse das jedem klar sein – außer einem kompletten Idioten.

Hebamme?

Er hatte sein halbes Erwachsenenleben mit Hebammen zusammengearbeitet, aber keine von denen hatte so ausgesehen wie diese hier.

Carlo versuchte sich eine intelligente Frage einfallen zu lassen, scheiterte jedoch kläglich. Wie gebannt verfolgte er, wie ein hinreißendes Lächeln sich auf ihrem Gesicht ausbreitete.

„Laufen alle englischen Hebammen durch die Nacht und schleppen dabei Mülltüten mit sich herum?“

„Ich habe im Gegenteil versucht, keine Aufmerksamkeit zu erregen“, bekannte sie, und er lächelte trocken.

„Da müssen Sie wohl noch etwas üben …“

„Womit Sie Recht haben, denke ich.“ Betrübt schaute sie auf ihre beschädigte Jeans. „Sie müssen gedacht haben, dass ich etwas Wertvolles in meiner Mülltüte habe.“

„Und – stimmt es?“

„Also, ich habe keine Bank ausgeraubt, falls Sie das denken.“ Sie lachte glucksend. „Ich bin gerade auf dem Weg zu einer Patientin. Wenn Sie also sicher sind, dass mit Ihrem Gesicht alles in Ordnung ist, müssen wir uns jetzt wohl voneinander verabschieden.“

Auf keinen Fall!

„Ich komme mit Ihnen“, erwiderte er sofort. „Sie können mich nicht allein lassen. Diese Gegend ist mir viel zu gefährlich.“

Wieder lächelte sie, und er konnte sich nicht satt sehen. „Sie brauchen meinen Schutz?“

„Unbedingt.“

„Sie sind mindestens einen Meter achtzig groß und mit Muskeln bepackt“, betonte sie und ließ ihren Blick anerkennend über seine breiten Schultern wandern. „Sie haben diese Kerle ohne nachzudenken angegriffen und sehen gewiss nicht aus wie ein ängstlicher Mann.“

Noch vor fünf Minuten hätte er ihr Recht gegeben, aber seit sie ihn zu Boden geworfen hatte, war alles anders geworden.

„Ich habe Angst, Sie nie wiederzusehen.“

Das trug ihm einen fassungslosen Blick ein. Noch immer sanken Schneeflocken herab, sammelten sich auf ihrer schwarzen Wolljacke.

Als sie dann endlich sprach, bebte ihre Stimme. „Eigentlich sollte ich sagen, Sie haben wohl den Verstand verloren.“

Er trat auf sie zu. „Gut, sagen Sie es.“

Sie starrte ihn an. „Ich … das kann ich nicht.“ Verwirrung spiegelte sich in ihren Augen. „Hilfe … Was haben Sie mit mir gemacht?“

Sie schauten sich in die Augen, und die plötzliche Hitze zwischen ihnen hätte den Schnee zum Schmelzen bringen können.

Ohne den Blick von ihr zu nehmen, streckte Carlo die Hand aus, und nach ein paar endlos langen Sekunden machte sie einen Schritt auf ihn zu und nahm sie. Er zog sie dicht an sich und strich ihr das schneebedeckte Haar aus dem Gesicht und dachte, wie wunderschön sie war.

„Das ist … einfach verrückt“, meinte sie atemlos. „Ich sollte wirklich gehen …“

„Ich auch. Was meinen Sie, sollten wir uns zum Abschied noch einmal küssen?“ Er war nur einen Hauch von ihrem Mund entfernt, da hob sie den Kopf und versetzte ihm einen sanften Stoß.

„Normalerweise benehme ich mich nicht so! Ich kenne Sie nicht einmal.“

Carlo sah sie gedankenvoll an. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus.

Er traf nie Leute, die ihn nicht kannten.

In Italien kannte ihn jeder. Sein Foto erschien regelmäßig in den Klatschspalten der Regenbogenpresse. Er hasste es, öffentliches Eigentum zu sein.

Aber für diese Frau war er ein Fremder. Eine völlig neue Erfahrung für ihn.

„Anfangs ist jeder ein Fremder“, erwiderte er sanft.

„Das stimmt, aber für gewöhnlich küsse ich keine Männer, die ich erst fünf Minuten kenne.“

„Dann bleiben Sie noch, damit Sie Gelegenheit haben, mich näher kennen zu lernen“, schlug er vor.

Sie verdrehte theatralisch die Augen. „Sind Sie immer so beharrlich, was Frauen betrifft?“

Nein. Das brauchte er nicht. Er war einer der reichsten Männer Italiens und stets derjenige, der taktvoll darauf achten musste, sie auf Distanz zu halten.

Carlo blickte tief in die grünen Augen und entschied, dass sie ihm eindeutig Angst machte, aber aus ganz anderen Gründen, als sie dachte.

Am meisten machte ihm Angst, dass er bereits nach fünf Minuten wusste, er würde sie nicht mehr aus den Augen lassen. Sein Verstand hingegen verlangte, dass er auf der Stelle die Beine in die Hand nahm und davonlief. Er war in etwas wenig Angenehmes verwickelt und wollte nicht, dass sie mit hineingezogen wurde. Aber er beschloss, abzuwarten, wie sich alles entwickelte. Mit den Folgen würde er sich später befassen.

„Na schön, wenn Sie nicht mit mir kommen wollen, komme ich mit zu Ihrer Patientin, und danach können wir zusammen mein Gesicht mit Eis behandeln.“

Als Anmache war das wenig originell, aber das war ihm längst egal.

Er befand sich in einem verzweifelten Zustand.

Wenn sie sich jetzt umdrehte und ihn einfach stehen ließ, würde er ernsthaft überlegen, sie zu entführen.

„Sie können nicht mitkommen.“ Sie umklammerte den Müllbeutel wieder fester. „Es ist ein beruflicher Besuch. Ich kann doch nicht einfach einen Mann mitbringen, den ich auf der Straße aufgelesen habe.“

„Ich habe Sie aufgelesen!“ betonte er, und wieder verdrehte sie die Augen.

„Lassen Sie die Haarspaltereien.“

Er grinste schief. „Hilft es, wenn ich sage, dass ich ausgebildeter Gynäkologe und Geburtshelfer bin?“

Ungläubig riss sie die Augen auf und fing an zu lachen.

Er runzelte die Stirn. „Was ist daran witzig?“

„Ich versuche gerade, mir die Geburtshelfer vorzustellen, die ich kenne, wie sie zwei Straßendiebe in die Flucht schlagen.“ Sie schüttelte den Kopf, lachte immer noch. „Meine Fantasie versagt komplett. Sie sind alle ziemlich mickrig und intellektuell.“

Carlo tat so, als wäre er beleidigt. „Mich finden Sie nicht intellektuell?“

„Sie meinen, Sie haben Muskeln und Verstand?“ Sie klimperte mit den Wimpern, und er grinste anerkennend.

„Zu Ihren Diensten.“ Er verbeugte sich leicht. „Also, glauben Sie mir jetzt, dass ich Geburtshelfer bin?“

„Nein.“ Ihre Wangen waren von der Kälte leicht gerötet. „Ich habe mit einer Menge Geburtshelfern gearbeitet, und keiner sah so aus wie Sie.“

War das nun gut oder schlecht?

„Was stimmt nicht mit mir?“

Ihr Lächeln verging, und er sah Unsicherheit in ihren Augen. Und etwas anderes, das umgehend bedenkliche Auswirkungen auf die Passform seiner Jeans hatte. „Oh, mit Ihnen stimmt alles. Das ist es ja.“

Es durchfuhr ihn heiß, und er beherrschte sich nur mit Mühe, sie nicht in seine Arme zu reißen, um sie besinnungslos zu küssen. „Also, bis Sie mich in Aktion erleben, müssen Sie sich eben auf mein Wort verlassen. Darf ich mitkommen?“

Sie legte den Kopf schräg. „Also, wenn Sie wirklich Geburtshelfer sind, verraten Sie mir, wo Sie arbeiten.“

„Ab morgen als Vertretung am St. Catherine’s Hospital.“

Dass er es unter falschem Namen tat, wussten nur er und der Leiter der Klinik.

Sie riss die Augen auf. „Das gibts nicht! Ich arbeite dort auch!“

„Also darf ich Sie begleiten“, nutzte er die Chance. „Wir sind Kollegen. Und danach bringe ich Sie nach Haus, und wir können gegenseitig unsere Wunden versorgen.“

Ihre Lippen öffneten sich leicht, und er hielt den Atem an. Wenn sie Nein sagte, war er in echten Schwierigkeiten.

„Ich … weiß nicht …“

Wieder war da der wachsame Blick, und er beeilte sich, sie beruhigend anzulächeln.

„Hören Sie, unsere Bekanntschaft begann ziemlich unkonventionell, aber Sie brauchen vor mir keine Angst zu haben. Benehme ich mich daneben, hauen Sie mir eben auf das andere Auge.“

An ihr Gewissen zu appellieren, mochte nicht die feine englische Art sein, aber das war ihm egal. Er würde sie nicht wieder aus seinem Leben verschwinden lassen.

„Na schön.“ Sie schwang sich den Müllbeutel über die Schulter und deutete mit dem Kopf auf eins der Hochhäuser in der Nähe. „Gehen wir zusammen zu Kelly, danach zu mir, um Ihr Gesicht zu versorgen. Das ist das Mindeste, was ich für Sie tun kann, nachdem ich Sie halb umgebracht habe.“

Carlo widerstand der Versuchung, ein Triumphgeheul auszustoßen, und verlangsamte seine Schritte, da er die längeren Beine hatte. Wenig später folgte er ihr eine endlose Reihe von Treppenstufen hinauf.

Er schaute sich um. Kein Wunder, dass sie nachts nicht hierher kommen mochte. Das Gebäude war mehr als abstoßend. Graffitischmierereien bedeckten die Wände, von denen stellenweise der Putz abgefallen war. Einige Türen waren mit Brettern vernagelt, manche Fenster eingeschlagen. Von weihnachtlicher Stimmung war hier nicht ein Hauch zu spüren.

Die junge Frau blieb vor einer Wohnungstür stehen, stülpte sich die Wollmütze auf den Kopf und stopfte die Haare darunter.

„Gehört alles zu meiner Verkleidung.“ Sie warf ihm ein Lächeln zu, das seinen Körper zum Vibrieren brachte, und klopfte.

„Kelly? Kelly, ich bin es, Zan. Lassen Sie mich herein.“

Autor

Sarah Morgan

Sarah Morgan ist eine gefeierte Bestsellerautorin mit mehr als 18 Millionen verkauften Büchern weltweit. Ihre humorvollen, warmherzigen Liebes- und Frauenromane haben Fans auf der ganzen Welt. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von London, wo der Regen sie regelmäßig davon abhält, ihren Schreibplatz zu verlassen. Manchmal sitzt Sie...

Mehr erfahren
Sarah Morgan

Sarah Morgan ist eine gefeierte Bestsellerautorin mit mehr als 18 Millionen verkauften Büchern weltweit. Ihre humorvollen, warmherzigen Liebes- und Frauenromane haben Fans auf der ganzen Welt. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von London, wo der Regen sie regelmäßig davon abhält, ihren Schreibplatz zu verlassen. Manchmal sitzt Sie...

Mehr erfahren