Im Bann des verführerischen Herzogs

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Er zog sie näher an sich. "Mon Dieu, du weißt gar nicht, was du mir antust", flüsterte er rau. Während eines Urlaubs im Burgund lernt die hübsche Drehbuchautorin Abby den faszinierenden Schlossbesitzer Raoul Decorvet kennen. Sogar aus einer aristokratischen Winzerfamilie stammt er! Plötzlich teilt sie das Himmelbett mit diesem charmanten Traumprinzen, und mit jedem seiner heißen Küsse zeigt Raoul ihr, dass er sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen kann. Doch Abby hat nicht mit der tiefen Abneigung von Raouls Familie gerechnet, die ihre himmelstürmende Liebe auf eine harte Probe stellt …


  • Erscheinungstag 14.08.2018
  • Bandnummer 172018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733710354
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

„Nigel?“

Als es an der offen stehenden Bürotür klopfte, sah Abby von ihrem Schreibtisch hoch. Während des Sommer- und Herbstsemesters an der San José State University in Kalifornien hatten sie und Nigel, der Gastprofessor aus Cambridge in England, im Fachbereich Literatur in angrenzenden Büros gearbeitet. Sie hatten sich ineinander verliebt und saßen oft gemeinsam in einem Raum, während sie ihre Hochzeit für das nächste Frühjahr planten.

„Dr. Belmont hält gerade seine letzte Vorlesung vor den Weihnachtsferien“, erklärte sie der brünetten Frau, die um die dreißig war und einen Hosenanzug trug. Vielleicht war sie eine Studentin, doch Abby kannte sie nicht. „Er ist gegen Mittag fertig. Ich bin Ms. Grant und Dozentin am selben Fachbereich. Möchten Sie eine Nachricht für ihn dalassen? Ich gebe sie ihm dann.“

„Das wird nicht nötig sein“, entgegnete die Frau in dem gleichen starken britischen Akzent wie Nigel. „Ich bin Lucy Belmont. Nigels Frau. Ich muss persönlich mit ihm sprechen. Darum warte ich, bis er zurückkommt.“

Überrascht zuckte Abby zusammen. „Ich fürchte, Sie sind falsch hier. Der Nigel Belmont, der als Gastprofessor hier ist, hat keine Frau.“

Ein schmales Lächeln zeigte sich auf Lucy Belmonts Gesicht. „Natürlich hat er eine Frau, und zwei Kinder. Sie erwarten ihn über Weihnachten zu Hause. Hier sind ein paar Fotos vom letzten Frühjahr.“

Die Frau reichte Abby ein kleines Fotoalbum. Alle Bilder zeigten Nigel mit der Frau und zwei Kindern.

Mit zitternden Händen hielt Abby das Album. Sollte das irgendeine Art Scherz sein? Könnte diese Frau eine Schwägerin sein oder eine Schwester, von der Abby bisher nichts wusste? Oder war sie vielleicht unglücklich verliebt in Nigel? Nichts von alldem ergab einen Sinn. Sie und Nigel planten doch ihre Hochzeit.

Da sie sich nicht in eine unangenehme Lage bringen wollte, beschloss sie, erst einmal mit Nigel zu sprechen, und stand auf. „Ich wusste nichts davon. Natürlich können Sie gern hier warten. Er sollte in etwa fünfzehn Minuten hier sein. Wenn Sie mich bitte entschuldigen.“

Mit klopfendem Herzen verließ Abby das Zimmer und eilte durch den Flur zur Treppe. Die Hörsäle lagen ein Stockwerk tiefer. Sie schlüpfte in den Raum, in dem etwa dreißig Studenten saßen, und setzte sich nach hinten, wo sie darauf wartete, dass Nigel seine Vorlesung beendete.

Er war beliebt bei den Studenten und sah in seiner Tweedjacke und mit den dunkelblonden, nach hinten gekämmten Haaren ganz wie ein Professor aus.

Sie wusste, dass er sie gesehen hatte, doch er sprach ruhig weiter, bis er seine Studenten in die Ferien entließ.

Als der letzte Studierende den Raum verlassen hatte, nahm Nigel seine Mappe, ging zu Abby und gab ihr einen schnellen Kuss auf den Mund. „Womit habe ich diesen unerwarteten Besuch meiner schönen Verlobten verdient?“

Eindringlich starrte Abby ihn an, da sie es immer noch nicht glauben wollte. „In deinem Büro wartet eine Frau. Sie sagt, dass sie mit dir verheiratet ist. Sie hat sich als Lucy Belmont vorgestellt und mir Fotos von sich und dir und zwei Kindern gezeigt. Sag mir bitte, dass das ein Scherz ist.“ Ihre laute Stimme hallte in dem Raum wider.

Nigel rührte sich nicht, doch das Leuchten in seinen Augen verblasste. Diese Veränderung reichte, um zu belegen, dass die andere Frau die Wahrheit gesagt hatte. Der Schmerz lähmte Abby beinahe. Sie wich vor Nigel zurück. „Dann ist sie also deine Frau!“

Er schüttelte den Kopf. „Hör zu, Abby, das ist eine lange Geschichte. Wir sind seit fast einem Jahr getrennt und lassen uns bald scheiden. Ich hätte es dir irgendwann gesagt, aber …“

„Was für ein Mann bist du eigentlich?“, fiel sie ihm ins Wort, erschüttert über sein Eingeständnis. „Wenn man bedenkt, dass wir die ganze Zeit zusammen waren, während du dein anderes Leben vor mir verheimlicht hast …“

Von einer Sekunde auf die andere zerfiel der Traum, in dem sie gelebt hatte.

Du warst in einen raffinierten, abscheulichen, hinterlistigen Betrüger verliebt.

Abby spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich, und fürchtete, ihr könnte übel werden. Wie viele Frauen hatte er noch betrogen, abgesehen von ihr selbst und seiner Ehefrau? Die armen Kinder.

Sie nahm den Verlobungsring ab und warf ihn Nigel vor die Füße, ehe sie aus dem Hörsaal in den Flur rannte. Kaum war sie im Waschraum, übergab sie sich, bis nichts mehr kam.

Als sie endlich wieder in der Lage war zu stehen, ohne sich am Waschbecken festhalten zu müssen, lief sie zurück in ihr Büro, nahm ihre Handtasche und verließ den Campus. In ihrem Schmerz musste sie mit den Menschen sprechen, denen sie vertraute und die sie liebte. Statt zu ihrem Apartment in der Nähe vom Campus zu fahren, machte sie sich auf den Weg zu ihren Eltern in San José.

Abby blieb ein paar Tage bei ihren Eltern. Danach sprach sie mit Dr. Stewart, dem Rektor des Fachbereichs, über ihre Situation. Nachdem sie ihm die Wahrheit gesagt hatte, fragte sie ihn, ob er sie im nächsten Semester freistellen könne.

Zu ihrer großen Erleichterung war er einverstanden und bot ihr sogar an, dass sie bis zum Sommer in Europa Forschungsarbeiten betreiben könne. Nach dem Schmerz, den sie durchlebt hatte, wollte sie nichts lieber, als fortzugehen. Das Beste jedoch war, dass er ihr versicherte, Dr. Belmont würde nicht länger an der San José State unterrichten, sondern in Zukunft an einem College im Osten. Sie müsste ihn nie mehr wiedersehen.

Nach Weihnachten flog Abby für eine Woche nach Los Angeles, um dort mit zwei anderen Frauen an einem Projekt zu arbeiten, ehe sie ins Ausland gehen würde. Ginger Lawrence und Zoe Perkins, auch Literaturwissenschaftlerinnen von der Stanford University beziehungsweise UCLA, waren ebenfalls für das Europa-Projekt engagiert worden. Die drei, alle im gleichen Alter, verstanden sich sehr gut. Abby freute sich darauf, mit den beiden nach Europa zu reisen.

Bevor sie nach San José zurückkehrte, um ihre Sachen zu packen und nach Europa zu fliegen, beschloss sie, einen Schönheitssalon aufzusuchen, um sich rundum erneuern zu lassen.

Während Abby dort wartete, blätterte sie ein paar Zeitschriften durch. Wenig später bat eine der Friseusen sie auf einen Stuhl. Abby nahm eine der Zeitschriften mit.

„Was kann ich für Sie tun?“

„Ich hätte gern diese Frisur.“ Abby zeigte ihr das Foto, das ihr am besten gefiel. Es war ein gestufter Bob, der bis zur Schulter ging.

„Sind Sie sicher? Soll ich wirklich Ihre langen goldenen Haare abschneiden?“ Die Frau war so schockiert, als hätte Abby um etwas Sündhaftes gebeten.

Vor drei Wochen hatte Abby Nigel Belmont so schnell aus ihrem Leben gestrichen, dass er völlig überrumpelt gewesen war. Nach Weihnachten hatte er sie noch einmal angerufen, doch sie hatte ihm wortreich erklärt, er solle zur Hölle gehen. Es war ihr ernst gewesen und hatte sich gut angefühlt.

Sich jetzt die Haare abschneiden zu lassen, war der letzte Schritt, um jede Ähnlichkeit mit der alten Abby auszulöschen. Außerdem hatte sie sich geschworen, sich nie wieder von einem Mann hintergehen zu lassen.

Die Friseuse schüttelte zwar den Kopf, kam Abbys Bitte jedoch nach. Eine Stunde später hätte sie beinahe vor Freude gejubelt, als sie sich im Spiegel betrachtete. Sie erkannte sich kaum wieder. Ihre apfelgrünen Augen wirkten größer, und sie sah jetzt so alt aus, wie sie war. Nämlich wie eine Sechsundzwanzigjährige und nicht mehr wie eine müde Dreißigjährige. Sie hatte etwas Schlichtes, Einfaches gebraucht, mehr nicht.

Abby gab der Friseuse ein großzügiges Trinkgeld. Bevor sie den Salon verließ, musste sie über ihre langen blonden Locken steigen, und sie tat es ohne jedes Bedauern.

1. KAPITEL

Fünf Monate später

Mit ihrem Laptop im Koffer verließ Abby das möblierte Zimmer im schweizerischen Cologny, wo sie die letzten zwei Wochen gewohnt hatte. Sie nahm ein Taxi zum Bahnhof in Genf.

Nachdem sie ihr großes Forschungsprojekt abgeschlossen hatte, begannen heute ihre Ferien. Und da sie sich nicht länger formell in Hosenanzug oder Kleid zeigen musste, hatte sie ihre Lieblingsjeans und ein kurzärmliges, schwarzweißes Oberteil angezogen. Den ganzen Juni hatte sie nun frei, bevor sie wieder nach San José zurückkehren würde.

Abby konnte es gar nicht erwarten, ihre Freundinnen wiederzusehen. Sie hatten zwar miteinander telefoniert, geskypt und sich E-Mails geschrieben, aber es war viel schöner, gemeinsam etwas zu unternehmen.

Abby war auf die Romanciers des frühen neunzehnten Jahrhunderts spezialisiert und hatte auch darüber promoviert. Zu diesem Zeitpunkt lernte sie Nigel kennen – was sich im Nachhinein als Katastrophe herausgestellt hatte.

Aber sie war nicht die Einzige mit schlechten Erfahrungen. Zoe hatte gerade eine erbitterte Scheidung hinter sich, weil ihr Mann untreu gewesen war. Sie beteuerte, nie wieder etwas mit einem Mann zu tun haben zu wollen. Abby verstand sehr gut, wie Zoe sich fühlte.

Einem Mann zu vertrauen und ihn zu lieben, nur um dann zu erfahren, dass er diese Liebe nicht erwiderte und auch nicht an die Unantastbarkeit der Ehe glaubte, war niederschmetternd gewesen. Wie sollte sie je wieder einem Mann vertrauen?

Ginger litt unter einem ganz anderen Verlust. Sie hatte ihren Mann vor einiger Zeit an den Krebs verloren. Innerhalb kürzester Zeit hatten die drei zu einer ganz besonderen Freundschaft gefunden.

Da Abby besonders guter Laune war, gab sie dem Taxifahrer ein üppiges Trinkgeld und betrat dann mit ihrem Koffer den Bahnhof. Weil sie noch fünfzehn Minuten Zeit hatte, bis der Zug kam, ging sie zu ihrem Lieblingskiosk. Hier hatte sie sich jedes Mal etwas zu essen gekauft, wenn sie mit dem Zug irgendwohin gefahren war.

Nachdem sie sechs kleine Quiches erstanden hatte, zwei für sich selbst und je zwei für ihre Freundinnen, kaufte sie sich ein Zweiter-Klasse-Ticket und stieg in den vollen Zug.

Sie fand ein Abteil und setzte sich gegenüber von einem Priester und zwei Teenagern hin, die Deutsch sprachen. Abby beschloss, mit dem Essen zu warten, bis sie die beiden anderen in etwa anderthalb Stunden in Saint-Saphorin treffen würde.

Glücklich, für eine Weile frei von jeder Verantwortung zu sein, lehnte sie sich wohlig zurück. In sanftem Rhythmus fuhr der Zug von einer malerischen Stadt zur nächsten.

Der saphirblaue Genfer See mit den schneebedeckten französischen Alpen in der Ferne faszinierte sie. Es dauerte nicht lange, dann musste sie umsteigen. Wenig später traf sie in Saint-Saphorin ein, das zwischen dem See und den terrassenförmig angelegten Weinbergen lag.

Endlich würde sie ihre Freundinnen sehen. Abby freute sich auf die beiden und auf ihre Ferien.

Am Tag zuvor war Zoe von Athen nach Venedig geflogen, um sich dort mit Ginger zu treffen, die in Italien geforscht hatte. Die zwei hatten den Nachtzug in die Schweiz genommen. Sie wollten in Montreux aussteigen, sich einen Leihwagen nehmen und die wenigen Kilometer nach Saint-Saphorin fahren.

Abby ging auf den Vorplatz des Bahnhofs, doch von ihren Freundinnen war noch nichts zu sehen. Sie setzte sich und schaute zum Jura-Gebirge in der Ferne, während sie wartete. Nach zwanzig Minuten rief sie Ginger an, konnte ihr jedoch nur eine Nachricht hinterlassen. Danach versuchte sie es bei Zoe, die den Anruf entgegennahm.

„Abby? Bist du in Saint-Saphorin?“

„Ja. Wo seid ihr?“

„Der Mietwagen, den man uns versprochen hat, steht noch nicht zur Verfügung. Zu viele Touristen haben schon vorbestellt. Ginger regelt das gerade. Da es eine Weile dauern kann, habe ich bei dem Château angerufen, in dem wir wohnen werden. Jemand kommt dich abholen. Ich habe eine Beschreibung von dir durchgegeben. Bleib einfach, wo du bist. Wir können es gar nicht erwarten, dich zu sehen.“

„So geht es mir auch“, sagte Abby, bevor sie auflegte.

Jemand würde sie abholen, aber es konnte eine Weile dauern. Also aß sie eine Quiche und genoss jeden Bissen. Sie und ihre Freundinnen konnten sich glücklich schätzen, dass ihre Vorgesetzten ihnen gegenüber so großzügig waren. Magda Collier, eine der bekanntesten Filmregisseurinnen Hollywoods, hatte die drei engagiert, um Nachforschungen für einen Film zu betreiben, den ein reicher Freund von Magda produzieren würde.

Nach Neujahr hatte Magda Abby, Zoe und Ginger nach Los Angeles eingeladen, wo sie eine Woche mit den Drehbuchschreibern verbrachten. Sie wollte einen Dokumentarfilm machen, der die positiven Aspekte des bewegten Lebens von Lord Byron hervorhob, dem bekannten britischen Dichter und wesentlichen Vertreter der englischen Romantik.

Die drei Frauen waren begeistert gewesen von dem Projekt.

Magda hatte jeder von ihnen ein anderes Gebiet in Europa für die Recherche zugeteilt. Abby war in die Schweiz geschickt worden. Nachdem sie „tolle Arbeit“ abgeliefert hatten, wie Magda sagte, hatte sie die drei mit einer Belohnung beschenkt. Die sich als Ferien in einem Château mit Weingut entpuppt hatte. Das Anwesen hieß Clos de la Floraison und lag am Ufer des Genfer Sees. Sie hätte den dreien keine größere Freude machen können.

Magda erklärte, dass sie eine dauerhafte Abmachung mit dem alten Besitzer des Weinguts getroffen habe. Von Zeit zu Zeit nutzten sie oder ihre Gäste das Château. Also konnten sie dort wohnen und sich alles in der Gegend ansehen, was sie wollten.

Da sie noch einen Monat Zeit hatten, bevor sie in die USA zurückkehren würden, hoffte Abby außerdem, vielleicht ein Gedicht von Byron aufspüren zu können, das er angeblich geschrieben haben und das Labyrinths heißen sollte. Ein Werk, das nie jemand zu Gesicht bekommen hatte, weshalb Experten es als reine Erfindung abtaten. Abby wollte unbedingt herausfinden, ob es existierte.

Kürzlich war in einer Bibliothek in New York eine Denkschrift von Claire Clairmont gefunden worden, die mit Byron durch die Schweiz gereist war. Diese Schrift hatte ein neues Licht auf Lord Byron und Shelley geworfen. Abby würde alles für einen ähnlich sensationellen Fund geben. Doch bisher hatte sie mit all ihren Recherchen keinen Erfolg gehabt.

Während Abby unter dem sonnigen Himmel saß und überlegte, wo sie und ihre Freundinnen noch nach dem Gedicht suchen könnten, solange sie hier waren, bemerkte sie einen alten schwarzen Renault, der vorfuhr und dann stehen blieb.

Ein großer, schlanker Mann stieg aus, den sie auf Anfang dreißig schätzte. Mit seinen langen, gewellten schwarzen Haaren stellte er für sie das Ebenbild des vollkommenen Mannes dar. Sie hatte nicht gewusst, dass so ein Mensch überhaupt existierte.

Sein Ausdruck glich dem des französischen Schauspielers Charles Boyer, der die Titelrolle in dem bekannten Filmklassiker Der Garten Allahs gespielt hatte.

Abby hatte den Film als Teenager zum ersten Mal gesehen und sich sofort in den Schauspieler verliebt. Er spielte einen Mönch, der aus einem Kloster in Nordafrika geflohen war und sich in eine Engländerin verliebt hatte. Sie gingen zusammen in die Wüste, doch er trug ein schreckliches Geheimnis mit sich.

Manchmal war seine Traurigkeit, gepaart mit seiner männlichen Schönheit, fast zu schmerzlich, um es ertragen zu können. Doch Abby hatte sich den Film immer wieder angesehen. Boyers Spiel schien so real, dass er sie jedes Mal gefangen nahm, und sie hatte geglaubt, dass kein Franzose so fesselnd sein könnte wie er.

Bis jetzt.

Abby schaffte es nicht, den Blick von dem Fremden abzuwenden. So etwas war ihr noch nie passiert. Weder bei Nigel noch bei dem Mann, in den sie früher verliebt gewesen war. Eine grüblerische Aura umgab ihn, die sie ansprach, obwohl sie darum kämpfte, sich nicht von ihm angezogen zu fühlen.

Wer war er? Wo kam so ein Mann her?

Der Fremde wirkte, als ob er eine schwere Last trüge. Die Linien um seine Augen und seinen Mund erzählten von Schmerz. Seine Arbeitskleidung, ein weißes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und eine dunkle Hose, legte nahe, dass er alles liegen und stehen gelassen hatte, um ins Auto zu steigen und hierher zu fahren.

Ist er derjenige, der mich abholen soll?

Seine Züge wirkten wie gemeißelt, und seine bronzefarbene Haut ließ die Vermutung zu, dass er in der Sonne arbeitete. Sein Blick aus mitternachtsschwarzen Augen begegnete ihrem, und Abby begann völlig ohne Grund zu zittern.

Obwohl er sie dabei erwischt hatte, wie sie ihn anstarrte, wandte sie den Blick nicht ab. Ihr Puls raste, während er zu ihr trat.

„Mademoiselle Grant?“

Seine verführerische Stimme traf sie bis ins Mark. „Ja. Und Sie müssen vom La Floraison sein.“

Er nickte. „Mir wurde gesagt, ich solle nach einer Frau mit goldenen Haaren Ausschau halten.“ Er sprach ausgezeichnet Englisch, mit schwerem Akzent.

„Sie haben mir etwas voraus. Mir wurde nicht einmal gesagt, wie Sie heißen.“

„Raoul Decorvet.“

„Ich dachte, Magdas Freund wäre viel älter.“

„Das stimmte auch. Leider ist Auguste vor einem Monat mit achtzig Jahren gestorben.“

„Oh nein!“, rief sie. „Das wussten wir nicht. Magda hat uns nichts davon gesagt.“

„Sie sollten es auch nicht wissen.“

Abby schüttelte den Kopf. „Das verstehe ich nicht.“

„Ich bin hier, um den Verkauf des Anwesens für den früheren Besitzer zu regeln. Auguste hatte Herzprobleme und wusste nicht, wie lange er noch leben würde. Louis und Gabrielle, die das Weingut führen, sagten mir, dass Sie und Ihre Freundinnen gern diesen Monat bleiben können. Ich war gerade vor Ort, als Gabrielle den Anruf von Ihren Freundinnen bekam. Da sie sehr beschäftigt ist, habe ich ihr meine Hilfe angeboten.“

„Danke, aber das geht nicht. Wir wollen niemandem zur Last fallen.“

Wieder spürte sie seinen durchdringenden Blick. „Das tun Sie nicht. Wenn Sie einsteigen, werde ich es Ihnen auf der Fahrt zum Château erklären.“

Sie war sich seiner Männlichkeit so bewusst, dass es ihr schwerfiel, sich natürlich zu verhalten. Außerdem war sie nervös. Nach ihrer Erfahrung mit Nigel machte es ihr beinahe Angst, wie sie auf diesen Mann reagierte. Er griff nach ihrem Koffer, half ihr beim Einsteigen und legte ihr Gepäck dann nach hinten.

„Tut mir leid, dass Sie meinetwegen herfahren mussten. Ich hätte auf meine Freundinnen warten können. Einen Taxiservice bereitzustellen, gehört doch wohl kaum zur Arbeit eines viel beschäftigten Immobilienmaklers.“

„Pas de problème.“

Abby war sicher, dass es nicht stimmte, doch Raoul Decorvet umgab eine entschiedene Aura von Autorität. Sie wollte sich nicht mit ihm streiten, zumal er sich ihretwegen Umstände gemacht hatte. Deshalb sagte sie nichts, als er auf die Hauptstraße fuhr und schließlich um die Stadt herum Richtung Berghang. Während der Fahrt fing sie einen blumigen Duft auf.

„Was ist das für ein herrlicher Geruch?“, erkundigte sie sich.

„La Floraison begrüßt Sie.“

Sie musterte sein eindrucksvolles Profil. „Was soll das heißen?“

„Die Blüten der Weinreben öffnen sich im Juni. Darum wollte Magda, dass Sie jetzt hierherkommen. In den nächsten fünfzehn Tagen werden sie ihren berauschenden Duft verströmen, während sie automatisch bestäubt werden. Ihre Zwitterblüten sichern das Fortbestehen der Spezies.“ Ihre Blicke verhakten sich ineinander. „Die Natur ist bemerkenswert, n’est-ce pas?“

Aus irgendeinem Grund hatte das Thema ihres Gesprächs etwas Persönliches, besonders wie er es mit seiner tiefen, weichen Stimme sagte, sodass Abbys Wangen sich röteten.

„Haben Sie schon einen Käufer gefunden?“, fragte sie, um das Thema zu wechseln, und hoffte, ihre Worte würden den Bann brechen, mit dem er sie belegt hatte.

Oui. Ist bereits erledigt. Der neue Besitzer wird das Anwesen Ende Juni übernehmen.“

„Sie haben es doch nicht wegen mir und meiner Freundinnen aufgeschoben?“

„Damit wird nur ein Versprechen von Auguste eingelöst. Während Sie hier sind, wird Gabrielle sich um Sie kümmern. Sie wohnen in dem allein stehenden Bauernhaus neben dem Château. Dort wird es Ihnen sicher gefallen.“

„Ich bin sicher, dass es sehr schön ist.“

Es dauerte nicht lange, da tauchte das Château vor ihnen auf. Abby bestaunte das Gebäude aus grauem Stein. Es erinnerte sie an eine kleine Burg. In früheren Zeiten wäre es ein eindrucksvolles Wahrzeichen gewesen.

Raoul fuhr an den Weingärten entlang, die in voller Blüte standen, und passierte einen Gemüsegarten, bevor sie schließlich zu einem charmanten Bauernhaus mit einem Mansardendach kamen.

„Da ist Gabrielle. Es wird langsam spät. Sie macht Ihnen etwas zu essen, wenn Sie Hunger haben.“

„Nein, nein. Ich warte auf meine Freundinnen.“

Abby entdeckte eine Frau in mittleren Jahren, die um die Ecke des Hauses kam. Sie trug einen breiten Strohhut, eine lange Hose und eine Tunika.

„Bonjour.“

Das herzliche Lächeln der Frau gab Abby das Gefühl, willkommen zu sein. Sie mochte Gabrielle schon jetzt und stieg aus dem Wagen. „Bonjour, Madame.“

„Soyez la bienvenue.“

Merci. Danke.“

„Raoul hat Sie also gefunden.“ Die Schweizer beeindruckten Abby mit ihrer Fähigkeit, gut Englisch sprechen zu können. „Mein Mann ist oben im Weingarten, und ich habe die Reben beschnitten. Als Ihre Freundinnen mir am Telefon von ihren Problemen erzählten, hat Raoul angeboten, Sie mit unserem Wagen abzuholen.“

„Ich bin Ihnen beiden sehr dankbar.“

„Soweit ich weiß, müssten sie bald hier sein. Kommen Sie doch herein.“ Gabrielle griff nach Abbys Koffer. „Wir haben fünf Schlafzimmer mit Bad. Da Sie als Erste angekommen sind, haben Sie die Auswahl.“

„Wie aufregend. Ich freue mich schon so lange auf diese Ferien.“

Abby wandte sich an Raoul. Sie sollte erleichtert sein, sich von ihm verabschieden zu können. Denn er war etwas zu faszinierend. Dabei wollte sie lieber draußen bleiben und mit ihm reden, was verrückt war. Unfassbar, dass sie so heftig auf ihn reagierte, nachdem sie sich geschworen hatte, sich nie wieder ernsthaft auf einen Mann einzulassen.

„Danke, dass Sie mich abgeholt haben.“

Mit nachdenklichem Blick sah er sie an. Wieder spürte sie, dass er irgendwie aufgewühlt war. „Vergessen Sie das hier nicht.“ Er reichte ihr die Handtasche, die sie im Wagen gelassen hatte.

Was, um Himmels willen, ist nur los mit mir? Sie hatte die Tasche völlig vergessen und auf dem Sitz liegen lassen. Die leichte Berührung seiner Finger sandte ihr wieder einen Schauer über den Rücken.

À bientôt, Mademoiselle.“

Sie wusste, was das hieß. Bis bald. Doch seinen Worten eine Bedeutung beizumessen, wäre dumm. Aber er hatte Mademoiselle zu ihr gesagt. Vielleicht war ihm aufgefallen, dass sie keinen Ring trug. Auch bei ihm hatte sie keinen entdeckt, was jedoch nicht zwangsläufig bedeutete, dass er nicht verheiratet war.

Abby drehte sich um und folgte Gabrielle ins Haus, während sie sich fragte, warum ein Immobilienmakler aus Frankreich hier geschäftlich zu tun hatte.

Vielleicht lebte er auf der französischen Seite des Genfer Sees und war befugt, in beiden Ländern zu arbeiten. In diesem Fall würde er nicht im Château bleiben. Sie überlegte, ob er bald aufbrechen würde. Gabrielle könnte ihr diese Fragen beantworten, doch wenn Abby sie fragte, würde sie den Eindruck erwecken, Interesse an ihm zu haben.

Mach das nicht, Abby. Sei nicht dumm.

Gabrielle führte sie durch die hellen Gemeinschaftsräume. Das restaurierte Bauernhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert wirkte warm und einladend. Anschließend gingen sie nach oben zu den Schlafzimmern. Jedes verfügte über einen kleinen Kühlschrank mit Getränken, und in jedem Zimmer stand eine Schale mit Obst und Schweizer Schokolade.

Abby entschied sich für ein Zimmer, das Richtung Westen ging und einen Blick über den Weingarten bot. Sie sah die Arbeiter des Anwesens. Einer von ihnen war wahrscheinlich Louis. Von Raoul war nichts zu sehen.

„Wenn Sie etwas brauchen, nutzen Sie einfach das Telefon neben dem Bett und rufen bei mir im Château an. Ihre Freundinnen wissen, dass sie direkt zum Bauernhaus kommen sollen. Ihr Frühstück steht morgens ab sieben im Speiseraum bereit.“

„Wunderbar. Könnte ich vielleicht ein Fenster öffnen? Ich liebe den Duft, der vom Weingarten kommt.“

„Natürlich.“

„Danke.“

„De rien. À tout à l’heure, Mademoiselle.“

2. KAPITEL

Nachdem Gabrielle gegangen war, öffnete Abby das Fenster. Der Duft war himmlisch. Sie packte ihren Koffer aus und stellte ihre Handtasche und den Laptop auf einen runden Tisch.

Das Badezimmer verfügte über jede Annehmlichkeit. Nachdem sie sich frisch gemacht und ihren mattiert orangeroten Lippenstift aufgelegt hatte, ging sie nach unten und trat ins Freie.

Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen. Während sie auf ihre Freundinnen wartete, drängte es sie, Raoul unbedingt wiedersehen zu müssen, ohne dass sie es verstand. Was hatte er an sich, dass er nach der kurzen Begegnung solche Gefühle und eine derartige Sehnsucht in ihr weckte?

Wieder fragte sie sich, ob sie noch bei Sinnen war, nach dem, was sie mit Nigel erlebt hatte. Doch bei ihm hatte sie nie so empfunden. Nicht annähernd. Die Anziehungskraft zwischen ihnen war mit der Zeit durch ihre gemeinsamen Interessen gewachsen.

Nichts war vergleichbar mit der heftigen Gefühlsexplosion, seit Raoul aus dem alten Renault gestiegen und auf sie zugekommen war. Der Franzose hatte sie dazu gebracht, alles zu vergessen, was sie nach Nigels betrügerischem Verhalten gelernt zu haben geglaubt hatte.

Es machte ihr Angst, dass sie sich so stark zu ihm hingezogen fühlte. Da sie sich vor ihren Gefühlen fürchtete, hastete Abby zurück zum Bauernhaus und wartete direkt davor auf ihre Freundinnen.

Sie sah auf die Uhr. Dass es bereits fünf Uhr nachmittags war, beunruhigte sie. Als sie ihr Handy aus der Tasche holte, um sie anzurufen, entdeckte sie einen dunkelroten Wagen. Schnell steckte sie das Handy weg und lief ihnen entgegen.

„Da seid ihr ja endlich!“

Ihre Freundinnen stiegen aus und umarmten Abby. Zoe sah sie lächelnd an. „Du siehst toll aus.“

„Ihr beide auch.“

„Entschuldige, dass wir so spät kommen, aber nichts hat richtig geklappt.“

Autor

Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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