Im Wüstenreich der Sehnsucht

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Die junge Polly reist in das ferne Scheichtum Dharia, um das Geheimnis eines alten Familienerbstücks aufzudecken. Doch als man den prunkvollen Edelstein an ihrer Hand entdeckt, führt man sie wie eine Gefangene in den Palast von König Rashad. Was der schrecklich arrogante Herrscher von ihr will? Sie heiraten! Denn der Legende nach hat derjenige, der den lange verschollenen Ring besitzt, Anspruch auf den Thron. Polly ist entsetzt! Eine Zwangsehe? Undenkbar. Sie will fliehen, doch als der attraktive Wüstenprinz sie heiß küsst, gerät ihr Plan ins Wanken …


  • Erscheinungstag 04.07.2017
  • Bandnummer 2290
  • ISBN / Artikelnummer 9783733708467
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

König Rashad El-Amin Quaraishi betrachtete schlecht gelaunt die Fotos, die vor ihm auf dem Schreibtisch ausgebreitet lagen. Mit über einem Meter neunzig überragte er die meisten anderen bei Sitzungen und Versammlungen. Die Größe hatte er von seinem Großvater geerbt, die perfekten, gleichmäßigen Gesichtszüge und langen dichten Wimpern von seiner Mutter, deren Schönheit im gesamten Mittleren Osten Legende war. Doch Komplimente über sein Aussehen, egal wo und von wem, waren ihm schlicht peinlich.

„Ein Füllhorn weiblicher Perfektion“, ließ Hakim, sein Erster Berater, sich vernehmen. „Eine neue Ära, eine neue Königin, eine neue Dynastie. Was für ein Glück für Dharia.“

Trotz der überschwänglichen Worte schien es dem Berater an ehrlicher Begeisterung zu mangeln, dennoch widersprach Rashad nicht. Er hatte es immer als seine Pflicht angesehen, zu heiraten und für Thronerben zu sorgen, auch wenn die Vorstellung ihm nie sonderlich behagt hatte. In jungen Jahren war er schon einmal verheiratet gewesen, er kannte die Stolpersteine. Mit einer Frau zu leben, mit der man nichts gemein hatte, konnte sehr anstrengend sein. Missverständnisse und Konfrontationen waren meist an der Tagesordnung. Und wenn dann der sehnlichst erhoffte Thronfolger auch noch ausblieb, potenzierten sich Stress und Unzufriedenheit.

Nein, eine Ehe hatte keinen Reiz für Rashad. Das Beste, auf das er hoffen konnte, war eine Braut, die vernünftig genug war, um einem Arrangement zuzustimmen, bei dem sie ein relativ friedvolles Zusammenleben führten und ansonsten jeder den eigenen Interessen und Vorlieben nachging. Unterstützung erwartete er nicht von einer Ehefrau. Seine erste Frau hatte wie eine Klette an ihm gehangen, und die berüchtigte stürmische Ehe seiner Eltern würde er auch nicht vergessen. Allerdings verstand er, dass sein Land Stabilität brauchte, und war daher bereit, seinem Volk ein Beispiel zu sein.

Schon seit über zwanzig Jahren litt das Volk von Dharia, Wandel und Erneuerungen wurden nicht länger willkommen geheißen. Im Gegenteil, man hatte sich rückgewandt zu einem entschleunigten Leben und traditionellen Gebräuchen. Die Entschlossenheit seines Vaters, dem Land eine westlich orientierte Lebensweise aufzuzwingen, hatte die Regierung an die Grenze zur Tyrannei geführt, so dass sich Armee und Volk zusammengeschlossen und gegen den Herrscher aufgelehnt hatten. Als Mahnmal dieser Revolution standen noch die Ruinen des ehemaligen Diktatorpalastes in der Hauptstadt Kashan. Dort hatte Arak das Land jedoch weiter in den Abgrund getrieben. Nach dem Sturz des Diktators war sofort wieder die Monarchie ausgerufen worden.

Bedauerlicherweise war während dieser Revolution der Großteil von Rashads Familie durch ein Attentat getötet worden. Sein Onkel hatte ihn dann in der Wüste in Sicherheit gebracht. Sechs war er damals gewesen, ein verängstigter kleiner Junge, der mehr an seiner englischen Nanny gehangen hatte als an seinen Eltern, die er ja kaum sah. In den damaligen Kriegswirren war dann aber auch sein Kindermädchen spurlos verschwunden, der Palast war geplündert worden, die Diener verjagt oder schlimmer, und das Leben, das Rashad bis dahin gekannt hatte, existierte nicht mehr …

„Hoheit, darf ich einen Vorschlag vorbringen?“

Rashad dachte tatsächlich schon, Hakim würde jetzt vorschlagen wollen, die Fotos der Kandidatinnen wie bei einer Tombola in eine sich drehende Kugel zu werfen und dann mit verbundenen Augen eines herauszuziehen. Das wäre sicher respektlos gegenüber den potentiellen Bräuten, aber Rashads Überzeugung nach hätte er damit die gleichen Chancen auf eine glückliche Ehe wie mit jeder anderen Methode. Die Ehe war nicht mehr als ein Glücksspiel.

„Natürlich, bitte“, erwiderte Rashad.

Lächelnd öffnete Hakim den Aktenordner, den er bei sich trug, und zog ein Foto hervor, das er Rashad reichte. „Ich habe mir die Freiheit genommen und mich beim Königlichen Goldschmied erkundigt, ob es möglich ist, eine Nachbildung der ‚Hoffnung von Dharia‘ herzustellen.“

„Aber die ist doch verloren gegangen.“ Verblüfft zog Rashad die Brauen in die Höhe.

„Es richtet sicher keinen Schaden an, wenn eine Nachbildung angefertigt wird. Der Ring ist das Symbol der Monarchie, das wertvollste Erbstück der Familie. Nach der langen Zeit ist es wohl unwahrscheinlich, dass es noch wiedergefunden wird.“ Hakim wurde ernst. „Meiner Meinung nach ist jetzt der richtige Zeitpunkt. Unser Volk wird sich sicherer fühlen, wenn die alten Traditionen wieder gepflegt werden.“

„Unser Volk glaubt lieber an Märchen, statt sich der Realität zu stellen, dass mein seliger Vater ein miserabler Regent war, nur an der eigenen Macht in einem korrupten System interessiert.“ Wie immer schockierte Rashads unverblümte Direktheit den diplomatischen Hakim zutiefst, das stille Entsetzen stand dem alten Mann ins Gesicht geschrieben.

Rashad ging zu einem der Fenster und sah auf den gepflegten Palastgarten hinaus. Bei dem Ring, den das Volk mit seinem Hang zum Aberglauben „Hoffnung von Dharia“ nannte, handelte es sich um einen großen Feueropal, den der jeweilige König bei offiziellen Anlässen trug. In Gold gefasst, mit einem heiligen Zitat eingraviert, hatte der Ring eine nahezu mystische Bedeutung erlangt, nachdem Rashads Großmutter den Ring bei der Heirat mit in die Familie gebracht hatte. Das Volk hatte seine Großmutter verehrt, hatte sie doch ihr ganzes Leben wohltätigen Zwecken verschrieben. In anderen Ländern trug der König eine Krone, in Dharia wurden Stärke und Autorität des Königs durch den Ring versinnbildlicht. Seit der Palast damals geplündert worden war, war auch der Ring verschwunden, aber keine der intensiven Nachforschungen hatten auch nur die kleinste Spur erbracht. Wenn Rashad daran dachte, dann verstand er, was Hakim meinte: Eine Nachbildung war besser als gar kein Ring. „Dann geben Sie das in Auftrag“, wies er an.

Ein falscher Ring für einen falschen König. Als Drittgeborener war Rashad sich bewusst, dass er nicht als Thronfolger geboren worden war. Er kam nur deshalb in Betracht, weil seine älteren Brüder zusammen mit seinen Eltern umgekommen waren. Dass das Volk ihn derart verehrte und so große Hoffnung in ihn setzte, verwunderte ihn noch immer. Anfangs hatte es ihn derart bewegt und erschüttert, dass er die eigenen Wünsche und Hoffnungen hintan gestellt hatte, um das Richtige für sein Land zu tun.

Einst hatte er sich verlieben und glücklich sein wollen, aber dann hatte er geheiratet, und die Liebe war einen schleichenden grausamen Tod gestorben. Dem würde er sich nicht noch einmal aussetzen. Zwar war er dankbar darum, dass er auf einer britischen Universität seine Ausbildung abgeschlossen und auch seine Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gesammelt hatte, bevor er nach Hause zurückgekehrt war, um seine Pflicht zu erfüllen, aber er hielt nichts davon, sich allein der Lust hinzugeben, auch wenn er jene Zeit der Freiheit genossen hatte.

„Nach Hause“ bedeutete eben, als strahlende Figur an der Spitze von Dharia zu stehen. Ja, sein Volk wäre begeistert, die Nachbildung des Ringes an seinem Finger zu sehen, als Symbol all ihrer Träume und Hoffnungen …

Er nicht.

Polly sah zu ihrer Schwester Ellie und zwang sich zu einem kleinen Lächeln, als eine blonde Frau mittleren Alters nach der kurzen Beerdigungszeremonie für ihre Mutter in der fast leeren Kirche auf sie zukam.

Beide Töchter hatten diese Beerdigung als extrem traurig und frustrierend empfunden. Ellie, zwei Jahre jünger als Polly, hatte keine Erinnerung mehr an die Mutter, während Polly von ihrer Kindheit nur das verschwommene Bild einer parfümierten Präsenz mit einem strahlenden Lächeln vor sich sah. Es war die Großmutter gewesen, die sie beide aufgezogen hatte. Die alte Frau war gerade vor wenigen Monaten gestorben. Über zehn Jahre hatten die Dixon-Schwestern nicht einmal gewusst, dass ihre Mutter noch lebte. Daher war der Schock umso größer gewesen, als sie von einer Fremden kontaktiert und darüber informiert worden waren, dass Annabel Dixon das Zeitliche gesegnet hatte.

Vanessa James, ehrenamtliche Helferin in dem Hospiz, in dem Annabel ihre letzten Tage verlebt hatte, war die Situation ebenso unangenehm wie den beiden jungen Frauen.

„Es tut mir so leid, dass wir uns unter diesen Umständen treffen“, sagte sie, als sie den beiden die Hand schüttelte. „Ich habe einen Tisch im Hotelrestaurant für uns reserviert, es war der letzte Wunsch Ihrer Mutter. Dafür hat sie sogar eine Summe beiseitegelegt. Ich kann mir vorstellen, dass die Situation alles andere als angenehm für Sie ist“, fuhr Vanessa fort, „aber lassen Sie mich Ihnen beim Lunch etwas über die letzten Jahre Ihrer Mutter erzählen.“

Sie hörten sich an, was die Frau zu sagen hatte: Eine unheilbare Krankheit hatte Annabel Dixon schon in den Vierzigern der Fähigkeit beraubt, allein zu leben. Sie war in einem Heim gepflegt worden und dann in dem Hospiz gestorben.

„Das ist so traurig.“ Ellie strich sich das rote Haar zurück, Mitgefühl stand in ihren grünen Augen. „Wenn wir es doch nur gewusst hätte, dann hätten wir helfen können.“

„Annabel wollte nicht, dass Sie es erfahren. Sie wusste, dass Sie bereits Ihre Großmutter pflegten, und sie wollte keine weitere Belastung für Sie beide werden. Sie war eine sehr unabhängige Frau.“

Die drei Frauen setzten sich in einer stillen Nische an den Tisch und nahmen ohne große Begeisterung die Speisekarten vom Ober entgegen.

„Ich kann gut verstehen, weshalb Sie sich entschieden haben, Medizin zu studieren“, wandte Vanessa sich an Ellie. „Annabel war so stolz auf Sie.“

„Sie wusste das? Woher?“, fragte Ellie verblüfft. „Sie hatte doch schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zu Großmutter.“

„Eine Cousine Ihrer Mutter arbeitete als Krankenschwester in der Klinik, in die Annabel vor ein paar Jahren eingeliefert wurde. Sie hat sie über die Neuigkeiten in der Familie auf dem Laufenden gehalten. Annabel hat ihr aber auch das Versprechen abgenommen, Ihnen nichts davon zu sagen.“

„Aber warum denn nicht? Wir hätten doch Verständnis gehabt!“, brach die Frustration aus Ellie heraus.

„Sie wollte nicht, dass Sie sie so sehen. Sie war immer eine schöne Frau, und ihre Eitelkeit hat sie sich bis zum Schluss bewahrt“, erklärte Vanessa leise.

Polly ließ ihre Gedanken wandern. Im Gegensatz zu Ellie hatte sie beruflich nichts erreicht, was eine Mutter stolz machen könnte. Irgendwie hatte das Leben ihr immer wieder Steine in den Weg geworfen, so dass sie nie Zeit gehabt hatte, ihren Träumen und Hoffnungen nachzugehen. Sie war zu Hause geblieben, um sich um die Großmutter zu kümmern, während Ellie das Medizinstudium begonnen hatte.

Aber Polly war stolz auf sich, dass sie uneigennützig gewesen war. Ihre jüngere Schwester war schon immer die Clevere von ihnen gewesen, außerdem fühlte sie sich wirklich berufen, anderen Menschen zu helfen. Polly wusste auch, wie schuldig Ellie sich fühlte, weil sie die Schwester mit der Großmutter allein gelassen hatte. Aber es wäre doch unsinnig gewesen, wenn sie beide ihre Ausbildung aufgegeben hätten, nicht wahr? Und da Polly immer eine Durchschnittsschülerin gewesen war, während Ellie brilliert hatte, war die Entscheidung nicht schwergefallen.

„Ich hatte gehofft, Sie würden Ihrer jüngeren Schwester Bescheid geben und sie heute vielleicht mitbringen.“ Mit ihrer Bemerkung überraschte Vanessa beide, Polly und Ellie, komplett.

Polly riss die veilchenblauen Augen auf. „Welche jüngere Schwester?“

Erst sah Vanessa die beiden ungläubig an, dann erklärte sie, dass die dritte Schwester zu einer Pflegefamilie gekommen war, als Annabel sich nicht länger um sie hatte kümmern können. Sie war vier Jahre jünger als Polly, und wie es schien, hatte die Großmutter sich geweigert, sie aufzunehmen.

„Wir wussten nicht einmal, dass wir noch eine Schwester haben“, sagte Ellie bedrückt. „Eigentlich wissen wir kaum etwas über unsere Mutter, nur das Wenige, was Gran uns erzählt hat, und das war meist nicht sehr schmeichelhaft. Sie hat auch nie erwähnt, dass es drei von uns gibt.“

„Annabel muss ein aufregendes Leben geführt haben, als sie jung war“, setzte Vanessa an. „Als hoch qualifizierte Nanny ist sie viel gereist, hat lange im Ausland gelebt und für sehr wohlhabende Familien gearbeitet. Sie muss sehr gut verdient und zusätzliche Vergünstigungen erhalten haben. Aber ihre eigenen Kinder konnte sie natürlich nicht mit auf Reisen nehmen, deshalb sind Sie beide bei der Großmutter aufgewachsen. Annabel kehrte dann irgendwann nach London zurück und wollte eine eigene Kindertagesstätte eröffnen. Sie investierte ihre gesamten Ersparnisse und wollte Sie zu sich holen, sobald das Geschäft lief. Aber leider ging es schief. Ihre damalige Beziehung ging darüber in die Brüche, und dann stellte sie fest, dass sie wieder schwanger war.“

„Mit unserer Schwester. Wie heißt sie? Und warum erfahren wir erst jetzt von ihr?“, wollte Polly wissen. Sie war nicht sehr beeindruckt von der Neuigkeit, dass die Mutter, die sie kaum gekannt hatte, angeblich vorgehabt hatte, die eigenen Kinder zu sich zu holen. Um genau zu sein, eine solche Möglichkeit schien ihr eher unwahrscheinlich. Schon als Kind hatte sie immer gedacht, dass die Mutter sich vor ihrer Verantwortung drückte. Zudem waren sie von einer Frau aufgezogen worden, die es als Last empfunden hatte, sich um zwei kleine Enkeltöchter kümmern zu müssen, als sie sich eigentlich darauf gefreut hatte, ihren Lebensabend in Ruhe zu genießen.

Die Schwester hieß Penelope Dixon, aber mehr Informationen hatte Vanessa leider nicht zu bieten. „Ich habe mich ans Jugendamt gewandt, doch da ich kein Familienmitglied bin, verweigerte man mir weitere Informationen. Eine von Ihnen müsste sich mit dem Amt in Verbindung setzen und eine Anfrage stellen. Penelope könnte adoptiert worden sein. Sollte das der Fall sein, so können Sie zumindest einen Brief an sie abgeben, der dann in der Akte hinterlegt wird und sie erreicht, sollte sie selbst jemals Nachforschungen über ihre leibliche Familie anstellen.“

Der Ober servierte die Bestellung, und Vanessa nutzte den Moment, um drei Umschläge aus ihrer Handtasche zu ziehen. „Ihre Mutter hat jeder von Ihnen dreien einen Ring hinterlassen. Ich möchte Sie bitten, den Ring für Ihre jüngere Schwester ebenfalls mitzunehmen …“

„Ein Ring?“, wiederholte Polly überrascht.

„Und mit jedem Ring einen Namen. Ich nehme an, dass es die Namen Ihrer Väter sein könnten, obwohl Annabel sehr ausweichend bei dem Thema wurde.“ Vanessa fühlte sich eindeutig unwohl in ihrer Haut. „Ich muss Sie allerdings warnen, ich hatte den Eindruck, dass Annabel selbst sich nicht absolut sicher war, wer Ihre Väter sind.“

Polly wurde blass. „Oh …“

„Sie ist nicht ins Detail gegangen, aber ich habe den Eindruck gewonnen, dass sie ein sehr anspruchsvolles Leben geführt hat, während sie auf die Sprösslinge ihrer Arbeitgeber aufpasste, und … äh … vielleicht ging sie etwas zu großzügig mit ihren Zuneigungsbeweisen um.“

„Was … was meinen Sie damit?“, hakte Polly unsicher nach.

„Sie ist mit jedem ins Bett gegangen.“ Ellie nahm kein Blatt vor den Mund. „Danke, dass Sie so ehrlich zu uns sind, bevor wir uns wegen dieser Namen große Hoffnungen machen. Allerdings könnte es aber doch auch sein, dass Annabel aufgrund ihrer Krankheit vielleicht einiges durcheinandergebracht hat, oder?“

Sobald Vanessa Polly den für sie bestimmten Umschlag reichte, riss Polly ihn auf. Geduld war noch nie ihre Stärke gewesen. Ein schwerer goldener Ring fiel heraus. Sie steckte ihn an, doch er war viel zu groß. Eindeutig ein Männerring. Sie studierte den Stein, der in den verschiedensten Rot-, Orange- und Gelbtönen schillerte.

„Das ist ein Feueropal“, wusste Vanessa. „Ein ungewöhnlicher Stein, aber so, wie ich verstanden habe, nicht übermäßig wertvoll. Allerdings ist es ein antiker Ring, eindeutig im Ausland angefertigt.“

„Aha“, murmelte Polly nur und las den Namen auf dem kleinen Zettel, der ebenfalls in dem Umschlag gelegen hatte.

Zahir Basara … Dharia …

„Mein Vater könnte arabischer Abstammung sein?“, murmelte sie. Dabei hätte man niemals vermuten sollen, dass mit ihrem silberblonden Haar und der hellen Haut auch nur ein Tropfen exotisches Blut in ihren Adern floss. Im Gegenteil, man hatte sie schon oft gefragt, ob sie aus Skandinavien sei. „Von Dharia habe ich schon gehört …“

„Ihre Mutter hat für das Königshaus als Kindermädchen gearbeitet, bevor die königliche Familie umgekommen ist“, wusste Vanessa.

Sofort fragte Polly sich, ob es da vielleicht eine Verbindung zu ihrem eigentlichen Namen gab, den ihre Mutter ihr gegeben hatte – Zariyah. So stand es auch in ihrem Pass. Ihre Großmutter hatte sie immer nur Polly genannt, die alte Dame hatte den fremdländischen Namen verabscheut.

„Ich habe einen Smaragd bekommen!“, rief Ellie aus, doch ihre Haltung deutete an, dass sie weder Ring noch Namen allzu ernst nahm.

„Und der Name?“ Polly kam halb um vor Neugier.

„Klingt italienisch. Aber den verrate ich nicht.“ Sie verstaute den Umschlag in ihrer Handtasche, doch sie schien blass geworden zu sein. „Vielleicht hat unsere Mutter ja Verlobungsringe gesammelt. Ich wünschte, sie hätte uns einen Brief hinterlassen, in dem sie mehr von sich erzählt.“ Sie nahm den Umschlag für ihre unbekannte Schwester von Vanessa in Empfang. „Ist es möglich, das Hospiz zu besuchen?“, fragte sie die ehrenamtliche Pflegerin. „Ich würde mir gern ansehen, wo unsere Mutter ihre letzten Tage verbracht hat.“

Während die beiden Frauen sich in ein angeregtes Gespräch vertieften, schweiften Pollys Gedanken ab. Sie fragte sich, ob der Feueropal ein Symbol der Liebe war. Sie wünschte sich, zumindest aus Liebe empfangen worden zu sein. Eine Liebe zwischen zwei Kulturen war immer schwierig, vielleicht hatten die Unterschiede zu große Bedeutung gewonnen, um sie zu überwinden. Dieser Name und der Ring hatten jähe Sehnsucht in ihr geweckt, mehr über das Land Dharia in Erfahrung zu bringen. War es möglich, dass tatsächlich dharianisches Blut in ihren Adern floss? Vielleicht lebte ihr Vater ja noch, vielleicht hatte er sogar Interesse daran, sie kennenzulernen.

Polly wünschte sich mit aller Macht, ein echtes Elternteil zu haben. Ihre Mutter hatte sie praktisch verstoßen, und die Großmutter hatte die beiden Schwestern zwar nicht schlecht behandelt, aber geliebt hatte sie sie auf keinen Fall. Wie schön musste es sein, ein Elternteil zu haben, dem an seinem Kind lag, das Interesse hatte …

„Du wirst jetzt nicht in ein fremdes Land losstürmen und Nachforschungen anstellen.“ Ellie musste Pollys Gedanken gelesen haben. „Das wäre ja komplett verrückt.“

Genau. Und Polly hatte noch nie etwas Verrücktes getan. Sie hatte sich nicht einmal der Großmutter widersetzt, als sie damals ein Stipendium für die Kunstakademie erhalten hatte, die Großmutter aber darauf bestand, sie solle arbeiten gehen und sich an den Haushaltskosten beteiligen. Sie hatte eine Stelle in einer Wohltätigkeitsorganisation gefunden, und ihre künstlerischen Ambitionen beschränkten sich heute auf den Besuch von Kunstkursen an der Volkshochschule.

Sie war noch nie abenteuerlustig gewesen, und da sie gar nicht das Geld für so etwas hatte, war es höchst unwahrscheinlich, dass sie Dharia je zu sehen bekommen würde. Nein, es war nur ein Traum, und Träume verwirklichten sich nicht, wenn man nicht bereit war, Risiken einzugehen und sich bietende Gelegenheiten spontan beim Schopfe packte.

Polly spürte die neugierigen Blicke auf sich liegen, als sie am Flughafen in Kashan beim Zoll in der Schlange stand. Das müssen das blonde Haar und die helle Haut sein, dachte sie, denn damit bin ich hier eindeutig die Einzige.

Sie konnte es noch immer nicht fassen, dass sie tatsächlich hier war, im Land ihres Vaters. Ellie hatte ihr das ermöglicht, hatte ein Semester lang einen Teilzeitjob angenommen und ihr dann das Geld gegeben. Quasi als Dank dafür, dass Polly ihr all die Jahre den Rücken freigehalten hatte. Trotzdem hatte es Monate gedauert, bis Polly für die Reise bereit gewesen war, und für die Dauer ihres Aufenthalts hatte sie ein Zimmer in einer wirklich sehr günstigen Pension gebucht. Aber solange es dort sauber war, reichte ihr das.

Ein Mann starrte sie unverhohlen an. Still nahm sie sich vor, dass sie morgen, wenn sie ausging, ihr Haar flechten und bedecken würde. Und die Shorts, die sie eingepackt hatte, würde sie ganz bestimmt nicht anziehen, Dharia war nicht unbedingt eine Touristenhochburg. Zwar waren die Frauen hier nicht verschleiert, aber sie alle waren züchtig gekleidet, trugen lange Röcke und hoch geschlossene Oberteile.

Endlich war sie an der Reihe, sie übergab ihren Pass, und das schien der Startschuss für zwei Männer in Uniform zu sein, an ihre Seite zu treten.

„Bitte kommen Sie mit.“

Zu ihrem Erstaunen wurden ihr Koffer und Tasche abgenommen, und man brachte sie in einen kleinen, nur mit einem Tisch und einigen Stühlen spartanisch eingerichteten Raum. Sowohl ihr Koffer als auch ihre Tasche wurden aufs Genaueste durchsucht, und während sie verwirrt zusah, fragte sie sich, warum man ihr ihren Pass noch nicht zurückgegeben hatte. Wonach suchten sie denn in ihrem Gepäck? Etwa nach Drogen? Ein eiskalter Schauer lief Polly über den Rücken. Sie hatte nichts Verdächtigeres als Kopfschmerztabletten dabei, aber natürlich hatte sie auch die Horrorgeschichten gehört, wonach Reisende sogar Leibesvisitationen über sich ergehen lassen mussten. Als jetzt eine weibliche Zollbeamtin den Raum betrat, versteifte Polly sich unwillkürlich.

Im gleichen Moment stieß einer der Zollbeamten einen überraschten Ausruf aus und hielt den Ring mit dem Feueropal in die Höhe, den er aus Pollys Handgepäck gezogen hatte. Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster und brachen sich in dem Stein, zauberten rote und goldenen Schatten auf die grauen Wände des Raumes. Das Trio begann aufgeregt in seiner Muttersprache zu reden, und nur Sekunden später verließen die beiden männlichen Beamten den Raum, während die Beamtin Polly durchdringend musterte.

„Sie sind sehr schön“, sagte die Frau.

Polly wollte nicht unhöflich sein. Sie zwang sich zu einem Lächeln, auch wenn ihr ziemlich mulmig war. „Danke.“

Die Minuten vergingen zäh, und mit jeder Sekunde wurde Polly nervöser. Sie fragte sich, wieso sie alle so aufgeregt waren, seit sie den Ring gesehen hatten. War er etwa gestohlen? Aber wieso sollte ihn dann hier jeder sofort erkennen, wenn er laut Vanessa nicht einmal besonders wertvoll war?

Eine Frau kam in den Raum, in den Händen ein Tablett mit duftendem Tee. Die Zollbeamtin stand auf und goss eine Tasse für Polly ein. Polly bedankte sich erneut, führte die Tasse mit zitternden Händen zum Mund und nippte. Der Tee schmeckte nach Minze.

„Wieso werde ich hier festgehalten?“, wagte sie es zu fragen.

„Wir warten auf Instruktionen“, wurde ihr geantwortet.

„Und mein Ring?“

Die beiden Frauen tauschten einen Blick, aber keine gab eine Antwort. Ärger rumorte in Polly, dass man ihr den Ring abgenommen hatte. Er war die einzige Verbindung zu ihrer Mutter, die sie nie wirklich gekannt hatte. Wann gab man ihn ihr wieder zurück? Sie versuchte, positiv zu denken. Man hatte keine Leibesvisitation durchgeführt, sondern ihr sogar Tee gebracht. Es konnte sich also nur um ein Missverständnis handeln. Sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen. Aber möglicherweise ihre Mutter vor all den Jahren …?

Woher sollte sie das wissen? Sie war zwar die älteste Tochter, aber ihre Mutter blieb ein Rätsel. Annabel hatte die ganze Welt bereist, um sich um anderer Leute Kinder zu kümmern, und hatte die eigenen zurückgelassen. Immerhin hatte sie jahrelang regelmäßig finanzielle Unterstützung gesandt, bis das dann ohne Vorwarnung abrupt ausgesetzt hatte. Polly hatte erfahren müssen, wie es war, mit einem sehr knapp bemessenen Budget zurechtzukommen.

Hinterlassen hatte ihnen die Großmutter nichts, ihr gesamtes Hab und Gut hatte der Sohn geerbt, der sich immer bitter darüber beklagt hatte, dass die unehelichen Kinder seiner Schwester den Lebensabend seiner Mutter ruiniert hatten. Uneheliches Kind … ein Etikett, das Polly immer gehasst hatte. Wieso wurden Kinder stigmatisiert, wenn sie doch keinerlei Verantwortung dafür trugen. Aber für ihre altmodische Großmutter war es eine nie versiegende Quelle der Scham gewesen, dass ihre Enkelinnen unehelich zur Welt gekommen waren.

Autor

Lynne Graham
Lynne Graham ist eine populäre Autorin aus Nord-Irland. Seit 1987 hat sie über 60 Romances geschrieben, die auf vielen Bestseller-Listen stehen.

Bereits im Alter von 15 Jahren schrieb sie ihren ersten Liebesroman, leider wurde er abgelehnt. Nachdem sie wegen ihres Babys zu Hause blieb, begann sie erneut mit dem...
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