Küsse, süßer als Rache

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"Hallo Grace!" Zwei Worte genügen, um ein Prickeln durch Graces Körper zu jagen und sie herumwirbeln zu lassen. Seth Mason! Sie hätte seine Stimme unter tausenden erkannt. Wie oft hat er sie in ihren Träumen verfolgt, seit jener wunderbaren Liebesnacht vor acht Jahren? Jetzt ist aus dem armen Jungen von damals ein attraktiver Multimillionär geworden, der sie mehr denn je fasziniert. Doch so verlockend seine Küsse schmecken, sollte Grace doch auf der Hut sein. Denn Seth hat ihr nie verziehen, dass sie ihm den Laufpass gab. Und er scheint nur eins zu wollen: Rache!


  • Erscheinungstag 06.02.2012
  • Bandnummer 2013
  • ISBN / Artikelnummer 9783864940255
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Vernissagen sind immer nervenaufreibend, Ms Tyler.“ Beruhigend sprach die junge rothaarige Frau mit dem Klemmbrett unter dem Arm auf Grace ein, während sie ein kleines Mikrofon an das Revers des perlgrauen Designer-Kostüms heftete. „Aber ich bin sicher, dass diese Galerie eine vielversprechende Zukunft hat!“, fuhr sie zuversichtlich fort und musterte mit fachmännischem Blick die zeitgenössischen Malereien und Originalgrafiken an der Wand sowie die Keramikskulpturen in der großen Glasvitrine. „Wir werden zuerst einige Außenaufnahmen drehen, Sie haben also noch eine Weile vor uns Ruhe.“

Mit geschickten Fingern zog sie den edel schimmernden Stoff von Graces’ Jackett zurecht und strich eine blonde Strähne, die aus dem locker hochgesteckten Haar entwischt war, zurück. „Perfekt! Die Kamera wird Sie lieben!“, rief sie begeistert.

Dasselbe kann man von der Presse leider nicht behaupten, dachte Grace bitter. Als sie sich vor vier Monaten von dem reichen Bankierssohn Paul Harringdale getrennt hatte, waren die Zeitungen und Boulevardblätter förmlich über sie hergefallen. Die wenig schmeichelhafte Berichterstattung ging von „flatterhaftes Geschöpf“ über „launische Göre“ bis hin zu „die typisch aufreizende Blondine, die nicht in der Lage ist, die richtige Entscheidung zu treffen, selbst wenn ihr Leben davon abhängt.“ Die Tatsache, dass letzterer Kommentar aus der Feder eines Journalisten stammte, der erfolglos um sie geworben hatte, war für Grace nur ein schwacher Trost – denn nichtsdestotrotz hatten sie die geringschätzigen Worte verletzt.

„Hals- und Beinbruch“, rief jemand Grace im Vorbeigehen zu, als sie die Türen der Galerie öffnete und die eingeladenen Freunde, Kunstkritiker und Kunstinteressierten hereinströmten.

„Danke. Ich kann es gebrauchen“, antwortete Grace lachend. Ein Blick über die Schulter verriet ihr, dass der Glückwunsch von Beth Wilson kam, eine kurvenreiche und – wie sie sich selbstironisch definierte – etwas zu kurz geratene Brünette; das Gute daran war, so pflegte Beth zu sagen, dass sie mit einer Größe von einem Meter sechsundfünfzig immer aufwärts schaute. Und weil Beth nicht nur humorvoll, sondern auch sehr kompetent und loyal war, hatte Grace sie mit der Leitung ihrer kleinen Londoner Galerie beauftragt.

Auf diese Weise konnte sie sich voll und ganz auf das Hauptziel in ihrem Leben konzentrieren, nämlich das namhafte Textilunternehmen, das ihr Großvater gegründet hatte, über Wasser zu halten. Seit seinem Tod vor knapp einem Jahr hatte das Unternehmen mit ernsthaften Problemen zu kämpfen. Und von Corinne erhielt Grace weder moralische noch praktische Unterstützung.

Corinne Culverwell, die letzte Ehefrau ihres Großvaters, hatte zwar einen wesentlichen Anteil der Aktien geerbt, aber von vornherein klipp und klar gesagt, dass sie nicht daran interessiert wäre, aktiv in die Belange des kriselnden Konzerns involviert zu werden. Dass ihre Stief-Großmutter – eine Bezeichnung, die Grace für eine Frau, die nur drei Jahre älter war als sie selbst, immer als unpassend empfunden hatte – nicht einmal zu der Eröffnungsfeier der Galerie erschien, weil ihr angeblich in letzter Minute ein wichtiger Termin dazwischengekommen war, hatte sie mit gespielter Gelassenheit zur Kenntnis genommen. Und jetzt, wo von allen Seiten die Gratulationen und Komplimente auf sie einprasselten, hatte Grace auch keine Zeit und Lust mehr, länger darüber nachzudenken.

Während sie zwei angesehene Kunstförderer zu dem Tisch begleitete, wo der Champagner und die Häppchen gereicht wurden, bemerkte sie, dass das Kamerateam draußen zusammenpackte. Grace besann sich darauf, ihre innere Kraft und Konzentration zu sammeln, denn schon bald würde man also mit dem geplanten Interview beginnen. Immer die Ruhe. Entspann dich.

„Hallo, Grace.“

Diese zwei sanft gesprochenen Worte genügten, um eine prickelnde Spannung durch ihren Körper zu jagen und sie augenblicklich herumwirbeln zu lassen.

Seth Mason! Einen kurzen Moment stand Grace wie versteinert da – selbst das Atmen fiel ihr schwer.

Sie hätte seine Stimme unter Tausenden erkannt – so unverkennbar war sein voller warmer und komplett akzentfreier Bariton. Aber genauso unvergesslich hatten sich seine markanten Gesichtszüge in ihre Erinnerung eingebrannt. Alles Jungenhafte war aus ihnen gewichen; stattdessen wirkten sie reifer und männlicher. Wie oft hatten sie in ihren Träumen dieses kantige Gesicht, die stahlgrauen Augen und die stolze Nase verfolgt? Seine leicht welligen, dichten schwarzen Haare reichten Seth immer noch fast bis zur Schulter, und ein paar unbändige Strähnen fielen ihm, wie damals, über die Stirn.

„Seth …“ Der Schock in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Viele Jahre lang hatte sie sich ein Wiedersehen mit ihm mit einer Mischung aus Sehnsucht und Furcht ausgemalt. Aber wirklich geglaubt, dass es je dazu kommen würde, hatte Grace nicht. Und am allerwenigsten hatte sie damit gerechnet, ihn hier und jetzt zu treffen. Gerade heute Abend, wo alles reibungslos laufen musste!

An seinem durchdringenden Blick und dem spöttischen Lächeln, das seinen fein geschwungenen Mund umspielte – und mit dem er sie damals um den Verstand gebracht hatte –, konnte Grace erkennen, dass er ihr Unbehagen spürte.

„Wie lange ist es her, Grace? Acht … neun Jahre?“

„I… ich kann mich nicht genau erinnern“, stammelte Grace, obwohl sie es genau wusste. Die wenigen schicksalhaften Begegnungen mit Seth hatten sich ebenso unauslöschlich in ihrem Gedächtnis festgesetzt wie das Einmaleins. Ihr letztes Treffen lag fast genau acht Jahre zurück, es war kurz nach ihrem neunzehnten Geburtstag gewesen, als sie noch dachte, dass alles im Leben schwarz oder weiß sei. Dass sie ihr Leben nach Belieben planen könnte und sich nur auszusuchen und zu nehmen bräuchte, wonach ihr der Sinn stand.

Aber diese Illusion war ihr genommen worden, und sie hatte die Lektion gelernt. Und der Preis für ihre Unbesonnenheit und vor allem für ihre kurze Liaison mit diesem Mann war hoch gewesen – sie hatte am eigenen Leib erfahren, dass man früher oder später für alles im Leben bezahlen muss.

„Kannst du dich nicht erinnern, oder willst du es nicht?“, fragte er mit einem herausfordernden Lächeln.

Grace zwang sich, die unangenehmen Erinnerungen beiseitezuschieben, und war froh, dass die große Vitrine mit den Skulpturen sie etwas vom Rest der Partygesellschaft trennte. Seths mehr oder weniger unterschwellige Frage umging sie mit einem kurzen nervösen Lachen. „Also … schön, dich wiederzusehen.“

„Schön“, wiederholte Seth spöttisch.

„Es ist eine große Überraschung.“

„Das glaube ich.“

Er lächelte sie zwar an, doch in seinem Blick lag keine Wärme. Eher glaubte Grace, noch mehr Leidenschaft und Intensität darin zu erkennen. Wie alt mochte er gewesen sein, als sie ihn kennengelernt hatte? Dreiundzwanzig? Vierundzwanzig? Dann wäre er jetzt Anfang dreißig.

In dem verzweifelten Versuch, die merklich angespannte Atmosphäre zwischen ihnen zu lockern, versuchte Grace, das Gespräch auf ein neutrales Thema zu lenken. „Interessierst du dich für moderne Kunst?“, fragte sie und zeigte mit ihrem Kinn auf das Aquarell eines aufstrebenden jungen Künstlers, das neben ihnen hing.

„Unter anderem.“

Grace hatte keine Ahnung, was für ein Spielchen Seth mit ihr treiben wollte, aber sie verspürte auch nicht das geringste Bedürfnis, sich darauf einzulassen.

„Bist du zufällig hier vorbeigekommen?“ Sein Name hatte jedenfalls nicht auf der Gästeliste gestanden – das wusste sie hundertprozentig. Und im Gegensatz zu den meisten anderen Gästen, die sich offensichtlich eigens für dieses mondäne Ereignis herausgeputzt hatten, war er auch nicht übermäßig elegant gekleidet. Er trug ein schlichtes weißes Hemd mit offenem Kragen und darüber eine lässige Lederjacke, die seine breiten Schultern betonte. Eine enge schwarze Jeans umschmeichelte seine langen Beine und die schmalen Hüften. Dass unter diesem zwanglosen Outfit ein muskulöser durchtrainierter Körper steckte, daran gab es keinen Zweifel.

„Das wäre wohl ein zu großer Zufall, findest du nicht?“, entgegnete Seth geheimnisvoll, ließ sie jedoch im Unklaren darüber, warum er die Schwelle der Galerie überschritten hatte, und das genau in dem Moment, wo sie zu gestresst war, um mit der Situation umgehen zu können.

„Und hast du schon etwas gesehen, das dein Interesse weckt?“ Kaum sah Grace das leicht anzügliche Lächeln, das sich auf Seths Lippen legte, wurde ihr klar, dass sie ihre Worte bedachtsamer hätte wählen sollen.

„Nun ja, wenn du so direkt fragst …“ Grace wäre am liebsten im Boden versunken, als sie merkte, dass ihre Wangen anfingen zu glühen – es war wie verhext, aber sein Anblick und seine Stimme ließen all die lange verdrängten Erinnerungen und Gefühle schlagartig an die Oberfläche kommen.

„Zum Glück wird man mit dem Alter reifer und klüger“, fügte er trocken hinzu, „wie sagt man doch so schön? Ein gebranntes Kind scheut das Feuer.“

Natürlich hatte Seth ihr unfaires Verhalten ihm gegenüber nicht vergessen. Die Tatsache, dass sie an seiner Stelle wahrscheinlich genauso reagiert hätte, machte die Situation aber auch nicht einfacher.

„Bist du gekommen, um ein bisschen moderne Kunst zu genießen?“ Grace’ kornblumenblaue Augen funkelten wütend. „Oder bist du nur hier, um deine kleinen Giftpfeile abzuschießen?“

Seth warf lachend den Kopf in den Nacken, was seine Gesichtszüge für einen kurzen Augenblick jünger und weniger hart erschienen ließ. „Das hört sich ja fast so an, als wäre ich ein Indianer auf Kriegspfad.“

Ist es ein Wunder, dass ich ihm gegenüber so gereizt reagiere? dachte Grace nüchtern. Sie konnte förmlich spüren, dass Seth hinter seiner beherrschten Fassade etwas verbarg, auch wenn sie nicht genau zu sagen vermochte, was der tatsächliche Grund für seinen überraschenden Besuch war.

Er schaute sie mit schräg gelegtem Kopf an, sodass einige dunkle Strähnen in seine Stirn fielen. Trotz der angespannten Situation verspürte Grace den absurden Wunsch, sein Haar mit ihren Fingern zurückzustreichen. „Beantwortest du immer noch jede Frage mit einer Gegenfrage?“

„Scheint wohl so“, entgegnete sie knapp, um ihre Verwunderung zu kaschieren. Auch wenn sie keinen einzigen Moment jener leidenschaftlichen Stunden mit Seth vergessen hatte, erstaunte es sie doch, dass er jetzt genau dieselbe spöttische Feststellung machte wie damals. Grace blickte ihm direkt in die Augen. „Und du?“ Sie hatte ihn als einen Hilfsarbeiter auf einer kleinen Bootswerft kennengelernt. Er stammte aus einfachen Verhältnissen, war handwerklich begabt, sehr fleißig – und tausendmal interessanter und reizvoller als all die jungen Männer, die sie aus ihrem sozialen Umfeld kannte. „Lebst du noch in Südwestengland?“

Seths Antwort beschränkte sich auf ein kurzes, kaum wahrnehmbares Nicken.

„Und schraubst weiter an Booten herum?“ Kaum hatte sie den Satz in ihrer Nervosität ausgesprochen, wurde ihr bewusst, dass Seth die Frage vielleicht als despektierlich empfinden könnte. Und als sie seine zu Schlitzen verengten Augen sah, bestand kein Zweifel darüber, dass er ihre Worte offensichtlich in den falschen Hals bekommen hatte.

„Scheint wohl so“, stieß er, ihrem Beispiel folgend, knapp hervor. „Was hast du auch anderes erwartet von einem Kerl, der für seine soziale Klasse zu hochtrabende Ideen hat? War das nicht mehr oder weniger das, was du sagtest, bevor du mich kurze Zeit später wie einen Vollidioten hast stehen lassen?“

Der Gedanke an all die Dinge, die sie getan hatte, als sie zu jung und zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, um es besser zu wissen, ließ sie innerlich zusammenfahren.

„Das ist schon lange her“, entgegnete sie ausweichend.

„Und das entschuldigt dein Verhalten?“

Nein, es ist durch nichts zu entschuldigen, dachte Grace beschämt, war aber zu stolz, es zuzugeben. „Ich habe nicht vor, mich bei dir zu entschuldigen.“

„Was also hast du dann vor, Grace?“

„Denkst du tatsächlich, dass ich dir etwas schuldig bin?“

„Du etwa nicht?“

„Die ganze Geschichte ist acht Jahre her, verdammt noch mal!“

„Und du bist immer noch dieselbe wie damals. Reich. Verwöhnt. Im Luxus schwelgend“, erwiderte er und ließ einen kritischen Blick durch die aufwendig renovierte Galerie mit den teuren Kunstwerken, dem feinen Porzellan und der geschmackvollen Einrichtung gleiten – auch wenn er heimlich zugeben musste, dass das stilvolle Ambiente in diesem Falle nicht nur eine Frage des Geldes war, sondern dass Grace offensichtlich ein sicheres Gespür für Kunst und Design besaß. „Und ich bin immer noch der arme Junge aus dem falschen Viertel der Stadt.“

„Das ist wohl kaum meine Schuld“. Sein demonstrativ feindseliges Verhalten verursachte in ihr eine Mischung aus Missbehagen und Verärgerung. „Und wenn du nicht aufhörst, mit dieser … dieser …“

„… pointierten Analyse?“, fragte Seth mit einem überheblichen Lächeln. Offensichtlich genoss er es zu sehen, wie sie langsam die Fassung verlor.

„Ich kann dich auch aus dem Gebäude werfen lassen“, stieß sie mit gedämpfter Stimme hervor, darauf bedacht, dass niemand sie hörte.

Eine hochgezogene Augenbraue genügte, um ihr zu signalisieren, wie lächerlich ihre Drohung war. Dass er mit seiner Größe und seinem imposanten athletischen Körper deutlich aus der Menge der anderen Galeriebesucher herausstach und nichts zu befürchten hatte, war unübersehbar. Sein unwiderstehlicher Mund verzog sich zu einem kurzen spöttischen Lächeln. „Vielleicht kannst du es sogar selbst tun?“

Allein der Gedanke daran, ihn anfassen zu müssen und nach so vielen Jahren plötzlich erneut seinen warmen harten Körper unter ihren Händen zu spüren, ließ ihr den Atem stocken. Um nichts in der Welt wollte sie an seine perfekt definierten Muskeln und seine samtweiche Haut denken müssen.

„Lassen wir es einfach“, murmelte Grace leicht verlegen.

Wie konnte er nur so sicher und selbstbewusst sein? wunderte sich Grace. Und was ließ ihn denken, dass er einfach hier hereinmarschieren und sie beleidigen konnte? Aber was sie am allermeisten wunderte, war, dass er keine Karriere gemacht hatte. Er war so ehrgeizig gewesen – voller hochgesteckter Erwartungen und entschlossen, es zu etwas zu bringen. Und es war genau jene Entschlossenheit gewesen, die Seth in ihren Augen so interessant gemacht hatte …

„Wie habe ich dieses Mona-Lisa-Lächeln zu deuten?“, riss er sie aus ihren Gedanken. „Verschafft es dir etwa eine heimliche Genugtuung zu erfahren, dass das Leben anders verlaufen ist, als erhofft – und zwar für uns beide?“

Grace senkte unwillkürlich den Blick. Nicht nur dachte er – fälschlicherweise –, dass sie ihn für seinen Lebenslauf verspotten wollte, sondern offenbar genoss er es sichtlich, sie daran zu erinnern, mit welch naiver Selbstsicherheit sie sich damals ihre eigene Zukunft ausgemalt hatte.

Auch wenn sie nicht den Eindruck erwecken wollte, dass sie seine Worte trafen, konnte sie ein leicht wehmütiges Lächeln nicht unterdrücken, als sie sagte: „Anscheinend nicht so große Genugtuung wie dir.“

Seth neigte mit einer fast galant wirkenden Geste den Kopf. „Dann steht es jetzt wohl unentschieden zwischen uns.“

„Wirklich?“ Grace nahm sich ein Champagnerglas vom Tablett eines vorbeilaufenden Kellners, obwohl sie sich vorgenommen hatte, nichts zu trinken, um für den Abend einen klaren Kopf zu bewahren. Sie bemerkte, wie Seth hingegen das Angebot mit einem kurzen Kopfschütteln ablehnte. „Mir war gar nicht bewusst, dass wir im Wettstreit stehen“, stellte sie trocken fest.

„Mir auch nicht.“ Auf seinen sinnlichen Lippen machte sich ein amüsiertes Lächeln breit. „Oder bist du es vielleicht, die überall ein Kräftemessen wittert?“

Seine unverblümte Frage traf sie unvorbereitet, doch bevor sie sich eine passende Antwort überlegen konnte, fuhr Seth bereits fort: „Ich habe aufgehört, dich zu beneiden, Grace. Und Leute wie dich. Ich habe nie wirklich die Kunst beherrscht, andere zu meinem eigenen Vorteil zu manipulieren, aber ich bin dabei, es zu lernen“, erklärte er mit gelassener Souveränität. „Und ich habe es auch nie für nötig befunden, das zu tun, was andere von mir erwarten, nur um meinen kleinen elitären Freundeskreis zu beeindrucken.“

Grace konnte durch das Fenster sehen, dass das Kamerateam draußen alles abgebaut hatte und sich nun auf dem Bürgersteig mit dem Journalisten absprach. In nur wenigen Minuten würde das geplante Interview stattfinden.

Wie sehe ich wohl aus? dachte sie panisch. Das unerwartete Wiedersehen mit Seth Mason hatte sie vollkommen aus dem Konzept gebracht.

„Wenn du nur gekommen bist, um deine Wut an mir auszulassen, weil du frustriert und enttäuscht darüber bist, dass einiges in deinem Leben schiefgelaufen ist …“ Grace atmete tief ein, um ihr Unbehagen und ihren Ärger unter Kontrolle zu bringen. „… dann hättest du dir einen besseren Zeitpunkt aussuchen können. Oder war es Absicht, genau am Eröffnungsabend aufzutauchen und mir eins auszuwischen?“

„Nein, warum hätte ich das tun sollen?“, fragte er mit aufgesetzter Unschuldsmiene.

Er wusste ganz genau warum – genau genommen wussten sie es beide. Grace hätte es am liebsten vergessen, aber es war offensichtlich, dass er mit der Vergangenheit noch lange nicht abgeschlossen hatte. Und wahrscheinlich hatte er auch nicht vor, das Vorgefallene je zu vergessen, dachte sie verzweifelt.

„Ich war nur neugierig, das jüngste Projekt von Grace Tyler, über das die Presse so ausgiebig berichtet hat, mit eigenen Augen zu sehen. Auch wenn es eigentlich keinen News-Wert mehr hat. Soviel ich weiß, hast du dieses Geschäft schließlich schon vor einigen Jahren geerbt. Aber es ist wohl dir zuzuschreiben, dass aus dem heruntergekommenen unrentablen Laden dieser Tempel der schönen Künste geworden ist, den ich heute hier bestaunen darf.“

Obwohl Grace klar war, dass diese Informationen in fast jedem Boulevardblatt zu lesen waren, fand sie den Gedanken, dass er – oder eigentlich jeder – so viel über sie wusste, alles andere als erfreulich.

„Muss ein ziemlicher Gegensatz sein zu der Welt der Textilien, in der du bisher zu Hause warst. Und den eher … körperlichen Kompetenzen, mit denen du mich damals beeindruckt hast.“ Mit dem beiläufig klingenden Nachsatz gab er ihr unmissverständlich zu verstehen, was er von ihr dachte. „Das war vor acht Jahren. Bleibt nur zu hoffen, dass du mit dieser Galerie mehr Erfolg hast als mit der Leitung von Culverwells – und auch mehr Glück als mit deinen Liebesbeziehungen.“

Die Anspielung auf ihre vor Kurzem zerbrochene Beziehung sowie auf die Probleme des Textilunternehmens quittierte Grace mit ärgerlich zusammengekniffenen Lippen.

War er nur gekommen, um seiner Schadenfreude freien Lauf zu lassen?

„Meine Beziehungen gehen dich nichts an.“ Wenn er auf Konfrontation aus ist, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als es ihm gleichzutun, beschloss Grace verdrossen. Denn eins war ihr mittlerweile klar: Selbst wenn sie vor ihm auf die Knie fiele, würde Seth ihr das Verhalten von damals niemals verzeihen. Dafür war er einfach zu stolz und zu nachtragend. Und sie hatte ohnehin nicht die geringste Absicht, um seine Gnade zu betteln! „Und ich glaube, auch die Situation meines Unternehmens gehört nicht zu deinen Angelegenheiten.“

„Sie ist jedermanns Angelegenheit“, entgegnete er gleichgültig, als habe er ihren Wutausbruch gar nicht bemerkt. „Sowohl dein Geschäfts- als auch dein Privatleben sind allgemein bekannt. Und man braucht nur eine beliebige Zeitung ihn die Hand zu nehmen, um zu erfahren, dass deine Firma knietief in Problemen steckt.“

Für die Medien war die Krise von Culverwells natürlich ein gefundenes Fressen. Viele voreingenommene Journalisten hatten ihr und dem Management die Schuld an den sinkenden Umsatzzahlen gegeben, obwohl eigentlich jeder neutrale Beobachter nachvollziehen hätte können, dass das Unternehmen eines der vielen Opfer der anhaltenden Konjunkturschwäche war.

„Ich glaube kaum, dass ein … ein ungelernter Handlanger aus der Provinz wie du in der Lage ist, mir Ratschläge hinsichtlich der Unternehmensführung zu geben.“ Sie wusste, dass ihre Worte ungerecht und übertrieben waren. Um nichts in der Welt wollte sie wie ein Snob wirken, der sich herablassend darüber äußert, wie andere ihren Lebensunterhalt verdienen. Aber er hatte sie mit seinem selbstgefälligen und arroganten Verhalten dazu angestachelt.

„Du hast recht. Es geht mich nichts an“, sagte er betont gleichgültig und warf keine Sekunde später der rothaarigen Frau mit dem Klemmbord, die ganz in ihrer Nähe aufgeregt auf Beth Wilson einsprach, ein gewinnendes Lächeln zu. Offensichtlich waren sie mit dem Zeitplan für das Interview bereits im Verzug. „Okay, wie ich schon sagte, ich wünsche dir viel Glück.“

„Danke“, antwortete Grace bissig, denn sein Tonfall ließ erkennen, dass er es ganz und gar nicht so meinte. Darauf wandte sie sich ab, zwang sich zu einem Lächeln und ging zu Beth und dem Fernsehteam.

Draußen auf dem Bürgersteig empfing Seth eine kalte Novemberluft. Er blieb kurz stehen und beobachtete mit zusammengekniffenen Augen durch die großen Fenster der Galerie, wie Grace sich dem Journalisten stellte, der dafür bekannt war, sein Gegenüber mit unbequemen Fragen zum Schwitzen zu bringen.

Aber es schien vielmehr, dass Grace mit ihrem sanften professionellen Lächeln, ihren himmelblauen Augen und ihrer überlegenen Attitüde den Journalisten aus dem Konzept brachte und nicht andersherum.

Sie hatte nichts von ihrem mysteriösen Wesen eingebüßt – und nichts von ihrer Schönheit, wie er ehrlicherweise zugeben musste. Sein Blick glitt wie von selbst von ihrem hübschen Gesicht und dem verführerisch hochgesteckten Haar hinunter zu dem dezenten Kostüm, das ihre femininen Kurven perfekt betonte. Aber auch innerlich hatte sie sich nicht verändert, rief Seth sich verbittert in Erinnerung.

Dass sein Körper anscheinend immer noch auf sie reagierte, durfte ihn nicht darüber hinwegtäuschen, welche Art Frau sie war. Grace spielte mit den Gefühlen eines Mannes, bis ihr langweilig wurde. Wenn sie endgültig die Nase voll hatte, gab sie ihm kaltblütig den Laufpass. Sie war immer noch ein unglaublicher Snob.

Was sie brauchte, war jemand, der sie endlich in ihre Grenzen wies. Jemand, der ihr beibrachte, was Respekt ist. Kurzum, was sie brauchte, war jemand, der ihr einen ordentlichen Dämpfer versetzte – und zu seiner immensen Freude würde er höchstpersönlich derjenige sein.

2. KAPITEL

Das Interview und der Eröffnungsabend waren überstanden.

Grace stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

Der Abend war ein ziemlicher Erfolg gewesen. Einige kaufkräftige Kunstliebhaber hatten Interesse für die zeitgenössischen Gemälde gezeigt, und Beth war es sogar gelungen, zwei Keramikskulpturen zu verkaufen. Auch das Interview war besser als befürchtet gelaufen. Eigentlich hätte sie rundum glücklich sein müssen – und das war sie auch, versuchte Grace sich einzureden –, der einzige Wermutstropfen war die Begegnung mit Seth Mason.

Sie wollte nicht mehr darüber nachdenken. Aber schon, während sie die Treppe zu ihrer kleinen Wohnung hochstieg, die direkt über der Galerie lag, kamen lang verschüttete Erinnerungen hoch, und sosehr sie sich dagegen wehrte, sie konnte es nicht verhindern.

Es war kurz nach ihrem neunzehnten Geburtstag gewesen, als sie Seth das erste Mal in der kleinen Küstenstadt in Südwestengland begegnet war.

Bis zu dem Beginn der Universität lagen noch mehrere Wochen, und so hatte sie beschlossen, dem Großstadtstress von London zu entfliehen und den Sommer bei ihren Großeltern zu verbringen. Diese besaßen eine moderne Villa mit Meerblick inmitten eines hügeligen Waldgebietes nahe des Ferienortes. Grace verband ein sehr inniges Verhältnis zu ihren Großeltern, denn sie war praktisch bei ihnen aufgewachsen.

An jenem schicksalsträchtigen Tag, der für immer in ihrer Erinnerung eingebrannt sein würde, hatte sie ihren Großvater zu dem kleinen Hafen am anderen Ende des Ortes begleitet. Und während Lance Culverwell mit dem Betreiber der Bootswerft in dessen leicht heruntergekommenem Büro etwas besprach, fiel ihr Auge auf Seth, der dabei war, einen alten Bootsrumpf zu reparieren, und konzentriert eine Metallniete nach der anderen in die Holzplanken hämmerte.

Er trug ein verwaschenes Baumwollhemd mit hochgekrempelten Ärmeln, und Grace konnte sehen, wie sich sein breiter Rücken und seine braun gebrannten muskulösen Arme bei jeder Bewegung anspannten. Abwesend strich er sich von Zeit zu Zeit sein widerspenstiges schwarzes Haar zurück, das ihm verführerisch in der Stirn hing.

Als er sich unerwartet umdrehte, wandte Grace zwar schnell ihren Blick ab, aber nicht rechtzeitig genug, um zu verbergen, dass sie ihn offensichtlich beobachtet hatte.

Er sagte nichts. Nicht einmal ein Lächeln schenkte er ihr. Aber der kurze Moment, in dem sich ihre Blicke kreuzten, genügte, um Gefühle in ihr aufflammen zu lassen, die noch nie zuvor ein Mann ihn ihr wachgerufen hatte. In seinen stahlgrauen Augen lag etwas so Eindringliches, dass sie meinte, er könne durch ihr rotes bauchfreies Top und ihre blütenweiße Hose sehen. Sie spürte, wie sich ihre Knospen unter dem Spitzen-BH aufrichteten und sich eine prickelnde Hitze zwischen ihren Schenkeln ausbreitete.

Als sie noch einmal so unauffällig wie möglich zu ihm hinüberblickte, huschte ein fast unmerkliches Lächeln über seine Lippen – was seinen Mund und seine Augen noch betörender machte und für den Bruchteil einer Sekunde die Härte aus seinem Gesicht weichen ließ.

Bevor sie entscheiden konnte, ob sie Seths Lächeln erwidern sollte oder nicht, kam jedoch ihr Großvater mit dem Besitzer der Bootswerft aus dem Büro, und so war sie gezwungen, ihnen ihre Aufmerksamkeit zu schenken.

Sie drehte sich nicht um, während sie zu dem silbernen Mercedes-Cabrio liefen, das mitten auf dem Kiesplatz geparkt war und aus der Reihe der übrigen, eher bescheidenen Autos wie ein unübersehbares Statussymbol herausragte. Instinktiv spürte Grace, dass ihr der Blick des Unbekannten folgte, und so ließ sie es sich nicht nehmen, ihre langen blonden Haare mit einer Hand aufzuschütteln und die Hüften stärker als gewohnt schwingen zu lassen, obwohl die hochhackigen Sandaletten, die sie trug, für derartige Einlagen auf dem Kies nicht besonders geeignet waren und sie Gefahr lief, den Halt zu verlieren.

Sie bat ihren Großvater sogar, sie ausnahmsweise ans Steuer zu lassen. Und so fuhr sie mit hocherhobenem Kopf und wehenden Haaren von dem Parkplatz der verschlafenen Werft. Auf eine nebensächliche Bemerkung ihres Großvaters reagierte sie mit einem etwas zu lauten Lachen – sie wollte bemerkt werden, sie wollte, dass er sie bemerkte.

Es lag auf der Hand, dass er nicht der Richtige für sie sein konnte. Er war ein einfacher Arbeiter und hatte nicht das Geringste mit ihrer Welt gemeinsam. Und doch hatte ein nur Sekundenbruchteile andauernder Blickwechsel gereicht, um den Funken überspringen zu lassen – das, was an jenem Tag geschehen war, wischte wie von Zauberhand alle gesellschaftlichen Unterschiede weg und ließ die soziale und finanzielle Hierarchie lächerlich erscheinen.

Autor

Elizabeth Power
Schon als Kind wusste Elizabeth Power, dass sie Bücher schreiben wollte, genau wie ihr Vater, ein erfolgreicher Kinderbuchautor. Und als sie einmal herausgefunden hatte, dass es nicht ausreicht, ihre Bilderbücher Wort für Wort abzuschreiben, stand ihrer Karriere nichts mehr im Weg. Mit vierzehn hatte sie ihren ersten Roman vollendet –...
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